Tametsi futura (Wortlaut)

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Enzyklika
Tametsi futura

unseres Heiligen Vaters
Leo XIII.
an alle Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe
der katholischen Welt, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen
über den göttlichen Erlöser
1. November 1900

(Offizieller lateinischer Text ASS 33 [1900-1901] 273-285)

(Quelle: Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII. Deutsche Ausgabe des französischen Originals von P. Cattin O.P. und H. Th. Conus O.P. besorgt von Anton Rohrbasser, Paulus Verlag Freiburg Schweiz 1953, S. 37-54; Imprimatur Friburgi Helv., die 22. maii 1953 L. Weber V. G; Die Nummerierung folgt der englischen Fassung, Die Anmerkungen sind in den Text integriert.)

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Ehrwürdige Brüder,!
Gruß und Apostolischen Segen !

Einleitung: Christliche Erneuerung und Sendung der Kirche

1 Wenn Wir auch im Hinblick auf die Zukunft sorgenvoller Gedanken Uns nicht erwehren können und angesichts der vielen Übel, mit denen Einzelmenschen und Gemeinwesen behaftet sind, zu manchen ernsten Befürchtungen Anlass haben, so hat Uns doch Gott der Herr am Ausgang des Jahrhunderts einige Hoffnung und gelinden Trost bereitet. Jedermann weiß ja, wie wichtig es für das Gemeinwohl ist, wenn jeder einzelne sich die Sorge um sein Seelenheil angelegen sein lässt und seinen Glaubenseifer sowie sein christliches Frömmigkeitsleben zu neuem Erwachen bringt. Nun aber deuten in unserer Gegenwart untrügliche Zeichen auf eine allgemeine Wiederbelebung und Erstarkung der christlichen Tugenden hin. Trotz der Verlockungen der Welt und trotz zahlreicher Schwierigkeiten, die das religiöse Leben behindern, sind doch auf die Einladung des obersten Hirten hin aus allen Weltrichtungen unzählige Scharen nach Rom an die Grabstätten der heiligen Apostel geeilt; Bewohner der ewigen Stadt wie auswärtige Pilger bekunden vor aller Augen ihre gläubige Andacht, und im Vertrauen auf die weit geöffneten Gnadenschätze der Kirche machen sie sich mit heiligem Wetteifer die Mittel zur Sicherung ihres Seelenheils zunutze. Wer nimmt nicht mit Ergriffenheit wahr, dass auch die Liebe zum Erlöser der Menschheit in ungewöhnlichem und geradezu erstaunlichem Maße neu auflodert? Diese Begeisterung von Tausenden, die einmütig und einstimmig unter allen Himmelsstrichen das Lob Jesu Christi verkünden und seinen Namen preisen, erinnert fürwahr an die besten Zeiten des Christentums. Gebe Gott, dass dieser am alten Glauben neu entfachte Feuereifer die Seelen weit und breit erfasse und dass das leuchtende Beispiel vieler Christen alle anderen mitreiße! Denn nichts ist in unserer Zeit für alle Völker so notwendig, wie eine allgemeine Erneuerung des christlichen Geistes und die Wiederbelebung der alten Tugenden. Leider stellen sich viele Menschen taub und schenken dem Mahnruf zur religiösen Wiedergeburt kein Gehör. Und doch würden auch sie erwachen und dem sicheren Verderben zu entrinnen suchen, wenn sie nur das Geschenk Gottes kännten (Vgl. Joh 4, 10) und bedächten, dass der Abfall vom Erlöser der Welt und die Abkehr vom christlichen Sittengesetz das größte Unglück ist.

2 Nun aber besteht die Aufgabe der Kirche darin, das Reich des Gottessohnes auf Erden zu erhalten und zu verbreiten, sowie durch die Ausspendung der göttlichen Gnaden das Heil der Menschen zu sichern. Diese hohe Sendung ist ihr so eigentümlich, dass ihre ganze Autorität und Macht darauf beruht. Das war bis auf den heutigen Tag das Bestreben unserer ganzen Kraft bei der sorgenreichen und mühevollen Ausübung Unseres obersten Hirtenamtes; und auch ihr, ehrwürdige Brüder, habt gewiss diese Aufgabe zum Inhalt eures täglichen Sinnens und Trachtens gemacht. Wir müssen jedoch, den Zeitumständen Rechnung tragend, unsere gemeinsamen Anstrengungen vervielfältigen und namentlich in diesem Jubeljahr die Kenntnis Jesu Christi und die Liebe zu ihm durch Belehrung, Beratung und Ermahnung noch mehr zu fördern suchen.

I. Das Erlösungswerk Jesu Christi

1. Heillosigkeit eines Lebens ohne Christus

Unsere Sorge wendet sich nicht so sehr jenen zu, die der christlichen Lehre stets ein bereitwilliges Ohr leihen, als vielmehr all jenen weit bedauernswerteren Menschen, die sich zwar Christen nennen, aber ein Leben ohne Glauben und ohne Liebe zu Jesus Christus führen. Sie sind der besondere Gegenstand unseres Mitleides; diese vor allem möchten Wir aufmerksam machen auf ihr unwürdiges Verhalten und auf dessen Folgen, falls sie sich nicht eines besseren besinnen.

3 Jesus Christus überhaupt nie und in keiner Weise kennenlernen, das ist wohl das größte Unglück; immerhin kann das ohne bösen Willen und ohne Undankbarkeit geschehen. Ihn hingegen kennenlernen und dann verleugnen und vergessen, ist gewiss ein so schändliches und so unvernünftiges Vergehen, dass man es unter Menschen nicht für möglich halten sollte. Denn Christus ist Urgrund und Urquell aller Güter; die Menschheit, die nicht ohne seine Gnade erlöst werden konnte, wird auch nicht fortbestehen ohne seine machtvolle Hilfe. In keinem anderen ist Heil, denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden sollen (ApG 4, 12). Was ist ein Leben ohne Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1 Kor 1, 24), wie steht es da um die Sittlichkeit und wo endet schließlich das Ganze? Ist das Schicksal der Völker, die des christlichen Glaubenslichtes entbehrten, nicht ein anschauliches Beispiel dafür? Es genügt, die zwar zurückhaltende Beschreibung wieder zu lesen, die uns der heilige Paulus (Vgl. Röm 1) gibt von der Verblendung ihres Geistes, von der Verkommenheit ihrer Natur, von ihrem Aberglauben und ihren Leidenschaften, um zugleich von Mitleid und Abscheu ergriffen zu werden.

2. Christus: Versöhner der Menschheit mit Gott

Was Wir hier sagen, ist allgemein bekannt, wird aber zu wenig beachtet und kaum überdacht. Der Hochmut würde nämlich nicht so viele Menschen in die Irre führen, noch würde die Gleichgültigkeit unzählige zur Lauheit verleiten, wenn das Andenken an Gottes Wohltaten überall lebendig wäre, wenn man öfter bedenken würde, aus welcher abgründigen Tiefe Christus die Menschheit gerettet und zu welcher Höhe er sie empor geführt hat. Enterbt und verirrt ging die Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mehr dem Untergang entgegen; infolge der Sünde der Stammeltern war sie belastet mit schrecklichen Übeln, gegen die bloße Menschenkraft nichts vermochte, bis Christus der Herr als Retter vom Himmel herniederstieg und auf Erden erschien. Ihn hatte Gott selber am Weltenmorgen als den künftigen Besieger und Überwinder der Schlange verheißen. In ungeduldiger Erwartung seiner Ankunft hielt deshalb Generation nach Generation sehnsuchtsvolle Ausschau nach ihm. Auf ihm beruhte alle Hoffnung; so hatten es lange und deutlich die Propheten verkündet. Auch die Geschichte des auserwählten Volkes, seine wechselvollen Schicksale, seine Einrichtungen, Gesetze, Zeremonien und Opfer wiesen mit Bestimmtheit auf ihn hin und deuteten mit lichtvoller Klarheit an, dass das volle und wahre Glück der Menschheit nur von dem ausgehen werde, der Hoherpriester und Opferlamm zugleich sein sollte, Wiederbringer der menschlichen Freiheit, Fürst des Friedens, Lehrmeister aller Völker und Begründer des ewigen Reiches. Alle diese verschiedenen Titel, Bilder und prophetischen Ausdrücke bezeichnen übereinstimmend einzig und allein Jenen, der aus übergroßer Liebe zu uns sich für unser Heil opfern sollte. Als dann die im göttlichen Ratschluss festgesetzte Zeit gekommen war, leistete der menschgewordene Gottessohn, indem er sein Blut vergoss, seinem beleidigten Vater vollkommene und überreiche Genugtuung und machte sich um diesen Lösepreis die Menschheit zu eigen. "Ihr wisst ja, dass ihr nicht mit vergänglichen Werten, mit Gold oder Silber, losgekauft seid ..., sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel (1 Petr 1, 18-19).

3. Christus: Wiederhersteller der Menschenwürde

So unterwarf er sich die Menschheit, die seiner Herrschaft und seiner Macht schon unterstand, weil er ihr Schöpfer und Erhalter war, ein zweites Mal, indem er sie buchstäblich und tatsächlich loskaufte. Ihr gehört euch nicht selber an, denn ihr seid um einen teuren Preis erkauft worden (1 Kor 4, 19-20). Somit ist alles von Gott in Christus erneuert worden. Dies, das Geheimnis seines Willens: ... nämlich nach dem Ratschluss seines Wohlbefindens in der Fülle der Zeiten alles im Himmel und auf Erden in Christus als dem Haupte zu erneuern (Eph 1, 9-10). Nachdem Jesus den Schuldbrief, der gegen uns zeugte, ans Kreuz geheftet und vernichtet hatte, da war der Zorn Gottes sogleich besänftigt: die zu Tode getroffene und ziellos irrende Menschheit war von den Banden der alten Knechtschaft befreit und mit Gott versöhnt, die Gnade war wiedererlangt, der Zugang zum Himmel erschlossen samt dem Anrecht darauf und den Mitteln dazu.

Wie aus einem langen Todesschlaf erwacht, schaute der Mensch das Licht der Wahrheit wieder, das er jahrhundertelang ersehnt und vergeblich gesucht hatte. Vor allem erkannte er, dass er für Güter geschaffen ist, die viel höher und erhabener sind als die sinnlich wahrnehmbaren, vergänglichen und hinfälligen, denen er vordem sein ganzes Sinnen und Trachten zugewandt hatte. Es wurde ihm klar, dass Gott sein Ursprung und sein Ziel ist; darin erkannte er den Sinn seines Daseins, das Hauptgesetz seines Lebens, das höchste Ziel, auf das alles hinzuordnen ist: die Rückkehr zu seinem Gott und Schöpfer.

Auf dieser Grundlage erwachte im Menschen das Bewusstsein seiner Würde; das Gefühl brüderlicher Zusammengehörigkeit ließ die Herzen höher schlagen; Pflichten und Rechte erreichten infolgedessen einen hohen Grad der Vollkommenheit oder wurden gar von Grund auf neu gestaltet, und allenthalben gelangten Tugenden zur Entfaltung, wie sie kein Philosoph des Altertums auch nur hätte ahnen können. So war der Denkweise, der Lebensführung und den Sitten eine völlig neue Richtung gewiesen. Je mehr sich die Kenntnis des Erlösers verbreitete und seine Gnadenkraft die geheimsten Adern der menschlichen Gesellschaft durchpulste, umso mehr wurden die frühere Unwissenheit und die antiken Laster ausgerottet. Da trat eine solche Wendung zum Besseren ein, dass das Antlitz der Erde durch die christliche Zivilisation vollständig umgestaltet wurde.

Unbeschreibliche Freude erfüllt unser Herz, ehrwürdige Brüder, wenn Wir an diese Wahrheiten denken. Zugleich aber sind sie Uns eine ernste Mahnung, dem göttlichen Erlöser Unsere tiefste Dankbarkeit zu bezeugen und nach besten Kräften dafür besorgt zu sein, dass sich die Menschen dankbar zeigen.

4 Zwar trennen uns Jahrhunderte von der Zeit, welche die Verwirklichung unserer Erlösung sah; dieser Umstand ist jedoch kaum von Bedeutung, da ja die Wirkung der Erlösung für alle Zeiten fortdauert und deren Früchte zeitlos sind. Derselbe, der durch seine einmalige Tat die Menschheit dem Abgrund der Sünde entrissen hat, er ist und bleibt nun immerdar ihr Retter und Erlöser: Jesus ChristHs, der sich zum Lösegeld für alle hingegeben hat (1 Tim 2, 6). In Christus werden alle das Leben haben (1 Kor 15, 22). Und sein Reich wird kein Ende nehmen (Lk 1, 33).

II. Christus ist der wahre Heilbringer

1. Er ist der Weg

So beruht denn nach Gottes ewigem Ratschluss das Heil jedes einzelnen wie das der Gesamtheit auf Jesus Christus. Wer sich von ihm abkehrt, stürzt sich in wahnsinniger Blindheit selber ins Verderben und wird mit schuld daran, dass die Menschheit, von rasendem Taumel fortgerissen, jenem Abgrund von Elend und Leid wieder zutreibt, woraus sie der Erlöser barmherzig gerettet hat.

5 Denn wer sich auf abschüssige Bahnen begibt, wird sich auf Irrwegen immer weiter vom ersehnten Ziele entfernen. So ergeht es auch jenen, die sich dem reinen und klaren Lichte der Wahrheit verschließen: ihr Geist tappt im Dunkeln und verstrickt sich im Dickicht trügerischer Meinungen. Welche Hoffnung auf Rettung bleibt denn jenen, die den Urgrund und den Quell des Lebens verlassen? Weg, Wahrheit und Leben ist aber Christus allein. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14, 6). Hat man sich folglich von Christus losgesagt, so hat man die drei Grundbedingungen des Heiles preisgegeben.

6 Es ist wohl kaum vonnöten, eine Tatsache noch besonders zu betonen, die durch die Erfahrung erhärtet ist und deren Wahrheit jedermann an sich selber zutiefst erlebt: außer Gott gibt es nichts, worin das Menschenherz ungetrübten Frieden finden könnte. Gott ist das höchste und einzige Ziel des Menschen. Auf jeder Stufe dieses irdischen Daseins gleicht sein Leben einer Wanderschaft. Christus ist für uns ohne jeden Zweifel « der Weg », weil wir nur unter seiner Führung und Leitung auf der überaus beschwerlichen und gefahrvollen Lebensreise zu Gott gelangen können, unserem höchsten und vollkommensten Gut. Niemand kommt zum Vater außer durch mich (Joh 14, 6).

a) Auf ihn hören

Wie ist dieses Wort zu verstehen: durch mich? Zuallererst und hauptsächlich heißt das: durch seine Gnade. Doch diese Gnade bliebe im Menschen fruchtlos, wenn er Gottes Gesetze und Gebote außer acht ließe. Nachdem uns nämlich Jesus Christus das ewige Heil verdient hatte, war es unerlässlich, dass er zum Schutz und zur Führung der Menschheit auch ein Gesetz hinterließ, damit sie unter dessen Anleitung den Pfad des Unheils vermeiden und mit Sicherheit zu Gott gelangen könnte. Geht hin und lehret alle Völker... und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe (Mt 28, 19-20). Haltet meine Gebote (Joh 14, 15).

b) Mit ihm kämpfen und leiden

Daraus ergibt sich die Hauptforderung an alle Christgläubigen, sich den Vorschriften Jesu Christi gegenüber gelehrig zu zeigen und ihm als dem höchsten Herrn und König ihren Willen ohne Vorbehalt zu unterwerfen. Eine schwere Aufgabe, die oft gewaltige Anstrengung kostet und einen ernsthaften Kampfwillen fordert. Denn, wenn auch die menschliche Natur durch die Erlösung wiedergeboren wurde, so haftet doch in einem jeden von uns eine krankhafte Schwäche und sündige Verkehrtheit. Allerhand Begierden zerren uns hin und her, die Anreize der Umwelt verlocken uns, den persönlichen Neigungen nachzugeben, statt Christi Gebote zu befolgen. Dagegen gilt es anzukämpfen und mit dem Aufwand aller Kräfte den ungeordneten Leidenschaften im Gehorsam gegen Christus (2 Kor 10, 5) Widerstand zu leisten. Werden die Leidenschaften nicht der Vernunft untergeordnet, so beherrschen sie den Menschen, machen ihn Christus abspenstig und zu ihrem eigenen Sklaven. « Böswillige und glaubenslose Menschen gelangen nicht zur inneren Freiheit; sie sind einer dreifachen Lust versklavt: der Sinnenlust, dem Hochmut und dem Ehrgeiz » (Augustinus, De vera religione XXXVII 69. PL 34, 153). In diesem Kampfe gegen sich selbst muss jeder bereit sein, um Christi willen Mühsale und Opfer auf sich zu nehmen. Es ist nicht leicht, heftigen Lockungen und Anreizen zu widerstehen; es erfordert harte Selbstüberwindung, die so genannten irdischen Glücksgüter zu verschmähen, um sich der Oberherrschaft Christi zu fügen. Wer jedoch ein christliches Leben führen will, muss sich bis ans Ende mit Geduld und Starkmut wappnen. Haben wir vergessen, wessen Hauptes und Leibes Glieder wir sind? Statt der Freude, die sich ihm darbot, erduldete er den Kreuzestod (Herb 12, 2); Er, der von uns Selbstverleugnung fordert. Gerade auf dieser Gesinnung beruht jedoch die Würde der menschlichen Natur. Schon die Denker des Altertums haben bisweilen erkannt, dass Selbstbeherrschung und Unterordnung der niederen Triebe unter Vernunft und Wille keineswegs eine schwächliche Erniedrigung ist, sondern vielmehr eine edle, durchaus vernunftgemäße und menschenwürdige Tugend.

Übrigens gehört es ja zum menschlichen Dasein, vieles zu ertragen und vieles zu erdulden. Ein Leben ohne Leid, ein ungetrübtes Glück vermag sich der Mensch ebenso wenig zu sichern, als es in seiner Macht steht, den Ratschluss Gottes abzuändern, wonach die Folgen der Ursünde fortdauern sollen. Wir dürfen deshalb hienieden nicht das Ende der Leiden erwarten; es gilt vielmehr, unser Herz zu stählen, um sie zu ertragen und dadurch in der Hoffnung auf künftige Güter höherer Ordnung ständig zu wachsen. Nicht dem Reichtum noch dem bequemen Dasein, nicht den Ehren noch der irdischen Macht, sondern der Geduld und den Tränen, dem Geist der Gerechtigkeit und der Herzensreinheit hat Christus die ewige Glückseligkeit im Himmel verheißen.

c) Seinen Geboten und seiner Kirche gehorchen

7 Daraus geht deutlich hervor, was von der falschen Anmaßung jener zu erwarten ist, die den Erlöser entthronen und den Menschen zum obersten Herrn der Welt erheben wollen, indem sie behaupten, die menschliche Natur sei absolut selbstherrlich und in jeder Beziehung ihr eigener Gesetzgeber. Allerdings stellen sie diese Forderung auf, ohne imstande zu sein, eine derartige Oberherrschaft tatsächlich zu verwirklichen, noch auch deren Eigenart zu umschreiben. Die göttliche Liebe ist es, die dem Reich Jesu Christi seine Macht und seine Gestalt verleiht; heilige, geordnete Liebe ist seine Grundlage und sein höchstes Ziel. Daraus ergibt sich für den Menschen die unumgängliche Pflicht, seine Aufgabe treu zu erfüllen, die Rechte des Mitmenschen zu achten, die ewigen Werte höher zu schätzen als die zeitlichen und Gott über alles zu lieben. Ein Herrschertum hingegen, das Christus offen verleugnet oder sich nicht um ihn kümmert, beruht nur auf Selbstsucht, kennt keine Liebe und weiß nichts von hingebender Dienstbereitschaft. Gewiss darf der Mensch herrschen, aber nur durch Jesus Christus und unter der Bedingung, dass er vor allem Gott dient und dessen Gesetz zu seiner wegleitenden Lebensregel macht.

Nun aber umfasst Christi Gesetz nicht nur die Forderungen der natürlichen Sittenlehre und die im Alten Bunde erlassenen Gebote Gottes, die Christus erklärt, näher umschrieben und bestätigt hat und ihnen damit den höchsten Grad der Vollkommenheit verliehen hat, sondern zudem noch seine ganze übrige Lehre und alle von ihm getroffenen Maßnahmen.

Darunter nimmt gewiss die Kirche die erste und wichtigste Stelle ein. Oder gibt es irgendeine Vorkehrung Christi, die sie nicht vollständig in sich schließt? Das Wirken der von ihm gestifteten Kirche sollte die Fortdauer seines Amtes sichern, das ihm vom himmlischen Vater übertragen worden war. Einerseits hat er ihr alle Mittel anvertraut, um die Menschen zum ewigen Heil zu führen; anderseits hat er aber auch bestimmt, dass ihr alle Menschen wie ihm selbst Gehorsam leisten und sich in allem ihrer Leitung bereitwillig fügen sollten. "Wer auf euch hört, hört auf mich, wer euch verachtet, verachtet mich" (Lk 10, 16). Das Gesetz Christi ist also nur in der Kirche zu finden. Wie Christus für die Menschen der Weg ist, so ist es auch seine Kirche: Er aus eigener Machtbefugnis und wesensgemäß, sie kraft seines Auftrages und der von ihm überkommenen Gewalt. Wer somit das Heil außerhalb der Kirche sucht, weicht vom rechten Wege ab und bemüht sich ohne Erfolg.

d) Das öffentliche Leben christlich gestalten

8 Was für die Einzelmenschen gilt, trifft auch für die Völker und Staaten zu: auch sie eilen dem unabwendbaren Verderben entgegen, wenn sie vom "Weg" abweichen. Als Schöpfer und Erlöser der Menschheit ist der Sohn Gottes König und oberster Herr der ganzen Welt; seiner Oberherrschaft unterstehen alle Menschen, jeder einzelne wie auch die Staaten. "Ihm wurde Herrschaft, Ruhm und Reich verliehen ; ihm sollten alle Nationen, Völker und Zungen dienen (Dann 7, 14). Ich bin von ihm zum König bestimmt ... Ich will dir die Völker zum Erbe geben und zum Eigentum die äußersten Grenzen der Erde" (Ps 2, 6.8).

Demnach soll das Gesetz Christi in den gesellschaftlichen Beziehungen unter den Menschen zur Geltung kommen, so dass es das Privatleben wie das öffentliche Leben maßgebend beeinflusst. Weil es auf göttlicher Anordnung und Einsetzung beruht, der sich niemand ungestraft widersetzen darf, so gereicht es dem Staat zum Unheil, wenn er dem Christentum nicht den gebührenden Platz einräumt. Ohne Jesus Christus ist die menschliche Vernunft ihrer eigenen Schwäche überlassen, ihrer stärksten Stütze und ihres reinsten Lichtquells beraubt. Allzu leicht ergibt sich daraus eine bedenkliche Unklarheit über den eigentlichen Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, der nach Gottes Anordnung vornehmlich darin besteht, den Menschen mittels der Staatsordnung die natürliche Wohlfahrt zu sichern, jedoch in voller Übereinstimmung mit jenem anderen übernatürlichen, vollkommenen und ewigen Glück. Ist man sich darüber nicht im klaren, so geraten Regierungen und Untertanen auf Irrwege, weil es ihnen an zuverlässigen Richtlinien fehlt, an die sie sich halten könnten.

[Fortsetzung folgt]