Goldene Regel

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Die Goldene Regel ist ein Metaprinzip der Moralität, das seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen und Religionen zu finden ist.

Entstehung

Die Goldene Regel ist nach religionswissenschaftlichen Erkenntnissen „unabhängig an mehreren Orten entstanden“ <ref>Philippidis: Die „goldene Regel“ religionsgeschichtlich untersucht. Leipzig 1929, S. 96.</ref>, was sie zu einer „sittlichen Grundformel der Menschheit“<ref>Reiner: Die „Goldene Regel“. Die Bedeutung einer sittlichen Grundformel der Menschheit. In: Zeitschrift für philosophische Forschung (3) 1948, S. 74-105.</ref> macht, zu einem zwingend und zeitlos gültigen Ethos.

Formen

Beispiele aus dem 6.-4. Jh. v. Chr. sind im Konfuzianismus die Regel „Was ihr nicht wollt, daß man euch zufügt, fügt es anderen nicht zu.“, im Buddhismus „Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügen.“ und im Parsismus, das ist die persische Philosophie, die auf Zarathustra zurückgeht, heißt es: „Fügt andern nichts zu, was nicht gut für euch selbst ist.“

Aber auch die griechische Philosophie kennt die Goldene Regel: Thales von Milet, auch 6. Jh. v. Chr., ein Vorsokratiker, sagt: „Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, daß wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selber tun.“ und Platon fragt rhetorisch: „Soll ich mich anderen gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, daß sie sich mir gegenüber verhielten?“.

Etwas jünger sind die entsprechenden Goldene-Regel-Varianten des Judentums und des Christentums, die abschließend genannt sein sollen. Im Buch Tobit, das aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt, steht die Regel „Was dir selbst verhaßt ist, das mute auch einem anderen nicht zu.“ (Tob 4, 15) und bekannt ist dann vor allem auch die Goldene Regel des Matthäus-Evangeliums. Jesus Christus gibt uns auf den Weg: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, also tuet auch ihr ihnen.“ (Mt 7, 12).

Wesensmerkmale

Neben der Universalität, die die Goldene Regel auszeichnet, ist die Reziprozität das Wesensmerkmal dieser ethischen Norm. Es geht um Gegenseitigkeit, um eine Beziehung, die wahrgenommen und geachtet werden soll, es geht um ein Sich-Hineinversetzen in den Anderen, also es geht um Empathie. Gottfried Wilhelm Leibniz meint dazu, „daß der rechte Gesichtspunkt, um billig zu urteilen, der ist, sich in die Stelle des anderen zu versetzen“<ref>Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain. Buch I, Kap. 2, § 4.</ref> und Thomas Hobbes fordert als Moralprinzip, „that a man imagine himself in the place of the party with whom he has to do, and reciprocally him in his“<ref>Hobbes: The Elements of Law Natural and Poltic. Teil I, Kap. 17, § 9.</ref>.

Andererseits vermag die Goldene Regel mit ihren positiven und negativen Formulierungen zwei Grundaspekte jeder Ethik zu erfassen: Wird in der positiven Form der Goldenen Regel („Verhalte dich dem Anderen gegenüber so, wie du willst, dass er sich dir gegenüber verhält.“) kontextualistisches Wohlwollen gefordert, verweist die gerechtigkeitsorientierte negative Fassung („Was Du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“) auf die kontraktualistisch zu definierenden Grenzen der Eingriffsmöglichkeit in die Sphäre des autonomen Anderen.

Zivilisatorischer Fortschritt

Zu diesen gravierenden Argumenten tritt ferner hinzu, dass der Impetus der Goldenen Regel den entscheidenden zivilisatorischen Fortschritt vom Vergeltungsprinzip zum Grundsatz des Wünschenswerten manifestiert. Nicht mehr Gleiches mit Gleichem zu beantworten (nach dem alttestamentlichen ius talionis, also „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“, Dtn 19, 21), sondern zu erkennen, dass die Fortschreibung von moralisch falschem Verhalten nur in der empathischen Haltung dem anderen gegenüber durchbrochen und nur in der Bezugnahme auf das Erwünschte überwunden werden kann, stellt eine neue Form des Umgangs miteinander dar, die alle Möglichkeiten friedlich-kooperativen Zusammenlebens eröffnet.

Dabei ist auf die Deutung der Goldenen Regel im Sinne des Wünschenswerten zu achten, also darauf, dass man fragt: „Wie hätte der andere gerne, dass ich ihn behandele?“ und nicht „Wie würde der andere mich wohl behandeln?“, denn mit dieser Frage sind wir wieder sehr nahe am Vergeltungsprinzip. Hans-Ulrich Hoche schlägt deswegen folgende Formulierung der Goldenen Regel vor: „Behandele jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“<ref>Hoche: Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips. In: Zeitschrift für philosophische Forschung (32) 1978, S. 358.</ref>.

Kritik

An der Goldenen Regel kommt man im Grunde nicht vorbei, wenn man sich mit Ethik beschäftigt und einige Größen der Philosophiegeschichte haben sich mit der Goldenen Regel auseinander gesetzt. Johann Gottfried Herder bezeichnete sie als „Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit“, als „das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts“<ref>Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. I. Teil, Buch IV, Kap. VI, § 5.</ref>, doch sonst wird die Goldene Regel von der Philosophie verschmäht und in den Bereich der Theologie verbannt – als christliche Moral. So enthält das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ das Stichwort „Goldene Regel“ nicht. Seit den 1960er Jahren nimmt das Interesse an und die Beschäftigung mit der Goldenen Regel wieder zu, für die angelsächsische Philosophie seien Marcus G. Singer und Richard M. Hare erwähnt, für die deutsche Philosophie sind v. a. Hans Reiner und Hoche zu nennen. In den philosophischen Analysen steht die Goldene Regel in der Kritik.

Kants Richter-Beispiel

Immanuel Kant, der die Goldene Regel für „trivial“ hielt, behauptet in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, mit der Goldenen Regel könne ein Verbrecher „gegen seinen Richter argumentieren“<ref>Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, zit. nach der Akademie-Ausgabe, VI, S. 68.</ref>, da dieser ja an seiner statt auch nicht gerne verurteilt werden würde. Er schlägt ja dann mit dem Kategorischen Imperativ eine vernunftbasierte und pflichtorientierte Regel autonomer Ethik vor, die im übrigen so weit von der Goldenen Regel gar nicht entfernt ist. Hoche zeigt, dass die Goldene Regel über Kants Vorwurf, sie enthalte „nicht den Grund der Pflicht gegen sich selbst“, erhaben ist, da sie – wenn man nur eine geeignete Formulierung wählt - lediglich ein Verhalten an sich beurteilt, gleichgültig, gegenüber wem es stattfindet.<ref>Hoche: Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips. In: Zeitschrift für philosophische Forschung (32) 1978, S. 272.</ref>

Dieses Richter-Beispiel übersieht jedoch zweierlei. Erstens geht es darum, in solchen Entscheidungssituationen nicht nur den direkt Betroffenen, sondern auch die „relevanten Umstände“ einzubeziehen, also im Falle des Richters, der einen Angeklagten zu verurteilen hat, die Gesellschaft, insbesondere das oder die Opfer und die Angehörigen. Man gelangt so von einer bilateralen Betrachtung der Situation zur multilateralen Analyse. Zweitens – und das ist entscheidend – geht es ja nicht darum, im vorliegenden Fall der konkreten Situation das Wünschenswerte zu beachten, sondern für einen hypothetischen Fall. Hare macht deutlich, dass die entscheidende Frage nicht etwa lautet: „Was würdest du sagen, wenn du er wärest?“, sondern immer „Was sagst du über einen hypothetischen Fall, in dem du in der Lage des Betroffenen bist?“<ref>Hare: Freiheit und Vernunft. Frankfurt a.M. 1963, S. 127.</ref>

Wettbewerbsfeindlichkeit

Als weiterer Einwand sei die angebliche Wettbewerbsfeindlichkeit der Goldenen Regel genannt, die Bruno Brülisauer einführt,<ref>Brülisauer: Die Goldene Regel. Analyse einer dem Kategorischen Imperativ verwandten Grundnorm. In: Kant-Studien (71) 1980, S. 325-345.</ref> die jede kompetitive Situation (z.B. bei der Ausschreibung einer Stelle, beim sportlichen Wettbewerb, etc.) ethisch unmöglich macht, wenn man die Goldene Regel als Prinzip zugrunde legt, denn wenn man nicht besiegt werden möchte, ist es dann moralisch zulässig, andere besiegen zu wollen und u.U. tatsächlich zu besiegen?

Die Lösung dieses Problems liegt in der sprachanalytischen Unterscheidung zwischen Handlungsbegriffen und Erfolgsbegriffen. Dabei stellt sich heraus, dass siegen ein Erfolgsbegriff ist, man also ethisch nicht falsch handelt, wenn man – wie alle anderen auch – sein Bestes gibt und dadurch im Ergebnis den Sieg davonträgt. Man muss im Sinne der Goldenen Regel nur hoffen, dass alle Beteiligten auch wirklich ihr Bestes gegeben haben, also dem Handlungsbegriff zu siegen versuchen Rechnung trugen. Die Goldene Regel als ethisches Prinzip ist nur anwendbar auf Handlungsbegriffe, nicht auf Erfolgsbegriffe.

Fuchs-Storch-Beispiel

Das Problem der Anwendung der Goldenen Regel im singulären Fall in einer bilateralen Situation mit fehlender Gleichförmigkeit der Handelnden führt uns das Fuchs-Storch-Beispiel vor Augen.

In der berühmten Fabel Lafontaines lädt der Fuchs den Storch zur Suppe ein und serviert diese auf einem flachen Teller, so dass nur er an die Suppe gelangen kann; der Storch hingegen mit seinem langen Schnabel „kein Bißchen in den Magen bekam“. Hierin sieht Hoche einen möglichen Einwand gegen die Goldene Regel, da sich der Fuchs ja durchaus wünschen kann, für den Fall einer Einladung durch den Storch auch von diesem die Suppe auf einem flachen Teller serviert zu bekommen.

So ist die Goldene Regel jedoch nicht gemeint, denn es geht in der Fabel ja darum, dass der Fuchs dem Storch die Suppe in einer für diesen ungeeigneten Weise serviert und der Fuchs von daher damit rechnen muss, vom Storch das Essen in einer für ihn – den Fuchs – analog ungeeigneten Weise vorgesetzt zu bekommen, wie dies bei der Gegeneinladung ja auch geschieht, als der Storch seinem Gast Fleischstücke „in Krügen eingepreßt“ serviert, in „langhalsigen und engen“.

Nach Hoche darf man bei der Anwendung der Goldenen Regel nicht die Frage stellen: „Wie würde ich, mit all meinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“, sondern man muss sich fragen: „Wie würde ich, mit all seinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“<ref>Hoche: Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips. In: Zeitschrift für philosophische Forschung (32) 1978, S. 361.</ref> Man muss mithin eingedenk dieser Eigenschaften und ausgehend vom konkreten Sachverhalt auf allgemeine Eignungsbedingungen abstrahieren.

Hare schlägt eine modifiziert-partikuläre Lesart der Goldenen Regel für solche Fälle vor. Es komme, so Hare, darauf an, sich in den Anderen hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie es wäre, bestimmte Eigenschaften des Anderen zu haben oder eigene Eigenschaften nicht zu haben und wie dann zu handeln wäre. Der Fuchs müsste sich im Rahmen eines solchen Einfühlungsaktes also vorstellen, wie er die Suppe gerne vorgesetzt bekäme, wenn er – wie der Storch – einen langen Schnabel hätte, der Storch, wie er – als schnabelloser Fuchs – gerne seinen Braten serviert bekäme. Somit ist eine Gleichförmigkeit der menschlichen Natur nicht Voraussetzung. Das Faktum des Kulturpluralismus hemmt also nicht die Anwendbarkeit der Goldenen Regel, wenn man bereit ist, diesen Einfühlungsakt zu vollziehen.

Fanatismusproblem

Ein letzter Einwand führt uns die Probleme der Goldenen Regel im Dialog um Werte und Normen vor Augen: Wenn es so ist, dass ein imaginärer Rollentausch und die Frage „Was sagst du hier und jetzt über einen hypothetischen Fall, in dem du in der Lage des Betroffenen bist?“ als ein Testverfahren – der so genannte Goldene-Regel-Test nach Hare – dienen kann, welches ein moralisches Prinzip auf „Goldene-Regel-Tauglichkeit“ zu überprüfen imstande ist, dann ergibt sich ein Problem mit dem Fanatiker. Hare benutzt das Beispiel des Nazis, dessen Hass auf Juden so groß ist, dass er für den Fall, dass er Jude wäre, seine Ermordung fordern würde.<ref>Hare: Freiheit und Vernunft. Frankfurt a.M. 1963, S. 192.</ref> Damit erfüllt der Nazi die Testbedingung, seine Haltung kann aber keineswegs als vernünftiges moralisches Prinzip gelten.

Dem Problem des Fanatismus ist nur durch eine Erweiterung des Konzepts der Goldenen Regel beizukommen, der Gestalt, dass ethische Entscheidungen auf Grund der Goldenen Regel so zu treffen sind, dass sie im Allgemeinen die besten Ergebnisse zeitigen.

Dialogregel im 21. Jahrhundert

Universalistisch verstanden und so auch angewendet ist die Goldene Regel ein geeignetes ethisches Prinzip, die Universalität grundlegender Werte zu erweisen und deren Universalisierung zu befördern. Die Goldene Regel kann im 21. Jh. Spielregel eines interkulturellen Dialogs sein, der zu einem prinzipiellen Konsens im Streit um Werte und Normen führt. Von besonderer Bedeutung ist dies im Zusammenhang mit dem Diskurs um die Menschenrechte.

Für Josef Bordat ergibt sich die Eignung der Goldenen Regel als eine Dialogregel und als ethisches Prinzip zur Stützung des Universalitätspostulats im Kontext der Menschenrechte „schon aus ihrer weltweiten Verbreitung und ihrer universalen Bekanntheit“.<ref>Bordat: Zur Universalität der Menschenrechte. In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie (43) 2005, 67.</ref> Bereits daraus erweise sich, so Bordat, „die Universalität der Menschenrechte, denn wenn man die Goldene Regel als universalistischen Grundsatz des Miteinanders akzeptiert, dann ergibt sich daraus, dass die elementaren Menschenrechte universale Geltung haben. Wenn ich Würde, Autonomie, Leben, Gesundheit, Streben nach Glück für mich beanspruche, dann muss ich diese Rechte oder Ansprüche auch den anderen zubilligen“<ref>Bordat: Zur Universalität der Menschenrechte. In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie (43) 2005, 68, Anm. 13.</ref>

Quellen

<references />