5. Generalversammlung der CELAM in Aparecida 2007
Jünger und Missionare Jesu Christi - damit unsere Völker in Ihm das Leben haben
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ({{#ifeq: Evangelium nach Johannes | 5. Generalversammlung der CELAM in Aparecida 2007 |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 14{{#if:6|,6}} EU
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(Quelle: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Stimmen der Weltkirche, Nr. 41, Bonn 2007; Das Schlussdokument von Aparecida wurde im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Norbert Arntz und Maria Schwabe übersetzt. Hilfreiche Hinweise zur Veröffentlichung kamen aus den Geschäftsstellen der Hilfswerke Adveniat und Misereor; ohne Quellenachweis, Register, Logo und Fotodokumentation der Generalversammlung; Alle Texte sind in dieser Quelle abgedruckt, auch wenn Texte, wie angegeben, auf der Vatikanseite verwendet wurden)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Inhaltsverzeichnis
- 1 Botschaft der 5. Generalversammlung an die Völker Lateinamerikas und der Karibik
- 2 Schlussdokument der 5. Generalversammlung der CELAM
- 2.1 Einführung
- 2.2 Erster Teil: Das Leben unserer Völker heute
- 2.3 Zweiter Teil: Das Leben Jesu Christi in den missionarischen Jüngern
- 2.3.1 Die Freude, missionarische Jünger zu sein, die das Evangelium Jesu Christi verkünden
- 2.3.1.1 Die Gute Nachricht von der Würde des Menschen
- 2.3.1.2 Die Gute Nachricht vom Leben
- 2.3.1.3 Die Gute Nachricht für die Familie
- 2.3.1.4 Die Gute Nachricht menschlichen Handelns
- 2.3.1.5 Die Gute Nachricht von der universellen Bestimmung der Güter und der Ökologie
- 2.3.1.6 Der Kontinent der Hoffnung und der Liebe
- 2.3.2 Die Berufung der missionarischen Jünger zur Heiligkeit
- 2.3.3 Die Gemeinschaft der missionierenden Jünger in der Kirche
- 2.3.3.1 Zum Leben in Gemeinschaft berufen
- 2.3.3.2 Kirchliche Orte für die Gemeinschaft
- 2.3.3.3 Missionarische Jünger mit spezieller Berufung
- 2.3.3.3.1 Die Bischöfe – missionarische Jünger des Hohenpriesters Jesus
- 2.3.3.3.2 Die Priester – missionarische Jünger Jesu, des Guten Hirten
- 2.3.3.3.3 Die Ständigen Diakone – missionarische Jünger des Dieners Jesu
- 2.3.3.3.4 Die Männer und Frauen aus dem Laienstand – Jünger und Missionare Jesu, der das Licht der Welt ist
- 2.3.3.3.5 Die Ordensmänner und Ordensfrauen – missionierende Jünger Jesu, der Zeuge des Vaters ist
- 2.3.3.4 Menschen, die die Kirche verlassen und sich anderen religiösen Gruppen angeschlossen haben
- 2.3.3.5 Ökumenischer und interreligiöser Dialog
- 2.3.4 Wegweisung für Jünger und Missionare
- 2.3.4.1 Eine trinitarische Spiritualität für die Begegnung mit Jesus Christus
- 2.3.4.2 Der Bildungsprozess der missionarischen Jünger
- 2.3.4.2.1 Aspekte des Prozesses
- 2.3.4.2.2 Allgemeine Kriterien
- 2.3.4.2.2.1 Eine ganzheitliche, kerygmatische und fortdauernde Bildung
- 2.3.4.2.2.2 Die verschiedenen Dimensionen der Bildung
- 2.3.4.2.2.3 Ausbildung auf der Grundlage gegenseitigen Respekts
- 2.3.4.2.2.4 Ausbildung und Begleitung der Jünger
- 2.3.4.2.2.5 Ausbildung in der Spiritualität missionarischen Handelns
- 2.3.4.3 Einführung in das christliche Leben und lebenslange Katechese
- 2.3.4.4 Orte der Ausbildung für die missionarischen Jünger
- 2.3.1 Die Freude, missionarische Jünger zu sein, die das Evangelium Jesu Christi verkünden
- 2.4 Dritter Teil: Das Leben Jesu Christi für unsere Völker
- 2.4.1 Die Sendung der Jünger im Dienst an der Fülle des Lebens
- 2.4.2 Das Reich Gottes und die Förderung menschlicher Würde
- 2.4.2.1 Gottes Reich, soziale Gerechtigkeit und christliche Liebe
- 2.4.2.2 Die Würde des Menschen
- 2.4.2.3 Die vorrangige Option für die Armen und Ausgeschlossenen
- 2.4.2.4 Eine erneuerte Sozialpastoral für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen
- 2.4.2.5 Globalisierung der Solidarität und internationale Gerechtigkeit
- 2.4.2.6 Das Leid der Menschen schmerzt uns
- 2.4.3 Familie, Personen und Leben
- 2.4.3.1 Ehe und Familie
- 2.4.3.2 Die Kinder
- 2.4.3.3 Heranwachsende und Jugendliche
- 2.4.3.4 Die alten Menschen sind ein wahrer Reichtum
- 2.4.3.5 Die Würde und Mitbeteiligung der Frau
- 2.4.3.6 Die Verantwortung des Mannes und Familienvaters
- 2.4.3.7 Die Kultur des Lebens verbreiten und verteidigen
- 2.4.3.8 Schutz der Umwelt
- 2.4.4 Unsere Völker und die Kultur
- 2.4.4.1 Die Kultur und ihre Evangelisierung
- 2.4.4.2 Bildung als öffentliches Gut
- 2.4.4.3 Pastoral der sozialen Kommunikation
- 2.4.4.4 Neue „Areopage“ und Entscheidungszentren
- 2.4.4.5 Jünger und Missionare im öffentlichen Leben
- 2.4.4.6 Die Pastoral in der Stadt
- 2.4.4.7 Im Dienst der Einheit und der Geschwisterlichkeit unserer Völker
- 2.4.4.8 Die Integration der Indigenen und der Afroamerikaner
- 2.4.4.9 Wege zu Versöhnung und Solidarität
- 2.5 Schluss
- 2.6 Anmerkungen
- 3 Papst Benedikt XVI.
- 3.1 Gebet von Papst Benedikt XVI. für die 5. Generalversammlung
- 3.2 Ansprache von Papst Benedikt XVI. nach dem Rosenkranzgebet am 12. Mai 2007 in Aparecida<ref>Ansprache von Papst Benedikt XVI. nach dem Rosenkranzgebet am 12. Mai 2007 in Aparecida auf der Vatikanseite</ref>
- 3.3 Predigt von Papst Benedikt XVI. in der Eucharistiefeier zu Beginn der 5. Generalversammlung am 13. Mai 2007<ref>Predigt von Papst Benedikt XVI. in der Eucharistiefeier zu Beginn der 5. Generalversammlung am 13. Mai 2007 auf der Vatikanseite</ref>
- 3.4 Telegramm der 5. Generalversammlung an die zum G-8-Gipfel vom 6.–8. Juni 2007 versammelten Staats- und Regierungschefs
- 3.5 Brief von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik vom 29. Juni 2007
- 3.6 Anmerkungen
- 4 Weblinks
Botschaft der 5. Generalversammlung an die Völker Lateinamerikas und der Karibik
Im Nationalheiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida in Brasilien versammelt grüßen wir in der Liebe Christi das ganze Volk Gottes sowie alle Männer und Frauen guten Willens.
Vom 13. bis 31. Mai 2007 waren wir zur 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik versammelt, die wir in Anwesenheit und mit der Ansprache von Papst Benedikt XVI. eröffnet haben. In einem überwältigenden Klima von Gebet, Geschwisterlichkeit und tief empfundener Gemeinsamkeit haben wir unsere Arbeit getan und uns darum bemüht, den Weg der Erneuerung fortzusetzen, den die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und in den vier vorangegangenen Generalversammlungen des Lateinamerikanischen und Karibischen Episkopats zurückgelegt hat.
Am Ende dieser 5. Generalversammlung können wir Euch verkünden, dass wir der Herausforderung gerecht geworden sind, unserer Sendung in und für Lateinamerika und die Karibik einen neuen Impuls und neue Kraft zu verleihen.
1. Jesus – Weg, Wahrheit und Leben
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) Angesichts der Herausforderungen einer neuen Epoche, deren Teil wir sind, erneuern wir unseren Glauben, indem wir voll Freude allen Männern und Frauen unseres Kontinentes kundtun: Durch Jesus, den Sohn Gottes, den Auferweckten, der mitten unter uns lebendig ist, sind wir geliebt und erlöst; seinetwegen können wir frei von Sünde und von aller Sklaverei in Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit leben. Jesus ist der Weg, der uns hilft, die Wahrheit zu entdecken und zur Fülle unseres Lebens zu finden!
2. Berufen zur Nachfolge Jesu
„Sie gingen mit, sahen, wo er wohnte, und blieben bei ihm“ (Joh 1,39) Jesus lädt jeden Menschen, der ihm begegnet, ein, sein Jünger zu werden, seinen Spuren zu folgen und in seiner Gemeinschaft zu leben. Unsere größte Freude ist es, seine Jünger zu sein! Er ruft jede und jeden von uns beim Namen, weil er unsere Geschichte genau kennt (vgl. Joh 10,3), damit wir mit ihm seien und damit er uns sende, seine Mission weiter zu tragen (vgl. Mk 3,14–15).
Lasst uns Jesus, dem Herrn, folgen! Jünger ist der Mensch, der den Ruf hört und ihm Schritt für Schritt auf den Pfaden des Evangeliums folgt. Ihm nachfolgend hören und sehen wir, wie das Reich Gottes wächst, wie der Mensch umkehrt, wie sich dadurch die Gesellschaft verändert und wie sich die Wege zu ewigem Leben auftun. In der Schule Jesu lernen wir das „neue Leben“, das der Heilige Geist in Bewegung bringt und das sich in den Werten des Reiches Gottes spiegelt.
Eins mit dem Meister lassen wir unser Leben von der Liebe und vom Dienst an den anderen bestimmen. Diese Liebe lebt von der immer wieder kritisch geprüften Entscheidung, dem Weg der Seligpreisungen zu folgen (vgl. Mt 5,3–12; Lk 6,20–26). Wir brauchen keine Furcht zu haben vor dem Kreuz, das die treue Nachfolge Jesu Christi zur Folge haben kann, denn es ist überstrahlt vom Licht der Auferweckung. So öffnen wir als Jünger für unsere unter Sünde und aller Art von Unrecht leidenden Völker Wege zu Leben und Hoffnung.
Der Ruf, Jünger und Missionare zu werden, verlangt von uns, dass wir uns eindeutig für Jesus und sein Evangelium entscheiden, dass Glauben und Leben miteinander übereinstimmen, dass die Werte des Reiches Gottes in uns Fleisch und Blut annehmen, dass wir zur Gemeinschaft der Jünger gehören und dass wir zum Zeichen des Widerspruchs und der Veränderung werden in einer Welt, die den Konsum verherrlicht und die Werte entstellt, die dem Menschen Würde verleihen. In einer Welt, die sich gegen Gottes Liebe sperrt, wollen wir eine Gemeinschaft der Liebe sein, nicht von der Welt, aber in der Welt und für die Welt (vgl. Joh 15,19; 17,14–16).
3. Missionierende Jüngerschaft im pastoralen Dienst der Kirche
„Geht zu allen Völkern und macht alle zu Jüngern“ (Mt 28,19)
Wir bemerken, wie durch Jüngerschaft und Mission unsere Pastoral auf dem Kontinent sich erneuert und die Neu-Evangelisierung unserer Völker wieder in Gang kommt.
Die Kirche wird zur Jüngerin
Vom Gleichnis des Guten Hirten lernen wir, Jünger zu werden, die sich vom Wort Gottes ernähren: „Die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme“ (Joh 10,4). Das Wort vom Leben (vgl. Joh 6,63), in der Geistlichen Schriftlesung sowie im Geschenk der gemeinsam gefeierten Eucharistie gekostet, möge uns verwandeln und uns erfahren lassen, dass der Auferweckte unter uns lebt. Er ist mit uns unterwegs und wirkt in der Geschichte (vgl. Lk 24,13–35).
Mit entschiedener Festigkeit wollen wir unsere prophetische Aufgabe weiterhin ausüben, indem wir kritisch prüfen, wo sich der Weg zu Wahrheit und Leben findet; indem wir unsere Stimmen im gesellschaftlichen Zusammenleben unserer Völker und Städte erheben, insbesondere zugunsten der aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Wir wollen die Ausbildung von christlichen Politikern und Parlamentsmitgliedern fördern, damit sie zum Aufbau einer gerechten, geschwisterlichen Gesellschaft nach den Prinzipien der kirchlichen Soziallehre beitragen können.
Die Kirche macht Menschen zu Jüngerinnen und Jüngern
Wir alle in der Kirche sind berufen, Jünger und Missionare zu werden. Wir müssen uns selbst weiterbilden und das ganze Volk Gottes formen, damit wir diese Aufgabe wagemutig und verantwortungsbewusst auf uns nehmen können.
Die Freude, Jünger und Missionare zu sein, erkennt man besonders dort, wo wir geschwisterlich zusammenleben. Wir sind dazu berufen, eine Kirche mit offenen Armen zu sein, die es versteht, jedes einzelne Mitglied freundlich aufzunehmen und ernst zu nehmen. Darum ermutigen wir die Pfarreien zu dem Bemühen, „Haus und Schule der Gemeinschaft“ zu werden, indem sie kleine Gemeinschaften und kirchliche Basisgemeinden, Vereinigungen von Laien, kirchliche Bewegungen und neue Gemeinschaften anregen und bilden.
Wir nehmen uns vor, häufiger den Menschen nahe zu sein. Deshalb regen wir im pastoralen Dienst einander an, jedem einzelnen Menschen mehr Zeit zu widmen, ihm zuzuhören, ihm bei wichtigen Ereignissen zur Seite zu stehen und gemeinsam mit ihm herauszufinden, was er zum Leben braucht. Lasst uns dafür sorgen, dass alle sich ernst genommen und in der Kirche zu Hause fühlen.
Mit dem Willen, das Engagement zur Ausbildung von Jüngern und Missionaren zu erneuern, hat sich diese Versammlung vorgenommen, aufmerksamer die Phasen der Erstverkündigung, der christlichen Initiation und des Mündigwerdens im Glauben zu berücksichtigen. In unserer Identität als Christen bestärkt, wollen wir jeder Schwester und jedem Bruder behilflich sein, den Dienst zu entdecken, zu dem der Herr ihn oder sie in Kirche und Gesellschaft ruft.
In einer nach Spiritualität dürstenden Welt und in dem klaren Bewusstsein, wie entscheidend für unser Leben als Jüngerinnen und Jünger die Beziehung zum Herrn ist, wollen wir eine Kirche sein, die lernt und lehrt zu beten. Das Gebet soll vom Leben bestimmt sein, aus dem Herzen kommen und zu Gottesdiensten führen, die gemeinsam lebendig gestaltet den Glauben beleben und stützen.
4. Missionierende Jüngerschaft im Dienste des Lebens
„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).
Vom Abendmahlsaal in Aparecida aus machen wir uns auf, eine neue Etappe unseres pastoralen Weges zu gehen, indem wir erklären: Wir befinden uns immer und überall in Mission. Mit dem Feuer des Geistes wollen wir auf unserem Kontinent die Liebe entfachen: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein [...] bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8).
In Treue zum Missionsauftrag
Jesus lädt alle ein, an seiner Mission teilzunehmen. Niemand soll mit verschränkten Armen abseits stehen! Missionarisch sein bedeutet, mit Kreativität und Mut das Reich Gottes zu verkünden, überall dort, wo das Evangelium nicht ausreichend bekannt gemacht oder aufgenommen wurde, besonders in schwierigen oder vernachlässigten Bereichen und jenseits unserer Grenzen.
Wie der Sauerteig
Lasst uns Missionare des Evangeliums sein, nicht nur mit dem Wort, sondern vor allem mit unserem eigenen Leben, indem wir es ganz in seinen Dienst stellen, sogar bis zum Martyrium.
Jesus begann seine Sendung, indem er eine Gemeinschaft aus missionarischen Jüngern formte, die Kirche, mit der das Reich Gottes beginnt. Sein Zusammensein mit ihnen gehörte zu seiner Verkündigung. Inmitten unserer Gesellschaft wollen wir unsere geschwisterliche Liebe und Solidarität (vgl. Joh 13,35) erfahrbar machen und noch mehr den Dialog mit den verschiedenen gesellschaftlichen und religiösen Akteuren pflegen. In einer immer pluraler werdenden Gesellschaft wollen wir integrierend wirken und die Kräfte zum Aufbau einer gerechteren, versöhnteren und solidarischeren Welt bündeln.
Der Tischgemeinschaft dienen
Die großen Unterschiede zwischen Reichen und Armen fordern uns auf, mit größerem Einsatz Jünger zu werden, die als Tischgemeinschaft das Leben miteinander zu teilen verstehen, die Tischgemeinschaft aller Söhne und Töchter des Vaters, eine offene Tischgemeinschaft, aus der niemand ausgeschlossen sein und bei der niemand fehlen darf. Daher bekräftigen wir die vorrangige, evangeliumsgemäße Option für die Armen.
Wir verpflichten uns, die Schwächsten zu schützen, besonders die Kinder, Kranken, Behinderten, gefährdeten Jugendlichen, Alten, Strafgefangenen, Migranten. Wir wachen über das Recht der Völker, die „vorhandenen Werte in allen Gesellschaftsschichten, vor allem in der ureinheimischen Bevölkerung“ (Benedikt XVI., Ansprache bei der Begrüßungszeremonie in Guarulhos Nr. 4) zu verteidigen und zu fördern. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, würdige Lebensbedingungen sicherzustellen: Gesundheit, Ernährung, Bildung, Wohnung und Arbeit für alle.
Die Treue zu Jesus verlangt von uns, die Übel zu bekämpfen, die das Leben schädigen oder zerstören, wie Abtreibung, Kriege, Entführung, bewaffnete Gewalt, Terrorismus, sexuelle Ausbeutung und Drogenhandel.
Wir fordern die Führungskräfte unserer Nationen auf, die Wahrheit zu verteidigen und für das unantastbare, heilige Recht auf Leben und Würde des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod Sorge zu tragen.
Wir stellen unseren Ländern die pastoralen Bemühungen der Kirche zur Verfügung, um die Förderung einer Kultur der Wahrhaftigkeit zu unterstützen, die die verschiedenen Formen der Gewalt, der unrechtmäßigen Bereicherung und der Korruption an der Wurzel packt.
In Übereinstimmung mit dem Schöpfungsplan Gottes rufen wir alle lebendigen gesellschaftlichen Kräfte auf, die Erde als unser gemeinsames Zuhause, die von der Zerstörung bedroht ist, zu schützen. Wir wollen eine menschliche Entwicklung fördern, die nachhaltig ist und die gerechte Verteilung der Reichtümer und die Gütergemeinschaft zwischen allen Völkern zur Grundlage hat.
5. Auf dem Weg zu einem Kontinent des Lebens, der Liebe und des Friedens
„Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid“ (Joh 13,35)
Wir, die wir an der 5. Generalversammlung in Aparecida teilgenommen haben, wollen zusammen mit der gesamten Kirche als einer „Liebesgemeinschaft“ den ganzen Kontinent an unser Herz drücken, um ihm die Liebe Gottes und unsere Liebe zu übermitteln. Wir wünschen uns, dass diese liebevolle Geste der Umarmung auch die ganze Welt erreicht.
Am Ende der Versammlung von Aparecida rufen wir in der Kraft des Heiligen Geistes alle unsere Brüder und Schwestern auf, in enger Verbundenheit und mit Begeisterung die Große Kontinentale Mission durchzuführen. Sie soll zu einem neuen Pfingsten werden, das uns besonders dazu antreibt, die Katholiken aufzusuchen, die sich entfernt haben, und all jene, die wenig oder nichts von Jesus Christus wissen, damit wir mit Freude eine Gemeinschaft in der Liebe Gottes, unseres Vaters, werden. Diese Mission soll alle erreichen, alle Bereiche umfassen und dauerhaft sein.
Mit dem Feuer des Heiligen Geistes wollen wir auf dem Wege der Evangelisierung weiter unsere Heilsgeschichte hoffnungsvoll aufbauen, da wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben (Hebr 12,1), nämlich die Märtyrer, Heiligen und Seligen unseres Kontinents. Mit ihrem Zeugnis haben sie uns gezeigt, dass Treue bis zum Ende möglich ist und sich lohnt.
Mit dem ganzen Volk im Gebet vereint vertrauen wir Maria, der Mutter Gottes und unserer Mutter, der ersten Jüngerin und Missionarin im Dienste des Lebens, der Liebe und des Friedens, die als Heilige Jungfrau von Aparecida und als Heilige Jungfrau von Guadalupe angerufen wird, den neuen Impuls an, der jetzt im Geist eines Neuen Pfingsten von dieser Fünften Generalversammlung für unsere Kirche in ganz Lateinamerika und der Karibik ausgeht.
In Medellín und Puebla haben wir am Ende gesagt: „Wir glauben“. In Aparecida rufen wir wie in Santo Domingo mit all unserer Kraft aus: „Wir glauben und hoffen.“
Wir hoffen:
- Eine lebendige, treue und glaubwürdige Kirche zu sein, die sich vom Wort Gottes und der Eucharistie nährt.
- Unser Christsein als Jünger und Missionare Jesu Christi mit Freude und Überzeugung zu leben.
- Lebendige Gemeinschaften zu bilden, die den Glauben nähren und zu missionarischem Handeln anregen.
- Die verschiedenen kirchlichen Organisationsformen im Geist der Communio zu respektieren.
- Mündige Laien zu fördern, die Mitverantwortung für die Sendung übernehmen, Gottes Reich zu verkünden und erfahrbar zu machen.
- Die Frauen in Gesellschaft und Kirche aktiv zu beteiligen.
- An unserer vorrangigen und dem Evangelium entsprechenden Option für die Armen mit neuem Bemühen festzuhalten.
- Die jungen Leute bei der Suche nach Identität, Berufung und Sendung und in ihrer Ausbildung zu begleiten, indem wir unsere Option für sie erneuern.
- Mit allen Menschen guten Willens am Aufbau des Reiches Gottes zusammenzuarbeiten.
- Die Pastoral des Lebens und der Familie mutig zu stärken.
- Unsere indigenen und afroamerikanischen Völker zu ehren und zu achten.
- „Damit alle eins werden“ im ökumenischen und im interreligiösen Dialog Forschritte zu machen.
- Diesen Kontinent zum Modell für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden zu machen.
Die Schöpfung, das Zuhause aller Menschen, dem Plan Gottes entsprechend zu hüten.
- Für die Integration aller Völker Lateinamerikas und der Karibik zusammenzuarbeiten.
Dieser Kontinent der Hoffnung soll auch zum Kontinent der Liebe, des Lebens und des Friedens werden!
Schlussdokument der 5. Generalversammlung der CELAM
Einführung
1 Im Licht des auferstandenen Herrn und in der Kraft des Heiligen Geistes haben wir Bischöfe von Lateinamerika uns in Aparecida, Brasilien, zur 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik versammelt. Wir haben dies getan als Hirten, die das Evangelisierungswerk der Kirche weiter voranbringen wollen: Die Kirche ist dazu berufen, all ihre Mitglieder zu Jüngern und Missionaren Christi zu machen, der Weg, Wahrheit und Leben ist, damit unsere Völker in Ihm das Leben haben. Wir tun dies in Gemeinschaft mit allen Ortskirchen in Amerika. Maria, die Mutter Jesu Christi und seiner Jünger, ist uns sehr nahe gewesen, sie hat uns aufgenommen, hat uns und unsere Arbeit beschützt und mit ihrem Mantel uns – wie Juan Diego und unseren Völkern – mütterlichen Schutz gewährt. Wir haben sie als Mutter, als vollkommene Jüngerin und Lehrerin der Evangelisierung gebeten, sie möge uns lehren, Kinder ihres Sohnes zu sein und zu tun, was er uns sagt (vgl. Joh 2,5).
2 In Freude waren wir mit dem Nachfolger des Petrus, dem Oberhaupt des Bischofskollegiums versammelt. Seine Heiligkeit Benedikt XVI. hat uns bestärkt im Primat des Glaubens an Gott, an seine Wahrheit und Liebe zum Wohle der Menschen und Völker. Wir sind ihm dankbar für alles, was er uns gelehrt hat, insbesondere für seine Eröffnungsansprache, weil sie Erleuchtung und sicherer Leitfaden für unsere Arbeit war. Dankbar erinnern wir uns der letzten Päpste. Vor allem ihre fruchtbare lehramtliche Tätigkeit, die uns bei unserer Arbeit ebenfalls präsent war, verdient besondere Erwähnung und Dank.
3 Wir fühlten uns durch das Gebet unseres gläubigen katholischen Volkes begleitet, sichtbar vertreten durch den Hirten und die Gläubigen der Kirche Gottes von Aparecida, aber auch durch die vielen Menschen, die aus ganz Brasilien und aus anderen Ländern Amerikas zum Marienheiligtum pilgerten. Sie alle haben uns gestärkt und evangelisiert. In der Gemeinschaft der Heiligen waren alle zugegen, die uns als Jünger und Missionare im Weinberg des Herrn vorausgegangen sind, insbesondere unsere lateinamerikanischen Heiligen, unter ihnen der heilige Toribio von Mogrovejo, der Patron des lateinamerikanischen Episkopats.
4 Das Evangelium kam im Kontext eines dramatisch asymmetrischen Aufeinandertreffens der Völker und Kulturen in unsere Länder. Die „Keime des Wortes“,<ref> Vgl. Puebla 401.</ref> die in den autochthonen Kulturen präsent sind, erleichterten unseren indigenen Geschwistern, im Evangelium lebendige Antworten für ihre tiefsten Sehnsüchte zu finden: „Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten“.<ref> Benedikt XVI., Ansprache zur Eröffnung der 5. Generalversammlung des Episkopats Lateinamerikas und der Karibik, 13. Mai 2007, 1 (Anm. d. Übers: Im Folgenden zitiert als „Eröffnungsansprache“).</ref> Die Erscheinung Unserer Lieben Frau von Guadalupe war ein entscheidendes Ereignis für die Verkündigung und Wertschätzung ihres Sohnes, Anleitung und Zeichen für die Inkulturation des Glaubens, Bekundung und neuer missionarischer Impuls für die Ausbreitung des Evangeliums.<ref> Vgl. Santo Domingo 15.</ref>
5 Seit der ersten Evangelisierung bis in die jüngste Zeit hinein hat die Kirche Erfahrungen von Licht und Schatten<ref> Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz am Mittwoch, 23. Mai 2007: „Die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit darf die Schatten, die das Werk der Evangelisierung des lateinamerikanischen Kontinents begleiteten, nicht ignorieren: Es ist in der Tat nicht möglich, das Leid und die Ungerechtigkeiten zu vergessen, die von den Kolonisatoren den oft in ihren grundlegenden Menschenrechten mit Füßen getretenen indigenen Völkern zugefügt worden sind. Aber die gebührende Erwähnung derartiger nicht zu rechtfertigender Verbrechen – Verbrechen, die allerdings schon damals von Missionaren wie Bartolomé de Las Casas und von Theologen wie Francisco de Vitoria von der Universität Salamanca verurteilt wurden – darf nicht daran hindern, voll Dankbarkeit das wunderbare Werk wahrzunehmen, das im Laufe dieser Jahrhunderte von der göttlichen Gnade unter diesen Völkern vollbrachte wurde.“</ref> durchlebt. Sie schrieb Seiten unserer Geschichte mit großer Weisheit und Heiligkeit. Sie hat auch schwierige Zeiten erlitten, sowohl durch Bedrängnisse und Verfolgungen als auch durch menschliche Schwächen, durch Anpassung an die Welt und fehlende Übereinstimmung von Wort und Tat, mit anderen Worten durch die Sünde ihrer Kinder, die entstellten, was am Evangelium neu war: die Leuchtkraft der Wahrheit und die Praxis von Gerechtigkeit und Liebe. Dennoch: Das Entscheidende in der Kirche ist stets das heilige Handeln ihres Herrn.
6 Deshalb danken wir vor allem Gott und loben ihn für alles, was er uns geschenkt hat. Wir nehmen den gesamten Kontinent als ein Geschenk an: die Schönheit und die Fruchtbarkeit seiner Länder, den Reichtum an Humanität, der in den einzelnen Menschen, in den Familien, in den Völkern und Kulturen des Kontinents zum Ausdruck kommt. Insbesondere ist uns Jesus Christus geschenkt worden, die Fülle der Offenbarung Gottes, ein unschätzbares Gut, die „kostbare Perle“ (vgl. Mt 13,45–46), das Fleisch gewordene Wort Gottes, Weg, Wahrheit und Leben für Männer und Frauen, denen er zeigt, dass sie zu vollkommener Gerechtigkeit und Glückseligkeit bestimmt sind. Er ist der einzige Befreier und Erlöser, der in seinem Tod und seiner Auferstehung die unterdrückenden Fesseln der Sünde und des Todes zerbrochen und die erbarmende Liebe des Vaters, die Berufung, die Würde und das Ziel der Menschen offenbart hat.
7 Der Glaube an den Gott der Liebe und die katholische Tradition sind der größte Reichtum im Leben und in der Kultur unserer Völker. Er äußert sich in dem mündigen Glauben vieler Getaufter und in der Volksfrömmigkeit, in der zum Vorschein kommt „die Liebe zum leidenden Christus, den Gott des Mitleids, der Vergebung und der Versöhnung [...]; die Liebe zu dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn [...], zu dem Gott, der den Armen und den Leidenden nahe ist, die tiefe Verehrung der allerseligsten Jungfrau von Guadalupe, der Jungfrau von Aparecida oder der Jungfrau mit verschiedenen nationalen und lokalen Titeln“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref> Zum Ausdruck kommt diese Volksfrömmigkeit auch in der Nächstenliebe, die überall Gesten, Werke und Wege der Solidarität mit den Ärmsten und Verlassensten bewirkt. Sie kommt auch zur Geltung im Bewusstsein von der Würde des Menschen, im weisen Respekt vor dem Leben, im leidenschaftlichen Einsatz für Gerechtigkeit, in der Hoffnung wider alle Hoffnung und in der Freude am Leben, selbst unter schwierigsten Bedingungen. Davon sind all unsere einfachen Leute zutiefst bewegt. Die katholischen Wurzeln leben weiter in ihrer Kunst und Sprache, in ihren Traditionen und ihrem tragisch-festlichen Lebensstil, in der Art und Weise, wie sie sich der Realität stellen. Deshalb hat der Heilige Vater uns als Kirche noch stärker an die Verantwortung für „die große Aufgabe“ erinnert, „den Glauben des Volkes Gottes zu bewahren und zu nähren“.<ref> Ebd. 3.</ref>
8 Das Geschenk der katholischen Überlieferung ist ein festes Fundament für Identität, Originalität und Einheit Lateinamerikas und der Karibik: eine historisch-kulturelle Realität, die gekennzeichnet ist durch das Evangelium Jesu Christi, durch eine Realität, in der die Sünde mächtig wurde – Missachtung Gottes, lasterhaftes Verhalten, Unterdrückung und Gewalt, Hartherzigkeit und Elend – wo jedoch die Gnade des österlichen Sieges übergroß geworden ist. Unsere Kirche besitzt trotz menschlicher Schwächen und menschlichen Elends einen hohen Grad an Vertrauen und Glaubwürdigkeit beim einfachen Volk. Sie ist eine Wohnstatt für geschwisterliche Völker und ein Heim für die Armen.
9 Die 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik ist ein neuer Schritt auf dem Weg der Kirche, insbesondere seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Versammlung tut einen weiteren Schritt und blickt zugleich zurück auf den Weg treuer Erneuerung und Evangelisierung, den die lateinamerikanische Kirche im Dienst an ihren Völkern zurückgelegt hat und der in den vorangegangenen Generalversammlungen des Episkopats (Rio de Janeiro 1955; Medellín 1968; Puebla 1979; Santo Domingo 1992) seinen Ausdruck fand. Wir erkennen in all dem das Wirken des Heiligen Geistes. Ebenso ist uns die Sondersynode der Bischöfe Amerikas (Rom 1997) gegenwärtig.
10 Diese 5. Generalversammlung stellt sich „die große Aufgabe, den Glauben des Volkes Gottes zu bewahren und zu nähren und auch die Gläubigen dieses Kontinents daran zu erinnern, dass sie kraft ihrer Taufe dazu berufen sind, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein“.<ref> Ebd. 3.</ref> Wir stehen am Beginn einer geschichtlichen Epoche mit neuen Herausforderungen und Anforderungen. Sie ist gekennzeichnet von einer durch neue gesellschaftlich-politische Turbulenzen generalisierten Verwirrung; durch die Ausbreitung einer Kultur, die mit der christlichen Tradition wenig zu tun hat oder ihr gar feindlich gegenüber steht; durch das Auftreten verschiedener religiöser Angebote, die je auf ihre Weise dem in unseren Völkern lebendigen Hunger nach Gott zu entsprechen suchen.
11 Die Kirche ist aufgerufen, ihre Sendung unter den neuen Bedingungen Lateinamerikas und der Welt gründlich zu überdenken und sie in Treue mutig wieder aufzugreifen. Sie darf sich weder vor jenen beugen, die nur Verwirrung, Gefahren und Bedrohungen sehen, noch vor jenen, die mit verschlissenen Ideologien oder verantwortungslosen Aggressionen die so verschiedenartigen und komplexen Situationen zu verschleiern suchen. Es geht darum, die Aktualität des Evangeliums, das in unserer Geschichte verwurzelt ist, durch persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Jesus Christus zu bestätigen, zu erneuern und wieder zu beleben, damit er Jünger und Missionare berufen kann. Das hängt nicht so sehr von großen Programmen und Strukturen ab, sondern von neuen Männern und Frauen, die diese Überlieferung und Aktualität als Jünger Jesu Christi und Missionare seines Reiches mit Leib und Seele übernehmen wollen, als Vorkämpfer neuen Lebens für ein Lateinamerika, das sich im Licht und in der Kraft des Heiligen Geistes neu verstehen möchte.
12 Ein katholischer Glaube, der nur als Last betrachtet wird, der nur als Katalog von Regeln und Verboten verstanden wird, sich auf einzelne Frömmigkeitspraktiken beschränkt, Glaubenswahrheiten nur selektiv und partiell akzeptiert, gelegentlich an einigen Sakramenten teilnimmt, bloß einige Prinzipien der kirchlichen Lehre nachbetet, Moralvorstellungen zurechtbiegt oder krampfhaft vertritt, die das Leben der Getauften nicht verwandeln, – ein solch reduzierter Glaube wird den Auseinandersetzungen der Zeit nicht standhalten. Unsere größte Bedrohung ist „der graue Pragmatismus des Alltags der Kirche, in dem scheinbar alles normal verläuft, in dem sich aber in Wirklichkeit der Glaube erbärmlich verbraucht und degeneriert“.<ref> Ratzinger, Joseph, Zur Lage von Glauben und Theologie heute. Vortrag bei der Tagung der Präsidenten der Bischöflichen Kommissionen Lateinamerikas für die Glaubenslehre, Guadalajara, Mexiko, 1996.</ref> Wir alle müssen neu beginnen von Christus her:<ref> Vgl. Novo millennio ineunte 28 f.</ref> „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“<ref> Deus caritas est 1.</ref>
13 Während viele unserer Völker sich auf das Gedenken ihrer zweihundertjährigen Unabhängigkeit vorbereiten, stehen wir in Lateinamerika und in der Karibik vor der Herausforderung, unsere Art und Weise katholisch zu sein und unsere persönlichen Optionen für den Herrn wieder zu beleben, damit der christliche Glaube als grundlegendes Ereignis und lebendig machende Begegnung mit Christus tiefer in die Herzen der lateinamerikanischen Menschen und Völker eindringe. Christus macht Leben und Sendung in allen Dimensionen der persönlichen und sozialen Existenz neu. Dies erfordert im Verständnis unserer katholischen Identität eine stärker missionarisch ausgerichtete Evangelisierung, die im Dialog mit allen Christen und im Dienst aller Menschen steht. Ist dies nicht der Fall, läuft „der unermessliche Schatz, an dem der lateinamerikanische Kontinent so reich ist, [...] sein kostbarstes Erbe: der Glaube an Gott, der die Liebe ist“<ref> BenediktXVI., Homilie bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung der 5. Generalversammlung des Episkopats Lateinamerikas und der Karibik, 13. Mai 2007 (Anm. d. Übers.: Im Folgenden zitiert als „Homilie zur Eröffnung“).</ref> in verschiedenen Bevölkerungskreisen immer mehr Gefahr, weiter zu zerfallen und sich aufzulösen. Heute entscheidet sich die Wahl zwischen Wegen, die zum Leben führen, und Wegen, die zum Tode führen (vgl. Dtn 30,15). Wege des Todes führen dazu, die Güter Gottes zu vergeuden, die wir durch all jene erhalten haben, die uns im Glauben vorangegangen sind. Wege einer Kultur ohne Gott und seine Gebote oder sogar gegen Gott, einer Kultur, die sich von den Götzen der Macht, des Reichtums und der kurzlebigen Lust leiten lässt und sich letztlich gegen den Menschen und gegen das Wohl der lateinamerikanischen Völker richtet. Wege des wahren und erfüllten Lebens für alle, Wege des ewigen Lebens sind jene, die der Glaube weist zur „Fülle des Lebens, die uns Christus gebracht hat [...]. Mit diesem göttlichen Leben entfaltet sich auch voll das menschliche Dasein in seiner persönlichen, familiären, sozialen und kulturellen Dimension.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> Dieses Leben teilt Gott uns durch seine bedingungslose Liebe mit, denn „die Liebe schenkt das Leben“.<ref> Benedikt XVI., Homilie zur Eröffnung.</ref> Diese Wege des Lebens machen die Gaben von Wahrheit und Liebe reicher, die wir durch Christus in der Gemeinschaft der Jünger und Missionare des Herrn empfangen haben, damit Lateinamerika und die Karibik in der Tat ein Kontinent seien, in dem Glaube und Liebe das Leben der Menschen erneuern und die Kulturen der Völker verwandeln mögen.
14 Der Herr sagt zu uns: „Habt keine Angst“ (Mt 28,5). Er fragt uns, wie die Frauen am Auferstehungsmorgen: „Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ (Lk 24,5). Die Siegeszeichen des auferstandenen Christus ermutigen uns, während wir um die Gnade der Umkehr bitten und die Hoffnung bewahren, die nicht betrügt. Was uns bestimmt, sind nicht die dramatischen Umstände des Lebens, nicht die Herausforderungen der Gesellschaft, nicht die Aufgaben, die wir bewältigen müssen, sondern vor allem die Liebe, die Gott uns durch Jesus Christus in der Salbung mit dem Heiligen Geist geschenkt hat. Diese grundlegende Priorität hat unsere gesamte Arbeit bestimmt, die wir Gott, unserer Kirche, unserem Volk, jedem einzelnen Menschen aus Lateinamerika widmen, verbunden mit der vertrauensvollen Bitte, dass der Heilige Geist uns helfe, die Schönheit und die Freude des Christseins neu zu entdecken. Die große Herausforderung, die wir in Angriff nehmen, besteht darin, zu beweisen, dass die Kirche die Fähigkeit besitzt, Jünger und Missionare hervorzubringen und auszubilden, die ihrer Berufung folgen und überall aus tiefer Dankbarkeit und Freude das Geschenk der Begegnung mit Jesus Christus weitergeben. Wir haben keinen anderen Schatz als diesen. Wir finden kein anderes Glück und auch keine andere Priorität als die, in der Kirche Werkzeuge des Geistes Gottes zu sein, damit man Jesus Christus begegnen, ihm folgen, ihn lieben, anbeten, allen verkündigen und weitergeben kann – trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände. Das ist der beste Dienst, den die Kirche als ihren ureigenen Dienst den Menschen und Nationen anbieten muss.<ref> Vgl. Evangelii nuntiandi 1.</ref>
15 In dieser Stunde, in der wir die Hoffnung erneuern, möchten wir uns die Worte zu Eigen machen, die Seine Heiligkeit Benedikt XVI. zu Beginn seines Pontifikats in Erinnerung an seinen Vorgänger, den Diener Gottes Johannes Paul II., ausgesprochen hat und für ganz Lateinamerika ausrufen: „Habt keine Angst: Öffnet, vielmehr sperrt auf die Türen für Christus! [...] Wer Christus einlässt, dem geht nichts, nichts – gar nichts verloren von dem, was das Leben frei, schön und groß macht. Nein, erst in dieser Freundschaft öffnen sich die Türen des Lebens. Erst in dieser Freundschaft gehen überhaupt die großen Möglichkeiten des Menschseins auf. Erst in dieser Freundschaft erfahren wir, was schön und was befreiend ist. [...] Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Ja, öffnet, mehr noch, macht die Türen sperrangelweit auf für Christus – dann findet Ihr das wirkliche Leben.“<ref> Benedikt XVI., Predigt bei der feierlichen Amtseinführung in den Petrusdienst als Bischof von Rom, 24. April 2005.</ref>
16 „Diese 5. Generalversammlung wird in Kontinuität mit den anderen vier Konferenzen abgehalten, die ihr in Rio de Janeiro, Medellín, Puebla und Santo Domingo vorausgegangen sind. Mit demselben Geist, der diese Versammlungen beseelt hat, wollen die Bischöfe nun der Evangelisierung einen neuen Impuls geben, damit diese Völker weiter im Glauben wachsen und reifen, um durch ihr Leben Licht der Welt und Zeugen Jesu Christi zu sein.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 2.</ref> Als Hirten der Kirche sind wir uns bewusst: „Seit der 4. Generalversammlung in Santo Domingo hat sich in der Gesellschaft vieles verändert. Die Kirche, die an den Bestrebungen und Hoffnungen, an den Leiden und Freuden ihrer Kinder teilnimmt, will ihnen in dieser Zeit so mannigfacher Herausforderungen zur Seite stehen, um ihnen stets Hoffnung und Trost zuzusprechen.“<ref> Ebd. 2.</ref>
17 Unsere Freude hat also ihren Grund in der Liebe des Vaters und in der Teilhabe am Ostergeheimnis Jesu Christi, der uns durch den Heiligen Geist vom Tod zum Leben hinübergehen lässt, von der Trauer zur Freude, vom absurden zum tiefen Sinn der Existenz, von der Mutlosigkeit zur Hoffnung, die nicht enttäuscht. Diese Freude ist kein künstlich produziertes Gefühl und auch kein vorübergehender Gemütszustand. Die Liebe des Vaters ist uns in Christus geoffenbart worden, der uns in sein Reich eingeladen hat. Er hat uns gelehrt zu beten „Abba, Vater“ (Röm 8,15; vgl. Mt 6,9).
18 Jesus Christus durch den Glauben kennen zu lernen, ist unsere Freude; ihm zu folgen, ist eine Gnade, und diesen Schatz an die anderen weiterzugeben, ist ein Auftrag, den der Herr uns anvertraut hat, als er uns berief und erwählte. Mit den Augen, die vom Licht des auferstandenen Jesus Christus erhellt werden, können und wollen wir die Welt, die Geschichte, unsere Völker in Lateinamerika und der Karibik und jeden einzelnen Menschen anschauen.
Erster Teil: Das Leben unserer Völker heute
19 In Kontinuität mit den bisherigen Generalversammlungen des Lateinamerikanischen Episkopats wird auch in diesem Dokument die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ angewendet. Diese Methode will mit dem Blick des Glaubens durch Gottes geoffenbartes Wort und durch den lebendig machenden Empfang der Sakramente Gott suchen, damit wir im täglichen Leben die Realität, die uns umgibt, im Licht seiner Verheißung betrachten, sie Jesus Christus – Weg, Wahrheit und Leben – entsprechend beurteilen, und als Kirche, mystischer Leib Christi und Sakrament des allumfassenden Heils, für die Ausbreitung des Reiches Gottes handeln, das auf der Erde gesät und im Himmel geerntet wird. Viele Stimmen auf dem gesamten Kontinent boten Beiträge und Anregungen in diesem Sinne und sie bekräftigten, dass diese Methode dazu beigetragen hat, unsere Berufung und Sendung in der Kirche intensiver zu leben, dass sie unsere theologisch-pastorale Arbeit verbessert und überhaupt dazu motiviert hat, Verantwortung in der jeweiligen konkreten Situation unseres Kontinents zu übernehmen. Diese Methode macht uns fähig, in der Perspektive des Glaubens die Realität zu betrachten und systematisch darzulegen, zu ihrer kritischen Beurteilung und Bewertung Kriterien zur Hand zu haben, die von Glaube und Vernunft bestimmt sind, und einen Plan zu entwickeln, um als Jünger und Missionare Jesu Christi handeln zu können. Unverzichtbare Voraussetzungen für die Wirksamkeit dieser Methode sind der überzeugte, frohe und vertrauensvolle Glaube an Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, sowie die Zugehörigkeit zur Kirche.<ref> Vgl. CELAM, Síntesis de los aportes recibidos para la V Conferencia General del Episcopado Latinoamericano (Zusammenfassung der aus allen Ortskirchen eingereichten Beiträge für die 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik), 34 f.</ref>
Jünger und Missionare
20 Die Licht- und Schattenseiten unserer Zeit bestimmen auch unser Nachdenken über den Weg der Kirchen in Lateinamerika und der Karibik. Die tief greifenden Veränderungen, die wir erfahren, bedrängen uns, aber sie verwirren uns nicht. Wir haben unübertreffliche Gaben empfangen, die uns helfen, die Realität mit dem Blick von Jüngern und Missionaren Jesu Christi zu betrachten.
21 Täglich haben uns die zahllosen, mit Hoffnung erfüllten Pilgerinnen und Pilger an die ersten Jünger Jesu Christi erinnert, die an den Jordan gingen, wo Johannes taufte, weil sie darauf hofften, den Messias zu finden (vgl. Mk 1,5). Alle, die sich von der Weisheit der Worte Jesu, von seiner Güte, von der Macht seiner Wunder, vom ungewöhnlichen Staunen, das dieser Mensch wachrief, angezogen fühlten, nahmen das Geschenk des Glaubens an und wurden Jüngerinnen und Jünger Jesu. Sie konnten die Finsternis und die Schatten des Todes (vgl. Lk 1,79) hinter sich lassen und fanden zu einem außerordentlich erfüllten Leben. Sie fühlten sich durch das Geschenk des Vaters bereichert. Sie haben die Geschichte ihres Volkes und ihrer Zeit erlebt und waren überall im Römischen Reich unterwegs, ohne je die wichtigste und für ihr Leben entscheidende Begegnung zu vergessen, die sie mit Licht, Kraft und Hoffnung erfüllt hatte: die Begegnung mit Jesus, der ihnen Fels, Friede und Leben wurde.
22 Das erfahren auch wir, wenn wir die Realität unserer Völker und unserer Kirche ansehen, mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Ängsten und Hoffnungen. Wenn wir leiden und wenn wir uns freuen, bleiben wir in der Liebe Christi, betrachten unsere Welt und bemühen uns darum, ihre Entwicklung aus froher Hoffnung und unendlicher Dankbarkeit für den Glauben an Jesus Christus zu beurteilen. Jesus Christus ist der wahre Sohn Gottes, der einzige Erlöser der Menschheit. Die einzigartige, unersetzliche Bedeutung Christi für uns und für die gesamte Menschheit besteht darin, dass Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. „Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und wenn es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Im Klima der relativistischen Kultur, in dem wir leben, wird es für alle Glieder der Kirche immer wichtiger und dringlicher, in der festen Überzeugung zu wurzeln und zu reifen, dass Christus, der Gott mit menschlichem Antlitz, unser wahrer und einziger Erlöser ist.
Dank an Gott
23 Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Er hat uns mit der Fülle seines Segens durch den Menschen Jesus Christus gesegnet (vgl. Eph 1,3). Der Gott des Bundes, reich an Erbarmen, hat uns zuerst geliebt. Unverdient hat jede und jeder von uns seine Liebe empfangen. Deshalb preisen wir ihn, bewegt vom Heiligen Geist, vom lebendig machenden Geist, der Seele und Leben der Kirche ist. Er ist ausgegossen in unsere Herzen, er klagt mit uns und ist unser Anwalt, er stützt und bestärkt uns mit seinen Gaben, wenn wir als Jünger und Missionare unterwegs sind.
24 Wir preisen Gott mit dankbarem Herzen, weil er uns dazu berufen hat, an seinem Reich der Liebe und des Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens, für das so viele ihr Leben hingegeben haben, mitzuwirken. Er selbst hat uns das Werk seiner Hände anvertraut, damit wir es bewahren und es allen zuteil werden lassen. Wir danken Gott, dass er uns zu Mitwirkenden gemacht hat, damit wir solidarisch mit seiner Schöpfung umgehen, für die wir verantwortlich sind. Wir preisen Gott, der uns die geschaffene Natur, die sein erstes Buch ist, gegeben hat, damit wir ihn kennen lernen und sie als unser Zuhause erfahren.
25 Wir danken Gott, dass er uns das Geschenk seines Wortes gegeben hat, durch das wir uns mit Hilfe seines Sohnes, der sein Wort ist (vgl. Joh 1,1), mit ihm und untereinander verbinden können. Wir sagen ihm Dank, der uns in seiner großen Liebe als Freunde angesprochen hat (vgl. Joh 15,14–15). Wir preisen Gott, der sich uns in der Feier des Glaubens, insbesondere in der Eucharistie, als Brot des ewigen Lebens gibt. Der Dank an Gott für die zahlreichen herrlichen Gaben, die er uns verliehen hat, findet seinen Höhepunkt in der zentralen Feier der Kirche, in der Eucharistie, als der lebenswichtigen Speise für die Jünger und Missionare, aber auch im Sakrament der Vergebung, das Christus uns am Kreuz zuteil werden ließ. Wir preisen Jesus, den Herrn, für das Geschenk seiner Heiligsten Mutter, Mutter Gottes und Mutter der Kirche in Lateinamerika und der Karibik, Stern einer neuen Evangelisierung, erste Jüngerin und großartige Missionarin für unsere Völker.
26 Von Christus erleuchtet fühlen wir uns durch Leid, Unrecht und Kreuz herausgefordert, als samaritanische Kirche zu leben (vgl. Lk 10,25–37) und erinnern uns dabei, „dass sich die Evangelisierung immer zusammen mit der Förderung des Menschen und der wahren christlichen Befreiung entfaltet hat“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Wir danken Gott und sind froh im Glauben, in der Solidarität und der Freude, die unsere Völker charakterisieren und die ihnen im Lauf der Zeiten von ihren Vorfahren, von ihren Müttern und Vätern, von Katechetinnen und Katecheten, von Fürbitterinnen und Fürbittern, von so vielen unbekannten Menschen weitergegeben wurden. Ihrer aller Liebe hat die Hoffnung inmitten von Unrecht und Ungemach lebendig erhalten.
27 Die Bibel gibt uns wiederholt zu verstehen, dass Gott auf die von ihm geschaffene Welt mit Wohlgefallen schaute und sah, „dass es gut war“ (Gen 1,21). Als er den Menschen durch seinen Lebensatem als Mann und Frau erschaffen hatte, sah er „alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“ (Gen 1,31). Die von Gott geschaffene Welt ist wundervoll. Wir stammen aus Gottes von Weisheit und Liebe bestimmtem Plan. Aber durch die Sünde wurde die ursprüngliche Schönheit befleckt und die Güte verletzt. Gott hat im österlichen Geheimnis durch unseren Herrn Jesus Christus den Menschen neu geschaffen, ihn zu seinem Sohn bzw. seiner Tochter gemacht und ihm einen neuen Himmel und eine neue Erde zugesichert (vgl. Offb 21,1). Wir tragen das Bild des ersten Adam, aber sind auch von Anfang an dazu berufen, das Bild des neuen Adam, Jesus Christus, zu verwirklichen (vgl. 1 Kor 15,45). Die Schöpfung trägt das Erkennungszeichen des Schöpfers und sehnt sich danach, „befreit (zu) werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21).
Die Freude, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein
28 Bei der Begegnung mit Christus wollen wir unserer Freude darüber Ausdruck verleihen, dass wir Jünger des Herrn sind und mit dem Schatz des Evangeliums ausgesandt wurden. Christsein ist keine Last, sondern ein Geschenk: Gott der Vater hat uns in Jesus Christus, seinem Sohn, dem Erlöser der Welt, gesegnet.
29 Wir haben den Wunsch, dass die Freude, die wir durch die Begegnung mit Jesus Christus, den wir als Mensch gewordenen Sohn Gottes und Erlöser anerkennen, empfangen haben, alle von Ungemach verwundeten Männer und Frauen erreiche; wir haben den Wunsch, dass die Freude über die Gute Nachricht vom Reich Gottes, von Jesus Christus, dem Sieger über Sünde und Tod, zu allen gelange, die am Wegesrand liegend um Almosen und Nächstenliebe bitten (vgl. Lk 10,29–37; 18,25–43). Die Freude des Jüngers ist ein Gegenmittel gegen die Welt, die beherrscht ist von der Furcht vor der Zukunft und gebeugt von Hass und Gewalt. Die Freude des Jüngers ist kein Gefühl egoistischer Behaglichkeit, sondern eine feste Überzeugung, die aus dem Glauben stammt, der das Herz gelassen macht und befähigt, die Gute Nachricht von der Liebe Gottes zu verkündigen. Jesus kennen zu lernen ist das beste Geschenk, das einem Menschen zuteil werden kann. Ihm begegnet zu sein, ist das Beste, was uns in unserem Leben passieren konnte. Ihn durch Wort und Tat bekannt zu machen, ist uns eine große Freude.
Die Kirche ist gesandt zu evangelisieren
30 Die Geschichte der Menschheit, die nie von Gott verlassen wurde, ereignet sich unter dem mitfühlenden Augenmerk Gottes. Gott hat unsere Welt so sehr geliebt, dass er uns seinen Sohn gegeben hat. Er bringt den Armen und Sündern die Gute Nachricht vom Reich Gottes. Deshalb wollen und müssen wir als Jünger Jesu und Missionare das Evangelium verkünden, das Christus selbst ist. Wir verkünden unseren Völkern, dass Gott uns liebt, dass Gottes Dasein keine Bedrohung für den Menschen darstellt, dass er mit der erlösenden und befreienden Macht seines Reiches nahe ist, dass er uns in der Bedrängnis zur Seite steht, dass er in allen Anfechtungen unermüdlich unsere Hoffnung belebt. Wir Christinnen und Christen sind Botschafter guter Nachrichten für die Menschheit und keine Unglückspropheten.
31 Die Kirche soll ihrer Sendung gerecht werden, indem sie den Spuren Jesu folgt und sich sein Verhalten zu Eigen macht (vgl. Mt 9,35–36). Obwohl er der Herr ist, machte er sich selbst zum Sklaven und wurde gehorsam bis zum Tode (vgl. Phil 2,8). Obwohl er reich war, entschied er sich, unseretwegen arm zu werden (vgl. 2 Kor 8,9). So weist er uns den Weg, auf den wir als Jünger und Missionare gerufen sind. Das Evangelium lehrt uns den erhabenen Auftrag, arm zu werden, indem wir dem armen Jesus nachfolgen (vgl. Lk 6,20; 9,58), und das Evangelium vom Frieden ohne Geldbeutel und Vorratstasche zu verkündigen, ohne auf Geld oder auf die Macht dieser Welt zu vertrauen (vgl. Lk 10,4 ff.). Die Hochherzigkeit der Missionare offenbart die Hochherzigkeit Gottes; in der Selbstlosigkeit der Apostel tritt die Selbstlosigkeit des Evangeliums in Erscheinung.
32 Im Antlitz des getöteten und auferweckten, unserer Sünden wegen misshandelten, aber vom Vater verherrlichten Jesus Christus, in seinem Antlitz voll Schmerz und Glorie<ref> Vgl. Novo millennio ineunte 25, 28.</ref> können wir mit den Augen des Glaubens die geschändeten Antlitze so vieler Männer und Frauen aus unseren Völkern und zugleich ihre Berufung zur Freiheit der Kinder Gottes, zur vollendeten Erfüllung ihrer menschlichen Würde und zur Geschwisterlichkeit erkennen. Die Kirche steht im Dienste aller Menschen, aller Töchter und Söhne Gottes.
Der Blick der Jünger und Missionare auf die Realität
Die Realität fordert uns Jünger und Missionare heraus
33 Die Völker Lateinamerikas und der Karibik erleben heute einschneidende Veränderungen, die ihr Leben tief greifend in Mitleidenschaft ziehen. Als Jünger Jesu Christi fühlen wir uns herausgefordert, im Licht des Heiligen Geistes die „Zeichen der Zeit“ zu erforschen, um uns in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen, das Jesus verkündigt hat. Er ist gekommen, damit alle das Leben haben „und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).
34 Das Neue an diesen Veränderungen – im Unterschied zu denen vergangener Epochen – besteht darin, dass sie von globaler Reichweite sind und mehr oder weniger stark die ganze Welt betreffen. Gewöhnlich beschreibt man sie als das Phänomen der Globalisierung. Ein entscheidender Faktor für diese Veränderungen sind Wissenschaft und Technologie, die sogar Lebewesen genetisch manipulieren können und in der Lage sind, ein weltweites öffentliches und privates Kommunikationsnetz zu schaffen, um – trotz geographischer Distanzen – in Echtzeit, das heißt simultan zu interagieren. Gewöhnlich sagt man, die Geschichte habe sich beschleunigt und die Veränderungen wirken so Schwindel erregend, weil sie sich mit großer Geschwindigkeit bis in die entferntesten Winkel des Planeten ausbreiten.
35 Diese neue, die ganze Welt erfassende Entwicklungsstufe des menschlichen Genius wirkt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus, auf Kultur, Wirtschaft, Politik, Wissenschaften, Bildung, Sport, Kunst und natürlich auch auf die Religion. Als Hirten der Kirche richtet sich unser Augenmerk darauf zu sehen, wie dieses Phänomen das Leben unserer Völker sowie das religiös-ethische Bewusstsein unserer Geschwister beeinflusst. Sie suchen unermüdlich das Antlitz Gottes und müssen es heute tun unter den Herausforderungen neuer Sprachweisen technischer Überlegenheit, die nicht immer die göttliche Bedeutung des von Christus erlösten menschlichen Lebens offenbaren, sondern sie oft sogar verschleiern. Ohne eindeutige Offenheit für das Mysterium Gottes wird Gottes liebevoll väterliche Bestimmung, dass allen Menschen ein würdevolles Leben zusteht, unkenntlich.
36 In diesem neuen gesellschaftlichen Kontext wird die Realität für den Menschen immer undurchschaubarer und komplexer. Das heißt, jede einzelne Person benötigt immer mehr Information, wenn sie die Realität mit der Souveränität gestalten will, zu der sie berufen ist. Diese Erfahrung hat uns gelehrt, die Realität mit größerer Demut anzuschauen, weil wir wissen, dass sie viel größer und komplexer ist als die Vereinfachungen, mit denen wir sie in einer noch nicht so fernen Vergangenheit gewöhnlich betrachtet haben. Durch die Vereinfachungen wurden häufig Konflikte in die Gesellschaft hineingetragen, deren Wunden immer noch nicht verheilt sind. Es ist auch schwierig geworden, den Zusammenhang der Fragmente zu erkennen, die in den von uns gesammelten Informationen enthalten sind. Oft möchten die einen die Realität einseitig unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Information betrachten, andere unter politischer oder wissenschaftlicher Perspektive, wieder andere nur aus der Sicht von Unterhaltung und Spektakel. Aber keines dieser Teilkriterien vermag uns eine Vorstellung anzubieten, die den Bedeutungszusammenhang dessen erfasst, was es gibt. Sobald die Menschen diese Fragmentierung und Einschränkung erfahren, wächst in ihnen ein Gefühl von Frustration, Beklommenheit und Angst. Die gesellschaftliche Realität erscheint viel zu umfassend für ihr Bewusstsein, so dass sie – den Mangel an Wissen und Information berücksichtigend – sich schnell für bedeutungslos halten und meinen, den Lauf der Ereignisse nicht beeinflussen zu können, auch dann nicht, wenn sie sich mit anderen zusammentun, um sich gegenseitig zu unterstützen.
37 Aus diesem Grunde vertreten viele Experten unserer Epoche die These, dass diese Realität eine Sinnkrise herbeigeführt hat. Dabei beziehen sie sich nicht auf die vielfältigen partiellen Sinnvorstellungen, die jeder einzelne Mensch in seinem Alltagshandeln zu entdecken vermag, sondern auf den Sinnzusammenhang, der alles, was es gibt, zu einer Einheit zusammenfügt, der aus unseren Erfahrungen herrührt und den wir Glaubenden als religiösen Sinn bezeichnen. Dieser Sinnzusammenhang steht uns üblicherweise in unseren kulturellen Traditionen zur Verfügung, die einen Realitätsbezug darstellen, durch den jeder einzelne Mensch die Welt, in der er lebt, betrachten kann. Wir wissen, welche hervorragend orientierende Rolle in unserer lateinamerikanisch-karibischen Kultur die Volksreligiosität gespielt hat, insbesondere die Marienverehrung. Durch sie wurden wir uns unserer gemeinsamen Bestimmung als Söhne und Töchter Gottes sowie unserer gemeinsamen Würde vor seinem Angesicht immer mehr bewusst, trotz aller gesellschaftlichen, ethnischen oder sonstigen Unterschiede.
38 Wir müssen jedoch zugeben, dass diese kostbare Überlieferung dabei ist, sich aufzulösen. Die meisten Massenkommunikationsmittel präsentieren uns neue, attraktive, phantasievolle Bilder. Zwar weiß jeder, dass diese keinen Sinnzusammenhang für alle Erscheinungen der Realität herstellen können, aber sie bieten zumindest die tröstliche Vorstellung, in Echtzeit, live, unmittelbar und aktuell übertragen zu werden. Die von den Medien übermittelten Informationen können bei weitem das Vakuum nicht füllen, das der Verlust eines einheitlichen Lebenssinnes in unserem Bewusstsein hinterlässt, und sie lenken uns in vielen Fällen nur davon ab. Der Mangel an Information wird lediglich durch noch mehr Information behoben, wodurch sich die innere Unruhe des Menschen, der sich einer verworrenen, unergründlichen Welt ausgesetzt fühlt, weiter verstärkt.
39 Vielleicht erklärt dieses Phänomen eine unserer jüngsten und ernüchterndsten Erfahrungen. Unsere kulturellen Traditionen werden nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie in der Vergangenheit von einer Generation an die andere weitergegeben. Das betrifft sogar den innersten Kern jeder Kultur, die religiöse Erfahrung. Auch sie wird heute nur schwerlich durch die Erziehung oder die Schönheit kultureller Ausdrucksformen vermittelt, nicht einmal mehr durch die Familie, die als Ort des Dialogs und der Solidarität zwischen den Generationen einst eine der wichtigsten Trägerinstanzen für die Übermittlung des Glaubens war. Die Kommunikationsmedien sind in alle Bereiche und alle Austauschformen vorgedrungen und haben sich auch in der Familie breitgemacht. Die Weisheit der Überlieferung erfährt sich nun als Konkurrentin zur neuesten Meldung, zum Vergnügen, zur Unterhaltung, zu den Bildern von den Erfolgreichen, die es verstanden haben, die technologischen Mittel und die Erwartungen von Prestige und gesellschaftlicher Anerkennung zu ihren Gunsten zu nutzen. Deshalb suchen die Menschen blindlings ausgerechnet dort Sinn und Erfüllung ihrer tiefsten Bestimmung zu erfahren, wo sie diese niemals finden können.
40 Unter den Maßgaben, die das Familienleben schwächen und beeinträchtigen, finden wir die Ideologie der sozialen Geschlechterrolle. Diese behauptet, dass jeder Mensch seine sexuelle Orientierung wählen kann, ohne die von der menschlichen Natur gesetzten Unterschiede zu berücksichtigen. Diese Vorstellungen haben Modifizierungen von Gesetzen provoziert, die die Würde der Ehe, die Respektierung des Rechtes auf Leben und die Identität der Familie schwer schädigen.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, 31. Mai 2004, Nr. 2. Das Schreiben zitiert den Päpstlichen Rat für die Familie: Familie, Ehe und „de-facto“- Lebensgemeinschaften vom 26. Juli 2000, Nr. 8.</ref>
41 Deshalb müssen wir Christen von Christus her neu beginnen, müssen den neu anschauen, der uns durch sein Mysterium die vollständige Erfüllung menschlicher Bestimmung und ihres Sinnes geoffenbart hat. Wir müssen zu gelehrigen Jüngern werden, um in seiner Nachfolge die Würde und die Fülle des Lebens von ihm zu lernen. Und zugleich brauchen wir umfassenden missionarischen Eifer, um jenen verbindenden vollständigen Sinn menschlichen Lebens mitten in die Kultur unserer Zeit zu tragen, den weder die Wissenschaft noch die Politik, weder die Wirtschaft noch die Kommunikationsmedien überbringen können. In Christus, Wort und Weisheit Gottes (vgl. 1 Kor 1,30), kann die Kultur ihre Mitte und ihre Tiefe finden. Von hier aus wird man die Realität mit all ihren Faktoren anschauen, diese im Licht des Evangeliums beurteilen und jedem einzelnen den angemessenen Platz und Raum überlassen können.
42 In seiner Eröffnungsansprache sagte uns der Papst: „Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Die Gesellschaft, die ihre Aktivitäten nur durch vielfältige Informationen koordiniert, glaubt, sie könne faktisch handeln, als ob Gott nicht existiere. Aber die durch Information erreichte Wirksamkeit des Handelns kann, selbst wenn sie auf den fortschrittlichsten Technologien beruht, die tief in das Wesen des Menschen eingeschriebene Sehnsucht nach Würde nicht zufrieden stellen. Deshalb genügt es nicht zu unterstellen, dass die bloße Verschiedenartigkeit von Gesichtspunkten, von Optionen und schließlich von Informationen, die man üblicherweise als Plurikulturalität bzw. Multikulturalität bezeichnet, den Verlust eines Sinnzusammenhangs wettmachen könne, der allem, was existiert, zugrunde liegt. Der Mensch selbst ist in seinem Wesen der Ort der Natur, an dem die unterschiedlichen Vorstellungen zu einer einzigen Sinnbestimmung zusammenlaufen. Die Verschiedenheit erschreckt die Menschen nicht. Sie sind vielmehr erschreckt, wenn es ihnen nicht gelingt, das gesamte Bedeutungsgefüge der Realität in einem Verständniszusammenhang zu verbinden, der es ihnen gestattet, ihre Freiheit mit Unterscheidungsvermögen und Verantwortlichkeit leben zu können. Der Mensch strebt immer nach der Wahrheit seines Seins; denn diese Wahrheit rückt die Realität in ein solches Licht, dass der Mensch sich in ihr mit Freiheit und Frohmut, mit Freude und Hoffnung entfalten kann.
Die gesellschaftlich-kulturelle Situation
43 Die gesellschaftliche Realität, die wir in ihrer gegenwärtigen Dynamik mit dem Wort Globalisierung beschreiben, bestimmt also mehr als jede andere Dimension unsere Kultur sowie die Art und Weise, wie wir uns auf sie einlassen und sie uns aneignen. Die Verschiedenheiten und der Reichtum der lateinamerikanischen Kulturen, von den ursprünglichsten angefangen bis hin zu jenen, die sich im Verlauf der Geschichte und der Vermischungen ihrer Völker in den Nationen und den Familien, in den gesellschaftlichen Gruppen und Bildungsinstitutionen sowie im staatlichen Zusammenleben der Menschen herausgebildet haben, sind für uns recht offenkundige Merkmale, die wir als einzigartigen Reichtum betrachten. Nicht die Verschiedenheiten stehen heute auf dem Spiel, denn diese können durch die Informationsmedien einzeln ausgemacht und dargestellt werden. Vielmehr vermissen wir die Möglichkeit, diese Verschiedenheiten in einer Synthese zusammenfließen zu lassen, die in der Lage ist, die Verschiedenartigkeit der Sinndeutungen zusammenzufügen und auf ein gemeinsames historisches Ziel zu lenken. Gerade darin besteht der unschätzbare Wert des marianischen Charakters unserer Volksreligiosität, die es verstanden hat, in der Gestalt der verschiedenen Arten der Marienverehrung die unterschiedlichen lateinamerikanischen geschichtlichen Wirklichkeiten zu einer gemeinsamen Geschichte zu verschmelzen: zu jener, die zu Christus, dem Herrn des Lebens führt, in dem die höchste Würde unserer menschlichen Berufung verwirklicht ist.
44 Wir erleben einen Epochenwechsel, der sich am folgenschwersten kulturell auswirkt. Das ganzheitliche Verständnis vom Menschen, von seiner Beziehung zur Welt und zu Gott verflüchtigt sich: „Hierin liegt genau der große Irrtum der im letzten Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen. [...] Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff ‚Wirklichkeit’ und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen.“<ref> Ebd. 3.</ref> Mit aller Kraft breitet sich heute eine Überbewertung der individuellen Subjektivität aus. Die Freiheit und die Würde der Person werden ungeachtet ihrer jeweiligen Form anerkannt. Der Individualismus schwächt die gemeinschaftlichen Beziehungen und bringt eine radikale Umwandlung von Raum und Zeit mit sich, indem er die Einbildungskraft an die erste Stelle rückt. Gesellschaftliche, ökonomische und technologische Phänomene bestimmen im Grunde das Erleben der Zeit, die man immer nur als jeweils eigenständige Gegenwart erfährt, so dass man das eigene Leben als haltlos und instabil wahrnimmt. Das Gemeinwohl interessiert nicht mehr, stattdessen sucht man die individuellen Wünsche unmittelbar zu verwirklichen, Wünsche nach Schaffung neuer und oft willkürlicher individueller Rechte, Wünsche nach Lösung für die Probleme von Sexualität, Familie, Krankheit und Tod.
45 Wissenschaft und Technik, die allein nach den Kriterien von Effektivität, Rentabilität und Funktionalität ausschließlich in den Dienst des Marktes gestellt werden, schaffen ein neues Verständnis von Realität. Unter Nutzung der Massenmedien sind so nach und nach eine ästhetische Lebensdeutung, ein bestimmtes Verständnis von Glück, ein bestimmter Realitätsbegriff und sogar eine Sprache eingeführt worden, die man als authentische Kultur durchsetzen will. So zerstört man schließlich das, was es an wirklich Menschlichem am kulturellen Aufbau gibt, der durch den personalen und gemeinschaftlichen Austausch entsteht.
46 Zu beobachten ist in breitem Ausmaß eine Art neuer kultureller Kolonisierung, indem man künstlich geschaffene Kulturen durchsetzt, die lokalen Kulturen missachtet und bestrebt ist, alle Bereiche kulturell zu vereinheitlichen. Diese Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass das Individuum sich nur noch auf sich selber bezieht und indifferent gegenüber dem anderen wird, den es nicht braucht und für den es sich auch nicht verantwortlich fühlt. Man zieht es vor, von einem Tag zum andern zu leben, ohne langfristige Programme oder persönliche, familiäre und gemeinschaftliche Verbindlichkeiten. Zwischenmenschliche Beziehungen gelten als konsumierbare Objekte, so dass emotionale Beziehungen ohne verantwortliche und entschiedene Verpflichtung entstehen.
47 Ebenso ist eine Tendenz zu übertriebener Betonung individueller und subjektiver Rechte festzustellen. Dieses Bestreben ist pragmatisch, richtet sich auf unmittelbar erreichbare Ziele und kümmert sich nicht um ethische Kriterien. Die individuellen und subjektiven Rechte zu betonen, ohne zugleich die sozialen, kulturellen und solidarischen Rechte entschieden zu garantieren, beschädigt schließlich die Würde aller Menschen, insbesondere der ärmsten und anfälligsten.
48 In dieser Stunde Lateinamerikas und der Karibik ist es dringend notwendig, sich darüber im Klaren zu sein, wie sehr die Würde der Frauen gefährdet ist. Einige werden bereits als Kinder und Jugendliche vielfältigen Formen der Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie ausgesetzt: durch Menschenhandel, Vergewaltigung, Sklavenarbeit und sexuelle Belästigung; durch ungleiche Bedingungen in Arbeitswelt, Politik und Wirtschaft; bei der Ausbeutung durch Werbung in vielen Kommunikationsmedien, die die Frauen als gewinnträchtiges Objekt benutzen.
49 Die kulturellen Veränderungen haben die traditionellen Rollen von Männern und Frauen verändert. Männer und Frauen wollen ihre jeweiligen Identitäten in neuen Verhaltensweisen und Lebensstilen erproben, um sich im täglichen Zusammenleben, in Familie und Gesellschaft als Menschen nach allen Seiten hin zu entwickeln, manchmal auch auf Irrwegen.
50 Die Gewinnsucht des Marktes entgrenzt die Wünsche von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Werbung führt illusorisch in ferne, wunderbare Welten. Da wird jeder Wunsch durch Produkte befriedigt, die wirksam, kurzlebig und sogar messianisch funktionieren. Die Werbung legitimiert sich dadurch, Wünsche in Glück zu verwandeln. Da man nur das Nächstliegende braucht, tut man so, als sei das Glück durch ökonomischen Wohlstand und hedonistische Befriedigung zu erreichen.
51 Die junge Generation ist in ihren tiefen persönlichen Anliegen von dieser Konsumkultur am meisten betroffen. Sie wächst in der Logik des pragmatischen, narzisstischen Individualismus auf, der in ihnen imaginäre Sonderwelten von Freiheit und Gleichheit weckt. Die Gegenwart ist ihnen wichtig, weil die Vergangenheit angesichts so vieler gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Verwerfungen an Bedeutung verlor. Die Zukunft ist für sie ungewiss. Sie nehmen das Leben wie ein Theater und betrachten ihren Körper als Bezugspunkt zur Gegenwart. Sie sind süchtig nach sinnlichen Wahrnehmungen und wachsen, in einer großen Mehrheit, ohne Bezug zu religiösen Werten und Instanzen auf. Mitten im Kulturwandel entstehen neue Subjekte mit neuen Lebensstilen, mit einer neuen Art zu denken, zu fühlen, wahrzunehmen und Beziehungen einzugehen. Sie sind Produzenten und Akteure der neuen Kultur.
52 Zu den positiven Aspekten des Kulturwandels gehört die fundamentale Wertschätzung des einzelnen Menschen, seines Bewusstseins und seiner Erfahrung, die Suche nach Lebenssinn und Transzendenz. Die herrschenden Ideologien, die eine Antwort auf die tiefste Suche nach der Bedeutung des Lebens geben wollten, sind gescheitert. Dadurch tut sich die Möglichkeit auf, dass das Einfache, das Schwache und Kleine im Leben wieder anerkannt und als wertvoll, von großer Bedeutung und als nicht zu unterschätzendes Potential betrachtet wird. Diese nachdrückliche Wertschätzung der Person eröffnet neue Horizonte, in denen die christliche Überlieferung eine neue Bedeutung gewinnt, insbesondere wenn man sie im Fleisch gewordenen Wort identifiziert, das, in einer Krippe geboren, das bescheidene Leben eines Armen annimmt.
53 Die Notwendigkeit, sein eigenes Leben aufzubauen, und die Sehnsucht, eine Begründung für die Existenz zu finden, können den Wunsch wecken, sich mit anderen zu treffen, Erlebnisse auszutauschen und so Antworten zu finden. Hier erfährt man persönliche Freiheit und empfindet zugleich das Bedürfnis, die eigenen Überzeugungen und Optionen zutiefst in Frage zu stellen.
54 Doch bei aller Betonung individueller Verantwortung inmitten von Gesellschaften, die durch die Medien den Erwerb von Gütern vorantreiben, wird paradoxerweise der großen Mehrheit der Erwerb von grundlegenden Gütern verweigert, die alle brauchen, um als Menschen leben zu können.
55 Die Betonung persönlicher Erfahrung und des persönlich Erlebten führt dazu, das persönliche Zeugnis als eine entscheidende Komponente im Glaubensleben anzusehen. Ereignisse spielen dann eine Rolle, wenn sie für die Person von Bedeutung sind. Die Sprache des persönlichen Zeugnisses kann Menschen untereinander und auch zu solchen Personen in Kontakt bringen, die gesellschaftlich prägend sind.
56 Zum andern liegen der Reichtum und die kulturelle Verschiedenheit der Völker Lateinamerikas und der Karibik offen auf der Hand. In unserer Region gibt es verschiedene indigene Kulturen, Kulturen der Nachkommen von Afrikanern, der Mestizen, der Menschen vom Land und der Menschen in Städten und Vorstädten. Die indigenen Kulturen sind besonders gekennzeichnet durch ihre tiefe Verbundenheit mit der Erde, durch ihr Gemeinschaftsleben und durch eine bestimmte Suche nach Gott. Die Nachfahren der Afrikaner zeichnen sich unter anderem aus durch die Kraft des körperlichen Ausdrucks, die Verwurzelung in der Familie und den Sinn für Gott. Die bäuerliche Kultur bezieht sich auf den Agrarzyklus. Die mestizische Kultur, die bei vielen Völkern der Region am weitesten verbreitet ist, hat versucht, im Laufe der Geschichte, inmitten von Widersprüchen, diese vielen ursprünglichen kulturellen Quellen zusammenzubringen. Dadurch hat sie den Dialog zwischen den jeweiligen Weltdeutungen erleichtert und die Möglichkeit geschaffen, zu einer gemeinsamen Geschichte zu finden. Diesem komplexen kulturellen Gefüge müsste man noch die Kulturen so vieler Immigranten aus Europa hinzufügen, die sich in den Ländern unserer Region niederließen.
57 Diese Kulturen koexistieren mit der so genannten globalisierten Kultur unter ungleichen Bedingungen. Sie fordern Anerkennung und bieten Werte an, die eine Antwort sind auf die Gegenwerte der von den Massenmedien durchgesetzten Kultur: Gemeinschaftlichkeit, Wertschätzung der Familie, Offenheit für Transzendenz und Solidarität. Diese dynamischen Kulturen interagieren ständig untereinander und mit anderen kulturellen Angeboten.
58 Die urbane Kultur ist eine gemischte, dynamische und sich stets verändernde Kultur, denn sie verschmilzt zahlreiche Formen, Werte und Lebensstile und erfasst alle gesellschaftlichen Gruppen. Die suburbane Kultur ist das Ergebnis großer Migrationen zumeist armer Menschen und hat sich rings um die Städte in den Elendsgürteln angesiedelt. In diesen Kulturen werden die Fragen von Identität und Zugehörigkeit, Beziehung, Lebensraum und Wohnung immer komplizierter.
59 Ebenso gibt es Migrantengemeinden, die die Kulturen und Traditionen aus ihren Herkunftsregionen mitgebracht haben, seien es christliche oder andere Religionen. Diese Verschiedenheit existiert auch in den Gemeinden, die sich durch die Ansiedlung verschiedener christlicher Gruppen und anderer religiöser Gruppen gebildet haben. Die kulturelle Verschiedenheit zu akzeptieren – ein Gebot der Stunde – bedeutet auch, sich den Bestrebungen zur Uniformierung der Kultur auf der Basis von Einheitsmodellen nicht zu unterwerfen.
Die wirtschaftliche Lage=
60 In seiner Eröffnungsansprache betrachtet der Papst das Phänomen der Globalisierung „als ein weltumspannendes Beziehungsgeflecht“ und als „Gewinn für die große Menschheitsfamilie“, weil es den Zugang zu neuen Technologien, Märkten und Finanzen ermöglicht. Die hohen Wachstumsraten unserer regionalen Wirtschaft und insbesondere die städtische Entwicklung wären ohne die Öffnung für den internationalen Handel, ohne den Zugang zu den neuesten Technologien, ohne die Beteiligung unserer Wissenschaftler und Techniker an der internationalen Wissensentwicklung und ohne die hohe Investition in die elektronischen Kommunikationsmedien nicht möglich. Mit all dem entsteht auch eine technologisch ausgebildete Mittelklasse. Zugleich deckt die Globalisierung die tiefe Sehnsucht des Menschengeschlechts nach Einheit auf. Diesen Errungenschaften zum Trotz weist der Papst ebenso darauf hin, dass die Globalisierung „auch das Risiko der großen Monopole und damit die Umdeutung des Gewinns zum höchsten Wert mit sich bringt“. Deshalb betont Benedikt XVI.: „Wie in allen Bereichen menschlichen Tuns muss auch die Globalisierung von der Ethik geleitet sein, so dass sie alles in den Dienst der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffenen menschlichen Person stellt.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 2.</ref>
61 Die Globalisierung ist ein komplexes Phänomen mit unterschiedlichen Dimensionen (wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, kommunikationstechnischen etc.). Um sie angemessen zu beurteilen, ist ein analytisch differenzierendes Verständnis nötig, das es gestattet, ihre positiven und ihre negativen Aspekte zu erkennen. Bedauerlicherweise ist die ökonomische Dimension die am weitesten verbreitete und erfolgreichste Seite der Globalisierung, die Oberhand über alle anderen Dimensionen des menschlichen Lebens gewinnt und sie bestimmt. In dieser Art Globalisierung verabsolutiert die Dynamik des Marktes leichtfertig Effizienz und Produktivität als Werte, die alle menschlichen Beziehungen regeln sollen. Dieser spezifische Charakter macht die Globalisierung zu einem Prozess, der vielfältige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hervorruft. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist die Globalisierung unfähig, jene objektiven Werte, die sich jenseits des Marktes befinden und die für das menschliche Leben besonders wichtig sind, wahrzunehmen und ihnen zu entsprechen: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und insbesondere die Menschenwürde und Rechte aller, auch jener, die am Rande des Marktes leben.
62 Von der Tendenz bestimmt, den Gewinn über alles zu stellen und den Wettbewerb voranzutreiben, verfolgt die Globalisierung eine Dynamik der Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen weniger, und zwar nicht nur hinsichtlich physischer und finanzieller Ressourcen, sondern vor allem hinsichtlich der Information und der menschlichen Ressourcen. Dadurch werden all jene ausgeschlossen, die über keine ausreichende Information und Bildung verfügen. Die Chancenungleichheit, die unseren Kontinent so schrecklich beherrscht und zahllose Menschen an die Armut fesselt, wird noch größer. Armut bedeutet heute Armut an Wissen und am Zugang zu neuen Technologien und deren Einsatz. Deshalb müssen sich die Unternehmer ihrer Verantwortung stellen, in die Überwindung der neuen Armut zu investieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
63 Man kann jedoch nicht übersehen, dass diese vorherrschende Tendenz es nicht unmöglich macht, kleine und mittlere Unternehmen zu gründen, die sich der Exportdynamik der Wirtschaft anschließen, ihr ergänzende Dienstleistungen anbieten oder auch spezielle Nischen des Binnenmarktes nutzen. Aber ihre geringe wirtschaftlich-finanzielle Basis und der eingeschränkte Rahmen, in dem sie sich entwickeln, machen sie höchst anfällig für Zinssätze, Wechselkursschwankungen, Absatzkosten und Preisschwankungen bei Investitionsgütern. Die Schwäche dieser Unternehmen führt auch dazu, dass sie nur unsichere Arbeitsplätze anbieten können. Ohne eine staatliche Politik des speziellen Schutzes solcher Unternehmen besteht die Gefahr, dass sich die Wirtschaftskraft großer Konzerne schließlich als allein bestimmender Faktor wirtschaftlicher Dynamik durchsetzt.
64 Angesichts dieser Gestalt von Globalisierung fühlen wir uns besonders aufgerufen, eine andere Globalisierung voranzutreiben, die von Solidarität, Gerechtigkeit und Respektierung der Menschenrechte bestimmt ist, so dass Lateinamerika und die Karibik nicht nur zum Kontinent der Hoffnung werden, sondern auch zum Kontinent der Liebe, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Eröffnungsansprache dieser Versammlung vorschlug.
65 Das müsste uns dazu bringen, die Antlitze jener anzuschauen, die leiden. Zu ihnen gehören: die indigenen und afroamerikanischen Gemeinschaften, die vielfach weder in ihrer Würde anerkannt noch mit gleichen Lebenschancen ausgestattet werden; viele Frauen, die wegen ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder ihrer wirtschaftlich-sozialen Lage aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden; Jugendliche, die nur unzureichend ausgebildet werden, keine Gelegenheit haben, weiter zu studieren, und auch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten, um sich zu entfalten und eine Familie gründen zu können; viele Arme, Arbeitslose, Migranten, Zwangsumgesiedelte, Bauern ohne Land, die in der informellen Wirtschaft zu überleben suchen; Jungen und Mädchen, die der Kinderprostitution ausgesetzt sind, die nicht selten mit dem Sextourismus verbunden ist; aber auch die Kinder, die Opfer von Abtreibungen wurden. Millionen Menschen und Familien leben im Elend und hungern sogar. Wir sind auch besorgt um alle, die drogenabhängig sind, um Menschen mit Behinderungen, Opfer und Träger schwerer Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose, HIV / AIDS, die sich vom Zusammenleben in Familie und Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und an Einsamkeit leiden. Wir übersehen auch nicht die Opfer von Entführungen, von Gewalt und Terrorismus, die Opfer bewaffneter Konflikte und der Unsicherheit in den Städten. Auch die alten Menschen, die sich nicht nur aus dem Produktionssystem ausgeschlossen fühlen, sondern häufig auch von ihren Familien als störend und lästig angesehen werden. Schließlich schmerzt uns die unmenschliche Lage, der die meisten Gefangenen ausgesetzt sind. Auch sie brauchen unsere solidarische Zuwendung und unsere geschwisterliche Hilfe. Eine Globalisierung ohne Solidarität wirkt sich negativ auf die ärmsten Schichten aus. Dabei geht es nicht allein um Unterdrückung und Ausbeutung, sondern um etwas Neues, um den gesellschaftlichen Ausschluss. Durch ihn wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft, in der man lebt, untergraben, denn man lebt nicht nur unten, oder am Rande bzw. ohne Einfluss, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht nur „Ausgebeutete“, sondern „Überflüssige“ und „menschlicher Abfall“.
66 Finanzinstitutionen und transnationale Konzerne entwickeln eine solche Macht, dass sie sich die jeweilige lokale Wirtschaft untertan machen, vor allem aber die Staaten schwächen, die kaum noch die Macht haben, Entwicklungsprojekte zugunsten ihrer Bevölkerungen voranzubringen, insbesondere, wenn es sich um langfristige Investitionen handelt, die keine unmittelbare Rendite erbringen. Die internationalen Rohstoffindustrien der nichtenergetischen Mineralgewinnung und die Agroindustrie respektieren häufig nicht die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und umweltbezogenen Rechte der jeweiligen lokalen Bevölkerungen und nehmen ihre Verantwortlichkeit dafür nicht wahr. Häufig wird der Naturschutz der wirtschaftlichen Entwicklung untergeordnet, so dass die biologische Vielfalt Schaden leidet, Wasserreserven und andere Naturressourcen zur Neige gehen, die Luft vergiftet wird und das Klima sich wandelt. Die Chancen und möglichen Probleme landwirtschaftlicher Produktion von Bio-Treibstoffen müssen unter dem Blickwinkel untersucht werden, dass der Mensch und seine Grundbedürfnisse für das Überleben den Vorrang behalten. Lateinamerika verfügt über die größten Wasserreserven des Planeten und über weit ausgedehnte Waldgebiete, die als Lungen für die gesamte Menschheit gelten. Dieser umsonst geleistete Dienst an der Umwelt für die gesamte Welt wird ökonomisch nicht respektiert. Die Region sieht sich gefährdet durch Erderwärmung und Klimawandel, die hauptsächlich durch den nicht zukunftsfähigen Lebensstil der industrialisierten Länder provoziert wurden.
67 Die Globalisierung hat verschiedentlich zwischen Ländern mit asymmetrischen wirtschaftlichen Verhältnissen zum Abschluss von Freihandelsverträgen geführt, die den ärmeren Ländern nicht immer zum Nutzen gereichen. Zugleich werden die Länder der Region mit maßlosen Forderungen hinsichtlich des geistigen Eigentums unter Druck gesetzt, und zwar so weitgehend, dass man Patentrechte über das Leben in all seinen Formen auszugeben gedenkt. Außerdem zeigt der Gebrauch genetisch manipulierter Organismen, dass die Globalisierung nicht immer dazu beiträgt, den Hunger zu bekämpfen oder die ländliche Entwicklung zukunftsfähig zu gestalten.
68 Zwar hat man weitgehend die Inflation unter Kontrolle und eine makroökonomische Stabilität in den Ländern der Region erzielt, aber viele Regierungen haben trotzdem keine Spielräume zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte, weil sie einerseits die Schulden gegenüber Gläubigern im In- und Ausland<ref> Vgl. Tertio millennio adveniente 51; Benedikt XVI., Brief an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, 16. Dezember 2006.</ref> mit hohen Beträgen bedienen müssen und andererseits nicht auf Steuersysteme zählen können, die wirklich effizient, progressiv und gerecht sind.
69 Die gegenwärtige Konzentration von Gewinn und Reichtum ist hauptsächlich auf die Mechanismen des Finanzsystems zurückzuführen. Die Freiheit für Finanzinvestitionen begünstigt das spekulative Kapital, das keinen Anreiz darin sieht, langfristig in produktive Anlagen zu investieren, sondern den unmittelbaren Gewinn aus dem Handel mit öffentlichen Anleihen, Währungen und Derivaten anstrebt. Nach der Soziallehre der Kirche jedoch ist „Gegenstand der Wirtschaft [...] die Bildung und fortschreitende Vergrößerung von Reichtum in quantitativer, aber auch qualitativer Hinsicht: All das ist moralisch richtig, wenn es auf die globale und solidarische Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt und arbeitet, ausgerichtet ist. Die Entwicklung lässt sich nämlich nicht auf einen bloßen Prozess der Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen reduzieren. Im Gegenteil: Die bloße Anhäufung ist, auch wenn sie dem Gemeinwohl dient, keine ausreichende Voraussetzung für die Verwirklichung des echten menschlichen Glücks.“<ref> Kompendium der Soziallehre der Kirche 334.</ref> Die Unternehmen sind dazu aufgerufen, aus dieser Perspektive ihre häufig beschworene Verantwortung wahrzunehmen und einen größeren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
70 Alarmierend ist auch das Ausmaß der Korruption in der Wirtschaft, die sich sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor ausdehnt; hinzu kommt der bemerkenswerte Mangel an Transparenz und Rechnungslegung gegenüber der Bürgerschaft. Oft ist die Korruption verquickt mit der Geißel des Drogenhandels bzw. des Drogengeschäftes und trägt dazu bei, das soziale und wirtschaftliche Netz ganzer Regionen zu zerstören.
71 Der wirtschaftlich aktive Teil der Bevölkerung in der Region ist von Unterbeschäftigung (42 %) und Arbeitslosigkeit (9 %) bedroht; fast die Hälfte der Bevölkerung findet nur Arbeit im informellen Sektor. Die offiziellen Arbeitsplätze sind ihrerseits oft unsicheren Arbeitsbedingungen und dem beständigen Druck durch Subunternehmen ausgesetzt, so dass immer niedrigere Löhne bezahlt werden und der Sozialversicherungsschutz entfällt. Damit wird vielen Menschen ein würdiges Leben unmöglich gemacht. In diesem Zusammenhang verlieren auch die Gewerkschaften immer mehr die Möglichkeit, die Rechte der arbeitenden Menschen zu schützen. Auf der anderen Seite lassen sich positive und kreative Phänomene ausfindig machen, wenn die Betroffenen sich ihrer Lage stellen und selbst verschiedene Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel durch Mikrokredite, lokale Solidarwirtschaft und fairen Handel.
72 Die meisten Kleinbauern leiden unter der Armut, die noch dadurch verschlimmert wird, dass sie keinen Zugang zu eigenem Land haben. Aber immer noch gibt es den Großgrundbesitz in den Händen einiger weniger. Diese Lage hat in einigen Ländern die Bevölkerung dazu veranlasst, nachdrücklich eine Agrarreform zu verlangen, weil sie sehr aufmerksam wahrnimmt, welche Nachteile die Freihandelsverträge, die Manipulation durch Drogen und andere Faktoren mit sich bringen könnten.
73 Eines der bedeutsamsten Phänomene in unseren Ländern ist die Mobilität der Menschen, und zwar in der Doppelgestalt von Migration und Wanderungsbewegung. Millionen Menschen emigrieren freiwillig oder sehen sich zur Migration innerhalb oder außerhalb ihrer jeweiligen Länder gezwungen. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben zu tun mit der wirtschaftlichen Lage, mit den verschiedenen Formen der Gewalt, mit der Armut, die die Menschen beeinträchtigt, und mit dem Mangel an Gelegenheit zur Forschung bzw. zur beruflichen Weiterentwicklung. Die persönlichen, familiären und kulturellen Konsequenzen sind vielfach schwerwiegend. Der Verlust des Humankapitals von Millionen Menschen, von hoch qualifizierten Akademikern, von Forschenden und von vielen Bauern macht uns immer ärmer. Die Ausbeutung der Arbeitskraft führt in einigen Fällen sogar zu wirklicher Versklavung. Außerdem gibt es einen beschämenden Menschenhandel, der mit Prostitution – sogar von Kindern – zu tun hat. Besondere Erwähnung verdient die Lage der Flüchtlinge; sie stellt die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft und der Kirchen auf die Probe. Andererseits sind aber auch die Auslandsüberweisungen der Emigrierten in ihre Herkunftsländer zu einer wichtigen und manchmal unersetzlichen Finanzierungsquelle für verschiedene Länder der Region geworden und tragen zum Wohlstand und zu gesellschaftlicher Aufstiegsmobilität jener bei, die an diesem Prozess mit Erfolg beteiligt sind.
Die gesellschaftlich-politische Dimension
74 Wir konstatieren einen gewissen Demokratisierungsprozess, der sich in verschiedenen Wahlen erwiesen hat. Mit Sorge beobachten wir jedoch, dass sich mit demokratischen Mitteln unterschiedliche Formen autoritärer Regression beschleunigt ausbreiten, so dass es auch zu Regimen neopopulistischer Prägung kommt. Das weist darauf hin, dass die rein formale Demokratie, die sich auf sauber durchgeführte Wahlprozeduren gründet, nicht genügt. Vielmehr brauchen wir eine partizipative Demokratie, die auf der Respektierung und Förderung der Menschenrechte basiert. Eine Demokratie ohne die bereits erwähnten Werte wird leicht zur Diktatur und verrät schließlich das Volk.
75 Die aktivere Rolle der Zivilgesellschaft und das Auftreten neuer gesellschaftlicher Akteure, wie die Indigenen, die Afroamerikaner, die Frauen, die Akademiker, eine größere Mittelschicht und Organisationen von marginalisierten Sektoren, stärkt auch die partizipative Demokratie und schafft größere Spielräume für politische Mitbestimmung. Diese Gruppen erkennen immer mehr ihre Macht und ihre Chancen, umfassende Veränderungen zu bewirken, damit die öffentliche Politik gerechter gestaltet und das Ausgeschlossensein überwunden wird. In diesem Zusammenhang stellen wir auch einen wachsenden Einfluss von Organen der Vereinten Nationen und von Nichtregierungsorganisationen internationalen Charakters fest, deren Empfehlungen jedoch nicht immer ethischen Kriterien entsprechen. Nicht zu übersehen sind auch Handlungsweisen, die bestimmte Positionen radikalisieren, Polarisierungen und konfliktive Lagen extrem verschärfen und dieses Potential in den Dienst von Fremdinteressen stellen. Das kann langfristig dazu führen, Hoffnungen zu frustrieren und ins Negative zu kehren.
76 Nach einer Schwächephase der Staaten, die durch die von internationalen Finanzorganen empfohlenen Strukturanpassungsmaßnahmen in der Wirtschaft hervorgerufen worden war, sind die Staaten jetzt bemüht, politische Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Nahrungssicherung, sozialer Vorsorge, Zugang zu Land und Wohnung, in einer wirksamen Wirtschaftspolitik zur Schaffung von Arbeitsplätzen und in einer Gesetzgebung, die Solidarorganisationen unterstützt. Damit wird deutlich, dass es ohne soziale Gerechtigkeit, ohne reale Gewaltenteilung und ohne die Geltung des Rechtsstaates keine wirklich stabile Demokratie geben kann.<ref> Vgl. Ecclesia in America 56.</ref>
77 Auf einen wichtigen negativen Faktor in weiten Teilen der Region gilt es auch noch hinzuweisen. Die Korruption in Gesellschaft und Staat, in die alle Bereiche von Legislative und Exekutive verwickelt sind, ist schlimmer geworden; sie erfasst auch das Justizsystem, das häufig dazu neigt, Urteile zugunsten der Mächtigen zu fällen und sie straflos zu lassen. Das gefährdet ernsthaft die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Institutionen und verstärkt das Misstrauen des einfachen Volkes. Dieses Phänomen geht mit einer tiefen Missachtung der Gesetzlichkeit einher. In weiten Kreisen der Bevölkerung, hauptsächlich unter Jugendlichen, macht sich Enttäuschung über die Politik, insbesondere über die Demokratie breit, weil sich die Verheißungen auf ein besseres und gerechteres Zusammenleben kaum oder gar nicht erfüllen. Dabei vergisst man, dass Demokratie und politische Mitbestimmung auf Bildung beruhen und nur dann verwirklicht werden, wenn die Staatsbürger ihre fundamentalen Rechte und die entsprechenden Pflichten auch wirklich kennen.
78 Das gesellschaftliche Leben, im Sinne eines harmonischen und friedfertigen Zusammenlebens, verschlechtert sich in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik erheblich, weil Gewalt um sich greift, und zwar in Gestalt von Einbruch und Diebstahl, Überfällen, Entführungen und – am allerschlimmsten – von Mordtaten, durch die täglich immer mehr Menschen umkommen. Großes Leid ist die Folge für die Familien und die ganze Gesellschaft. Die Gewalt nimmt verschiedene Formen an und kennt unterschiedliche Akteure: organisiertes Verbrechen und Drogenhandel, paramilitärische Gruppen, ein Klima von Gewalt vor allem in den Randzonen der Großstädte, Gewalt von Jugendbanden und immer mehr innerfamiliäre Gewalt. Dafür gibt es vielfältige Ursachen: der Götzendienst des Geldes, die Ausbreitung einer individualistischen, nur am Nützlichkeitsdenken ausgerichteten Ideologie, der Mangel an Respekt vor der Würde eines jeden Menschen, die Auflösung des sozialen Netzes, die Korruption auch in den Reihen der Ordnungskräfte und das Ausbleiben einer Politik des sozialen Ausgleichs.
79 Einige Parlamente bzw. Kongresse verabschieden unter Missachtung der Menschenrechte und des Volkswillens ungerechte Gesetze, eben weil sie keinen Kontakt zu den von ihnen vertretenen Menschen haben und weder zuhören können noch im Dialog mit den Mitbürgerinnen und Mitbürgern stehen, aber auch, weil sie es nicht besser wissen und nicht angemessen beraten werden oder weil viele Staatsbürger ihre Pflicht zur Mitwirkung am öffentlichen Leben nicht wahrnehmen.
80 In einigen Staaten hat die Repression zugenommen. Menschenrechte werden verletzt, sogar das Recht auf Religionsfreiheit, Meinungs- und Erziehungsfreiheit, aber auch das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen wird missachtet.
81 Zwar konnten in einigen Ländern Friedensvereinbarungen getroffen und damit lang bestehende Konflikte beendet werden, in anderen aber gehen die bewaffneten Auseinandersetzungen mit all ihren Folgeerscheinungen weiter (Tötungen, Menschenrechtsverletzungen, Drohungen, Kindersoldaten, Entführungen etc.), ohne dass kurzfristig Lösungen in Sicht kämen. Der Einfluss des Drogenhandels auf diese Gruppen erschwert die Suche nach möglichen Auswegen noch mehr.
82 In Lateinamerika und der Karibik ist ein wachsender Wille zur regionalen Integration durch multilaterale Abkommen spürbar: Immer mehr Länder tun sich zusammen und bestimmen die Regeln im Handel, bei Dienstleistungen und bei Patenten selbst. Neben der gemeinsamen Herkunft können Kultur, Sprache und Religion dazu beitragen, dass die Integration sich nicht nur auf die Märkte bezieht, sondern auch auf die gesellschaftlichen Institutionen und vor allem auf die Menschen. Positiv ist auch die Globalisierung der Rechtsprechung auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese wird es möglich machen, dass für immer mehr Menschen gleiche Normen gelten, deren Ziel es ist, ihr Leben, ihre Würde und ihre körperliche Unversehrtheit zu schützen.
Artenvielfalt, Ökologie, Amazonasregion und Antarktis
83 Lateinamerika ist der Kontinent der Erde mit der größten Artenvielfalt und mit einer reichen gesellschaftlichen Vielfalt in seinen Völkern und Kulturen. Diese besitzen ein großes Erbe an traditionellem Wissen über die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen sowie über den medizinischen Wert von Pflanzen und anderen Organismen, das vielfach auch die Grundlage ihrer Ökonomie bildet. Weil diese Kenntnisse heute von pharmazeutischen und biogenetischen Industrien patentiert werden, macht man aus ihnen den Sachverhalt unerlaubter geistiger Aneignung und bringt damit die Pflanzenbauern und ihre Familien, deren Überleben von diesen Ressourcen abhängt, in Gefahr.
84 Von den Entscheidungen über die Reichtümer der Artenvielfalt und der Natur sind die traditionalen Bevölkerungen praktisch ausgeschlossen worden. Die Natur wurde und wird immer noch beschädigt. Der Boden wurde ausgeplündert und vergiftet. Die Wasserreserven werden behandelt, als seien sie eine Geschäftsware der Unternehmen; sie wurden auch noch zu einem Gut gemacht, um das sich die Großmächte streiten. Ein prägnantes Beispiel für diese Situation ist das Amazonasgebiet.<ref> Das panamerikanische Amazonasgebiet umfasst eine Fläche von 7,01 Millionen km2, das entspricht 5 % der Erdoberfläche bzw. 40 % der Fläche von Südamerika. Es besitzt 20 % des weltweit verfügbaren ungefrorenen Süßwassers. Es besitzt 34 % der Weltreserven an Wäldern und gigantische Mineralreserven. Die biologische Vielfalt seiner Ökosysteme ist die reichste der Welt. In dieser Region befinden sich ca. 30 % alle Tier- und Pflanzenarten der Welt.</ref>
85 In seiner Rede an die Jugend im Stadion von Pacaembu, São Paulo, hat Papst Benedikt XVI. aufmerksam gemacht auf „die Umweltzerstörung in Amazonien und die Bedrohung der Menschenwürde der dortigen Bevölkerung“<ref> Benedikt XVI., Ansprache an die Jugendlichen im Stadion von Pacaem-bu 2; Brasilien, 10. Mai 2007.</ref> und er bat die Jugendlichen um „größeren Einsatz in den verschiedenen Bereichen, in denen die Gesellschaft zum Handeln aufruft“.<ref> Ebd.</ref>
86 Der zunehmend aggressive Umgang mit der Umwelt kann als Vorwand für Ideen benutzt werden, das Amazonasgebiet zu internationalisieren: Solche Ideen nützen einzig und allein den ökonomischen Interessen der transnationalen Unternehmen. Die Gesellschaft im gesamten Amazonasgebiet besteht aus vielen Ethnien, Kulturen und Religionen. In ihr wird immer heftiger um die Besetzung der Territorien gestritten. Die traditionalen Völker der Region fordern, dass ihre Territorien anerkannt und legalisiert werden.
87 Die Eis- und Gletscherflächen in der ganzen Welt weichen zurück: das Abschmelzen der Arktis wirkt sich bereits in der Flora und Fauna dieses Ökosystems spürbar aus; auch die globale Erwärmung ist in dem donnernden Herabstürzen der Eisblöcke in der Antarktis zu spüren; dadurch wird die Eisfläche des Kontinents, die das Klima der Welt reguliert, reduziert. Johannes Paul II. hat schon vor 20 Jahren von der südlichsten Spitze des amerikanischen Kontinents aus prophetisch darauf hingewiesen: „Von der Südspitze des amerikanischen Kontinents aus und angesichts der grenzenlosen Weite der Antarktis sende ich einen Appell an alle, die für unseren Planeten verantwortlich sind, dass sie die von Gott geschaffene Natur schützen und bewahren mögen: Lassen wir es nicht zu, dass unsere Welt immer mehr beschädigt und entwürdigt wird.“<ref> Johannes Paul II., Ansprache beim Wortgottesdienst für die Gläubigen des südlichen Chile 7; Punta Arenas, 4. April 1987.</ref>
Präsenz der indigenen und afroamerikanischen Völker in der Kirche
88 Die Indigenen bilden die älteste Bevölkerung des Kontinents. Sie sind die erste Wurzel lateinamerikanischer und karibischer Identität. Die Afroamerikaner bilden eine weitere Wurzel, die aus Afrika ausgerissen wurde, als man ihre Vorfahren als afrikanische Sklaven hierher brachte. Die dritte Wurzel ist die arme Bevölkerung aus Europa, die bei ihrer Suche nach besseren Lebensbedingungen seit dem 16. Jahrhundert hierher kam, und der große Immigrantenstrom aus aller Welt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus all diesen Gruppen und ihren jeweiligen Kulturen entstand das Mestizentum, das die gesellschaftlich-kulturelle Basis unserer lateinamerikanischen und karibischen Völker ausmacht, wie die 3. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats von Puebla, Mexiko, anerkannte.<ref> Vgl. Puebla 307, 409.</ref>
89 Die Indigenen und Nachkommen der Afrikaner sind vor allem „Andere“ von eigener Art, die Respekt und Anerkennung verlangen. Die Gesellschaft hat die Tendenz, sie zu missachten, da sie ihre Andersartigkeit nicht versteht. Ausschluss und Armut kennzeichnen ihre gesellschaftliche Lage. Die Kirche begleitet die Indigenen und Afroamerikaner in ihrem Kampf für ihre legitimen Rechte.
90 Heute sind die Indigenen und Nachkommen der Afrikaner bedroht in ihrer physischen, kulturellen und spirituellen Existenz, in ihren Identitäten und ihren Lebensweisen, in ihrer Andersartigkeit, in ihren Territorien und Projekten. Einige indigene Gemeinschaften leben außerhalb ihrer Heimat, weil diese überfallen und verwüstet wurde oder weil sie nicht genügend Land haben, um ihre Kulturen weiterzuentwickeln. Ihre Identität und ihr Überleben sind heftigen Attacken ausgesetzt, denn die ökonomische und kulturelle Globalisierung gefährdet ihre Existenz als andersartige Völker. Der kulturelle Transformationsprozess, den sie erleiden, ist die Ursache dafür, dass einige Sprachen und Kulturen einfach verschwinden. Die von der Armut erzwungene Migration verändert Sitten, Gebräuche, Beziehungen und auch die Religion tief greifend.
91 Heute treten die Indigenen und Nachkommen der Afrikaner in der Gesellschaft und in der Kirche wieder hervor. Dieser Moment ist ein „Kairos“, in dem die Kirche diesen Menschengruppen respektvoller begegnen kann: Sie fordern die volle Anerkennung ihrer individuellen wie kollektiven Rechte und verlangen, mit ihrem Weltverständnis, ihren Werten und ihrer eigenen Identität in der katholischen Welt ernst genommen zu werden, damit die Kirche ein neues Pfingsten erfährt.
92 Bereits in Santo Domingo haben wir Bischöfe anerkannt, „dass die indigenen Völker bedeutsame menschliche Werte pflegen“;<ref> Santo Domingo 245.</ref> Werte, die „die Kirche verteidigt [...] angesichts der überwältigenden Macht der Strukturen der Sünde, die die moderne Gesellschaft prägen“;<ref> Ebd. 243.</ref> „sie besitzen ungezählte kulturelle Reichtümer, die unserer gegenwärtigen Identität zugrunde liegen“;<ref> Botschaft der 4. Generalversammlung an die Völker Lateinamerikas und der Karibik (Santo Domingo) 38.</ref> und, aus der Perspektive des Glaubens, „sind diese Werte und Überzeugungen die Früchte der ‚Samenkörner des Wortes‘, die in ihren Vorfahren bereits präsent waren und wirkten“.<ref> Santo Domingo 245.</ref>
93 Zu diesen Früchten gehören: „die Offenheit für das Handeln Gottes und das Gefühl der Dankbarkeit für die Früchte der Erde, die Heiligkeit des menschlichen Lebens, die Wertschätzung der Familie, der Sinn für Solidarität und Mitverantwortlichkeit bei der Gemeinschaftsarbeit, die hohe Bedeutung religiöser Riten, der Glaube an ein Leben nach dem Tode.“<ref> Ebd. 17.</ref> Das einfache Volk hat diese Werte heute durch die Evangelisierung sehr bereichert und sie in vielfältigen Formen zu einer echten Volksreligiosität weiter entwickelt.
94 Als Kirche, die sich die Sache der Armen zu Eigen macht, ermutigen wir die Indigenen und Nachkommen der Afrikaner, aktiv am kirchlichen Leben teilzunehmen. Voller Hoffnung schauen wir auf den Prozess der Inkulturation, der mit dem kirchlichen Lehramt übereinstimmt. Es ist von vorrangiger Bedeutung, katholische Übersetzungen der Bibel und von liturgischen Texten in ihre Sprachen anzufertigen. Wir müssen auch für mehr Berufungen und Weiheämter aus diesen Kulturen sorgen.
95 Unser pastoraler Dienst für ein Leben in Fülle der indigenen Völker verlangt von uns, dass wir Jesus Christus und die Gute Nachricht vom Reich Gottes verkündigen, dass wir die Situation der Sünde, die Strukturen des Todes, die Gewalt sowie die internen und externen Ungerechtigkeiten anklagen, dass wir den interkulturellen, interreligiösen und ökumenischen Dialog fördern. Jesus Christus ist die Fülle der Erlösung für alle Völker; er ist der grundlegende Bezugspunkt, mit dessen Hilfe wir die Werte und Mängel aller Kulturen, auch der indigenen, unterscheiden können. Deshalb ist der größte Schatz, den wir ihnen anbieten, dass sie dem auferstandenen Jesus Christus, unserem Erlöser, begegnen. Die Indigenen, die das Evangelium bereits angenommen haben, sind dazu berufen, als Jünger und Missionare Jesu Christi mit großer Freude ihr Christsein zu leben, in ihren Gemeinden Rechenschaft von ihrem Glauben zu geben und sich aktiv dafür einzusetzen, dass keines der indigenen Völker Lateinamerikas von seinem christlichen Glauben abfällt, sondern im Gegenteil erfahren kann, dass es in Christus den Sinn des Lebens in Fülle findet.
96 Die Nachkommen der Afrikaner haben ihre Geschichte als eine Geschichte gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ausschlusses erlitten, vor allem aber den Ausschluss aus rassischen Gründen erfahren, wenn ethnische Identität über gesellschaftliche Degradierung entscheidet. Heute werden sie in Alltagssituationen diskriminiert, wenn sie nach Arbeit suchen oder wenn sie keine qualitativ und inhaltlich angemessene Schulausbildung erhalten. Darüber hinaus werden ihre Wertvorstellungen, ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre religiösen Ausdrucksformen systematisch unterbunden. In einigen Fällen setzt sich eine respektlose Sichtweise und Einstellung gegenüber den Indigenen und den Nachkommen von Afrikanern fort. Also müssen das Denken und das Wissen entkolonisiert, die Wertschätzung der eigenen Geschichte wiedergewonnen und interkulturelle Beziehungen und Begegnungen gestärkt werden. Nur unter diesen Voraussetzungen werden diese Völker als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden.
97 Die lateinamerikanische Realität kann sich auf sehr lebendige afroamerikanische Gemeinschaften stützen, die einen aktiven und schöpferischen Beitrag zum Aufbau des Kontinents leisten. In den Bewegungen zur Wiedererlangung der Identität, zur Anerkennung der Bürgerrechte und zum Widerstand gegen den Rassismus, in den alternativen Gruppen für Solidarwirtschaft werden schwarze Frauen und Männer zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte und fangen an, eine neue Geschichte in Lateinamerika und der Karibik zu skizzieren. Diese neue Realität gründet auf interkulturellen Beziehungen, in denen Verschiedenartigkeit keine Bedrohung mehr darstellt und keine Rechtfertigung mehr für hierarchische Machtausübung der einen über die anderen liefert, in denen die Verschiedenartigkeit vielmehr die unterschiedlichen kulturellen Visionen von Fest und Feier, von zwischenmenschlichem Umgang und von der Wiederkehr der Hoffnung miteinander ins Gespräch bringt.
Die Lage der Kirche angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen
98 Die katholische Kirche in Lateinamerika und der Karibik hat trotz menschlicher Schwächen und zwiespältigen Verhaltens einiger ihrer Mitglieder Christus bezeugt, sein Evangelium verkündigt und ihren Liebesdienst insbesondere den Ärmsten erwiesen, um ihre Würde mehr zu achten, sich aber auch für die Förderung aller Menschen einzusetzen auf den Gebieten Gesundheit, Solidarwirtschaft, Bildung, Arbeit, Landbesitz, Kultur, Wohnung, Beratung usw. Zusammen mit anderen national und global agierenden Institutionen hat sie ihre Stimme erhoben und so dazu beigetragen, orientierenden Rat zu geben und Gerechtigkeit, Menschenrechte und die Versöhnung in und unter den Völkern zu fördern. Durch diesen Dienst konnte die Kirche bei vielen Gelegenheiten als vertrauensvolle und glaubwürdige Instanz gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Ihr Einsatz für die Ärmsten und ihr entschiedenes Eintreten für die Würde jedes Menschen haben ihr oft Verfolgung eingebracht und sie sogar den Tod einiger ihrer Mitglieder gekostet. Diese sind in unseren Augen Zeugen des Glaubens. Das tapfere Zeugnis unserer heiligen Männer und Frauen, auch derer, die noch nicht heilig gesprochen sind, wollen wir nicht vergessen; sie haben das Evangelium in aller Radikalität gelebt und ihr Leben für Christus, für die Kirche und für ihr Volk hingegeben.
99 Die Bemühungen unserer Pastoral, zur Begegnung mit dem lebendigen Christus zu führen, haben bis zum heutigen Tag ihre Früchte gebracht. Folgende seien hervorgehoben:
a) Auf Grund der biblisch ausgerichteten Pastoral wächst die Kenntnis des Wortes Gottes und die Liebe zu ihm. Dank der Beschäftigung mit der Lehre der Kirche und einer besseren Ausbildung weitherziger Katechetinnen und Katecheten hat die Erneuerung der Katechese zu guten Ergebnissen im ganzen Kontinent geführt und ist sogar bis Nordamerika, Europa und Asien gelangt, wohin viele Menschen aus Lateinamerika und der Karibik emigriert sind.
b) Die liturgische Erneuerung hat besonders die festlichfeierliche Dimension des christlichen Glaubens herausgestellt, die ihre Mitte im Pascha-Mysterium Christi des Erlösers hat, insbesondere in der Eucharistie. Die Volksreligiosität kommt immer stärker zum Ausdruck, hauptsächlich in der eucharistischen Frömmigkeit und in der Marienverehrung. Einige Bemühungen wurden unternommen, die Liturgie in die Kultur der indigenen und afroamerikanischen Völkern zu inkulturieren. Die Gefahren, die Kirche auf ein politisches Subjekt zu reduzieren, konnten dadurch überwunden werden, dass man die verführerischen Einflüsse von Ideologien besser zu unterscheiden lernte. Verantwortlichkeit und Aufmerksamkeit für die Glaubenswahrheiten sind bestärkt worden, so dass wir an Tiefe und Gelassenheit gewonnen haben.
c) In unserem Volk erfahren die Priester eine große Wertschätzung. Es anerkennt die Heiligmäßigkeit vieler von ihnen, ihr Lebenszeugnis, die missionarische Tätigkeit und pastorale Kreativität, besonders derjenigen, die an weit entfernten Orten bzw. unter erschwerten Bedingungen leben. Viele unserer Ortskirchen berichten von der Seelsorge für Priester, von konkreten Erfahrungen des Lebens in Gemeinschaft und von einer gerechteren Besoldung des Klerus. In einigen Ortskirchen wurde der Ständige Diakonat ausgebaut, ebenso die den Laien anvertrauten Ämter oder andere pastorale Dienste. Dazu gehören die Leitung von Wortgottesdiensten, von Versammlungen und kleinen Gemeinschaften, unter ihnen Basisgemeinden, von kirchlichen Bewegungen sowie zahlreiche Felder der kategorialen Seelsorge. Große Anstrengungen werden für die Ausbildung in den Priesterseminaren, in den Bildungshäusern der Ordensgemeinschaften und in den Schulen für den Ständigen Diakonat unternommen. Bemerkenswert ist das Zeugnis der Ordensleute, ihr Mitleben in Elendsvierteln, in Risiko- und Grenzgebieten sowie ihr Beitrag für das pastorale Handeln. Die Zunahme von Berufungen für die kontemplativen Männer- und Frauenorden macht Hoffnung.
d) Bewundernswert ist die aufopferungsvolle Hingabe so vieler Missionare und Missionarinnen, die bis zum heutigen Tag wertvolle Evangelisierungsarbeit leisten und die Menschen in unseren Völkern mit einer Fülle von Werken und Diensten fördern. Ebenso anerkennen wir, dass zahlreiche Priester, Männer und Frauen aus dem Ordensleben und Laien von unserem Kontinent aus die Mission „ad gentes“ mittragen.
e) Die Bemühungen, die Pastoral in den Pfarreien zu erneuern, sind verstärkt worden, um mit Hilfe verschiedener Methoden neuer Evangelisierung die Begegnung mit dem lebendigen Christus zu erleichtern, so dass die Pfarrei zu einer Gemeinschaft von evangelisierten und missionierenden Gemeinschaften wird. Mancherorts lässt sich ein Aufblühen von kirchlichen Basisgemeinden nach den Kriterien der vorangegangenen Generalversammlungen feststellen, die in Verbundenheit mit den Bischöfen und dem kirchlichen Lehramt stehen.<ref> Vgl. Puebla 261, 617, 638, 731, 940; Santo Domingo 62.</ref> Zu würdigen ist auch die Zunahme der kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften, die ihr reiches Charisma, ihre Bildung und ihre Evangelisierungsarbeit ausweiten. Man ist sich der Bedeutung der Pastoral für Familien, Kinder und Jugendliche bewusst geworden.
f) Die kirchliche Soziallehre stellt einen unschätzbaren Reichtum dar. Durch sie sind Männer und Frauen aus dem Laienstand zu Zeugnis und solidarischem Handeln angeregt worden. Sie zeigen als wahre Missionarinnen und Missionare der Liebe ein wachsendes Interesse an theologischer Fortbildung und sind tatkräftig bemüht, die Welt so zu verändern, wie Christus es will. Zahlreiche Laieninitiativen in Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik lassen sich heute von den bleibenden Prinzipien, den Urteilskriterien und den Handlungsmaximen inspirieren, die aus der kirchlichen Soziallehre stammen. Zu würdigen ist auch die Entwicklung der Sozialpastoral, das Handeln der Caritas in den verschiedenen Bereichen und die Bereicherung durch die Freiwilligendienste in ganz verschiedenen Feldern des sozialen Apostolats. Die Medienpastoral ist weiterentwickelt worden. Die Kirche verfügt heute über mehr Medien als je zuvor für die Evangelisierung der Kultur und neutralisiert damit zum Teil Gruppen, die durch die gezielte Verwendung von Radio und Fernsehen permanent neue Anhänger gewinnen. Unsere Radio- und Fernsehsender, Filmstellen, Presse, Internet, Webseiten und RIIAL (Anm. d. Übers.: RIIAL = „Red Informática de la Iglesia en América Latina“ – Kommunikationsnetz der Kirche in Lateinamerika) geben uns Hoffnung.
g) Die Diversifizierung der kirchlichen Organisation durch die Schaffung vieler Gemeinschaften, neuer Jurisdiktionsgebiete und pastoraler Organe hat es vielen Ortskirchen ermöglicht, die Pastoral insgesamt besser zu strukturieren, um den Bedürfnissen der Gläubigen angemessener zu entsprechen. Der ökumenische Dialog ist nicht in allen Kirchen mit gleicher Intensität vorangebracht worden. Auch der interreligiöse Dialog kann alle, die an den verschiedenen Treffen teilnehmen, bereichern, solange er den Leitlinien des kirchlichen Lehramtes folgt.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Kommentar zur Notifikation in Bezug auf das Buch von J. Dupuis „Verso una teologia cristiana del pluralismo religioso“, 24. Januar 2001.</ref> Andernorts hat man Schulen der Ökumene bzw. der ökumenischen Zusammenarbeit in sozialen Anliegen und anderen Initiativen gegründet. Als Reaktion auf den Materialismus zeigt sich eine neue Sehnsucht nach Spiritualität, Gebet und Mystik, die Ausdruck für den Hunger und Durst nach Gott ist. Andererseits ist auch die Wertschätzung der Ethik ein Zeichen der Zeit, das darauf hinweist, Hedonismus, Korruption und das Wertevakuum überwinden zu müssen. Darüber hinaus freut uns das tiefe Empfinden für Solidarität, das ein Charakteristikum unserer Völker ist, die Praxis des Miteinander-Teilens und der gegenseitigen Hilfe.
100 Trotz der positiven Aspekte, die uns in der Hoffnung froh machen, bemerken wir auch Schattenseiten, von denen wir die folgenden hier erwähnen:
a) Lateinamerika und die Karibik sind wegen ihrer kirchlichen Dynamik und Kreativität von großer Bedeutung für die katholische Kirche, zumal 43 % aller Gläubigen hier leben. Wir beobachten jedoch, dass das prozentuale Wachstum der Kirche nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hält. Die Anzahl der Kleriker und vor allem der Ordensschwestern wird im Vergleich zum Bevölkerungswachstum unserer Region immer geringer.<ref> Während im Zeitraum von 1974 bis 2004 die Bevölkerung Lateinamerikas fast um 80 % wuchs, nahm die Zahl der Priester um 44,1 % und die Zahl der Ordensfrauen nur um 8 % zu (vgl. Annuarium Statisticum Ecclesiae).</ref>
b) Wir beklagen Bestrebungen, zu einer gewissen Art von Ekklesiologie und Spiritualität zurückzukehren, die der Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil widersprechen<ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe und Höheren Prälaten der Römischen Kurie, 22. Dezember 2005.</ref> bzw. die konziliare Erneuerung reduktionistisch deuten und verwenden. Wir beklagen das Fehlen eines authentischen Gehorsams und einer am Evangelium ausgerichteten Ausübung von Autorität; wir beklagen Unredlichkeiten gegenüber der Lehre, der Moral und der kirchlichen Gemeinschaft; wir beklagen unsere kraftlose Weise, die Option für die Armen zu leben; wir beklagen, dass es beim gottgeweihten Leben Tendenzen des Rückfalls in säkularisierende Verhaltensweisen gibt, die von einer bloß soziologischen, aber nicht dem Evangelium entsprechenden Anthropologie beeinflusst sind. Das hat auch der Heilige Vater in seiner Ansprache zur Eröffnung unserer Versammlung zum Ausdruck gebracht: „Es stimmt, dass eine gewisse Schwächung des christlichen Lebens in der Gesellschaft insgesamt und der Teilnahme am Leben der katholischen Kirche wahrzunehmen ist.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 2.</ref>
c) Wir stellen fest, dass gläubige Laien, wenn sie in den verschiedenen Strukturen der weltlichen Ordnung Verantwortung übernehmen, bei ihren Aufgaben im Dienst an der Gesellschaft nur selten begleitet werden. Wir bemerken, dass nur mit geringem Eifer und ohne neue Methoden bzw. Ausdrucksformen evangelisiert wird; dass man ohne eine angemessene Fortbildung auf einem Ritualismus besteht und stattdessen andere pastorale Aufgaben liegen bleiben. Ebenso macht uns eine individualistische Spiritualität Sorgen. Zugleich stellen wir fest, dass es im ethischen und religiösen Denken eine relativistische Mentalität gibt, dass das reichhaltige Erbe der kirchlichen Soziallehre nicht kreativ genug aufgegriffen wird und dass gelegentlich der weltliche Charakter, der die spezifische Identität der gläubigen Laien ausmacht, kaum verstanden wird.
d) Immer noch wird bei der Evangelisierung, der Katechese und allgemein in der Pastoral eine Sprache gesprochen, die für die heutige Kultur und insbesondere für die Jugendlichen kaum verständlich ist. Diese Sprache berücksichtigt nicht, wie sich die existentiell bedeutsamen Codes in den von der Postmoderne beeinflussten sowie von einem breiten gesellschaftlich-kulturellen Pluralismus geprägten Gesellschaften verändert haben. Die kulturellen Veränderungen machen es für Familie und Gesellschaft schwieriger, den Glauben weiterzuvermitteln. Trotzdem wirkt die Kirche nicht entscheidend an der Entwicklung der Kultur mit, weder im Universitätsbereich noch in den sozialen Kommunikationsmedien.
e) Die unzureichende Zahl der Priester und ihre ungleiche Verteilung haben zur Folge, dass viele Gemeinden nicht regelmäßig an der Feier der Eucharistie teilnehmen können. Wenn wir bedenken, dass die Eucharistie das Konstitutiv der Kirche ist, sind wir um die vielen tausend Gemeinden besorgt, die über lange Zeit die sonntägliche Eucharistiefeier entbehren müssen. Hinzu kommt die geringe Anzahl der Berufungen zum Priesteramt und zum Ordensleben. Es fehlt an missionarischem Geist bei Mitgliedern des Klerus und auch bei deren Ausbildung. Viele Katholiken leben und sterben, ohne dass sie von der Kirche, der sie durch die Taufe angehören, begleitet werden. Wir haben Schwierigkeiten, die Strukturen der Pastoral finanziell aufrechtzuerhalten. Es fehlt an Solidarität hinsichtlich der Gütergemeinschaft innerhalb der Lokalkirchen und der Lokalkirchen untereinander. In vielen unserer Ortskirchen wird die Bußpastoral nicht ernst genug genommen, weder bei geringen strafbaren Handlungen noch bei größeren Unbesonnenheiten. Die Pastoral zur Begleitung von Migranten und Auswandernden ist unzureichend. Einige kirchliche Bewegungen integrieren sich nicht angemessen in die Pastoral der Pfarrei und der Diözese; andererseits sind einige kirchliche Strukturen nicht offen genug, sie aufzunehmen.
f) Wir beobachten mit Sorge, dass in den letzten Jahrzehnten einerseits viele Menschen in ihrem Leben den Sinn für Transzendenz verlieren und religiöse Praktiken aufgeben und dass andererseits eine beachtliche Zahl von Katholiken die Kirche verlässt, um sich anderen religiösen Gruppen anzuschließen. Dieses Problem trifft zwar für alle Länder Lateinamerikas und der Karibik zu, ist aber in Ausmaß und Charakter jeweils verschieden.
g) Innerhalb des neuen religiösen Pluralismus auf unserem Kontinent hat man nicht deutlich genug jene Gläubigen, die anderen Kirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften wegen ihrer Lehre und ihres Verhalten angehören, unterschieden von jenen, die zu einer der vielen verschiedenartigen christlichen (und sogar pseudochristlichen) Gruppen gehören, die sich unter uns gebildet haben. Es ist nicht angemessen, sie alle in einer einzigen Kategorie zusammenzufassen. Der ökumenische Dialog mit jenen christlichen Gruppen, die unaufhörlich die katholische Kirche attackieren, ist oft nicht einfach.
h) Wir räumen ein, dass sich einige Katholiken gelegentlich vom Evangelium entfernt haben, das einen einfachen, bescheidenen und solidarischen, der Wahrheit und Liebe entsprechenden Lebensstil verlangt; wir gestehen auch zu, dass wir nicht tapfer, beharrlich und gelehrig genug für die Gnade waren, in Treue zur immer bestehenden Kirche die vom Zweiten Vatikanischen Konzil begonnene Erneuerung fortzusetzen, die in vorangegangenen Generalversammlungen angeregt worden war, um die lateinamerikanische und karibische Identität unserer Kirche zu festigen. Wir bekennen: wir sind eine Gemeinschaft armseliger Sünder, die inständig um Gottes Barmherzigkeit bittet und von der Kraft der Auferstehung seines Sohnes und durch die Gnade der Umkehr im Heiligen Geist zusammengerufen, versöhnt, geeint und gesendet ist.
Zweiter Teil: Das Leben Jesu Christi in den missionarischen Jüngern
Die Freude, missionarische Jünger zu sein, die das Evangelium Jesu Christi verkünden
101 In diesem Augenblick, in dem unser Herz voller Unruhe ist, fragen wir uns mit Thomas: „Wie sollen wir den Weg kennen?“ (Joh 14,5). Jesus antwortet uns mit einem provokanten Vorschlag: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Er ist der wahre Weg zum Vater, der die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat (vgl. Joh 3,16). Das ist das ewige Leben: „dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Joh 17,3). Der Glaube an Jesus als den Sohn des Vaters ist die Eingangspforte zum Leben. Wir Jünger Jesu bekennen unseren Glauben mit den Worten des Petrus: „Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16).
102 Jesus ist der Sohn Gottes, das Wort, das Fleisch geworden ist (vgl. Joh 1,14), er ist wahrer Gott und wahrer Mensch, Beweis der Liebe Gottes zu den Menschen. Sein Leben besteht darin, sich selbst für alle Menschen hinzugeben. Diese Hingabe hat in seinem Tod und seiner Auferstehung die Vollendung gefunden. Weil er das Lamm Gottes ist, ist er der Erlöser. Sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung machen die Überwindung der Sünde und das neue Leben für das gesamte Menschengeschlecht möglich. In ihm wird der Vater gegenwärtig, denn wer den Sohn erkannt hat, erkennt auch den Vater (vgl. Joh 14,7).
103 Wir Jünger Jesu erkennen in ihm den ersten und bedeutendsten Verkündiger des Evangeliums, der von Gott gesandt worden ist (vgl. Lk 4,44), aber zugleich, dass er das Evangelium Gottes (vgl. Röm 1,3) ist. Wir glauben und verkündigen „die Gute Nachricht von Jesus, dem Messias, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Als Kinder, die der Stimme des Vaters gehorchen, wollen wir auf Jesus hören (vgl. Lk 9,35), weil er allein der Meister ist (vgl. Mt 23,8). Als seine Jünger wissen wir, dass seine Worte Geist und Leben sind (vgl. Joh 6,63–68). In der Freude des Glaubens verkünden wir als Missionare das Evangelium Jesu Christi und in Ihm die Gute Nachricht von der Würde des Menschen, des Lebens, der Familie, der Arbeit, der Wissenschaft und der Solidarität mit der Schöpfung.
Die Gute Nachricht von der Würde des Menschen
104 Gepriesen sei Gott für die Würde des Menschen, der nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen wurde. Er hat uns als freie Wesen geschaffen und zu Subjekten mit Rechten und Pflichten inmitten seiner Schöpfung gemacht. Wir danken ihm, dass er uns Verstand und Liebesfähigkeit verleiht und uns an der Vollendung der Welt mitarbeiten lässt. Diese Würde begreifen wir zugleich als Aufgabe, die wir zu wahren, zu pflegen und zu fördern haben. Wir preisen ihn für das Geschenk des Glaubens, durch den wir im Bund mit ihm leben und sogar das ewige Leben teilen können. Wir preisen ihn, weil er uns in Christus zu seinen Töchtern und Söhnen gemacht hat, weil er uns durch sein kostbares Blut erlöst hat, und weil aus der steten Verbindung mit ihm unsere absolute, unveräußerbare und unverletzbare Würde stammt. Wie durch die Sünde das Abbild Gottes im Menschen befleckt und seine Natur verletzt wurde, so hat die Gute Nachricht, die Christus selbst ist, den Menschen erlöst und in der Gnade wiederhergestellt (vgl. Röm 5,12–21).
105 Wir loben Gott in den Männern und Frauen Lateinamerikas und der Karibik, die, durch ihren Glauben motiviert, sich unentwegt eingesetzt haben, um die Würde der Menschen, insbesondere der Armen und der an den Rand Gedrängten, zu verteidigen. In ihrem Zeugnis bis hin zur völligen Selbsthingabe erstrahlt die Würde des Menschen.
Die Gute Nachricht vom Leben
106 Wir loben Gott für das wunderbare Geschenk des Lebens und für alle, die es ehren und würdigen, indem sie ihr Leben in den Dienst der anderen stellen; für die Fröhlichkeit unserer Völker, die Musik, Tanz, Poesie, Kunst und Sport lieben und die trotz aller Probleme und Konflikte mit fester Hoffnung leben. Wir loben Gott, dass er uns Sünderinnen und Sündern seine Liebe erwies, als er uns durch den Tod seines Sohnes am Kreuz mit sich versöhnte. Wir loben ihn, weil er durch den Heiligen Geist weiterhin seine Liebe über uns ausgießt und uns mit dem Brot des Lebens in der Eucharistie (vgl. Joh 6,35) speist. Die Enzyklika „Evangelium vitae“ von Johannes Paul II. beleuchtet den großen Wert des menschlichen Lebens, das wir schützen sollen und für das wir Gott unaufhörlich loben.
107 Wir preisen Gott für das Geschenk seines Sohnes Jesus Christus, „menschliches Antlitz Gottes und göttliches Antlitz des Menschen“.<ref> Benedikt XVI., Gebet für die 5. Generalversammlung.</ref> „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. [...] Christus, [...] macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“<ref> Gaudium et spes 22.</ref>
108 Wir preisen den Vater, denn selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, in dem ihm ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2,14–15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem natürlichen Ende zu entdecken und das Recht jedes Menschen zu bejahen, dass dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Maße geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruhen „das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen“.<ref> Evangelium vitae 2.</ref>
109 Gegenüber einem Leben ohne Lebenssinn eröffnet Jesus uns das geheimnisvolle Leben Gottes in seinem höchsten Mysterium, der trinitarischen Gemeinschaft. Die Liebe Gottes ist so groß, dass er den Menschen, der Pilger auf dieser Erde ist, zu seiner Wohnstatt macht. „Wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23). Gegenüber der Verzweiflung einer Welt ohne Gott, die den Tod nur für das definitive Ende der Existenz hält, bietet Jesus uns die Auferstehung und das ewige Leben an, in dem Gott alles und in allem sein wird (vgl. 1 Kor 15,28). Gegenüber dem Götzendienst an irdischem Besitz zeigt Jesus das Leben in Gott als höchsten Wert: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?“ (Mk 8,36).<ref> Vgl. Evangelii nuntiandi 8.</ref>
110 Gegenüber dem hedonistischen Subjektivismus regt Jesus an, sein Leben hinzugeben, um es zu gewinnen, denn „wer an seinem Leben hängt, verliert es“ (Joh 12,25). Wer ein Jünger Christi sein will, gibt sein Leben hin als Salz der Erde und Licht der Welt. Gegenüber dem Individualismus ruft Jesus auf, in Gemeinschaft zu leben und unterwegs zu sein. In der geschwisterlichen Gemeinschaft entfaltet das christliche Leben seinen Reichtum. Jesus sagt uns: „Einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder“ (Mt 23,8). Gegenüber dem Persönlichkeitsverlust hilft Jesus dem Menschen, eine ganzheitliche Identität zu entwickeln.
111 Berufung, Freiheit und Originalität sind jedem einzelnen Menschen von Gott geschenkt, damit er seinen Dienst in der Welt tun kann und sie immer mehr vervollkommne.
112 Gegenüber der Tendenz, Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen, verteidigt Jesus die Rechte der Schwachen und ein würdiges Leben für jeden Menschen. Der Jünger lernt von seinem Meister, jegliche Missachtung des Lebens und jegliche Ausbeutung des Menschen zu bekämpfen.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zur Fastenzeit 2007.</ref> Gott allein ist Urheber des Lebens und Herr über das Leben. Sein lebendiges Abbild, der Mensch, ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod unter allen Umständen und Bedingungen seines Lebens stets heilig. Gegenüber den Strukturen des Todes zeigt Jesus das Leben in Fülle. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Deshalb heilt er die Kranken, treibt er die Dämonen aus und verpflichtet die Jünger, Menschenwürde und auf Gerechtigkeit gründende gesellschaftliche Verhältnisse zu fördern.
113 Jesus, der darum wusste, wie sehr sich der Vater um seine Geschöpfe sorgt, sie nährt und prächtig kleidet, fordert uns angesichts der bedrohten Natur auf, die Erde zu schützen, damit sie bebaut und für alle Menschen bewahrt werde (vgl. Gen 1,29; 2,15).
Die Gute Nachricht für die Familie
114 Mit Freude verkünden wir, dass die Familie in Lateinamerika und der Karibik eine hohe Wertschätzung erfährt. Papst Benedikt XVI. erklärt, dass die Familie, „Erbe der Menschheit, zu den bedeutendsten Schätzen der Völker Lateinamerikas und der Karibik zählt. Sie war und ist die Schule des Glaubens, Übungsplatz menschlicher und ziviler Werte, das Zuhause, in dem das menschliche Leben geboren und hochherzig und verantwortungsvoll wahrgenommen wird. ... Die Familie ist für das persönliche Wohlergehen und für die Erziehung der Kinder unersetzlich“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 5.</ref>
115 Wir danken Christus, der uns offenbart, dass „Gott die Liebe (ist) und in sich selbst ein Geheimnis personaler Liebesgemeinschaft (lebt)“.<ref> Familiaris consortio 11.</ref> Da er die Option trifft, mitten unter uns in einer Familie zu leben, erhebt er sie zur Würde der „Hauskirche“.
116 Wir preisen Gott, weil er den Menschen als Mann und Frau erschaffen hat, obwohl man heute diese Wahrheit verfälschen will. „Gott schuf die Menschen nach seinem Bild; nach dem Bilde Gottes schuf er sie, als Mann und Frau erschuf er sie“ (Gen 1,27). Es gehört zur Natur des Menschen, dass der Mann in der Frau und die Frau im Mann das Gegenstück und Ergänzung suchen.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, 31. Mai 2004.</ref>
117 Es erfüllt uns mit Freude, von Gott geliebt zu werden. Die menschliche Liebe findet ihre Fülle, wenn sie an der göttlichen Liebe, an der Liebe Jesu teilhat, der sich solidarisch für uns in Liebe bis zum Ende hingibt (vgl. Joh 13,1; 15,9). In der ehelichen Liebe beschenken sich die Eheleute, Mann und Frau, gegenseitig; in der ausschließlichen, treuen Liebe bis zum Tod sind sie fruchtbar, offen für das Leben und die Erziehung der Kinder. Dadurch werden sie der fruchtbaren Liebe der Heiligsten Dreifaltigkeit immer ähnlicher.<ref> Vgl. Humanae vitae 9.</ref> Die eheliche Liebe wird durch das Sakrament der Ehe geadelt, um die Einheit Christi mit seiner Kirche zu symbolisieren. Deshalb wird sie durch die Gnade Jesu Christi gereinigt, genährt und zur Fülle gebracht (vgl. Eph 5,25–33).
118 In der Geborgenheit einer Familie entdeckt der Mensch, warum und wie er zur Familie Gottes gehört. In der Familie wird uns das Leben geschenkt, in ihr machen wir unsere erste Liebes- und Glaubenserfahrung. Für die Erziehung der Kinder im Glauben ist die Erfahrung eines Familienlebens, in dem der Glaube angenommen, bewahrt, gefeiert, weitergegeben und bezeugt wird, ein unvergänglicher Schatz. Die Eltern müssen sich ihrer wunderbaren und unverzichtbaren Verantwortung für die umfassende Bildung ihrer Kinder neu bewusst werden.
119 Gott liebt unsere Familien trotz aller Verletzungen und allen Zwiespalts. Das Gebet, in dem die Familie die Begleitung Jesu Christi erfleht, hilft uns, Probleme zu überwinden, Wunden zu heilen und Wege der Hoffnung zu eröffnen. Vieles, was die Familie aus eigener Kraft nicht leisten kann, wird aufgefangen durch Dienste der Kirchengemeinde, der Familie der Familien.
Die Gute Nachricht menschlichen Handelns
Die Arbeit
120 Wir loben Gott, weil die Schönheit der Schöpfung, das Werk seiner Hände, den Sinn der Arbeit als Teilhabe an der schöpferischen Tätigkeit und als Dienst an den Schwestern und Brüdern widerspiegelt. Der Zimmermann Jesus (vgl. Mt 6,3) hat der Arbeit und dem arbeitenden Menschen Würde verliehen und erinnert daran, dass die Arbeit nicht ein bloßes Anhängsel an das Leben ist, sondern „eine fundamentale Dimension der Existenz des Menschen auf Erden darstellt“,<ref> Laborem exercens 4.</ref> durch die der Mann und die Frau sich selbst als Menschen verwirklichen.<ref> Vgl. ebd, 9.</ref> Die Arbeit garantiert die Würde und die Freiheit des Menschen, sie ist „wohl der wesentliche Schlüssel in der gesamten sozialen Frage“.<ref> Ebd. 3.</ref>
121 Wir danken Gott, weil er uns lehrt, dass trotz aller Mühsal, mit der die Arbeit oft verbunden ist, der Christ weiß, dass die mit dem Gebet verbundene Arbeit nicht nur dem irdischen Fortschritt, sondern auch der persönlichen Heiligung und dem Aufbau des Reiches Gottes<ref> Vgl. Ebd. 27; 2 Thess 3,10.</ref> dient. Arbeitslosigkeit, ungerechte Entlohnung und grundsätzliche Arbeitsverweigerung stehen dem Plan Gottes entgegen. Die Jünger und Missionare, die diesem Plan folgen, sorgen sich darum, dass Arbeitende und Arbeit in ihrer Würde geachtet, dass ihre Rechte und Pflichten angemessen berücksichtigt werden, entwickeln die Kultur der Arbeit und klagen jede Ungerechtigkeit an. Den Sonntag als Tag der Ruhe, der Familie und des Gottesdienstes zu bewahren, sichert zugleich die Balance zwischen Arbeit und Erholung. Die Gemeinschaft hat die Aufgabe, Strukturen zu schaffen, um Behinderten eine ihren Möglichkeiten entsprechende Arbeit anzubieten.<ref> Vgl. Ebd. 22.</ref>
122 Wir loben Gott, weil Männer und Frauen ihre Talente, ihre Kenntnisse und ihre Entscheidungskraft einsetzen, um durch Initiativen und Projekte zur Schaffung von Arbeits- und Produktionsmöglichkeiten das Leben der Menschen und der Gesellschaft zu verbessern. Die Unternehmertätigkeit ist gut und notwendig, wenn sie die Würde der Arbeitenden und den Schutz der Umwelt beachtet und sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Sie verkehrt sich ins Gegenteil, wenn sie sich nur am Gewinn orientiert und dabei die Rechte der Arbeitenden und die Gerechtigkeit missachtet.
Die Wissenschaft und die Technik
123 Wir preisen Gott für alle Menschen, die in Wissenschaft und Technik arbeiten und dadurch eine Fülle an kulturellen Gütern und Werten geschaffen haben, die u. a. dazu beitrugen, Lebenserwartung zu verlängern und Lebensqualität zu verbessern. Dennoch verfügen Wissenschaft und Technik nicht über die Antworten auf die großen Fragen des Menschen. Die ent- scheidende Antwort auf die grundlegenden Fragen des Menschen kann nur aus einer Vernunft bzw. Ethik stammen, die das ganze Leben im Blick hat und von der Offenbarung Gottes erleuchtet wird. Wenn das Wahre, das Gute und das Schöne voneinander getrennt werden, wenn der Mensch und seine Grundanliegen nicht den ethischen Maßstab bilden, werden sich die vom Menschen geschaffene Wissenschaft und Technik gegen ihn selbst richten.
124 Heute verschwimmen die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften. Wenn man den Dialog in dieser Weise versteht, liegt der Gedanke nahe, dass keine Erkenntnis wirklich autonom ist. Dadurch wird der Theologie ein Terrain eröffnet, auf dem sie mit den Gesellschaftswissenschaften interagieren kann.
Die Gute Nachricht von der universellen Bestimmung der Güter und der Ökologie
125 Mit den indigenen Völkern Amerikas preisen wir den Herrn, der das Universum als einen Raum für das Leben und das Zusammenleben aller seiner Töchter und Söhne geschaffen hat; in ihnen hat er uns ein Zeichen seiner Güte und Schönheit gegeben. Auch die Schöpfung ist Ausdruck der sorgenden Liebe Gottes. Er hat sie uns anvertraut, damit wir sie bewahren und sie zur Quelle würdigen Lebens für alle machen. Obwohl die Natur heute allgemein eine höhere Wertschätzung erfährt, stellen wir eindeutig fest, dass der Mensch auf vielfältige Weise seine „Wohnung“ gefährdet und sogar zerstört. „Unsere Schwester, Mutter Erde“,<ref> Franziskus von Assisi, Sonnengesang, 9.</ref> ist unser gemeinsames Haus und der Ort, an dem Gott seinen Bund mit den Menschen und mit der ganzen Schöpfung geschlossen hat. Die Missachtung der gegenseitigen Beziehungen und des Gleichgewichts, das Gott den geschaffenen Realitäten verliehen hat, ist eine Beleidigung des Schöpfers, ein Angriff auf die biologische Vielfalt und letztlich auf das Leben selbst. Der missionierende Jünger, dem Gott die Schöpfung anvertraut hat, soll sie betrachten, sie schützen und nutzen, jedoch dabei stets die Ordnung respektieren, die ihr vom Schöpfergott gegeben wurde.
126 Die beste Art und Weise, die Natur zu respektieren, besteht darin, eine humane und für die Transzendenz offene Ökologie zu fördern, die mit Rücksicht auf jeden einzelnen Menschen und die Familien, die Umwelt und die Städte dem Hinweis des Apostels Paulus folgt, alles in Christus zusammenzufassen und mit Ihm Gott zu loben (vgl. 1 Kor 3,21–23). Der Herr hat die Welt für alle Menschen geschaffen, für die jetzt lebenden und die zukünftigen Generationen. Auch wenn die Ressourcen immer begrenzter werden, muss ihre Nutzung nach gerechten Verteilungsprinzipien geregelt und zu einer nachhaltigen Entwicklung verwendet werden.
Der Kontinent der Hoffnung und der Liebe
127 Als Jünger und Missionare danken wir Gott, dass die Mehrheit der Menschen in Lateinamerika und in der Karibik getauft ist. Die Vorsehung Gottes hat uns durch das Geschenk der Taufe das kostbare Erbe der Zugehörigkeit zur Kirche anvertraut und zu Gliedern des Leibes Christi gemacht, zum pilgernden Volk Gottes, das seit mehr als 500 Jahren auf dem amerikanischen Boden unterwegs ist. Unsere Hoffnung wird gestärkt durch unsere vielen Kinder, durch die Ideale unserer Jugendlichen und die Tüchtigkeit vieler unserer Familien, die trotz zunehmender Schwierigkeiten treu in der Liebe bleiben. Wir danken Gott für die Religiosität unserer Völker, die sichtbar ist in der Verehrung des leidenden Christus und seiner gebenedeiten Mutter, in den Patronatsfesten zur Verehrung der Heiligen, in der Liebe zum Papst und zu den anderen Hirten, in der Liebe zur Weltkirche als der großen Familie Gottes, die ihre Kinder niemals allein oder im Elend lassen kann noch darf.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref>
128 Wir anerkennen die Lebendigkeit der pilgernden Kirche in Lateinamerika und der Karibik als Geschenk, ihre Option für die Armen, ihre Pfarrgemeinden, ihre Gemeinschaften, ihre Verbände und kirchlichen Bewegungen, ihre neuen Gemeinschaften und ihre zahlreichen Dienstleistungen auf sozialem und erzieherischem Gebiet. Wir preisen Gott, weil er aus diesem Kontinent einen Raum der Gemeinschaft und Kommunikation von indigenen Völkern und Kulturen gemacht hat. Wir sind auch dankbar dafür, dass jene Kreise, die früher nicht beachtet worden sind, immer stärker selbst ihre Anliegen vertreten: Frauen, Indigene, Afroamerikaner, Landarbeiter und Bewohner der Randgebiete der großen Städte. Unsere Völker, deren Leben in Christus begründet und durch ihn erlöst ist, können mit Hoffnung und Freude in die Zukunft blicken, wenn sie sich den Aufruf von Papst Benedikt zu Eigen machen: „Nur aus der Eucharistie wird die Zivilisation der Liebe hervorkeimen, die Lateinamerika und die Karibik verwandeln wird, so dass sie außer dem Kontinent der Hoffnung auch der Kontinent der Liebe sind!“<ref> Ebd. 4.</ref>
Die Berufung der missionarischen Jünger zur Heiligkeit
Berufen zur Nachfolge Jesu Christi
129 Gott Vater geht – wie wir sagen – aus sich heraus und beruft uns dazu, an seinem Leben und an seiner Herrlichkeit teilzuhaben. Durch Israel, das er zu seinem Volk macht, offenbart Gott uns sein Projekt des Lebens. Jedes Mal, wenn Israel seinen Gott suchte und brauchte, vor allem bei nationalen Katastrophen, erfuhr es die Gemeinschaft mit Gott auf einzigartige Weise, weil er das Volk an seiner Wahrheit, seinem Leben und seiner Heiligkeit teilhaben ließ. Deshalb zögerte Israel nicht zu bezeugen, dass sein Gott – im Unterschied zu den Götzen – der „lebendige Gott“ (Dtn 5,26) ist, der es von den Unterdrückern befreit (vgl. Ex 3,7–10), der unendlich vergebungsbereit ist (vgl. Ex 34,6; Sir 2,11) und der das verloren gegangene Heil wiederherstellt, wenn das Volk, von „Fesseln des Todes“ umfangen (Ps. 116,3), sich flehentlich an Ihn wendet (vgl. Jes 38,16). Jesus wird über diesen Gott – seinen Vater – sagen: „Er ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden“ (Mk 12,27).
130 In dieser Endzeit hat Gott durch Jesus, seinen Sohn, zu uns gesprochen (Hebr 1,1 ff.), mit dem die Fülle der Zeiten gekommen ist (vgl. Gal 4,4). Gott, der heilig ist und uns liebt, beruft uns durch Jesus, heilig zu sein (vgl. Eph 1,4 f.).
131 Die Berufung, die von Jesus, dem Meister, ausgeht, ist von völlig neuer Art. In der Vorzeit riefen die Meister ihre Jünger dazu auf, sich an etwas Transzendentes zu binden; die Gesetzeslehrer schlugen ihnen vor, das Gesetz des Moses zu befolgen. Jesus lädt uns ein, mit Ihm zusammen zu sein und uns eng an Ihn zu binden, weil Er die Quelle des Lebens ist (vgl. Joh 15,5–15) und weil nur Er Worte des ewigen Lebens hat (vgl. Joh 6,68). Im täglichen Zusammenleben mit Jesus und im Gegensatz zu den Jüngern anderer Meister entdecken die Jünger sehr bald, dass es in der Beziehung zu Jesus zwei Besonderheiten gibt. Einerseits waren nicht sie es, die ihren Meister auswählten; vielmehr war es Christus, der sie erwählte. Andererseits wurden sie nicht zu etwas aufgerufen (sich zu reinigen, das Gesetz zu erlernen ...), sondern zu jemandem eingeladen und dazu erwählt, sich eng an seine Person zu binden (vgl. Mk 1,17; 2,14). Jesus wählte sie als diejenigen aus, „die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten“ (Mk 3,14), damit sie ihm folgten und so „zu Ihm gehörten“, sich „zu den Seinen“ zählten und an seiner Sendung Anteil hätten. Der Jünger macht die Erfahrung, dass die enge Verbundenheit mit Jesus in der Gruppe der Seinen teilhaben lässt an dem Leben, das aus dem Schoß des Vaters hervorgeht, und einen Lernprozess ermöglicht, um sich den Lebensstil und die Beweggründe des Meisters zu Eigen zu machen (vgl. Lk 6,40b), den gleichen Weg wie er zu gehen und seinen Sendungsauftrag zu übernehmen, alle Dinge neu zu machen.
132 In der Parabel vom Weinstock und den Reben (vgl. Joh 15,1–8) legt Jesus dar, welche Art der Verbundenheit er anbietet und von den Seinen erwartet. Er will nicht, dass sie sich als „Knechte“ verstehen (vgl. Joh 8,33–36), „denn der Knecht, weiß nicht, was sein Herr tut“ (Joh 15,15). Der Sklave hat keinen Zutritt zum Haus seines Herrn, und noch weniger zu dessen Leben. Jesus will, dass der Jünger sich als „Freund“ und „Bruder“ an ihn bindet. Der „Freund“ hat Zugang zu seinem Leben und macht es sich selbst zu Eigen. Der Freund hört auf Jesus, kennt den Vater und lässt Gottes Leben (Jesus Christus) durch sein eigenes Dasein strömen (vgl. Joh 15,14), so dass seine Beziehung zu allen anderen davon durchdrungen wird (vgl. Joh 15,12). Der „Bruder“ Jesu (vgl. Joh 20,17) hat teil am Leben des Auferstandenen, dem Sohn des himmlischen Vaters; eben deshalb teilen Jesus und sein Jünger das vom Vater stammende selbe Leben miteinander, Jesus kraft seines Wesens (vgl. Joh 5,26; 10,30), der Jünger durch Teilhabe (vgl. Joh 10,10). Aus dieser Art von Verbundenheit folgt unmittelbar, dass alle Mitglieder seiner Gemeinde sich als Geschwister verstehen.
133 Jesus macht sie zu Mitgliedern seiner Familie, weil er mit ihnen das Leben teilt, das vom Vater stammt. Er verlangt von ihnen, dass sie als Jünger eng mit Ihm verbunden und dem Wort des Vaters gehorsam sind, um in der Liebe reiche Frucht zu bringen. Das bezeugt der Evangelist Johannes im Prolog seines Evangeliums: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,12 f.).
134 Als Jünger und Missionare sind wir dazu berufen, unseren Glauben immer intensiver zu leben und zu verkündigen, dass Christus die Menschheit von allen Sünden und allem Bösen erlöst hat „in dem paradoxesten Gesichtspunkt seines Geheimnisses, der Stunde am Kreuz. Der Schrei Jesu: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ (Mk 15,34) [...] verrät nicht die Angst eines Verzweifelten, sondern das Gebet des Sohnes, der sein Leben dem Vater in Liebe darbringt, um allen das Heil zu bringen“.<ref> Novo millennio ineunte 25 f.</ref>
135 Wenn wir seinem Ruf entsprechen wollen, müssen wir in die Dynamik des barmherzigen Samariters (vgl. Lk 10,29–37) eintreten. Sie verpflichtet uns, vornehmlich für alle Leidenden Nächste zu werden und eine Gesellschaft ohne Ausgeschlossene zu gestalten, indem wir so handeln wie Jesus, der mit Zöllnern und Sündern isst (vgl. Lk 5,29–32), die Kleinen und Kinder zu sich kommen lässt (vgl. Mk 10,13–16), die Aussätzigen heilt (vgl. Mk 1,40–45), die Sünderin befreit und ihr vergibt (vgl. Lk 7,36–49; Joh 8,1–11), mit der Samariterin spricht (vgl. Joh 4,1– 26).
Dem Meister ähnlich werden
136 Die Bewunderung für den Menschen Jesus, sein Ruf und sein liebevoller Blick drängen den Jünger dazu, eine selbstbewusste, freie Antwort zu finden, die aus tiefstem Herzen kommt, eine Zugehörigkeit seiner ganzen Person in dem Wissen darum, dass Christus ihn bei seinem Namen ruft (vgl. Joh 10,3). Ein solches „Ja“ bindet die Freiheit des Jüngers radikal daran, sich Jesus Christus anzuvertrauen, der Weg, Wahrheit und Leben ist (vgl. Joh 14,6). Er antwortet damit in Liebe dem, der ihn zuerst „bis zur Vollendung“ geliebt hat (vgl. Joh 13,1). In dieser Liebe zu Jesus reift die Antwort des Jüngers heran: „Ich will dir folgen, wohin du auch gehst“ (vgl. Lk 9,57).
137 Der Heilige Geist, den der Vater uns schenkt, macht uns eins mit Jesus, dem Weg, und schließt uns für sein Heilsgeheimnis auf, damit wir seine Kinder und füreinander Geschwister werden. Der Heilige Geist macht uns eins mit Jesus, der Wahrheit, und lehrt uns, Lügen und Selbstsucht hinter uns zu lassen. Der Heilige Geist macht uns eins mit Jesus, dem Leben, so dass wir uns sein Gebot der Liebe zu Eigen machen und uns dafür einsetzen, dass andere „in ihm das Leben haben“.
138 Um wahrhaft dem Meister ähnlich zu werden, muss man das Liebesgebot, das er sein eigenes nannte und als neu bezeichnete, über alles stellen: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Diese Liebe mit völliger Selbsthingabe nach dem Maße Jesu kennzeichnet einerseits jeden einzelnen Christen, muss aber darüber hinaus auch das Kennzeichen seiner Kirche sein, der Jüngergemeinde Christi, deren Zeugnis geschwisterlicher Liebe die erste und wichtigste Verkündigung ausmacht: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid“ (Joh 13,35).
139 In der Nachfolge Jesu lernen und praktizieren wir die Seligpreisungen des Gottesreiches, den Lebensstil Jesu Christi selbst, die Liebe zum Vater und den Gehorsam des Sohnes, sein inniges Mitleiden am Leid der Menschen, seine Nähe zu den Armen und Kleinen, seine Treue zur anvertrauten Sendung, seine dienende Liebe bis zur Hingabe des Lebens. Heute betrachten wir Jesus Christus so, wie ihn die Evangelien uns schildern, um zu verstehen, was er tat, und um zu prüfen, was wir unter den heutigen Umständen zu tun haben.
140 Eins werden mit Jesus Christus bedeutet auch, sein Schicksal teilen: „Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein“ (Joh 12,26). Der Christ geht das gleiche Risiko ein wie der Herr, sogar bis zum Kreuz: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mk 8,34). Uns ermutigt das Zeugnis so vieler Missionare und Märtyrer in unseren Völkern, die in Vergangenheit und Gegenwart bis zur Hingabe ihres Lebens zusammen mit Christus das Kreuz getragen haben.
141 Großartiger Ausdruck der Gestaltung des trinitarischen Projekts, das sich in Christus erfüllt, ist die Jungfrau Maria. Von ihrer unbefleckten Empfängnis bis zur Aufnahme in den Himmel erinnert sie uns daran, dass die ganze Schönheit des Menschen in seiner engen Liebesgemeinschaft mit der Heiligen Dreifaltigkeit begründet ist und dass unsere vollkommene Freiheit in der positiven Antwort besteht, die wir ihr geben.
142 In Lateinamerika und der Karibik sind zahllose Christen bemüht, dem Herrn gleich zu werden, indem sie ihm durch das betend aufmerksame Hören auf sein Wort begegnen, seine Vergebung im Sakrament der Versöhnung empfangen und an seinem Leben teilhaben in der Feier der Eucharistie und der anderen Sakramente, im solidarischen Einsatz für die bedürftigsten Geschwister und in den vielen lebendigen Gemeinden, die voll Freude erfahren, dass der Herr mitten unter ihnen ist.
Gesandt zur Verkündigung des Evangeliums vom Reich des Lebens
143 Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, beginnt das Reich des Lebens mitten unter uns durch seine Worte und Taten, durch seinen Tod und seine Auferstehung. Dieses Reich des Vaters findet dort seine Vollendung, wo „der Tod wird nicht mehr sein (wird), keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,4). In seinem Leben und durch den Tod am Kreuz bleibt Jesus seinem Vater und dessen Willen gehorsam (vgl. Lk 22,42). Während seiner Sendung waren die Jünger nicht fähig zu begreifen, dass der Sinn seines Lebens auch den Sinn seines Todes bestimmte. Noch viel weniger konnten sie begreifen, dass nach dem Willen des Vaters aus dem Tod des Sohnes fruchtbares Leben für alle hervorgehen sollte (vgl. Joh 12,23 f.). Das Ostergeheimnis Jesu ereignet sich im Gehorsam und in der Liebe zum Vater sowie in der Hingabe für alle seine Geschwister. Im Ostergeheimnis verschenkt der Messias voll und ganz das Leben, das er auf den Wegen und in den Dörfern Palästinas lebte. Durch sein freiwilliges Opfer legt das Lamm Gottes sein dargebrachtes Leben in die Hände des Vaters (vgl. Lk 23,46), der es „für uns“ zur Erlösung macht (1 Kor 1,30). Im Ostergeheimnis besiegelt der Vater, der rettet, den neuen Bund und schafft ein neues Volk auf dem Fundament seiner umsonst geschenkten Liebe.
144 Als er die Seinen ruft, damit sie ihm folgen, gibt er ihnen den eindeutigen Auftrag, das Evangelium vom Reiche Gottes allen Völkern zu verkünden (vgl. Mt 28,19; Lk 24,46–48). Deshalb ist jeder Jünger auch ein Missionar; denn Jesus bindet ihn als Freund und Bruder an sich und lässt ihn zugleich an seiner Sendung teilhaben. So wie Jesus Zeuge für das Geheimnis des Vaters ist, so sind die Jünger Zeugen für den Tod und die Auferstehung des Herrn, bis er wiederkommt. Diesem Auftrag nachzukommen, ist keine Sache der Wahl, sondern gehört wesentlich zur Identität des Christen, denn die Berufung umfasst auch die Weitergabe durch das Zeugnis.
145 Je mehr man sich der Zugehörigkeit zu Christus bewusst wird durch die Gnade und Freude, die aus ihr erwachsen, umso stärker wird auch der Impuls, allen Menschen das Geschenk dieser Begegnung weiterzugeben. Die Sendung beschränkt sich nicht auf ein Programm bzw. ein Projekt, sondern besteht darin, die Erfahrung der Christus-Begegnung mit anderen zu teilen, sie ihnen zu bezeugen und sie von Mensch zu Mensch, von Gemeinde zu Gemeinde, von der Kirche bis an die Grenzen der Erde zu verkündigen (vgl. Apg 1,8).
146 Benedikt XVI. erinnert daran: „Der Jünger, der auf diese Weise fest auf dem Felsen des Wortes Gottes steht, fühlt sich dazu angespornt, seinen Brüdern die Gute Nachricht vom Heil zu bringen. Jüngerschaft und Mission sind gleichsam die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Wenn der Jünger in Christus verliebt ist, kann er nicht aufhören, der Welt zu verkünden, dass allein Christus uns rettet (vgl. Apg 4,12). Der Jünger weiß nämlich, dass es ohne Christus kein Licht, keine Hoffnung, keine Liebe und keine Zukunft gibt.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Darin besteht die Hauptaufgabe der Evangelisierung, die die vorrangige Option für die Armen, die ganzheitliche Förderung des Menschen und die authentische christliche Befreiung mit umfasst.
147 Jesus suchte die Begegnung mit Menschen in verschiedensten Lebenssituationen, Männer und Frauen, Arme und Reiche, Juden und Ausländer, Gerechte und Sünder ... Sie alle lud er ein, ihm nachzufolgen. Auch heute lädt er dazu ein, in der Begegnung mit ihm die Liebe des Vaters zu erfahren. Eben deshalb müssen missionarische Jünger Männer bzw. Frauen sein, welche die barmherzige Liebe des Vaters vor allem für die Armen und die Sünder erfahrbar machen.
148 Dadurch, dass der Jünger an der Sendung teilhat, befindet er sich auf dem Weg zur Heiligkeit. Wenn er diese Heiligkeit in der Sendung lebt, trägt sie ihn mitten in die Welt. Deshalb bedeutet Heiligkeit weder eine Flucht in die Innerlichkeit bzw. in den religiösen Individualismus noch eine Abwendung von den dringlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas, und noch viel weniger eine Flucht aus der Realität in eine ausschließlich spirituelle Welt.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref>
Inspiriert vom Heiligen Geist
149 Nach seiner Taufe wurde Jesus zu Beginn seines öffentlichen Wirkens vom Heiligen Geist in die Wüste geführt, um sich auf seine Sendung vorzubereiten (vgl. Mk 1,12–13). In Gebet und Fasten lernte er den Willen des Vaters kennen und überwand die Versuchungen, andere Wege einzuschlagen. Der gleiche Geist begleitete Jesus während seines ganzen Lebens (vgl. Apg 10,38). Nach seiner Auferstehung teilte er den lebendig machenden Geist den Seinen mit (vgl. Apg 2,33).
150 Seit Pfingsten erfährt die Kirche unmittelbar, wie der Heilige Geist plötzlich in ihr wirkt, wie die göttliche Lebenskraft in verschiedenen Gaben und Charismen (vgl. 1 Kor 12,1–11), in unterschiedlichen Ämtern zur Wirkung kommt, die dem Aufbau der Kirche und ihrer Evangelisierung dienen (vgl. 1 Kor 12,28 f.). Durch diese Gaben des Heiligen Geistes trägt die Gemeinde das Erlösungswerk des Herrn weiter, bis er sich am Ende der Zeiten von neuem offenbart (1 Kor 6 f.). Der Heilige Geist macht die Missionare in der Kirche entschlossen und mutig wie Petrus (vgl. Apg 4,13) und Paulus (Apg 13,9), verweist auf die Orte, die evangelisiert werden sollen, und wählt jene aus, die das Werk tun sollen (vgl. Apg 13,2).
151 Die Kirche, die „mit dem Heiligem Geist und mit Feuer“ (Mt 3,11) unauslöschlich besiegelt ist, setzt das Werk des Messias fort, indem sie für die Gläubigen das Tor zum Heil aufmacht (1 Kor 6,11). Paulus sagt: „Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (2 Kor 3,3). Eben dieser eine Heilige Geist leitet und stützt die Kirche bei der Verkündigung des Wortes Gottes, bei der Feier des Glaubens und im Dienst der Nächstenliebe, bis der Leib Christi die Vollgestalt seines Hauptes erlangt hat (vgl. Eph 4,15 f.). Durch die wirksame Gegenwart des Heiligen Geistes sorgt Gott dafür, dass sein Lebensprojekt bis zur Parusie Männer und Frauen aller Zeiten und Orte erreicht und dass auf diese Weise die Geschichte und die in ihr wirkenden Kräfte verwandelt werden. Der Herr gießt also heute immer noch sein Leben aus, wenn die Kirche „in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes“ (1 Petr 1,12) die Sendung fortsetzt, die Jesus Christus von seinem Vater empfing (vgl. Joh 20,21).
152 Jesus übermittelte uns, was sein Vater ihm gesagt hat, und der Heilige Geist erinnert die Kirche an alles, was Christus gesagt hat (vgl. Joh 14,26). Schon von Anfang an hat Jesus die Jünger im Heiligen Geiste gelehrt (vgl. Apg 1,2); in der Kirche ist der Heilige Geist der innere Meister, der zur Kenntnis der ganzen Wahrheit führt und so die Jünger und Missionare formt. Aus diesem Grunde müssen sich alle, die Jesus nachfolgen, ständig vom Heiligen Geist leiten lassen (vgl. Gal 5,25) und sich die Leidenschaft für den Vater und das Gottesreich zu Eigen machen, indem sie den Armen die Gute Nachricht bringen, die Kranken heilen, die Trauernden trösten, die Gefangenen in Freiheit führen und für alle ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen (vgl. Lk 4,18 f.).
153 Diese Wirklichkeit erfahren wir in unserem Leben durch das Wirken des Heiligen Geistes, der uns auch durch die Sakramente erleuchtet und lebendig macht. Kraft der Taufe und der Firmung sind wir dazu berufen, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein und haben Zutritt zur trinitarischen Gemeinschaft in der Kirche, deren Mitte, die Eucharistie, das Sendungsprinzip und das Sendungsprojekt des Christen ausmacht. „Darum führt die Heiligste Eucharistie die christliche Initiation zu ihrer Fülle und stellt die Mitte und das Ziel des gesamten sakramentalen Lebens dar.“<ref> Sacramentum Caritatis 17.</ref>
Die Gemeinschaft der missionierenden Jünger in der Kirche
Zum Leben in Gemeinschaft berufen
154 Zu Beginn seines öffentlichen Wirkens wählt Jesus die zwölf Jünger, die er bei sich haben wollte (vgl. Mk 3,14). Weil er die Gemeinschaft fördern und über den Sendungsauftrag sprechen will, bittet Jesus sie: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus“ (Mk 6,31 f.). Bei anderen Gelegenheiten erklärt er ihnen das Geheimnis des Reiches Gottes (vgl. Mk 4,11.33 f.). Genauso verhält er sich gegenüber der Gruppe der zweiundsiebzig Jünger (vgl. Lk 10,17–20). Offenbar will Jesus mit den Jüngern an einem einsamen Ort sein, um ihnen zu Herzen zu reden (vgl. Hos 2,16). Auch heute ist die Begegnung der Jünger mit Jesus in der Abgeschiedenheit unverzichtbar, um für das Leben in der Gemeinschaft und für das missionarische Handeln Kraft zu schöpfen.
155 Die Jünger Jesu sind dazu berufen, in der „Gemeinschaft des Heiligen Geistes“ (2 Kor 13,13) mit dem Vater (1 Joh 1,3) und dem getöteten und auferstandenen Sohn zu leben. Das Geheimnis der Dreifaltigkeit ist Quelle, Vorbild und Ziel des Mysteriums der Kirche: „Das von der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk“ (LG 4) ist in Christus dazu berufen, „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“<ref> Lumen gentium 1.</ref> zu sein. Die Verbundenheit der Gläubigen und der Ortskirchen miteinander im Volk Gottes wird getragen von der Verbundenheit mit der Dreifaltigkeit.
156 Zur missionarischen Jüngerschaft wird man berufen durch das Zusammen-Gerufen-Sein in der Gemeinschaft seiner Kirche. Es gibt keine Jüngerschaft ohne Gemeinschaft. Angesichts der in der gegenwärtigen Kultur unübersehbaren Tendenz, ohne Kirche Christ zu sein und individualistisch neue spirituelle Formen zu suchen, sagen wir, dass der Glaube an Jesus Christus durch die Gemeinschaft der Kirche zu uns gekommen ist, und dass sie „uns eine Familie [gibt], die universale Familie Gottes in der katholischen Kirche. Der Glaube befreit uns von der Isolation des Ich, weil er uns zur Gemeinschaft führt.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde, in der wir mit den Nachfolgern der Apostel und dem Papst die Jüngerschaft und die Gemeinschaft ständig erfahren und leben können, ist folglich ein wesentlicher Bestandteil des Christseins.
157 Mit dem Glauben und der Taufe empfangen wir Christen auch den Heiligen Geist, der uns befähigt, Jesus als Sohn Gottes zu bekennen und Gott „Abba“ zu nennen. Als getaufte Männer und Frauen in Lateinamerika und der Karibik sind wir alle „durch das gemeinsame Priestertum des Volkes Gottes“<ref> Ebd. 5.</ref> dazu berufen, die Gemeinschaft mit der Dreifaltigkeit zu leben und weiterzugeben, denn „die Evangelisierung ist ein Aufruf zur Teilhabe an der dreifaltigen Gemeinschaft“.<ref> Puebla 218.</ref>
158 Wie die ersten christlichen Gemeinden, versammeln auch wir uns heute immer wieder, um „an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ festzuhalten (Apg 2,42). Die Gemeinschaft der Kirche nährt sich durch das Brot des Wortes Gottes und das Brot des Leibes Christi. Die Eucharistie, die Teilhabe aller an dem einen Brot des Lebens und dem einen Kelch der Erlösung, macht uns zu Gliedern desselben Leibes (vgl. 1 Kor 10,17). Sie ist Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens,<ref> Vgl. Lumen gentium 11.</ref> sein vollkommenster Ausdruck und Nahrung für das Leben in Gemeinschaft. In der Eucharistie werden die neuen Beziehungen, die sich daraus ergeben, dass wir Söhne und Töchter des Vaters und Brüder und Schwestern in Christus sind, im Geist des Evangeliums gestärkt. Die Eucharistie feiernde Kirche ist „Haus und Schule der Gemeinschaft“,<ref> Novo millennio ineunte 43.</ref> in der die Jünger Glauben, Hoffnung und Liebe im Dienst der missionarischen Evangelisierung miteinander teilen.
159 Die Kirche als „Gemeinschaft der Liebe“<ref> Deus caritas est 19.</ref> ist dazu berufen, in ihrer Gemeinschaft die Herrlichkeit der Liebe Gottes widerzuspiegeln und so die Menschen und Völker für Christus zu begeistern. Wenn sie die von Christus gewollte Verbundenheit verwirklicht, fühlen sich die Männer und Frauen unserer Zeit angesprochen und stoßen auf das wunderbare Abenteuer des Glaubens. „... so sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21). Die Kirche wächst nicht durch Proselytenmacherei, sondern vielmehr „durch ‚Anziehung‘: Wie Christus mit der Kraft seiner Liebe ‚alle an sich zieht‘“.<ref> Benedikt XVI., Homilie zur Eröffnung.</ref> Die Kirche „wirkt anziehend“, wenn sie in Gemeinschaft lebt, denn die Jünger Jesu werden daran erkannt, ob sie einander lieben, wie er uns geliebt hat (vgl. Röm 12,4–13; Joh 13,34).
160 Die pilgernde Kirche lebt schon jetzt die Schönheit der Liebe, die sich am Ende der Zeiten in der vollen Gemeinschaft Gottes mit den Menschen erfüllt.<ref> Vgl. ebd.</ref> Ihr Reichtum besteht darin, bereits in dieser Welt „die Gemeinschaft der Heiligen“ zu erfahren, das heißt alle Mitglieder der Kirche haben gemeinsam an den Gütern Gottes teil, also jene, die auf der Erde pilgern, gemeinsam mit jenen, die bereits verherrlicht sind.<ref> Vgl. Lumen gentium 49.</ref> Wir stellen fest, dass viele Katholiken in unserer Kirche ihren Glauben und ihre Zugehörigkeit zur Kirche nur sporadisch zum Ausdruck bringen, und zwar durch die Verehrung Jesu Christi, der Jungfrau Maria und der Heiligen. Wir laden sie ein, ihren Glauben zu vertiefen und umfassender am Leben der Kirche teilzunehmen, wenn wir sie daran erinnern, dass „sie kraft ihrer Taufe dazu berufen sind, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref>
161 Die Kirche ist Gemeinschaft in der Liebe. Die Liebe ist ihr Wesensmerkmal und das Zeichen, an dem man erkennen soll, dass sie Jesus Christus nachfolgt und der Menschheit dient. Dieses neue Gebot eint die Jünger untereinander, wenn sie sich gegenseitig als Brüder und Schwestern anerkennen, dem gleichen Herrn gehorchen, als Glieder mit demselben Haupt verbunden und daher dazu bestimmt sind, füreinander Sorge zu tragen (1 Kor 13; Kol 3,12–14).
162 Die verschiedenen Charismen, Ämter und Dienste bieten die Möglichkeit, täglich die Gemeinschaft zu praktizieren, in der die Gaben des Heiligen Geistes verliehen werden, um den anderen zu nützen, damit die Liebe immer lebendig bleibt (vgl. 1 Kor 12,4–12). In der Tat hat jeder getaufte Mensch Gaben empfangen, die er in Einheit und gegenseitiger Ergänzung mit den Gaben der anderen entfalten muss, um den einen Leib Christi zu bilden, der für das Leben der Welt hingegeben wurde. Die praktische Anerkennung der inneren Einheit und der Verschiedenheit der Dienste wird eine größere missionarische Lebendigkeit sichern. Sie wird Zeichen und Werkzeug der Versöhnung und des Friedens für unsere Völker sein. Jede Gemeinde ist aufgerufen, die verborgenen und verschwiegenen Talente, die der Geist den Gläubigen geschenkt hat, ans Licht zu heben und im Leben der Kirche zur Wirkung zu bringen.
163 Im Volk Gottes sind „Communio und Sendung zutiefst miteinander verbunden, [...] die Communio ist missionarisch und die Sendung gilt der Communio.“<ref> Christifideles laici 32.</ref> In unseren Ortskirchen sind wir alle als Mitglieder des Volkes Gottes – unseren spezifischen Begabungen entsprechend – zur Heiligkeit in Communio und Sendung berufen.
Kirchliche Orte für die Gemeinschaft
Die Diözese, der privilegierte Ort für die Gemeinschaft
164 Das Leben in Gemeinschaft ist wesentlich für die christliche Berufung. Jüngerschaft und Mission setzen immer voraus, dass man zu einer Gemeinschaft gehört. Gott wollte uns nicht als isolierte Einzelne retten, sondern durch die Bildung eines Volkes.<ref> Vgl. Lumen gentium 9.</ref> Darin unterscheidet sich das Leben der christlichen Berufung von einem einfachen, individuellen religiösen Gefühl. Aus diesem Grunde wird der Glaube auch immer in einer Ortskirche erfahren.
165 Versammelt und bestärkt durch das Wort Gottes und in der Eucharistie lebt und wirkt die katholische Kirche in jeder Ortskirche, die in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom lebt.<ref> Vgl. Christifideles laici 25.</ref> Die Ortskirche ist, wie das Konzil sagt, „der Teil des Gottesvolkes, der dem Bischof in Zusammenarbeit mit dem Presbyterium zu weiden anvertraut ist“.<ref> Christus Dominus 11.</ref>
166 Die Ortskirche ist ganz Kirche, aber sie ist nicht die ganze Kirche. Sie verwirklicht das Mysterium der Universalkirche an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit. Dazu muss sie mit den anderen Ortskirchen unter dem obersten Hirtenamt des Papstes, des Bischofs von Rom, der allen Ortskirchen vorsteht, in Gemeinschaft stehen.
167 Um in der Nachfolge Jesu immer vollkommener zu werden und ihn mit aller Begeisterung verkünden zu können, muss sich die Ortskirche in ihrem Leben und ihrem missionarischen Eifer ständig erneuern. Nur so kann sie für alle Getauften Haus und Schule der Gemeinschaft, der Partizipation und der Solidarität sein. Sie ist das konkrete gesellschaftliche Umfeld, in dem der Jünger dem lebendigen Jesus Christus begegnet, seine eigene Berufung zum Christen entwickelt, Fülle und Gnade des Gesandtseins entdeckt und mit Freude das Wort Gottes verkündet.
168 Die Diözese mit ihren Gemeinden und sonstigen Strukturen ist dazu berufen, eine „missionarische Communio“<ref> Vgl. Christifideles laici 32.</ref> zu sein. Jede Diözese muss ihr Sendungsbewusstsein verstärken, wenn sie sich auf ihrem Gebiet jenen Menschen zuwenden will, die noch nicht an Christus glauben und wenn sie nach angemessenen Lösungen für die großen Probleme der Gesellschaft suchen will, in die sie hineingestellt ist. Sie ist ebenso aufgerufen, in mütterlichem Geist jene bereits Getauften aufzusuchen, die sich nicht am Leben der christlichen Gemeinden beteiligen.
169 Die vom Bischof geleitete Diözese ist der bevorzugte Ort der Gemeinschaft und der Mission. Die Diözese muss eine mutige und erneuernde Gesamtpastoral anregen und anleiten, so dass die verschiedenen Charismen, Dienste, Ämter und Organisationen auf ein gemeinsames missionarisches Projekt gerichtet sind, um das eigene Umfeld mit Leben zu erfüllen. Ein solches Vorhaben, das sich aus ganz unterschiedlichen Formen der Mitwirkung zusammensetzt, macht eine Gesamtpastoral möglich, die in der Lage ist, neuen Herausforderungen zu begegnen. Es wird nur dann wirksam, wenn sich jede christliche Gemeinschaft, jede Pfarrei, jede Bildungsstätte, jede Ordensgemeinschaft, jede Organisation bzw. Bewegung und jede kleine Gemeinde aktiv an der Gesamtpastoral der einzelnen Diözese beteiligt. Alle sind dazu aufgerufen, sich in harmonischer Weise in das Pastoralprojekt der Diözese zu integrieren und auf diese Weise zu evangelisieren.
Die Pfarrgemeinde – Gemeinschaft der Gemeinschaften
170 Zu den kirchlichen Gemeinschaften, in denen die missionarischen Jünger Jesu Christi leben und sich weiterbilden, gehören an erster Stelle die Pfarrgemeinden. Sie sind die pulsierenden Zellen des kirchlichen Lebens<ref> Vgl. Apostolicam actuositatem 10; Santo Domingo 55.</ref> und der bevorzugte Ort, an dem die meisten Gläubigen eine konkrete Erfahrung mit Christus und der kirchlichen Gemeinschaft machen.<ref> Vgl. Ecclesia in America 41.</ref> Sie sind dazu bestimmt, Häuser und Schulen der Gemeinschaft zu sein. Einer der sehnlichsten Wünsche, die in den Kirchen Lateinamerikas und der Karibik anlässlich der Vorbereitung der 5. Generalversammlung geäußert wurden, ist der nach einer mutigen Erneuerung der Pfarrgemeinden, damit sie wirklich „Ort christlicher Initiation, ein Ort der Erziehung und der Feier des Glaubens sowie offen für die verschiedenen Charismen, Dienste und Ämter sein [können]; sie sollen gemeinschaftlich und verantwortungsbewusst organisiert sein; die bereits existierenden Apostolatsbewegungen sollen sie in ihre Strukturen integrieren; sie sollen die kulturellen Unterschiede der Einwohner beachten und offen sein für pastorale und pfarrübergreifende Projekte sowie für die sie umgebende Wirklichkeit.“<ref> Ebd. 41.</ref>
171 Alle Mitglieder der Pfarrgemeinde tragen Verantwortung für die Evangelisierung der Menschen, mit denen sie im Alltag in Kontakt kommen. Der Heilige Geist, der in Jesus Christus wirkt, ist auch über alle Glieder der Gemeinde ausgegossen, denn sein Wirken ist nicht auf den einzelnen Menschen begrenzt, sondern öffnet die Gemeinschaften immer für die Mission, wie es auch Pfingsten geschah (vgl. Apg 2,1–13).
172 Zu Beginn des dritten Jahrtausends müssen die Pfarrgemeinden ihre Strukturen neu ordnen, damit alle Gemeinschaften und Gruppen gleichsam ein Netz bilden, ihre Anliegen einbringen können und so erreichen, dass ihre Mitglieder sich wirklich als Jünger und Missionare Jesu Christi in Gemeinschaft erfahren können. Von der Pfarrgemeinde aus muss verkündet werden, was Jesus Christus „getan und gelehrt hat“ (Apg 1,1), als er bei uns war. Seine Person und sein Werk verkünden die Diener und Zeugen des Wortes Gottes, die der Heilige Geist erweckt und inspiriert, als Gute Nachricht von der Erlösung. Das angenommene Wort erlöst, es offenbart das Geheimnis und den Willen Gottes. Jede Pfarrgemeinde soll der Raum sein, wo man das Wort hört und aufnimmt, wo man es durch die Anbetung des Leibes Christi zum Ausdruck bringt und feiert. So wird die Pfarrgemeinde zur dynamischen Quelle missionarischer Jüngerschaft. Sie selbst wiederum erneuert sich nur dadurch, dass sie sich stets von neuem vom lebendigen und wirksamen Wort erleuchten lässt.
173 Die 5. Generalversammlung bietet den Anlass, die Pfarrgemeinden missionarisch zu gestalten. Die Zahl der Katholiken, die zum Sonntagsgottesdienst kommen, ist kleiner geworden, die Zahl derjenigen, die sich von uns entfernt haben, und derer, die Christus nicht kennen, ist dagegen sehr groß. Die Evangelisierung sowohl in den großen Städten wie auch in den ländlichen Bereichen unseres Kontinents verlangt die missionarische Erneuerung der Pfarrgemeinden. Daher sind Phantasie und Kreativität gefragt, um die vielen Menschen zu erreichen, die sich nach dem Evangelium Jesu Christi sehnen. Insbesondere im urbanen Bereich müssen neue Strukturen für die Pastoral geschaffen werden, da viele der jetzigen Strukturen aus einer anderen Zeit stammen und auf die Bedürfnisse des ländlichen Bereichs zugeschnitten sind.
174 Die größten Anstrengungen müssen die Pfarreien zu Beginn des dritten Jahrtausends für die Berufung und Ausbildung der missionierenden Laien aufwenden. Nur wenn wir viele Menschen für diese Aufgabe gewinnen, können wir die Anforderungen, die heute an uns gestellt werden, erfüllen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Laien die spezifische Aufgabe haben, die komplexe Welt der Arbeit, der Kultur, der Wissenschaften und der Künste, der Politik, der Kommunikationsmedien und der Wirtschaft sowie die Bereiche der Familie, der Erziehung, des Berufslebens zu evangelisieren, insbesondere dort, wo die Kirche nur durch die Laien vertreten ist.<ref> Vgl. Lumen gentium 31, 33; Gaudium et spes 43; Apostolicam actuositatem 2.</ref>
175 Nach dem Beispiel der christlichen Urgemeinde (vgl. Apg 2,46 f.) versammelt sich die Pfarrgemeinde, um das Brot des Wortes und das Brot der Eucharistie zu teilen, voller Eifer in der Katechese, im sakramentalen Leben und in der tätigen Nächstenliebe.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz, Apostolische Reise nach Brasilien, 23. Mai 2007.</ref> In der Eucharistiefeier erneuert sie ihr Leben in Christus. Die Eucharistie stärkt die Gemeinschaft der Jünger und ist für die Pfarrgemeinde eine Schule christlichen Lebens. In der Eucharistiefeier, verbunden mit der eucharistischen Anbetung und der Praxis des Versöhnungssakramentes, um würdig die Kommunion zu empfangen, bereiten sich die Mitglieder der Pfarrgemeinde darauf vor, immer wieder Nächstenliebe, Versöhnung und Gerechtigkeit für das Leben der Welt zu bezeugen.
a) Die Eucharistie, Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens, macht aus unseren Pfarrgemeinden eucharistische Gemeinschaften, die die Begegnung mit Christus, dem Erlöser, auf sakramentale Weise leben. Mit großer Freude feiern sie, dass:
b) in der Taufe ein neues Glied zum Leibe Christi, der Kirche, hinzugefügt wird;
c) in der Firmung das Taufgeschehen vollendet sowie die Zugehörigkeit zur Kirche und die apostolische Mündigkeit bestärkt werden;
d) im Buß- bzw. Versöhnungssakrament die Umkehr geschieht, die wir alle brauchen, um die Sünde, die unserem Taufversprechen entgegensteht, zu bekämpfen;
e) in der Krankensalbung die Mitglieder der Gemeinde, die ernsthaft krank oder in Todesgefahr sind, vom Geist des Evangeliums erfüllt werden;
f) in der Priesterweihe die Kirche das Geschenk des apostolischen Ministeriums weiterhin zum Dienst für alle Gläubigen empfängt;
g) im Ehesakrament die eheliche Liebe durch Gottes Gnade keimt und bis zur Reife wächst, so dass die gegenseitige ganzheitliche Hingabe der Eheleute im täglichen Leben wirksam wird.
176 Die Eucharistie als Zeichen der alle umfassenden Einheit, die das Mysterium des Mensch gewordenen Gottessohnes in die Gegenwart holt (vgl. Phil 2,6–8), verpflichtet uns zu einer den ganzen Menschen umfassenden Evangelisierung. Die allermeisten Katholiken unseres Kontinents leiden unter der Geißel der Armut, die sich auf unterschiedlichste Weise zeigt: als ökonomische, physische, geistige, moralische Armut usw. Wenn Jesus gekommen ist, damit alle Menschen das Leben in Fülle haben, ist dies für die Pfarrgemeinde ein wunderbarer Anstoß, sich der großen Not unserer Völker anzunehmen. Dazu muss sie dem Weg Jesu folgen und – wie er – eine gute Samariterin sein. Jede Pfarrei muss in den verschiedensten Bereichen, in denen sie sich bewegt, ihr gesellschaftliches Engagement durch solidarische Zeichen mit aller „Phantasie der Liebe“<ref> Novo millennio ineunte 50.</ref> konkretisieren. Sie darf das große Leid so vieler Mitmenschen, die oft in versteckter Armut leben, nicht ignorieren. Jede authentische Mission verbindet die Sorge um die geistige Dimension des Menschen mit den Sorgen um seine ganz konkreten Bedürfnisse, damit alle die Fülle erreichen, die Jesus Christus anbietet.
177 Benedikt XVI. erinnert uns daran, dass „die Liebe zur Eucharistie dazu führt, auch das Sakrament der Versöhnung immer mehr zu schätzen“.<ref> Sacramentum Caritatis 20.</ref> Wir leben in einer Kultur, die von einem starken Relativismus und einem Verlust des Sündenbewusstseins geprägt ist. Dadurch vergessen wir, dass wir das Sakrament der Versöhnung brauchen, um uns würdig auf den Empfang der Eucharistie vorzubereiten. Als Hirten sind wir verpflichtet, Sorge zu tragen, dass das Bußsakrament regelmäßig empfangen wird. Wir laden unsere Priester ein, sich genügend Zeit zu nehmen, um das Sakrament der Versöhnung mit pastoralem Eifer und Verständnis anzubieten. Die Orte für den Empfang sollen würdig vorbereitet werden, damit sie der Bedeutung dieses Sakraments entsprechen. Wir bitten ebenso unsere Gläubigen, dieses wunderbare Geschenk Gottes zu würdigen und es anzunehmen, um die Taufgnade zu erneuern und den Ruf Gottes, seine Jünger und Missionare zu sein, mit noch größerer Glaubwürdigkeit zu leben. Wir Bischöfe und Priester sind aufgerufen, in besonderer Weise die Nähe zum Meister zu leben. Wir sind uns unserer Schwachheit bewusst und bedürfen der Reinigung durch die Gnade des Sakramentes, das uns angeboten wird, damit wir uns immer mehr mit Christus, dem Guten Hirten und Gesandten des Vaters, identifizieren. Wir haben zum einen die Freude, stets als Diener der Versöhnung zur Verfügung zu sein, zum andern sollen auch wir selbst uns immer wieder im Sakrament der Versöhnung auf den Weg der Buße begeben.
Kirchliche Basisgemeinden und Kleine Gemeinschaften
178 In der kirchlichen Praxis einiger Kirchen Lateinamerikas und der Karibik waren die Basisgemeinden Schulen der Ausbildung von Christen, die sich als Jünger und Missionare des Herrn engagiert für ihren Glauben eingesetzt haben. Viele ihrer Mitglieder haben sogar ihr Leben dafür hingegeben. Sie stehen damit in der Tradition der ersten christlichen Gemeinden, wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben wird (vgl. Apg 2,42– 47). Medellín anerkannte sie als Keimzellen kirchlicher Strukturierung und als Knotenpunkte von Glauben und Evangelisierung.<ref> Vgl. Medellín 15.</ref> Puebla stellte fest, dass die kleinen Gemeinschaften, insbesondere die Basisgemeinden, es dem Volk leichter machten, das Wort Gottes besser kennen zu lernen, sich im Namen des Evangeliums gesellschaftlich zu engagieren, neue Laiendienste zu entwickeln und Erwachsene im Glauben weiterzubilden.<ref> Vgl. Puebla 629.</ref> Puebla stellte aber auch fest, dass es „zuweilen Mitglieder von Gemeinschaften oder ganze Gemeinschaften gegeben [hat], die, von rein weltlichen Institutionen angezogen oder von Ideologien radikalisiert, zunehmend den echten Sinn für die Kirche verloren haben“.<ref> Ebd. 630.</ref>
179 Die kirchlichen Basisgemeinden betrachten in der missionarischen Nachfolge Jesu das Wort Gottes als Quelle ihrer Spiritualität und die Orientierung durch ihre Hirten als Leitung, die sie in der kirchlichen Gemeinschaft verankert. Sie setzen sich mit ihrem evangelisierend-missionarischen Engagement unter den ganz einfachen und am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen ein; sie machen die vorrangige Option für die Armen sichtbar. Aus ihnen sind verschiedene Dienste und Ämter für das Leben in Kirche und Gesellschaft hervorgegangen. Wenn sie in der Gemeinschaft mit ihrem Bischof bleiben und sich in den Pastoralplan der Diözese eingliedern, werden die kirchlichen Basisgemeinden zu Kennzeichen der Vitalität in der Ortskirche. Wenn sie so gemeinsam mit den Gruppen der Pfarrei, den kirchlichen Vereinen und Bewegungen handeln, können sie dazu beitragen, die Pfarreien wieder lebendiger zu gestalten und sie zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften zu machen. Bei ihrem Bemühen, sich den Herausforderungen der heutigen Zeit zu stellen, sollen die kirchlichen Basisgemeinden darauf achten, den kostbaren Schatz der Überlieferung und des kirchlichen Lehramtes nicht zu entstellen.
180 Um den Anforderungen der Evangelisierung gerecht zu werden, haben sich neben den Basisgemeinden andere anerkannte Formen kleiner Gemeinschaften gebildet, sogar Netze von Gemeinschaften und Bewegungen, von Lebens-, Gebetsund Reflexionsgruppen für das Wort Gottes. Alle diese kirchlichen Gemeinschaften und Gruppen werden in dem Maße fruchtbar sein, wie die Eucharistie der Mittelpunkt und das Wort Gottes der Wegweiser für ihr Handeln in der einen Kirche Christi ist.
Die Bischofskonferenzen und die Gemeinschaft der Ortskirchen
181 Die Bischöfe üben ihr Amt im Dienst der Gemeinschaft ihrer Ortskirche aus und arbeiten gleichzeitig mit den anderen Diözesankirchen zusammen. Auf diese Weise leben sie das Band der Gemeinschaft, das sie miteinander verbindet. Insbesondere seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil müssen die Erfahrungen bischöflicher Gemeinschaft als Begegnung mit dem lebendigen Christus verstanden werden, der mitten unter den in seinem Namen versammelten Brüdern ist.<ref> Vgl. Ecclesia in America 37.</ref> Um in dieser Brüderlichkeit und in der pastoralen Mitverantwortung weiter zu wachsen, müssen die Bischöfe die Spiritualität der Gemeinschaft pflegen, um sowohl die Bande der Kollegialität, die sie mit den anderen Bischöfen ihrer eigenen Konferenz verbinden, zu stärken, als auch jene, die sie mit dem gesamten Bischofskollegium und der vom Nachfolger Petri geleiteten Kirche in Rom verbinden: cum Petro et sub Petro.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolos suos.</ref> Die Bischofskonferenz bietet den Bischöfen einen solidarischen Raum, um die großen Probleme in Gesellschaft und Kirche kritisch zu prüfen; dort geben sie einander Anregungen, um pastorale Richtlinien für die Mitglieder des Volkes Gottes zu erarbeiten, damit diese in Treue und Entschlossenheit ihre Berufung als missionarische Jünger annehmen können.
182 Das Volk Gottes ist organisiert als eine Gemeinschaft von Ortskirchen. Durch sie stehen auch verschiedene Kulturen miteinander im Austausch. In diesem Kontext bringen die Bischöfe und die Ortskirchen ihre Fürsorge für alle Kirchen zum Ausdruck, insbesondere jedoch für die unmittelbar benachbarten, die in den kirchlichen Provinzen, in den Regionalkonferenzen und in anderen Formen überdiözesaner Verbände innerhalb jedes Landes oder zwischen den Ländern einer Region bzw. eines Kontinents zusammengefasst sind. Diese verschiedenen Formen der Gemeinschaft festigen „geschwisterliche Beziehungen zwischen den Diözesen und den Pfarreien“<ref> Ecclesia in America 33.</ref> und dienen „einer engeren Zusammenarbeit unter den Schwesterkirchen“.<ref> Ebd. 74.</ref>
183 Der Lateinamerikanische Bischofsrat, der CELAM, ist ein kirchliches Organ brüderlicher Hilfe für die Bischöfe. Sein Hauptanliegen besteht darin, gemeinsam für die Evangelisierung des Kontinents zu arbeiten. In den 50 Jahren seines Bestehens hat er den einzelnen Bischofskonferenzen und unseren Ortskirchen sehr wichtige Dienste geleistet, sei es durch die Generalversammlungen, durch regionale Treffen oder Studienseminare in seinen verschiedenen Organen und Institutionen. All diese Bemühungen haben die brüderliche Verbundenheit zwischen den Bischöfen des Kontinents spürbar verbessert, aber auch zu einer gemeinsamen theologischen Reflexion und pastoralen Sprache geführt, die mehr Gemeinschaft und Austausch zwischen den Ortskirchen möglich machen.
Missionarische Jünger mit spezieller Berufung
184 Das Jüngersein hat durch Glaube und Taufe seinen Grund in Jesus Christus und entwickelt sich in der Kirche als einer Gemeinschaft, in der alle Glieder die gleiche Würde besitzen und an verschiedenen Diensten und Charismen teilhaben. Auf diese Weise wird in der Kirche verwirklicht, wie man die heilig machende Gnade der Taufe auf je eigene Weise im Dienst am Reiche Gottes leben kann.
185 Der Jünger, der seiner Berufung durch die Taufe die Treue halten will, muss sich den Herausforderungen stellen, mit denen die Kirche Jesu heute zu tun hat. Dazu gehören: Der Weggang von Gläubigen, die sich den Sekten und anderen religiösen Gruppen anschließen; die kulturellen Tendenzen, die sich gegen Christus und die Kirche richten; die Verzagtheit von Priestern angesichts der umfangreichen pastoralen Arbeit; der Priestermangel an vielen Orten; der gesellschaftlich-kulturelle Paradigmenwechsel; das Phänomen der Globalisierung und Säkularisierung; die ernsten Probleme von Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit; die zunehmende Kultur des Todes, die das Leben in all seinen Formen beeinträchtigt.
Die Bischöfe – missionarische Jünger des Hohenpriesters Jesus
186 Wir Bischöfe haben als Nachfolger der Apostel gemeinsam mit dem Papst und unter seiner Autorität<ref> Vgl. Christus Dominus 2.</ref> in Glaube und Hoffnung die Berufung angenommen, dem Volk Gottes im Geiste Christi, des Guten Hirten, zu dienen. Aufgrund der Taufe sind wir gemeinsam mit allen Gläubigen insbesondere Jünger und Mitglieder des Volkes Gottes. Wie alle Getauften und zusammen mit ihnen möchten wir Jesus, dem Meister des Lebens und der Wahrheit, in der Gemeinschaft der Kirche nachfolgen. Als Hirten und Diener des Evangeliums sind wir uns dessen bewusst, dazu berufen zu sein, die Liebe zu Jesus Christus und zur Kirche in der Intimität des Gebetes und in der Hingabe unserer selbst an die Brüder und Schwestern zu leben, denen wir in Liebe vorstehen. Der heilige Augustinus sagt dazu: Mit euch bin ich Christ, für euch bin ich Bischof.
187 Der Herr ruft uns auf, die Liebe und die Heiligkeit der Gläubigen mit allen Mitteln zu fördern. Wir bemühen uns, dass das Volk Gottes mit Hilfe der Sakramente, die wir und die anderen geweihten Diener verwalten, in der Gnade wachse. Wir sind dazu berufen, Lehrer des Glaubens zu sein, die Gute Nachricht als Quelle der Hoffnung für alle zu überbringen und den katholischen Glauben mit Eifer und Mut zu fördern. Kraft der engen brüderlichen Verbundenheit durch das Sakrament der Priesterweihe ist es unsere Pflicht, in besonderer Weise den Kontakt zu unseren Priestern und Diakonen zu halten. Wir dienen Christus und der Kirche, indem wir den Willen des Vaters immer besser kennen lernen, um wie der Herr zu denken, zu fühlen, zu sprechen und uns unter den Menschen zu verhalten. Zusammengefasst gesagt, wir Bischöfe müssen Zeugen sein, die Jesus Christus, dem Guten Hirten, in Freude nahe sind (vgl. Joh 10,1–18).
188 Als Hirten und geistliche Leiter der uns anvertrauten Gemeinschaften sind wir Bischöfe aufgerufen, „die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft zu machen“.<ref> Novo millennio ineunte 43.</ref> Als Verantwortliche zur Förderung der Gemeinschaft haben wir die Aufgabe, Charismen, Ämter und Dienste in der Kirche zu bestätigen, kritisch zu prüfen und anzuregen. Als Väter und Vermittler der Einheit bemühen wir uns, der Welt eine Kirche zu zeigen, in der sich alle wie in ihrem eigenen Zuhause angenommen fühlen. Für das gesamte Volk Gottes, insbesondere für die Priester, versuchen wir, Väter, Freunde und Brüder zu sein, die immer zum Gespräch bereit sind.
189 Um uns immer besser auf diese Weise verhalten zu können, müssen wir Bischöfe stets eng mit dem Herrn verbunden sein, die Spiritualität der Gemeinschaft mit allen pflegen, die an Christus glauben, und die Bande der Kollegialität festigen, die uns mit dem Bischofskollegium, insbesondere mit seinem Oberhaupt, dem Bischof von Rom, vereinen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Bischof die Einheit seiner Ortskirche begründet und aufbaut, dass er das ihm anvertraute Volk heiligt, dass er Zeuge der Hoffnung und Vater der Gläubigen, speziell der Armen, ist und dass seine wichtigste Aufgabe darin besteht, als Diener der Herde Lehrer des Glaubens, Verkünder des Wortes Gottes und Verwalter der Sakramente zu sein.
190 Das ganze Volk Gottes soll den emeritierten Bischöfen danken, die – weil Jünger und Missionare – als Hirten ihr Leben in den Dienst des Gottesreiches gestellt haben. Wir nehmen sie in Liebe bei uns auf und achten ihre reiche apostolische Erfahrung, die noch immer reiche Frucht tragen kann. Sie bleiben sehr eng mit den Diözesen verbunden, die ihnen anvertraut waren und mit denen sie in Liebe und im Gebet immer noch vereint sind.
Die Priester – missionarische Jünger Jesu, des Guten Hirten
Identität und Sendungsauftrag der Priester
191 Mit Freude stellen wir fest und sind dankbar, dass die meisten Priester ihr Amt treu und vorbildlich ausüben, dass sie sich immer wieder Zeit nehmen für ihre Weiterbildung, dass ihr geistliches Leben seine Mitte hat im Hören auf das Wort Gottes und in der täglichen Feier der Eucharistie und so zum Ansporn wird für ihre Mitbrüder: „Meine Messe ist mein Leben und mein Leben ist eine Fortsetzung der Messe!“<ref> Hurtado, Alberto, Un fuego que enciende otros fuegos. Paginas escogidas, Santiago 2005, S. 69 f.</ref> Wir sind auch jenen dankbar, die von tiefem missionarischem Geist bewegt in andere Ortskirchen gesandt worden sind.
192 Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, dass unsere Priester in ihrem persönlichen Leben und in ihrem priesterlichen Dienst vielen Schwierigkeiten und Herausforderungen gegenüberstehen. Zu ihnen gehören u. a.: die theologische Identität des Priesteramtes, die Einbindung des Priesters in das aktuelle gesellschaftlich-kulturelle Umfeld und schließlich schwierige Situationen im persönlichen Leben des Priesters.
193 Die erste Herausforderung hat zu tun mit der theologischen Identität des Priesteramtes. Laut Zweiten Vatikanischen Konzil steht das Amtspriestertum im Dienst des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen, und das eine wie das andere nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil.<ref> Vgl. Lumen gentium 10.</ref> Christus, der ewige Hohepriester, hat uns erlöst und uns Anteil an seinem göttlichen Leben gegeben. In ihm sind wir alle Kinder desselben Vaters und untereinander Geschwister. Ein Priester darf nicht der Versuchung erliegen, sich lediglich als Delegierter oder Vertreter der Gemeinde zu verstehen, denn er ist vielmehr ein Geschenk für die Gemeinde durch die Salbung des Heiligen Geistes und durch seine besondere Einheit mit Christus als dem Haupt. „Denn jeder Hohepriester wird aus den Menschen ausgewählt und für die Menschen eingesetzt zum Dienst vor Gott“ (Hebr 5,1).
194 Die zweite Herausforderung bezieht sich auf die Ausübung des Priesteramtes im aktuellen gesellschaftlich-kulturellen Umfeld. Der Priester muss sein Umfeld kennen, wenn er in ihm den Samen des Evangeliums säen will, das heißt, wenn er die Botschaft Jesu als einen verständlichen und hoffnungsvollen Aufruf verkünden will, der für Männer und Frauen von heute, insbesondere auch für die Jugendlichen, immer noch von Bedeutung ist. Diese Herausforderung bringt es mit sich, dass sowohl die Grundausbildung als auch die ständige Weiterbildung der Priester in ihren vier Dimensionen, in der menschlichen, spirituellen, intellektuellen und pastoralen Dimension, angemessen verbessert werden müssen.<ref> Vgl. Pastores dabo vobis 72.</ref>
195 Die dritte Herausforderung bezieht sich auf die existentiellen emotionalen Aspekte, auf den Zölibat und auf ein intensives, auf pastoraler Nächstenliebe gegründetes geistliches Leben, das sich aus der persönlichen Gotteserfahrung und aus der Gemeinschaft mit den Brüdern speist. Ebenso geht es darum, geschwisterliche Beziehungen zum Bischof, zu den anderen Priestern der Diözese und zu den Laien zu pflegen. Ein ausgeglichener und überzeugender priesterlicher Dienst setzt voraus, dass der Priester seine pastorale Aufgabe liebt und sie in Gemeinschaft mit dem Bischof und den anderen Priestern der Diözese ausübt. Das Priesteramt, das aus der Heiligen Weihe hervorgeht, hat eine „radikale Gemeinschaftsform“ und kann nur als „Gemeinschaftswerk“<ref> Ebd. 17.</ref> entfaltet werden. Ein Priester muss ein Mann des Gebetes sein, reif in seiner Lebensentscheidung für Gott; er muss die Mittel für seine Standfestigkeit, wie das Sakrament der Beichte, die Verehrung der Heiligsten Jungfrau Maria, die Abtötung und die leidenschaftliche Hingabe an seine pastorale Sendung nutzen.
196 Insbesondere ist der Priester eingeladen, den Zölibat als ein Geschenk Gottes zu schätzen, das es ihm ermöglicht, seinen Lebensstil nach dem Vorbild Christi zu gestalten und durch die volle, ungeteilte Hingabe an Gott und die Menschen zum Zeichen der pastoralen Nächstenliebe zu werden. „In dieser Wahl des Priesters kommen nämlich in ganz eigener Weise seine Hingabe, die ihn Christus gleich gestaltet, und seine Selbstaufopferung ausschließlich für das Reich Gottes zum Ausdruck“.<ref> Sacramentum Caritatis 24.</ref> Der Zölibat verlangt, die eigene Emotionalität und Sexualität in großer Reife anzunehmen und sie in Ernsthaftigkeit und Freude in Gemeinschaft zu leben.<ref> Vgl. Pastores dabo vobis 44.</ref>
197 Andere Herausforderungen sind strukturellen Charakters: zum Beispiel die Existenz zu großer Pfarreien, die die Ausübung einer angemessenen Pastoral erschweren; sehr arme Pfarreien, in denen sich die Priester um viele Dinge kümmern müssen, damit die Pfarreien überleben können; Pfarreien in höchst unsicheren und von extremer Gewalt heimgesuchten Gebieten; der Priestermangel und die schlechte Verteilung der Priester in den Kirchen des Kontinents.
198 Der Priester nach dem Vorbild des Guten Hirten muss ein Mensch der Barmherzigkeit und des Mitleidens sein, der nahe bei den Menschen ist und allen dient, insbesondere jenen, die am meisten Not leiden. Die pastorale Nächstenliebe als Quelle priesterlicher Spiritualität verleiht seinem Leben und seinem Dienst Kraft und Einheit. Sich seiner Grenzen bewusst, trägt er die Gesamtpastoral mit und fügt sich gern in sein Presbyterium ein.
199 Das Volk Gottes braucht Priester, die Jünger sind, die eine tiefe Gotteserfahrung haben, deren Herz nach dem Herzen des Guten Hirten gebildet ist, die offen sind für die Anregungen des Heiligen Geistes, die aus dem Wort Gottes, aus der Eucharistie und aus dem Gebet Kraft schöpfen. Das Volk Gottes braucht Priester, die Missionare sind, die motiviert sind durch die pastorale Nächstenliebe, mit der sie die ihnen anvertraute Herde weiden und diejenigen, die sich am weitesten entfernt haben, suchen, indem sie das Wort Gottes verkünden, und zwar stets in enger Gemeinschaft mit den Bischöfen, Priestern, Diakonen, Ordensleuten und Laien. Das Volk Gottes braucht Priester, die Diener des Lebens sind, die aufmerksam die Not der Ärmsten wahrnehmen, entschieden für die Rechte der Schwächsten eintreten und die Kultur der Solidarität fördern. Das Volk Gottes braucht Priester, die voller Barmherzigkeit sind und das Sakrament der Versöhnung spenden.
200 Das alles setzt voraus, dass in den Diözesen und den Bischofskonferenzen eine Pastoral für Priester entwickelt wird, die der besonderen Spiritualität sowie der ständigen umfassen- den Weiterbildung der Priester Vorrang gibt. Das Apostolische Schreiben Pastores dabo vobis betont: „Die Weiterbildung muss – eben weil sie ‚fortdauernd’ ist – die Priester immer begleiten, d. h. in jeder Phase und Lebenslage, sowie auch auf jeder Ebene kirchlicher Verantwortung: dabei sind selbstverständlich die Möglichkeiten und Charakteristika zu sehen, die mit dem Wechsel von Lebensphasen, Lebenslagen und anvertrauten Aufgaben zusammenhängen“.<ref> Pastores dabo vobis 76.</ref> Angesichts der vielen Priester, die das Amt verlassen haben, kümmert sich jede Ortskirche darum, geschwisterliche Beziehungen zu ihnen herzustellen und – in Übereinstimmung mit den kirchlichen Vorschriften – Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit ihnen anzustreben.
Die Pfarrer – Verantwortliche einer Gemeinschaft missionarischer Jünger
201 Die Erneuerung der Pfarrgemeinde fordert von den Pfarrern und den Priestern, die ihren Dienst in der Pfarrei tun, neue Verhaltensweisen. Zunächst ist erforderlich, dass der Pfarrer ein wahrer Jünger Jesu Christi ist, denn nur ein Pfarrer, der den Herrn liebt, kann eine Pfarrgemeinde erneuern. Zugleich muss er aber auch ein leidenschaftlicher Missionar sein, dem die reine Verwaltungsarbeit nicht genügt, sondern dessen Hauptanliegen es ist, diejenigen zu erreichen, die sich entfernt haben.
202 Jedoch reicht die großherzige Hingabe von Priestern und Ordensleuten nicht aus. Alle Laien müssen sich für die Ausbildung von Jüngern und für die Mission mitverantwortlich fühlen. Das wiederum setzt voraus, dass die Pfarrer ganz unterschiedliche missionarische Dienste anregen und fördern. Außerdem müssen sie dem Sakrament der Versöhnung ausreichend Zeit widmen. Eine sich erneuernde Pfarrgemeinde bezieht immer mehr Personen in immer mehr Dienste ein. Phantasie tut Not, damit für die vielen und immer neu entstehenden Aufgaben, die sich aus dem täglichen Leben ergeben und nach neuen Diensten und Ämtern verlangen, Lösungen gefunden werden. Die Einbeziehung aller in ein einziges Projekt der Evangelisierung ist eine wichtige Voraussetzung, um eine missionarische Gemeinschaft zu ermöglichen.
203 Eine Pfarrgemeinde als Gemeinschaft missionierender Jünger erfordert eine Organisation ohne jede Bürokratie. Die pastoralen Pfarrgemeinderäte müssen sich aus missionierenden Jüngern zusammensetzen, die alle Gemeindemitglieder ständig im Blick haben. Der Ausschuss für wirtschaftliche Angelegenheiten (Kirchenvorstand) wird zusammen mit der gesamten Pfarrgemeinde daran arbeiten, die notwendigen finanziellen Mittel aufzutreiben, so dass die Mission in allen Bereichen durchgeführt werden kann. Alle Organe dieser Art müssen von einer Spiritualität missionarischer Gemeinschaft beseelt sein. „Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, dass diese sich ausdrücken und wachsen kann.“<ref> Novo millennio ineunte 43.</ref>
204 Innerhalb des Pfarreigebietes ist die christliche Familie die erste und wichtigste kirchliche Gemeinschaft. In ihr werden die grundlegenden Werte des christlichen Lebens weitergegeben. Die Familie wird auch „Hauskirche“<ref> Vgl. Lumen gentium 11.</ref> genannt. Die Eltern geben als erste den Glauben an ihre Kinder weiter, indem sie durch ihr Vorbild und durch das Gespräch die Kinder lehren, missionarische Jünger zu sein. Wenn es sich dabei um eine wahrhaftige Erfahrung missionarischer Jüngerschaft handelt, „wirkt [eine solche Familie] verkündigend auch auf viele andere Familien und auf die gesamte Umwelt, in der sie lebt“.<ref> Familiaris consortio 52; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 1655–1658, 2204–2006, 2685.</ref> Das geschieht alltäglich „durch die Ereignisse, Probleme, Schwierigkeiten des täglichen Lebens“.<ref> Familiaris consortio 51.</ref> Der Heilige Geist, der alles neu macht, wirkt auch in ungeplanten Situationen, in denen die Weitergabe des Glaubens geschieht. Wir müssen aber auch zugeben, dass gegenwärtig dieser Prozess beachtlichen Schwierigkeiten ausgesetzt ist. Die Pfarrgemeinde soll sich daher nicht nur um die isoliert lebenden Menschen kümmern, sondern das Leben aller Familien begleiten, um ihre missionarische Dimension zu stärken.
Die Ständigen Diakone – missionarische Jünger des Dieners Jesu
205 Einige Jünger und Missionare des Herrn sind berufen, der Kirche als Ständige Diakone zu dienen. Die meisten von ihnen sind durch den doppelten Sakramentenempfang von Ehe und Weihe ausgezeichnet. Sie sind ordiniert für den Dienst des Wortes, für den caritativen Dienst und den liturgischen Dienst, speziell für die Sakramente der Taufe und der Ehe. Sie begleiten auch die Entstehung neuer kirchlicher Gemeinden, besonders in geografischen und kulturellen Grenzbereichen, die in der Regel der kirchliche Verkündigungsdienst kaum erreicht.
206 Jeder Ständige Diakon muss seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Diakone sorgfältig pflegen, in treuer Gemeinschaft mit seinem Bischof und in enger Verbundenheit mit den Priestern und den anderen Mitgliedern des Volkes Gottes. Wenn Diakone in einer Pfarrei Dienst tun, müssen Priester und Diakone den Dialog miteinander suchen und zusammenarbeiten.
207 Die Ständigen Diakone müssen durch entsprechende Programme eine angemessene menschliche, spirituelle, theologische und pastorale Ausbildung bekommen, in die – wenn sie verheiratet sind – auch die Ehefrau und die Familie einbezogen werden. Ihre Ausbildung soll sie befähigen, ihren Dienst in den Bereichen Evangelisierung, Gemeindeleben, Liturgie und soziale Aktionen, speziell für die Bedürftigsten, wirksam auszuüben, und so an der Seite der Kranken, der Leidenden, der Migranten und Flüchtlinge, der Ausgeschlossenen, der Opfer von Gewalt und der Gefängnisinsassen vom dienenden Christus Zeugnis zu geben.
208 Die 5. Generalversammlung erwartet von den Ständigen Diakonen, dass sie als Apostel in ihren Familien, bei ihrer Arbeit, in ihren Gemeinden und in den neuen Missionsbereichen Zeugnis im Geist des Evangeliums und einen missionarischen Impuls geben. Bei denen, die sich auf den Ständigen Diakonat vorbereiten, dürfen keine Erwartungen geweckt werden, die über das eigentliche Amt des Diakonats hinausgehen.
Die Männer und Frauen aus dem Laienstand – Jünger und Missionare Jesu, der das Licht der Welt ist
209 Die gläubigen Laien sind „die Christgläubigen, die, durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig, zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes in der Kirche und in der Welt ausüben“.<ref> Lumen gentium 31.</ref>
Sie sind „Menschen der Kirche im Herzen der Welt und Menschen der Welt im Herzen der Kirche“.<ref> Puebla 786.</ref>
210 Ihre spezifische Mission geschieht in der Welt, wo sie mit ihrem Zeugnis und mit ihrem Handeln zu einer Veränderung der Realität und zur Schaffung von gerechten Strukturen entsprechend den Kriterien des Evangeliums beitragen. „Das eigentliche Feld ihrer evangelisierenden Tätigkeit ist die weite und schwierige Welt der Politik, des Sozialen und der Wirtschaft, aber auch der Kultur, der Wissenschaften und Künste, des internationalen Lebens und der Massenmedien, ebenso gewisse Wirklichkeiten, die der Evangelisierung offen stehen, wie Liebe, Familie, Kinder- und Jugenderziehung, Berufsarbeit, Leiden usw.“<ref> Evangelii nuntiandi 70.</ref> Außerdem ist es ihre Aufgabe, den Glauben, den sie bekennen, durch ihre authentische und überzeugende Haltung glaubwürdig zu machen.
211 Auch die Laien sind dazu berufen, am pastoralen Handeln der Kirche teilzunehmen. An erster Stelle geschieht dies durch das Zeugnis ihres Lebens, an zweiter Stelle durch ihr aktives Mittun bei der Evangelisierung, im liturgischen Leben und anderen Apostolatsformen, entsprechend den jeweiligen örtlichen Bedürfnissen und unter der Leitung ihrer Hirten. In einer Kirche, in der alle ihr christliches Engagement verantwortlich leben, sind die Hirten bereit, den Laien Räume der Mitwirkung zu öffnen sowie Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu übertragen. Den Katecheten, den Delegierten des Wortes und den Gemeindeleitern, die innerhalb der Kirche eine wunderbare Arbeit leisten,<ref> Vgl. Lumen gentium 31, 33; Gaudium et spes 43; Apostolicam actuositatem 2.</ref> sprechen wir unsere Anerkennung aus und ermutigen sie, ihr Engagement, das sie in Taufe und Firmung eingegangen sind, auch künftig weiter zu leben.
212 Um ihren Sendungsauftrag mit persönlicher Verantwortung erfüllen zu können, brauchen die Laien eine gute theologische, pastorale und spirituelle Bildung und eine entsprechende Begleitung. Auf diese Weise werden sie von Christus und den Werten des Gottesreiches im gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Leben Zeugnis geben können.
213 Gegenwärtig will sich die gesamte Kirche in Lateinamerika und der Karibik missionarisch ausrichten. Die Evangelisierung des Kontinents – so sagte Johannes Paul II. – könne heute nicht geschehen ohne die Zusammenarbeit mit den gläubigen Laien.<ref> Vgl. Ecclesia in America 44.</ref> Sie müssen sich aktiv und kreativ an der Erarbeitung und Ausführung der pastoralen Projekte für die Gemeinde beteiligen. Seitens der Hirten bedarf es dazu einer größeren geistigen Offenheit, damit sie verstehen und akzeptieren können, was die Laien, die durch ihre Taufe und Firmung Jünger und Missionare Jesu Christi sind, in der Kirche sind und tun. Anders gesagt, der Laie muss im Geist der Gemeinschaft und Partizipation sehr geachtet werden.<ref> Vgl. Pastores gregis 11.</ref>
214 In diesem Kontext sind die verschiedenen Laienorganisationen, die kirchlichen apostolischen Vereinigungen und Pilgergruppen christlicher Prägung, kirchliche Gemeinschaften und neue Gemeinschaften, die von den Hirten unterstützt und gestärkt werden sollen, ein Zeichen der Hoffnung. Sie tragen dazu bei, dass viele Getaufte und viele missionarische Gruppen ihre christliche Identität mit größerer Verantwortung leben und sich stärker an der Verkündigung des Evangeliums beteiligen. In den letzten Jahrzehnten haben viele apostolische Vereinigungen und Bewegungen der Laien eine große Rolle gespielt. Deshalb wird eine angemessene Prüfung, Ermutigung, Koordination und pastorale Anleitung insbesondere durch die Nachfolger der Apostel dazu beitragen, dieses Geschenk für den Aufbau der einen Kirche zu nutzen.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Homilie bei der Feier des ersten Vespergottesdienstes in der Vigil von Pfingsten, Begegnung mit den Mitgliedern der kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften, 3. Juni 2006.</ref>
215 Wir schätzen die wertvolle und wirksame Arbeit der Pfarrgemeinderäte, der Diözesanräte und der nationalen Vertretungen der gläubigen Laien, weil sie die Gemeinschaft und Mitbeteiligung innerhalb der Kirche und die aktive Präsenz der Kirche in der Welt fördern. Der Aufbau der Zivilgesellschaft im weitesten Sinne und der Aufbau der Kirchlichkeit in den Laien sind ein und dieselbe Bewegung.
Die Ordensmänner und Ordensfrauen – missionierende Jünger Jesu, der Zeuge des Vaters ist
216 Das Ordensleben ist ein Geschenk Gottes des Vaters durch den Geist an seine Kirche<ref> Vgl. Vita Consecrata 1.</ref> und ein entscheidendes Element für die Sendung der Kirche.<ref> Vgl. ebd. 3.</ref> Es findet seinen Ausdruck im kontemplativen oder aktiven monastischen Leben, in den Säkularinstituten und darüber hinaus in den Gesellschaften Apostolischen Lebens oder anderen neuen Formen. Es ist ein Weg der besonderen Nachfolge Christi, auf dem man sich ihm ungeteilten Herzens hingeben und sich – wie er – in den Dienst Gottes und der Menschen stellen kann, indem man jene Lebensform nachahmt, die Christus annahm, als er in die Welt eintrat: ein Leben in Jungfräulichkeit, Armut und Gehorsam.<ref> Vgl. ebd. 14, 16, 18.</ref>
217 In Gemeinschaft mit den Hirten sind die Ordensmänner und Ordensfrauen dazu berufen, aus ihren Niederlassungen, aus ihrem gemeinschaftlichen, geschwisterlichen Leben und aus ihren Werken Orte der ausdrücklichen Verkündigung des Evangeliums zu machen, die in erster Linie für die Ärmsten da sind, wie dies seit Beginn der Evangelisierung in unserem Kontinent der Fall war. Auf diese Weise tragen sie entsprechend ihren Gründungscharismen dazu bei, dass eine neue Generation von Christen zu Jüngern und Missionaren wird und eine Gesellschaft entsteht, in der Gerechtigkeit und Menschenwürde geachtet werden.
218 Von ihrem Wesen her sind die Orden dazu bestimmt, Experten in Fragen der Gemeinschaft zu sein, sowohl innerhalb der Kirche als auch in der Gesellschaft. Ihr Leben und ihre Sendung müssen in die Ortskirche und in die Gemeinschaft mit dem Bischof eingebettet sein. Dazu müssen gemeinsame Wege und Initiativen der Zusammenarbeit geschaffen werden, die der gegenseitigen Wahrnehmung und Wertschätzung dienen und ein Miteinander in der Mission mit allen, die zur Nachfolge Christi berufen sind, möglich machen.
219 In einem Kontinent, in dem deutliche Säkularisierungstendenzen – auch im Ordensleben – zu spüren sind, sind die Ordensleute berufen, die absolute Vorrangigkeit Gottes und seines Reiches zu bezeugen. Das Ordensleben wird zum Zeugnis vom Gott des Lebens in einer Realität, die den Wert des Lebens als solchen relativiert (Gehorsam). Es wird zum Zeugnis der Freiheit gegenüber dem Markt und seinen Reichtümern, der die Menschen nach dem bewertet, was sie besitzen (Armut). Es wird zum Zeugnis der radikalen und freien Hingabe an Gott und an die Menschen angesichts der Erotisierung und Banalisierung der menschlichen Beziehungen (Keuschheit).
220 In der aktuellen Lage Lateinamerikas und der Karibik muss das Ordensleben ein Leben der Jüngerschaft sein, das von Jesus, dem Weg zum barmherzigen Vater, leidenschaftlich erfüllt ist und das daher zutiefst mystischen und gemeinschaftlichen Charakter hat. Das Ordensleben muss ein missionarisches Leben sein, das von der Verkündigung Jesu als Wahrheit des Vaters leidenschaftlich erfüllt ist und daher radikal prophetisch und fähig ist, im Lichte Christi auf die Schattenseiten der heutigen Welt und auf die Pfade neuen Lebens hinzuweisen. Dazu ist eine prophetische Haltung nötig, die zur Hingabe des eigenen Lebens bereit ist und so die Tradition der Heiligkeit und des Martyriums so vieler Ordensmänner und Ordensfrauen im Verlauf der Geschichte unseres Kontinents weiter trägt. Das Ordensleben muss der Welt einen Dienst leisten, der von Jesus, dem Leben des Vaters, dem man in den Geringsten und Letzten begegnet, leidenschaftlich erfüllt ist, um ihnen mit dem jeweils eigenen Charisma und der jeweils eigenen Spiritualität zu dienen.
221 Lateinamerika und die Karibik brauchen in besonderer Weise das kontemplative Leben, das davon zeugt, dass Gott allein genügt, um das Leben mit Sinn und Freude zu füllen. „In einer Welt, in der angesichts der Überbewertung des Materiellen der Sinn für das Göttliche verloren geht, seid ihr, geliebte Ordensfrauen, die ihr von euren Klausuren aus euch verpflichtet fühlt, Zeugen der Werte zu sein, für die ihr lebt, auch Zeugen des Herrn für die Welt von heute. Ihr gebt durch euer Gebet der Kirche und den Menschen von heute einen neuen Lebensatem.“<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die kontemplativen Ordensfrauen in der Kathedrale von Guadalajara, Mexiko, 30. Januar 1979.</ref>
222 Der Heilige Geist bewirkt neue Formen des geweihten Lebens in der Kirche, die zu begrüßen sind und innerhalb der Ortskirchen begleitet werden müssen, damit sie sich entfalten können. Der Bischof muss gründlich und umsichtig ihre Sinnhaftigkeit, ihre Dringlichkeit und ihre Authentizität prüfen. Die Hirten schätzen das geweihte jungfräuliche Leben als großes Geschenk derjenigen, die sich mit großzügigem und ungeteiltem Herzen Christus und seiner Kirche hingeben. Sie nehmen sich vor, für deren Grundausbildung und permanente Weiterbildung Sorge zu tragen.
223 Die Konföderationen der Säkularinstitute (CISAL) und der Ordensfrauen und Ordensmänner (CLAR) sowie die jeweiligen Nationalkonferenzen sind Strukturen im Dienst und zur Anregung der jeweiligen Gemeinschaften. Sie sollen in enger Verbundenheit mit den Hirten, in fruchtbarem und freundschaftlichem Dialog mit ihnen und unter ihrer Anleitung,<ref> Vgl. Perfectae Caritatis 23; Codex iuris canonoci can. 708.</ref> ihre Mitglieder dazu bewegen, als Jünger und Missionare ihre Sendung im Dienst am Reiche Gottes zu tun.<ref> Vgl. Vita Consecrata 50–53.</ref>
224 Die Völker Lateinamerikas und der Karibik haben hohe Erwartungen an das Ordensleben, insbesondere an das Zeugnis und den Beitrag der kontemplativen und apostolischen Frauenorden, die gemeinsam mit den Ordensbrüdern, den Mitgliedern der Säkularinstitute und der Gesellschaften des Apostolischen Lebens das mütterliche Antlitz der Kirche sichtbar machen. Ihr Bemühen, den Menschen zuzuhören, sie freundlich aufzunehmen und ihnen zu dienen sowie ihr Zeugnis von den alternativen Werten des Gottesreiches sind Beweise dafür, dass eine neue lateinamerikanische und karibische Gesellschaft, die auf Christus gründet, möglich ist.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 5.</ref>
Menschen, die die Kirche verlassen und sich anderen religiösen Gruppen angeschlossen haben
225 In unserer pastoralen Praxis machen wir die Erfahrung, dass aufrichtige Menschen unsere Kirche oftmals nicht deshalb verlassen, weil die „nicht katholischen“ Gruppen etwas anderes glauben, sondern in der Hauptsache, weil sie anders leben. Sie tun es also nicht wegen der Lehre, sondern wegen der anderen Lebensformen. Sie tun es nicht aus strikt dogmatischen, sondern aus pastoralen Motiven heraus; nicht wegen theologischer Probleme, sondern wegen des methodischen Vorgehens unserer Kirche. So hoffen sie, anderswo Antworten auf ihre Fragen zu finden. Nicht ohne ernsthafte Gefährdung suchen sie nach Lösungen für ihre Anliegen, die sie möglicherweise nicht, wie es sein sollte, in der eigenen Kirche ausfindig machen konnten.
226 In unserer Kirche sollten wir vier Elemente stärken:
a) Die religiöse Erfahrung. In unserer Kirche sollten wir allen Gläubigen zu einer „persönlichen Begegnung mit Jesus Christus“ verhelfen, zu einer tiefen und intensiven religiösen Erfahrung, zu einer kerygmatischen Verkündigung und zum persönlichen Zeugnis derer, die das Evangelium verkünden, damit eine persönliche Umkehr und eine umfassende Lebensänderung möglich werden.
b) Das gemeinschaftliche Leben. Unsere Gläubigen wünschen sich christliche Gemeinden, in denen sie geschwisterlich angenommen werden, in denen sie sich geschätzt und wahrgenommen wissen und in das kirchliche Leben einbezogen fühlen. Unsere Gläubigen müssen sich wirklich als Mitglieder einer kirchlichen Gemeinschaft erfahren, für deren Entwicklung sie mit verantwortlich sind. Dann werden sie sich auch in der Kirche und für die Kirche stärker und ganzheitlich einsetzen.
c) Die biblisch-theologische Fortbildung. Neben einer starken religiösen Erfahrung und einem hervorragenden Gemeinschaftsleben brauchen unsere Gläubigen bessere Kenntnisse über die Bibel und über die Inhalte des Glaubens, denn nur dadurch kann ihre eigene religiöse Erfahrung reifen. Auf dem Wege eines intensiven gemeinschaftlichen Erlebens wird die theologische Weiterbildung nicht als theoretisch und kalt empfunden, sondern als wesentlich notwendiges Werkzeug zur persönlichen und gemeinschaftlichen Bereicherung in spiritueller Hinsicht.
d) Das missionarische Engagement der ganzen Gemeinde. Die Gemeindemitglieder suchen diejenigen auf, die sich entfernt haben, sie interessieren sich für ihre Situation, um sie wieder mit der Kirche anzufreunden und sie zur Rückkehr einzuladen.
Ökumenischer und interreligiöser Dialog
Ökumenischer Dialog, damit die Welt glaubt
227 Die Einsicht in die Communio-Ekklesiologie und ihre Praxis führen uns zum ökumenischen Dialog. Die Beziehung zu den getauften Brüdern und Schwestern anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dürfen die Jünger und Missionare<ref> Vgl. Ut unum sint 3.</ref> nicht aufkündigen, denn das Fehlen der Einheit ist ein Skandal, eine Sünde und ein Versäumnis gegenüber dem Wunsch Christi: „Alle sollen eins sein. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21).
228 Die Ökumene erhält ihre Berechtigung nicht durch eine oberflächliche soziologische Begründung, sondern sie ist im Geist des Evangeliums, in der Dreieinigkeit Gottes und in der Taufe begründet: Sie ist Ausdruck der „bereits real bestehenden, wenn auch unvollkommenen Gemeinschaft“, zwischen „denen, die durch die Taufe wiedergeboren wurden“, und sie ist konkretes Zeugnis der Geschwisterlichkeit.<ref> Vgl. ebd. 96.</ref> Das Lehramt verkündet den trinitarischen und durch die Taufe begründeten Charakter der ökumenischen Arbeit. Auf dem Weg der Umkehr und der Versöhnung geht aus ihr der Dialog als spirituelle und praktische Haltung hervor. Nur so wird „der Tag kommen, an dem wir gemeinsam mit allen Christgläubigen die Eucharistie feiern“.<ref> Sacramentum Caritatis 56.</ref> Ein fruchtbarer Weg hin zur Einheit besteht darin, in unseren Gemeinden die Bedeutung der Taufe und des damit verbundenen Versprechens wieder zu betonen.
229 Es ist heute notwendig, zu einer authentischen Apologetik zurückzukehren, wie sie die Kirchenväter zur Erklärung des Glaubens anwandten. Die Apologetik muss nicht per se negativ oder rein defensiv sein. Sie bedeutet vielmehr, das, was in unseren Köpfen und Herzen ist, klar und überzeugend sagen zu können, wie der heilige Paulus es formuliert: „uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten“ (Eph 4,15). Die Jünger und Missionare Christi von heute brauchen mehr denn je eine erneuerte Apologetik, damit alle das Leben in Ihm haben können.
230 Manchmal vergessen wir, dass die Einheit vor allem ein Geschenk des Heiligen Geistes ist und beten zu wenig in dieser Intention. „Diese Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden.“<ref> Unitatis redintegratio 8.</ref>
231 Vor mehr als vierzig Jahren hat das Zweite Vatikanische Konzil das Wirken des Heiligen Geistes in der Bewegung für die Einheit der Christen anerkannt. Seitdem gab es viele Erfolge auf diesem Wege. Jedoch brauchen wir in diesem Bereich mehr und für den Dialog besser qualifizierte Menschen. Ebenso sollten die Erklärungen, die die katholische Kirche seit dem Konzil auf dem Gebiet der Ökumene unterzeichnet hat, breiter bekannt gemacht werden. Die bilateralen und multilateralen Dialoge haben gute Ergebnisse gebracht. Wichtig ist auch das Studium des Ökumenischen Direktoriums und dessen Hinweise zur Katechese, Liturgie, Priesterausbildung und Pastoral.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen, Dieökumenische Dimension bei der Ausbildung der Mitarbeiter im pastoralen Dienst, 3–5.</ref> Die für die heutige Zeit charakteristische Mobilität der Menschen kann für den ökumenischen Dialog des Lebens sogar förderlich sein.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Pastoral der Auswanderer und Migranten und Reisenden, Instruktion Erga migrantes caritas Christi 56–58.</ref>
232 In unserem Kontext haben die Bildung neuer religiöser Gruppen und die Tendenz, die Ökumene mit dem interreligiösen Dialog zu verwechseln, verhindert, dass im ökumenischen Dialog bessere Ergebnisse erzielt werden konnten. Deshalb ermutigen wir die geweihten Amtsträger, die Laien und Ordensleute, sich mit sorgfältiger Vorbereitung und enger Begleitung durch die Bischöfe an ökumenischen Organisationen zu beteiligen und in den verschiedensten kirchlichen, pastoralen und sozialen Lebensbereichen gemeinsame Aktionen durchzuführen. In der Tat, der ökumenische Kontakt fördert die gegenseitige Wertschätzung, lädt ein zum gemeinsamen Hören des Wortes Gottes und ruft alle zur Umkehr, die sich Jünger und Missionare Christi nennen. Wir hoffen, dass die Bewegung zur Einheit der Christen, die sich die Bischofskonferenzen zu ihrem Anliegen gemacht haben, unter der Führung des Heiligen Geistes stärker werde und Frucht bringe.
233 In dieser neuen Etappe der Evangelisierung möchten wir, dass der Dialog und die ökumenische Zusammenarbeit zu neuen gemeinschaftlichen Formen der Jüngerschaft und Mission führen. Wir stellen fest, dass dort, wo der Dialog stattfindet, weniger Proselytenmacherei herrscht, dass das Wissen umeinander und die gegenseitige Respektierung zunehmen und sich Möglichkeiten gemeinsamen Zeugnisses eröffnen.
234 Als großherzige Antwort auf das Gebet des Herrn „auf dass alle eins sein mögen“ (Joh 17,21) haben die Päpste uns ermutigt, geduldig den Weg zur Einheit zu gehen. Johannes Paul II. ermahnt uns: „Auf diesem mutigen Weg zur Einheit halten uns die Klarheit und die Klugheit des Glaubens an, die falsche Irenik und die Nichtbeachtung der Normen der Kirche zu vermeiden. Umgekehrt gebieten uns dieselbe Klarheit und dieselbe Klugheit, die Lauheit beim Einsatz für die Einheit und noch mehr den vorgefassten Widerstand zu meiden oder auch den Defätismus, der dazu neigt, alles negativ zu sehen“.<ref> Ut unum sint 79.</ref> Benedikt XVI. eröffnete sein Pontifikat mit den Worten: „Die Bekundung aufrichtiger Gefühle reicht dafür nicht aus. Es bedarf konkreter Gesten, die das Herz erfassen und die Gewissen aufrütteln, indem sie jeden zu der inneren Umkehr bewegen, die die Voraussetzung für jedes Fortschreiten auf dem Weg der Ökumene ist.“<ref> Benedikt XVI., Erste Botschaft zum Ende der eucharistischen Konzelebration mit dem Wahl-Kardinalskollegium in der Sixtinischen Kapelle, Mittwoch, 20. April 2005.</ref>
Beziehung zum Judentum und interreligiöser Dialog
235 Voller Dankbarkeit anerkennen wir die Gemeinsamkeiten, die uns mit dem jüdischen Volk verbinden. Mit ihm eint uns der Glaube an den einen Gott und an sein Wort, das er uns im Alten Testament offenbart hat.<ref> Vgl. Nostra aetate 4.</ref> Sie sind unsere älteren Brüder im Glauben Abrahams, Isaaks und Jakobs. Uns schmerzt die Geschichte der Missachtung, die sie auch in unseren Ländern erleiden mussten. Es gibt viele gemeinsame Anliegen, die heute eine bessere Zusammenarbeit und gegenseitige Wertschätzung verlangen.
236 Durch das Wehen des Heiligen Geistes und auf anderen nur Gott bekannten Wegen kann die Gnade Christi noch immer auf ganz verschiedene Weise alle erreichen, die er erlöst hat, weit über die kirchliche Gemeinschaft hinaus.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog / Kongregation für die Evangelisierung der Völker, Dialog und Verkündigung, 1991, 29.</ref> Diese Rettung, die in der Welt bereits wirkt, zu verdeutlichen und zu fördern ist eine der Aufgaben der Kirche, wie sie in den Worten des Herrn genannt ist: „Ihr werdet meine Zeugen sein [...] bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8).
237 Der interreligiöse Dialog, insbesondere mit den monotheistischen Religionen, ist Teil der Mission, die Christus uns anvertraut hat, indem er die kluge Unterscheidung zwischen Verkündigung und Dialog als wesentliche Bestandteile der Evangelisierung fordert.<ref> Vgl. Novo millennio ineunte 55.</ref> In dieser Haltung spiegelt die Kirche, „das Sakrament [...] für die Einheit der ganzen Menschheit“,<ref> Lumen gentium 1.</ref> das Licht Christi, das „jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), wider. Die Präsenz der Kirche unter den nichtchristlichen Religionen bedeutet Verpflichtung, Mitdenken und Zeugnis, theologisch beruhend auf Glaube, Hoffnung und Liebe.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog / Kongregation für die Evangelisierung der Völker, Dialog und Verkündigung, 1991, 40.</ref>
238 Auch wenn Subjektivismus und wenig differenzierte Vorschläge die Kontakte erschweren, heißt das noch nicht, dass wir uns der Verpflichtung des Dialogs und seiner Gnade entziehen dürfen.<ref> Vgl. ebd. 89.</ref> Statt uns zurückzuziehen, müssen wir die anderen Religionen besser kennen lernen, die theologisch-pastorale Unterscheidung vertiefen, die Ausbildung kompetenter Partner für den interreligiösen Dialog fördern und dabei stets die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen in den Kulturen unseres Kontinents beachten. Interreligiöser Dialog bedeutet nicht, dass man aufhört, die Gute Nachricht von Jesus Christus den nichtchristlichen Völkern zu verkünden, wohl aber, es in aller Vorsicht und allem Respekt gegenüber ihren religiösen Vorstellungen zu tun.
239 Der interreligiöse Dialog hat neben seinem theologischen Charakter auch eine besondere Bedeutung bei der Herausbildung einer neuen Menschheit: Er öffnet bisher unbekannte Wege für das christliche Zeugnis, fördert die Freiheit und Würde der Völker, regt die Zusammenarbeit für das Gemeinwohl an, überwindet die durch religiösen Fundamentalismus motivierte Gewalt, erzieht zum Frieden und zum Zusammenleben der Menschen. Der interreligiöse Dialog wird zum Feld für die in der Soziallehre der Kirche angewendeten Seligpreisungen.
Wegweisung für Jünger und Missionare
Eine trinitarische Spiritualität für die Begegnung mit Jesus Christus
240 Eine überzeugende Einladung zur Begegnung mit Jesus Christus muss auf dem soliden Fundament der liebenden Dreifaltigkeit gründen. Die Erfahrung des einen und dreifaltigen Gottes, der Einheit und unzertrennbare Gemeinschaft ist, hilft uns, den Egoismus zu überwinden und uns voll und ganz in den Dienst des anderen zu stellen. Die Tauferfahrung steht am Beginn jeder christlichen Spiritualität, die ihre Grundlage in der Dreifaltigkeit hat.
241 Gott Vater zieht uns an sich, indem er seinen Sohn in der Eucharistie verschenkt (vgl. Joh 6,44), ein Geschenk der Liebe, mit dem er seinen Kindern entgegenkommt, damit wir, durch die Kraft des Heiligen Geistes neu geschaffen, ihn Vater nennen können: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater“ (Gal 4,4–6). Hier ereignet sich eine neue Schöpfung, weil die Liebe des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes das Leben der Geschöpfe erneuert.
242 Jesus von Nazareth, der Mensch ist wie wir und Gott mit uns, der getötet wurde und auferstanden ist, wird uns in der Geschichte der dreifaltigen Liebe als Weg, Wahrheit und Leben geschenkt. In der glaubenden Begegnung mit seiner unbeschreiblich realen Menschwerdung haben wir das Wort des Lebens hören und es mit unseren Augen sehen können, es betrachten und mit unseren Händen berühren können (vgl. 1 Joh 1,1). Hier erfahren wir, „dass Gott in Jesus Christus selbst dem ,verlorenen Schaf’, der leidenden und verlorenen Menschheit, nachgeht. Wenn Jesus in seinen Gleichnissen von dem Hirten spricht, der dem verlorenen Schaf nachgeht, von der Frau, die die Drachme sucht, von dem Vater, der auf den verlorenen Sohn zugeht und ihn umarmt, dann sind dies alles nicht nur Worte, sondern Auslegungen seines eigenen Seins und Tuns.“<ref> Deus caritas est 12.</ref> Den endgültigen Beweis für diese Liebe finden wir in der radikalen Entäußerung (kénosis), denn Christus „erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).
Begegnung mit Jesus Christus
243 Das Christusereignis ist folglich der Beginn des neuen Subjekts, das sich in der Geschichte zeigt und das wir Jünger nennen: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“<ref> Ebd. 1.</ref> Eben dies, die glaubende Begegnung mit dem Menschen Jesus (vgl. Joh 1,35–39) als Beginn des christlichen Glaubens, haben alle Evangelien in unterschiedlicher Darstellung für uns festgehalten.
244 Das Wesen des Christentums besteht also darin, anzuerkennen, dass Jesus Christus da ist, und ihm zu folgen. Eben diese Erfahrung erfüllte die ersten Jünger so wunderbar, als sie Jesus begegneten und fasziniert und voller Bewunderung waren wegen der außergewöhnlichen Art dieses Menschen, wie er zu ihnen sprach, sich ihnen gegenüber verhielt und ihren inneren Hunger und Durst nach Leben beantwortete. Der Evangelist Johannes hat uns plastisch geschildert, welch tiefen Eindruck der Mensch Jesus in den beiden ersten Jüngern Johannes und Andreas hervorrief, als sie ihn trafen. Alles beginnt mit der Frage: „Was wollt ihr?“ (Joh 1,38). Auf die Frage folgt die Einladung, eine Erfahrung zu machen: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39). In dieser Erzählung ist die christliche Methode für die Menschheitsgeschichte einzigartig und bleibend zusammengefasst.
245 In der gegenwärtigen Situation unseres lateinamerikanischen Kontinents erhebt sich die gleiche erwartungsvolle Frage: „Meister, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Wo finden wir dich wirklich, um „einen wahren Prozess der Bekehrung, der Gemeinschaft und der Solidarität einzuleiten“.<ref> Ecclesia in America 8.</ref> Welche Orte, welche Menschen, welche Gaben sprechen von Dir, bringen uns in Gemeinschaft mit Dir und lassen uns Deine Jünger und Missionare werden?
Orte für die Begegnung mit Jesus Christus
246 Die Begegnung mit Christus ereignet sich – dank des unsichtbaren Wirkens des Heiligen Geistes – durch den Glauben, der in der Kirche empfangen und gelebt wird. Voller Überzeugung sagen wir wiederum mit den Worten von Papst Benedikt XVI.: „Die Kirche ist unser Haus! Das ist unser Haus! In der katholischen Kirche finden wir alles, was gut ist, alles, was Grund zu Sicherheit und Erleichterung ist! Wer Christus, ‚den Weg, die Wahrheit und das Leben’, in seiner Gesamtheit annimmt, sichert sich den Frieden und die Glückseligkeit in diesem und im kommenden Leben!“<ref> Benedikt XVI., Ansprache beim Rosenkranzgebet in der Basilika des Heiligtums von Aparecida, 12. Mai 2007.</ref>
247 Wir begegnen Jesus in der Heiligen Schrift, die in der Kirche gelesen wird. Die Heilige Schrift – „Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde“<ref> Dei Verbum 9.</ref> – ist gemeinsam mit der Tradition Quelle des Lebens für die Kirche und die Seele ihres evangelisierenden Tuns. Die Heilige Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen und ihn nicht verkündigen. Deshalb ist die Aufforderung von Benedikt XVI. verständlich: „Für den Beginn des neuen Wegabschnittes, den die missionarische Kirche Lateinamerikas und der Karibik ab dieser 5. Generalversammlung in Aparecida einzuschlagen beabsichtigt, ist die gründliche Kenntnis des Wortes Gottes unerlässliche Voraussetzung. Deshalb muss das Volk zum Lesen und zur Betrachtung des Wortes Gottes erzogen werden, auf dass es zu seiner Nahrung werde, damit die Gläubigen durch eigene Erfahrung sehen, dass die Worte Jesu Geist und Leben sind (vgl. Joh 6,63). Denn wie sollten sie eine Botschaft verkünden, deren Inhalt und Geist sie nicht gründlich kennen? Wir müssen unseren missionarischen Einsatz und unser ganzes Leben auf den Fels des Wortes Gottes gründen.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref>
248 Es ist also notwendig, den Gläubigen das Wort Gottes ans Herz zu legen, und zwar als Geschenk des Vaters für die Begegnung mit dem lebendigen Jesus Christus, dem Weg „für eine echte Umkehr und erneuerte Gemeinschaft und Solidarität“.<ref> Ecclesia in America 12.</ref> Ein solches Vorgehen wird, wenn es das in der Heiligen Schrift enthaltene geoffenbarte Wort Gottes als Quelle der Evangelisierung begreift, die Begegnung mit dem Herrn vermitteln. Die Jünger Jesu sehnen sich danach, vom Brot des Wortes zu essen; sie möchten zu einer angemessenen Interpretation der biblischen Texte finden und so das Gespräch mit Jesus Christus aufnehmen, damit die biblischen Texte auf diese Weise zur Seele der Evangelisierung und der Jesusverkündigung für alle Menschen werden. Daran zeigt sich, wie wichtig die „Bibelpastoral“ im Sinne einer biblischen Inspiration der Pastoral ist, die das Wort Gottes kennen und interpretieren lehrt, in die Gemeinschaft mit Jesus führt bzw. mit dem Wort Gottes zu beten lehrt sowie eine inkulturierte Evangelisierung bzw. Verkündigung des Wortes Gottes vorbereiten hilft. Dafür ist von Bischöfen, Priestern, Diakonen und verantwortlichen Laien gefordert, dass sie an die Heilige Schrift nicht nur intellektuell und instrumentell herangehen, sondern sich ihr mit einem Herzen nähern, das „Hunger nach einem Wort des Herrn“ verspürt (vgl. Amos 8,11).
249 Unter den vielen Formen, sich der Heiligen Schrift zu nähern, ist eine besonders privilegiert, zu der wir alle finden sollten, nämlich die lectio divina bzw. die Einübung in die geistliche Lesung der Heiligen Schrift. Diese geistliche Schriftlesung führt, wenn man sie gut praktiziert, zur Begegnung mit dem Meister Jesus, zur Einsicht in das Messiasgeheimnis Jesu, zur Gemeinschaft mit dem Gottessohn Jesus und zum Zeugnis für Jesus, der Herr des Universums ist. Die vier Schritte der geistlichen Schriftlesung (Lektüre, Meditation, Gebet, Betrachtung) führen zur persönlichen Begegnung mit Jesus Christus, ähnlich wie viele Persönlichkeiten aus den Evangelien zu ihm fanden: wie Nikodemus mit seiner Sehnsucht nach dem ewigen Leben (vgl. Joh 3,1–21); wie die Samariterin mit ihrem Wunsch nach der wahren Anbetung Gottes (vgl. Joh 4,1–42); wie der Blindgeborene mit seinem Wunsch nach Erleuchtung (vgl. Joh 9); wie Zachäus mit seinem Wunsch, ein anderer zu werden (vgl. Lk 19,1–10). Dank dieser Begegnung wurden sie alle erleuchtet und neu geschaffen; denn sie öffneten sich für die Erfahrung der Barmherzigkeit des Vaters, auf die man durch sein Wort von Wahrheit und Leben stößt. Sie öffneten ihr Herz nicht für eine bestimmte Eigenschaft des Messias, sondern für den Messias selbst, der den Weg weist, „damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph 4,13), den der Jüngerschaft, der Gemeinschaft mit den Geschwistern und des Engagements in der Gesellschaft.
250 Wir begegnen Jesus Christus auf faszinierende Weise in der Heiligen Liturgie. Wenn die Jünger Jesu Christi die Liturgie erleben und in ihr das Pascha-Mysterium feiern, begreifen sie immer besser die Geheimnisse des Gottesreiches und bringen ihre Berufung als Jünger und Missionare sakramental zum Ausdruck. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils weist uns darauf hin, welchen Platz und welche Funktion die Liturgie für die Nachfolge Christi, für das missionarische Tun der Christen, für das neue Leben in Christus und für das Leben unserer Völker in ihm einnimmt.<ref> Vgl. Sacrosanctum Concilium 7.</ref>
251 Die Eucharistie ist der privilegierte Ort für die Begegnung des Jüngers mit Jesus Christus. In diesem Sakrament zieht Jesus uns zu sich und lässt uns an seiner Hinwendung zu Gott und zum Nächsten teilhaben. Die drei Dimensionen der christlichen Berufung – an das Christus-Geheimnis glauben, es feiern und leben – sind so eng miteinander verbunden, dass die christliche Existenz eine wahrhaft eucharistische Form annimmt. In jeder Eucharistie feiern die Christen das österliche Geheimnis und machen es sich durch ihre Teilhabe zu Eigen. Durch die Eucharistie also sollen die Gläubigen ihren Glauben an die zentrale Bedeutung des österlichen Geheimnisses Christi leben, so dass sich ihr gesamtes Leben immer mehr eucharistisch gestalte. Die Eucharistie, unerschöpfliche Quelle für die Berufung des Christen, ist zugleich eine unaufhörliche Quelle für den missionarischen Impuls. Hier bestärkt der Heilige Geist die Identität des Jüngers und weckt in ihm den entschiedenen Willen, mutig anderen weiterzusagen, was er gehört und erfahren hat.
252 Auf diese Weise versteht man, wie wichtig das Sonntagsgebot ist, wie notwendig für das Seelenleben des einzelnen Gläubigen, der christlichen Familie und der Pfarrgemeinde es ist, „dem Sonntag entsprechend“ zu leben. Ohne aktive Teilnahme an der Eucharistiefeier an den Sonn- und vorgeschriebenen Feiertagen kann es keinen mündigen missionarischen Jünger geben. Jede bedeutende Reform in der Kirche hängt davon ab, den Glauben an die Eucharistie wieder zu beleben.<ref> Vgl. ebd. 6.</ref> Deshalb ist es so wichtig, die „Pastoral des Sonntags“ zu unterstützen und ihr „in den Pastoralprogrammen Vorrang zu geben“,<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> so dass sie der Evangelisierung des Gottesvolkes auf dem lateinamerikanischen Kontinent einen neuen Impuls verleiht.
253 Den vielen tausend Gemeinden mit Millionen Mitgliedern, die keine Gelegenheit haben, an der sonntäglichen Eucharistiefeier teilzunehmen, möchten wir mit tief empfundener pastoraler Herzlichkeit sagen, dass auch sie „dem Sonntag entsprechend“ leben können und sollen. Sie können ihren bereits bewundernswerten missionarischen Geist nähren, wenn sie „im sonntäglichen Wortgottesdienst“ das Pascha-Mysterium feiern und die Liebe erfahren, die zusammenführt (vgl. 1 Joh 3,14), das Wort Gottes aufmerksam hören (vgl. Joh 5,24–25) und miteinander beten (vgl. Mt 18,20). Zweifellos sollten die Gläubigen sich danach sehnen, an der ganzen sonntäglichen Eucharistiefeier teilnehmen zu können. Deshalb ermutigen wir sie auch, um Priesterberufe zu beten.
254 Im Sakrament der Versöhnung begegnet der Sünder auf besondere Weise Jesus Christus, der Mitleid mit uns empfindet und uns seine barmherzige Vergebung schenkt. Er lässt uns spüren, dass die Liebe stärker ist als die begangene Sünde; er befreit uns von allem, was uns daran hindert, in seiner Liebe zu bleiben und erfüllt uns wieder mit Freude und Begeisterung, so dass wir ihn mit offenem und großzügigem Herzen den anderen verkündigen können.
255 Im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet pflegt der durch das Wort und die Eucharistie gestärkte Jünger seine tiefe Freundschaft mit Jesus Christus und bemüht sich, den Willen des Vaters zu tun. Das tägliche Gebet ist ein Zeichen dafür, dass die Gnade auf dem Pilgerweg des missionarischen Jüngers vorrangige Bedeutung hat. „Beten muss man lernen, indem man diese Kunst immer aufs Neue gleichsam von den Lippen des göttlichen Meisters selbst abliest.“<ref> Novo millennio ineunte 32.</ref>
256 Jesus ist anwesend in einer Gemeinde, die den Glauben und die geschwisterliche Liebe lebt. Ihr gegenüber erfüllt er sein Versprechen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Jesus ist anwesend in allen Jüngern, die sich das Leben Jesu zu Eigen machen und ihr eigenes Leben so gestalten wollen, dass es im Leben Christi verborgen ist (vgl. Kol 3,3). Sie erfahren die Kraft seiner Auferstehung und werden sogar auf ganz tiefe Weise eins mit ihm: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Jesus ist anwesend in den Hirten, die Christus selbst repräsentieren (vgl. Mt 10,40; Lk 10,16). „Die Bischöfe [sind] aufgrund göttlicher Einsetzung an die Stelle der Apostel als Hirten der Kirche getreten. Wer sie hört, hört Christus, und wer sie verachtet, verachtet Christus und ihn, der Christus gesandt hat (vgl. Lk 10,16)“ (Lumen gentium 20). Jesus ist anwesend in jenen, die im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden und für das Gemeinwohl Zeugnis ablegen bis hin zur Hingabe ihres eigenen Lebens; Jesus ist anwesend bei allen Ereignissen im Leben unserer Völker, die uns dazu drängen, eine gerechtere und geschwisterlichere Welt zu suchen, bei all den menschlichen Realitäten, deren Begrenzungen uns manchmal wehtun und deprimieren.
257 In besonderer Weise finden wir Jesus auch in den Armen, Bedrückten und Kranken (Mt 25,37–40), die unseren Einsatz fordern und uns mit ihrem Glauben, ihrer Geduld im Leiden und ihrem ständigen Überlebenskampf ein Beispiel sind. Wie oft sind es gerade die Armen und Leidenden, die uns das Evangelium nahe bringen! In ihnen Jesus Christus zu erkennen und zu begegnen sowie die Rechte der Ausgeschlossenen zu verteidigen – daran misst die Kirche ihre Treue zu Jesus Christus.<ref> Vgl. ebd. 49.</ref> Jesus Christus in den Armen zu begegnen, gehört zum Kern unseres Glaubens an Jesus Christus. Indem wir sein Leidensantlitz auf dem ihren wieder erkennen<ref> Vgl. ebd. 25.</ref> und ihm in den Bedrückten und Ausgegrenzten begegnen, deren unendliche Würde er selbst uns offenbart, entwickelt sich unsere Option für die Armen. Die Nachfolge Jesu Christi lässt uns Freundschaft mit den Armen schließen und macht uns mit ihrem Schicksal solidarisch.
Die Volksfrömmigkeit als Raum der Begegnung mit Jesus Christus
258 Der Heilige Vater betonte „die reiche und tiefe Volksfrömmigkeit [...], in der die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt“ und bezeichnete sie als „kostbare(n) Schatz der katholischen Kirche in Lateinamerika“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref> Er forderte dazu auf, sie zu hüten und zu fördern. Diese Ausdrucksform des Glaubens findet man in unterschiedlichster Gestalt in allen gesellschaftlichen Schichten und in einer Vielfalt, die unseren Respekt und unsere Sympathie verdient, denn in der Volksfrömmigkeit „kommt ein Hunger nach Gott zum Ausdruck, wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen“.<ref> Evangelii nuntiandi 48.</ref> „Die Religion des lateinamerikanischen Volkes ist in ihrer ausgeprägtesten kulturellen Form Ausdruck des katholischen Glaubens. Es ist ein Volkskatholizismus“,<ref> Puebla 444.</ref> der tief inkulturiert ist und die kostbarsten Anteile der lateinamerikanischen Kultur enthält.
259 Zu den Ausdrucksformen dieser Spiritualität zählen Patronatsfeste, Novenen, Rosenkranz und Kreuzweg (via crucis), Prozessionen, Tänze, religiöse Volkslieder, die Vorliebe für Heilige und Engel, Gelübde und Familiengebete. Die Wallfahrten heben wir besonders hervor: Da ist das Volk Gottes auf dem Weg. Die Gläubigen freuen sich, in eine so große Schar von Geschwistern eintauchen zu können und mit ihnen gemeinsam Gott entgegenzugehen, der sie alle erwartet. Christus selbst wird ein Pilger und ist als Auferstandener mit den Armen unterwegs. Die Entscheidung, sich auf den Weg zu einem Wallfahrtsort zu machen, ist bereits ein Glaubensbekenntnis; das Unterwegssein ist wirklich ein Lied der Hoffnung und die Ankunft eine Begegnung in Liebe. Der Blick des Pilgers richtet sich auf eine bildliche Darstellung, die Gottes Nähe und zärtliche Zuwendung symbolisiert. Die Liebe hält inne, betrachtet das Mysterium und erfreut sich in der Stille daran. Man fühlt sich auch tief bewegt und lässt die Last allen Leids und aller Täuschungen von sich abfallen. Das wahrhaftige Bittgebet, das vertrauensvoll aus dem Herzen fließt, bringt am besten zum Ausdruck, dass der Mensch von aller Selbstgefälligkeit Abschied genommen und begriffen hat, dass er allein nichts ausrichtet. Ein kurzer Moment vermag eine lebendige spirituelle Erfahrung zu verdichten.<ref> Vgl. „El Santuario, memoria, presencia y profecia del Dios vivo“, L’Osservatore Romano, Ed. Española, 22, vom 28. Mai 1999.</ref>
260 Dort macht der Pilger die lebendige Erfahrung eines Mysteriums, das ihn übersteigt; er erfährt nicht nur die Transzendenz Gottes, sondern auch die Transzendenz der Kirche, die seine Familie und seinen Ortsteil transzendiert. An den Wallfahrtsorten treffen viele Pilgerinnen und Pilger Entscheidungen, die ihr gesamtes Leben prägen. Auf den Wänden von Wallfahrtsorten liest man viele Geschichten von Umkehr, Vergebung und Gnadengaben, die Millionen Menschen erzählen könnten.
261 Die Volksfrömmigkeit durchdringt auf sensible Weise die gesamte Persönlichkeit des Gläubigen. Auch wenn man sie in einer großen Menschenmenge erlebt, handelt es sich nicht um eine „Massenspiritualität“. Bei den alltäglichen Mühen greifen viele dann und wann nach irgendeinem bescheidenen Zeichen der Liebe Gottes, nach einem Kruzifix, einem Rosenkranz, einer Kerze, die angezündet wird, um innerlich bei einem kranken Kind zu sein; viele murmeln unter Tränen ein Vaterunser, werfen einen innigen Blick auf ein geliebtes Marienbild, richten ganz einfach vor Freude ein Lächeln zum Himmel.
262 Sicherlich kann der Glaube, der sich in der Kultur inkarniert hat, noch tiefere Wurzeln schlagen und immer besser die Lebensweisen unserer Völker durchdringen. Aber das wird nur gelingen, wenn wir positiv zu werten wissen, was der Heilige Geist bereits gesät hat. Die Volksfrömmigkeit ist ein „unverzichtbarer Ausgangspunkt, wenn wir erreichen wollen, dass der Glaube des Volkes reife und fruchtbarer werde“.<ref> Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen, 17. Dezember 2001, 64.</ref> Deshalb muss der missionarische Jünger „einfühlsam genug sein, ihre innere Vielfalt und ihre unleugbaren Werte erkennen zu können“.<ref> Evangelii nuntiandi 48.</ref> Wenn wir davon sprechen, dass die Volksfrömmigkeit evangelisiert und gereinigt werden sollte, wollen wir damit nicht sagen, dass man in ihr keinen evangeliumsgemäßen Reichtum antreffen könnte. Wir haben vielmehr den Wunsch, dass alle Mitglieder des gläubigen Volkes Maria und alle Heiligen täglich mehr nachahmen, wenn sie ihr Zeugnis anerkennen. Dann wird ihnen der unmittelbare Zugang zur Bibel ein Anliegen, sie werden häufiger die Sakramente empfangen wollen, sie werden sonntags gern die Eucharistie feiern und ihren Dienst solidarischer Liebe noch besser leben können. So könnte das reichhaltige Potential an Heiligkeit und sozialer Gerechtigkeit, das in der Mystik des einfachen Volkes enthalten ist, noch besser fruchten.
263 Wir dürfen die Spiritualität des einfachen Volkes nicht gering schätzen oder sie als belanglos für das christliche Leben ansehen; denn damit würden wir das Wirken des Heiligen Geistes und die zuvorkommende Initiative göttlicher Liebe missachten. In der Volksfrömmigkeit finden und entdecken wir einen eindringlichen Sinn für Transzendenz, eine spontane Fähigkeit, sich auf Gott zu verlassen, und eine wirkliche Erfahrung göttlicher Liebe. Sie bringt auch übernatürliche Weisheit zum Ausdruck; denn die Weisheit der Liebe ist nicht abhängig von der Aufklärung des Denkens, sondern vom inneren Wirken der Gnade. Deshalb sprechen wir von der Spiritualität des Volkes. Es ist eine christliche Spiritualität, in der man dem Herrn persönlich begegnet und in der Körperlichkeit, Emotionalität, Symbolisches und konkrete menschliche Bedürfnisse eine große Rolle spielen. Es ist eine Spiritualität, die in der Kultur der einfachen Menschen Gestalt angenommen hat, aber eben deshalb nicht weniger, sondern auf andere Weise spirituell ist.
264 Die Volksfrömmigkeit ist eine legitime Art, den Glauben zu leben, eine Weise, sich zur Kirche zugehörig zu fühlen, und eine Form, missionarisch zu sein, die die tiefsten Schwingungen des unergründlichen Amerikas aufnimmt. Sie ist Teil der „historisch-kulturellen Originalität“<ref> Puebla 446.</ref> der Armen dieses Kontinents und entsteht als „eine Synthese zwischen ihren Kulturen und dem christlichen Glauben“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref> Im Kontext der Säkularisierung, den unsere Völker erleben, ist sie immer noch ein machtvolles Bekenntnis zum lebendigen, in der Geschichte wirkenden Gott und ein Mittel zur Weitergabe des Glaubens. Gemeinsam zu einem Wallfahrtsort zu pilgern und an anderen Bekundungen der Volksfrömmigkeit teilzunehmen, auch mit Kindern oder mit anderen Menschen, die man einlädt, bedeutet in sich eine Geste der Evangelisierung, durch die das christliche Volk sich selbst evangelisiert und die missionarische Berufung der Kirche wahrnimmt.
265 Unsere Völker identifizieren sich besonders mit dem leidenden Christus. Sie schauen ihn an, küssen ihn oder berühren seine Fußwunden, als ob sie sagen wollten: Dieser ist es, „der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Viele von ihnen sind geschlagen, missachtet, ihrer Kleider beraubt und sind trotzdem nicht mutlos geworden. In der ihnen eigenen Frömmigkeit klammern sie sich an die grenzenlose Liebe, die sie bei Gott erfahren und die ihnen immer wieder neu ihre eigene Würde ins Gedächtnis ruft. Auch im Antlitz Marias finden sie die zärtliche Zuwendung und Liebe Gottes. In ihr erkennen sie das Wesen der Botschaft des Evangeliums. Vom Heiligtum Guadalupe aus lässt unsere liebe Mutter ihre kleinsten, gedemütigten Kinder erfahren, dass sie Platz unter ihrem Schutzmantel finden. Von Aparecida aus lädt sie sie ein, die Netze in der Welt auszuwerfen, um alle, die im Meer des Vergessens untergegangen sind, aus der Namenlosigkeit herauszuholen und in das Licht des Glaubens zu stellen. Wenn sie ihre Kinder versammelt, führt sie unsere Völker um Jesus Christus zusammen.
Maria, Jüngerin und Missionarin
266 Die erhabenste Verwirklichung christlicher Existenz im Sinne des dreifaltigen Lebens als „Kinder im Sohn“ ist uns in der Jungfrau Maria gegeben. Sie ist wegen ihres Glaubens (vgl. Lk 1,45) und ihres Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes (vgl. Lk 1,38) sowie wegen ihrer ständigen Betrachtung des Wortes Gottes und des Tuns Jesu (vgl. Lk 2,19.51) die vollkommenste Jüngerin des Herrn.<ref> Vgl. Lumen gentium 53.</ref> Maria ist Gesprächspartnerin des Vaters bei seinem Plan, sein Wort zur Erlösung der Menschen in die Welt zu senden. Sie ist als Glaubende auch das erstrangige Mitglied der Gemeinschaft aller an Christus Glaubenden. Und sie wirkt auch mit bei der geistlichen Wiedergeburt der Jünger. Im Evangelium erscheint sie als freie und starke Frau, die ganz bewusst in die wahre Nachfolge Christi eintritt. Als Mutter Christi und später als Mutter der Jünger hat sie voll und ganz die Pilgerschaft des Glaubens erfahren, aber auch sie hat den Plan des Vaters nicht immer verstanden und sich stets um ihn bemüht. Nur so gelang es ihr, am Fuß des Kreuzes in tiefer Gemeinschaft zu stehen, um vollkommen in das Geheimnis des Bundes einzutreten.
267 Von der Vorsehung eng mit der Fülle der Zeit (vgl. Gal 4,4) verbunden, wird durch sie die Hoffnung der Armen und die Sehnsucht nach Erlösung erfüllt. Die Jungfrau von Nazareth hatte in der Heilsgeschichte eine einmalige Sendung, indem sie ihren Sohn empfing, ihn aufzog und bis zur Lebenshingabe begleitete. Am Kreuz vertraute Jesus Christus seinen Jüngern, vertreten durch Johannes, die Mutterschaft Marias an, die unmittelbar aus der österlichen Stunde Christi hervorgeht: „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh 19,27). Gemeinsam mit den Aposteln wartete sie auf das Kommen des Heiligen Geistes (vgl. Apg 1,13–14) und wirkte beim Entstehen der missionarischen Kirche mit, so dass diese ein marianisches Siegel prägt, an dem ihre Identität zutiefst erkennbar wird. Als Mutter so vieler Menschen stärkt sie die geschwisterlichen Bande zwischen allen, ermutigt zu Vergebung und Versöhnung und ist dabei behilflich, dass die Jünger Jesu Christi sich als Familie erfahren, als Familie Gottes. Durch Maria begegnen wir Christus, dem Vater und dem Heiligen Geist wie auch den Geschwistern.
268 Wie die menschliche Familie entsteht die kirchliche Familie um eine Mutter, die dem Familienleben „Seele“ und Zärtlichkeit verleiht.<ref> Vgl. Puebla 295.</ref> Maria, die Mutter der Kirche und außerdem ein beispielhaftes Modell für Humanität, ist die Urheberin der Gemeinschaft. Eines der Gründungsereignisse der Kirche besteht in dem „Ja“, das Maria sagte. Sie führt die Menschen in großen Scharen zur Gemeinschaft mit Jesus und seiner Kirche, wie wir es häufig in den Marienwallfahrtsorten erfahren. Deshalb ist die Kirche Mutter wie Maria. Dieses marianische Verständnis der Kirche ist das beste Heilmittel gegen eine bloß funktionale bzw. bürokratische Kirche.
269 Maria ist die bedeutende Missionarin, die die Mission ihres Sohnes weiterführt und Missionare formt. Wie sie der Welt den Erlöser brachte, so brachte sie das Evangelium zu uns nach Amerika. Im Ereignis von Guadalupe hat sie zusammen mit dem schlichten Juan Diego das Pfingstfest geleitet, das uns für die Gaben des Heiligen Geistes geöffnet hat. Seit damals haben unzählige Gemeinden ihre Inspiration aus nächster Nähe erfahren und gelernt, wie sie Jünger und Missionare Jesu Christi werden können. Voller Freude stellen wir fest, dass sie mit jedem unserer Völker auf dem Wege ist, dass sie im Gewebe ihrer Geschichte jeweils ihren eigenen Platz einnimmt und die edelsten und prägenden Züge unserer Menschen angenommen hat. Die verschiedenen Namen, unter denen sie angerufen wird, und die über den gesamten Kontinent verstreuten Heiligtümer zeigen, wie nahe Maria den Menschen ist, und beweisen zugleich, welchen Glauben und welches Vertrauen die Betenden in sie setzen. Sie gehört zu ihnen und sie erfahren sie als ihre Mutter und Schwester.
270 Wenn man heute auf unserem lateinamerikanischen und karibischen Kontinent Jüngerschaft und Mission ins Blickfeld rücken will, erstrahlt Maria vor unseren Augen als das vollkommene und treueste Bild für die Nachfolge Jesu. Heute schlägt ihre Stunde, die Stunde der entschiedensten Nachfolgerin Christi und ihres Lehramts für die Jünger und Missionare, wenn Papst Benedikt XVI. uns beauftragt: „Maria, die reine und unbefleckte Jungfrau, ist für uns Schule des Glaubens, die dazu bestimmt ist, uns zu leiten und uns Kraft zu geben auf dem Weg, der zum Schöpfer des Himmels und der Erde führt. Der Papst ist mit großer Freude nach Aparecida gekommen, um euch vor allem zu sagen: ‚Bleibt in der Schule Mariens’. Inspiriert euch an ihren Lehren; versucht in eurem Herzen das Licht aufzunehmen und zu bewahren, das sie euch in göttlichem Auftrag von oben sendet.“<ref> Benedikt XVI., Ansprache beim Rosenkranzgebet in der Basilika des Heiligtums von Aparecida, 12. Mai 2007.</ref>
271 Maria „bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2,19; vgl. 2,51). Sie lehrt uns, dass im Leben des Jüngers und Missionars das aufmerksame Hören auf das Wort Gottes Vorrang hat. „Das Magnifikat [...] ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, dass sie im Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes her. So ist auch sichtbar, dass ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, dass ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des Fleisch gewordenen Wortes werden“.<ref> Deus caritas est 41.</ref> Diese Vertrautheit mit dem Geheimnis Jesu wird leichter zugänglich durch das Rosenkranzgebet: In ihm „geht das christliche Volk in die Schule Mariens, um sich in die Betrachtung der Schönheit des Antlitzes Christi und in die Erfahrung der Tiefe seiner Liebe einführen zu lassen. In der Betrachtung der Rosenkranzgeheimnisse schöpft der Gläubige Gnade in Fülle, die er gleichsam aus den Händen der Mutter des Erlösers selbst erhält.“<ref> Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Rosarium Virginis Mariae, 1.</ref>
272 Mit dem Blick auf ihre Kinder und deren Sorgen, wie in Kana zu Galiläa, ist Maria behilflich, dass die Jünger aufmerksam, dienstbereit, hingebungsvoll und dankbar bleiben. Außerdem deutet sie an, welcher Pädagogik es bedarf, damit die Armen in jeder christlichen Gemeinde „sich wie zu Hause fühlen“.<ref> Novo millennio ineunte 50.</ref> Sie schafft Gemeinschaft und leitet zu einem Lebensstil des Teilens und der Solidarität an durch Geschwisterlichkeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung zum Anderen, insbesondere dann, wenn er arm und bedürftig ist. In unseren Gemeinden ist ihre spürbare Präsenz bis heute stets eine Bereicherung für die mütterliche Dimension der Kirche und ihre einladende Haltung, die sie „zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen“<ref> Ebd. 43.</ref> und zu einem spirituellen Raum, der auf die Mission vorbereitet.
Die Apostel und die Heiligen
273 Auch die Apostel Jesu und die Heiligen haben die Spiritualität und den Lebensstil unserer Kirchen geprägt. Ihre Lebenswege sind bevorzugte Orte der Begegnung mit Jesus Christus. Ihr Zeugnis bleibt gültig und ihre Lehren inspirieren Sein und Tun der christlichen Gemeinden auf dem Kontinent. Zu ihnen gehört der Apostel Petrus, den Jesus beauftragte, die Brüder im Glauben zu stärken (vgl. Lk 22,31–32), und der heute den Gemeinden hilft, ein enges Band der Gemeinschaft mit dem Papst als seinem Nachfolger zu knüpfen und bei Jesus die Worte ewigen Lebens zu finden. Paulus, der unermüdliche Verkünder des Evangeliums, hat ihnen den Weg missionarischer Tapferkeit und den Willen, jeder Kultur die Gute Nachricht von der Erlösung zu bringen, gezeigt. Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, macht offenbar, welch verändernde Kraft das Neue Gebot besitzt und wie wirksam es ist, in Jesu Liebe zu bleiben.
274 Unsere Völker hegen besondere Sympathie und Verehrung für Josef, den Bräutigam Mariens, den gerechten, treuen und großherzigen Mann, der sich selbst verlieren kann, um sich im Mysterium des Sohnes wieder zu finden. Der heilige Josef, der Lehrer des Schweigens, fasziniert, beeindruckt und lehrt nicht mit Worten, sondern durch das glanzvolle Zeugnis seiner Haltung und seiner standhaften Bescheidenheit.
275 Unsere Gemeinden tragen das Siegel der Apostel und achten darüber hinaus das christliche Zeugnis vieler Männer und Frauen, die in unseren Breiten die Samenkörner des Evangeliums säten, indem sie tapfer ihren Glauben lebten und sogar als Märtyrer ihr Blut vergossen haben. Ihr beispielhaftes Leben und ihre Heiligkeit sind ein kostbares Geschenk für den Glaubensweg der lateinamerikanischen Menschen und zugleich ein Ansporn, es ihnen in den neuen kulturellen Formen der Geschichte nachzutun. Mit ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Jesus Christus waren sie aktive, missionarische Mitglieder ihrer kirchlichen Gemeinschaft. Sie haben sich stets mutig für die Rechte der Menschen eingesetzt, die Realität im Licht der kirchlichen Soziallehre scharf kritisiert und glaubwürdig durch ein überzeugendes Leben gewirkt. Wir Christen heute greifen ihr Erbe auf und fühlen uns dazu aufgerufen, mit neuem apostolisch-missionarischem Eifer die dem Evangelium entsprechende Lebensart, die sie uns weitergegeben haben, fortzusetzen.
Der Bildungsprozess der missionarischen Jünger
276 Berufung und Engagement der Jünger und Missionare Jesu Christi in der Gegenwart Lateinamerikas und der Karibik verlangen – zum Wohl aller Getauften – die klare und entschlossene Option, die Mitglieder unserer Gemeinden weiterzubilden, welche Funktion auch immer sie in der Kirche wahrnehmen. Wir schauen auf Jesus, den Meister, der persönlich seine Apostel und Jünger heranbildete. Christus lehrt uns die Methode: „Kommt und seht“ (Joh 1,39), „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Mit ihm können wir die Fähigkeiten, die in den Menschen angelegt sind, entfalten und sie so zu missionarischen Jüngern werden lassen. Mit beharrlicher Geduld und Weisheit lud Jesus alle in seine Nachfolge ein. Alle, die ihm gerne folgen wollten, führte er in das Geheimnis des Reiches Gottes ein. Nach seinem Tode und seiner Auferstehung sandte er sie aus, in der Kraft des Heiligen Geistes die Gute Nachricht zu verkünden. Seine Art und Weise ist für Ausbildende exemplarisch und gewinnt besondere Bedeutung, wenn wir an die fortwährende Bildungsaufgabe denken, die wir als Kirche im neuen soziokulturellen Kontext von Lateinamerika zu bewältigen haben.
277 Der Weg der Prägung in der Nachfolge Jesu hat seine Wurzeln in der Entwicklungsfähigkeit des Menschen und in der persönlichen Einladung Jesu Christi, der die Seinen bei ihren Namen ruft, so dass sie ihm folgen, weil sie seine Stimme kennen. Der Herr weckte in seinen Jüngern eine tiefe Sehnsucht und zog sie an sich, so dass sie voller Staunen waren. Die Nachfolge entsteht aus einer Faszination, die dem Wunsch nach menschlicher Selbstverwirklichung, dem Wunsch nach der Fülle des Lebens entspricht. Der Jünger ist jemand, der von Jesus Christus begeistert ist. Er erkennt ihn an als Meister, der ihn führt und begleitet.
Aspekte des Prozesses
278 Im Bildungsprozess der missionarischen Jünger unterscheiden wir fünf Hauptmerkmale, die zwar in jeder Etappe des Prozesses in unterschiedlicher Weise präsent sind, sich aber gegenseitig zutiefst durchdringen und einander verstärken:
a) Die Begegnung mit Jesus Christus: Alle, die seine Jünger sein wollen, suchen ihn zwar (vgl. Joh 1,38), aber der Herr ist es, der sie ruft: „Folge mir“ (Mk 1,14; Mt 9,9). Man muss den tiefsten Sinn der Suche ausfindig und die Begegnung mit Christus, die am Beginn der christlichen Initiation steht, möglich machen. Diese Begegnung muss durch das persönliche Zeugnis, durch die Verkündigung des kerygma und das missionarische Tun der Gemeinde stets neu erfahren werden. Das kerygma ist nicht nur eine Etappe, sondern der Leitfaden des Prozesses, der in der Mündigkeit des Jüngers Jesu Christi gipfelt. Ohne das kerygma sind die übrigen Aspekte des Prozesses zur Unfruchtbarkeit verurteilt, weil die Herzen nicht wirklich zum Herrn bekehrt sind. Nur auf der Basis des kerygma bietet sich die Chance zu einer wirklich christlichen Initiation. Deshalb hat die Kirche es bei all ihrem Tun im Auge zu behalten.
b) Die Umkehr: Sie ist die erste Reaktion dessen, der den Herrn staunend angehört hat, der durch das Wirken des Heiligen Geistes an ihn glaubt, der sich entscheidet, sein Freund zu sein und ihm zu folgen, indem er seine Art zu denken und zu leben verändert, das Kreuz Christi auf sich nimmt und sich darüber im Klaren ist, dass der Sünde zu sterben das Leben gewinnen bedeutet. In der Taufe und im Sakrament der Versöhnung wird die Erlösung durch Jesus Christus für uns erfahrbar.
c) Die Jüngerschaft: Der Mensch gelangt durch das Kennenlernen Jesu, die Liebe zu ihm und durch die Nachfolge des Meisters zu immer größerer Reife; er dringt immer tiefer in das Geheimnis des Menschen Jesus, seines Beispiels und seiner Lehre ein. Für diese Etappe sind die ständige Katechese und das sakramentale Leben von fundamentaler Bedeutung. Sie verstärken die anfängliche Umkehr und helfen den missionarischen Jüngern, am christlichen Leben und an der Sendung festzuhalten, auch wenn die Welt rings umher sie in Frage stellt.
d) Die Gemeinschaft: Christliches Leben gibt es nur in Gemeinschaft, in den Familien, den Pfarreien, den Ordensgemeinschaften, den Basisgemeinden, anderen kleinen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen. Wie die ersten Christen sich zur Gemeinschaft versammelten, nimmt auch der Jünger am Leben der Kirche und am Zusammensein der Geschwister teil und erfährt so die Liebe Christi im geschwisterlich-solidarischen Leben. Durch die kirchliche Gemeinschaft und ihre Hirten wird er auch begleitet und angeregt, so dass er im Heiligen Geist immer reifer wird.
e) Die Mission: In dem Maße, wie der Jünger seinen Herrn kennen und lieben lernt, macht er die Erfahrung, dass er seine Freude mit anderen teilen muss, dass er gesandt ist und in die Welt hinausgehen muss, um den getöteten und auferstandenen Jesus Christus zu verkündigen, um die Liebe und den Dienst an den Ärmsten Wirklichkeit werden zu lassen, mit einem Wort: um das Reich Gottes aufzubauen. Die Mission ist von der Jüngerschaft nicht zu trennen; deshalb darf sie nicht als eine Etappe verstanden werden, die erst nach Abschluss des Bildungsprozesses ins Spiel kommt, selbst wenn sie auf unterschiedliche Weise verwirklicht wird, je nachdem, welche Berufung und welches Reifestadium in menschlicher und christlicher Hinsicht der einzelne Mensch erlangt hat.
Allgemeine Kriterien
Eine ganzheitliche, kerygmatische und fortdauernde Bildung
279 Der Hauptauftrag der Bildung besteht darin, den Mitgliedern der Kirche stets zu ermöglichen, Christus zu begegnen, um so die Erfahrung und die Werte, die die Identität und die Sendung der Christen in der Welt bestimmen, zu erkennen, anzunehmen, sich zu Eigen zu machen und weiterzuentwickeln. Deshalb ist Bildung ein ganzheitlicher Prozess, das heißt, er umfasst verschiedene Dimensionen, die in lebendiger Einheit untereinander im Einklang stehen. Die grundlegende Dimension ist die Kraft der kerygmatischen Verkündigung. Die Macht des Heiligen Geistes und des Wortes Gottes zieht die Menschen in ihren Bann und bringt sie dazu, Jesus Christus zuzuhören, an ihn als ihren Erlöser zu glauben, ihn als den zu erkennen, der ihrem Leben tiefen Sinn gibt, und seinen Spuren zu folgen. Die Verkündigung ist auf der Tatsache begründet, dass der auferstandene Christus heute in der Kirche gegenwärtig ist. Dieses Faktum kann im Bildungsprozess der Jünger und Missionare nicht übergangen werden. Bildung ist sowohl ein fortdauernder als auch ein dynamischer Prozess, entsprechend der Entwicklung der Menschen und der Aufgaben, die sie inmitten der Herausforderungen der Geschichte zu erfüllen haben.
Die verschiedenen Dimensionen der Bildung
280 Bildung umfasst verschiedene Dimensionen, die während des gesamten Bildungsprozesses harmonisch integriert werden müssen. Es geht um die menschlich-gemeinschaftliche Dimension, die spirituelle, die intellektuelle und die missionarisch- pastorale Dimension.
a) Die menschlich-gemeinschaftliche Dimension: Sie begleitet die Bildungsprozesse so, dass man die eigene Geschichte akzeptieren und heil zu machen lernt und dadurch fähig wird, als Christ in einer pluralen Welt mit Gleichmut, Festigkeit, Gelassenheit und innerer Freiheit zu leben. Es geht darum, Persönlichkeiten zu formen, die im Kontakt mit der Realität und in Offenheit gegenüber dem Mysterium heranreifen.
b) Die spirituelle Dimension: Durch diese Bildungsdimension findet der Christ seine Grundlage in der Erfahrung Gottes, der sich in Jesus offenbart hat, und durchläuft mit Hilfe des Heiligen Geistes die Pfade eines tief greifenden Reifungsprozesses. Durch die verschiedenen Charismen geht der Mensch auf persönliche Weise immer sicherer auf dem Weg des Lebens und des Dienstes, den Christus weist. Mit gläubigem Herzen wird er, wie die Jungfrau Maria, die freudigen, strahlenden, schmerzhaften und glorreichen Wege seines Meisters und Herrn gehen können.
c) Die intellektuelle Dimension: Die Begegnung mit Christus, dem Fleisch gewordenen Wort, verstärkt die dynamische Fähigkeit der Vernunft, die die Bedeutung der Realität zu verstehen sucht und sich für das Mysterium offen hält. Die intellektuelle Dimension wird erfahren in einem ernstzunehmenden Nachdenken, das sich ständig durch das Studium aktualisiert und die intellektuelle Fähigkeit im Licht des Glaubens für die Wahrheit öffnet. Durch sie wird der Mensch auch fähig zur Unterscheidung der Geister, zur kritischen Beurteilung und zum Dialog über die Realität und die Kultur. In besonderer Weise gewährleistet sie biblisch-theologische und humanwissenschaftliche Kenntnisse, um die notwendige Kompetenz zu erwerben im Hinblick auf die geforderten kirchlichen Dienste und die angemessene Präsenz im weltlichen Leben.
d) Die missionarisch-pastorale Dimension: Ein authentisches Christsein erfüllt das Herz mit Freude und Hoffnung und motiviert den Gläubigen, in seinem Leben und in seiner Umgebung Christus immer wieder zu verkündigen. Die missionarisch-pastorale Dimension richtet sich auf die Aufgabe, Jünger und Missionare für den Dienst an der Welt auszubilden. Sie befähigt, Lebensstile und Programme der Christen anziehend zu gestalten, weil alle Gemeindemitglieder aktiv und geschwisterlich einbezogen sind. Sie trägt dazu bei, Evangelisierung und Pädagogik so miteinander zu verbinden, dass sie das Leben fördern und pastorale Prozesse in Gang bringen, die der Reife, dem Alter und anderen Konditionen der Menschen bzw. Gruppen entsprechen. Sie fördert die Verantwortung der Laien in der Welt beim Aufbau des Gottesreiches. Sie hält eine ständige Sorge wach für alle, die sich entfernt haben oder den Herrn in ihrem Leben nicht anerkennen.
Ausbildung auf der Grundlage gegenseitigen Respekts
281 Zu einem neuen Leben in Christus zu gelangen und sich zutiefst mit ihm und seinem Sendungsauftrag zu identifizieren,<ref> Vgl. Evangelii nuntiandi 19.</ref> bedeutet einen weiten Weg mit unterschiedlichen Wegstrecken zurückzulegen, die jeweils die persönliche Entwicklung bzw. die kontinuierlich langsam fortschreitende Entwicklung der Gemeinschaft zu respektieren haben. Leitlinie für die Diözese soll ein umfassendes Bildungsprogramm sein, das – mit den zuständigen Organen der Diözese erarbeitet und vom Bischof bestätigt – alle für das Leben der Ortskirche entscheidenden Kräfte einbezieht: Vereinigungen, Ämter und Bewegungen, Ordensgemeinschaften, kleine Gemeinschaften, Kommissionen der Sozialpastoral und verschiedene kirchliche Organe, damit sie eine gemeinsame Perspektive und ein Zusammenwirken der verschiedenen Initiativen entwickeln. Es sind auch entsprechend vorbereitete Ausbildungsteams erforderlich, die die Qualität dieses Prozesses sichern und die Menschen mit einer dynamischen, aktiven und offenen Pädagogik begleiten. Frauen und Männer aus dem Laienstand, die in den Ausbildungsteams mitarbeiten, sind eine besondere Bereicherung; denn mit ihren Erfahrungen und ihrer Kompetenz bringen sie wertvolle Kriterien, Inhalte und Zeugnisse für die Auszubildenden ein.
Ausbildung und Begleitung der Jünger
282 Jeder Teil des Volkes Gottes verlangt danach, begleitet und weitergebildet zu werden, und zwar entsprechend der jeweiligen Berufung und Sendung, die ihm obliegen: der Bischof, der durch seinen dreifachen Auftrag der Ausübung des Lehramtes, der Heiligung und der Leitung das Prinzip der Einheit in der Diözese darstellt; die Priester, die mit dem Bischof in der Sorge um das Volk Gottes, das ihnen anvertraut ist, zusammenarbeiten; die Ständigen Diakone in ihrem lebensbegleitenden, bescheidenen und ausdauernden Dienst als wertvolle Hilfe für die Bischöfe und Priester; die Ordensfrauen und Ordensmänner in der radikalen Nachfolge des Meisters; die Männer und Frauen im Laienstand, die ihre Verantwortung im Geist des Evangeliums wahrnehmen, wenn sie bei der Bildung christlicher Gemeinschaften und beim Aufbau des Reiches Gottes in der Welt mitwirken. Es ist also wichtig, alle auszubilden, die andere Menschen spirituell und pastoral begleiten können.
283 Die Ausbildung von Männern und Frauen aus dem Laienstand soll vor allem das Ziel haben, dass sie als missionarische Jünger in der Welt wirken können, und zwar im Sinne von Dialog und Veränderung der Gesellschaft. Sie brauchen eine spezifische Ausbildung, damit sie auf den verschiedensten Gebieten kompetent mitarbeiten können, insbesondere „in der weiten und schwierigen Welt der Politik, des Sozialen und der Wirtschaft, aber auch der Kultur, der Wissenschaften und der Künste, des internationalen Lebens und der Massenmedien und ebenso in gewissen Wirklichkeiten, die der Evangelisierung offen stehen“.<ref> Evangelii nuntiandi 70.</ref>
Ausbildung in der Spiritualität missionarischen Handelns
284 Die Jünger müssen in der Spiritualität missionarischen Handelns ausgebildet werden, so dass sie für den Elan und die Lebenskraft des Heiligen Geistes offen werden, der alle existentiellen Dimensionen mobilisiert und verwandelt. Hierbei geht es nicht nur um den Bereich privater Frömmigkeit, sondern auch darum, dass alles vom Feuer und vom Leben des Heiligen Geistes durchdrungen wird. Jünger und Missionare, die vom Elan und der Leidenschaft des Heiligen Geistes ganz durchdrungen sind, werden das bei ihrer Arbeit, beim Dialog, im Dienst und in der täglichen Missionstätigkeit zum Ausdruck bringen.
285 Wenn der Heilige Geist alle Bereiche des Lebens motiviert und prägt, dann durchdringt und bestimmt er auch die besondere Berufung jedes einzelnen Menschen. So entsteht und entwickelt sich die je eigene Spiritualität der Priester, der Ordensmänner und Ordensfrauen, der Eltern, der Unternehmer, der Katecheten usw. Alle diese Berufungen verfügen über ihre je eigene konkrete Spiritualität, so dass sie ihre jeweiligen Aufgaben mit ganzem Herzen und mit Begeisterung wahrnehmen können. Das Leben im Heiligen Geist sperrt uns also nicht in eine bequeme Intimität ein, sondern macht uns zu großherzigen, kreativen Menschen, die frohen Herzens verkündigen und ihren missionarischen Dienst tun. Wir werden zu Menschen, die sich den Herausforderungen der Realität engagiert stellen und in der Lage sind, einen tiefen Sinn in allem zu erkennen, was wir für Kirche und Welt tun.
Einführung in das christliche Leben und lebenslange Katechese
Einführung in das christliche Leben
286 Die Zahl der Gläubigen, die nicht mehr an der sonntäglichen Eucharistie teilnehmen, die nicht mehr regelmäßig die Sakramente empfangen oder sich kaum in die kirchliche Gemeinschaft einbringen, ist hoch. Ohne die Bedeutung der Familie für die Einführung in das christliche Leben übersehen zu wollen, spüren wir, dass wir nach neuen Möglichkeiten des Kontakts zu diesen Menschen suchen und ihnen helfen müssen, dem sakramentalen Leben, der Beteiligung am Gemeindeleben und dem zivilgesellschaftlichen Engagement wieder einen Wert zuzuerkennen. Es gibt einen hohen Prozentsatz von Katholiken, die sich ihres Sendungsauftrages, Salz und Sauerteig in der Welt zu sein, nicht mehr bewusst sind und deren christliche Identität schwach und verletzlich ist.
287 Diese große Herausforderung stellt unsere Glaubenserziehung und die Gestaltung unseres christlichen Lebens grundsätzlich in Frage. Dieser Herausforderung müssen wir uns entschlossen, mutig und kreativ stellen, da bereits die Einführung in das christliche Leben vielerorts mangelhaft und unvollständig gewesen ist. Entweder bemühen wir uns um eine Glaubenserziehung, die wirklich mit Jesus Christus in Verbindung bringt und zu seiner Nachfolge einlädt, oder wir werden unserem Sendungsauftrag im Geist des Evangeliums nicht gerecht. Wir können der dringlichen Aufgabe nicht ausweichen, eine zeitgemäße praktikable Handreichung zur Einführung in den christlichen Glauben anzubieten, die nicht nur die Inhalte, sondern auch die Adressaten, die Methoden und die Orte der Vermittlung mit bedenkt. Nur so werden wir die Aufgabe der Neuevangelisierung erfüllen, zu der wir wiederholt aufgerufen worden sind.
288 Die christliche Initiation, die auch die Verkündigung (kerygma) einbezieht, soll auf praktische Weise mit Jesus Christus in Verbindung bringen und in die Jüngerschaft einführen. Sie bietet uns auch die Chance, die Zusammengehörigkeit der drei Initiationssakramente zu festigen und ihren Reichtum tiefer zu begreifen. Die christliche Initiation im engeren Sinne bezieht sich auf die erste Einführung in die Glaubensgeheimnisse, zum Beispiel in Form des Taufunterrichts für die Nichtgetauften oder der katechetischen Unterweisung nach der Taufe für diejenigen, die vorher keine ausreichende Unterweisung hatten. Ein solches Katechumenat ist eng verbunden mit den in der Osternacht feierlich begangenen Initiationssakramenten Taufe, Firmung und Eucharistie. Folglich müsste es sich von anderen Katechesen und Ausbildungsprozessen unterscheiden.
Vorschläge für die Einführung in das christliche Leben
289 Wir spüren die Dringlichkeit, in unseren Gemeinden einen Prozess der Initiation in das christliche Leben in Gang zu bringen. Er sollte mit der Verkündigung (dem kerygma) beginnen und – geleitet vom Wort Gottes – zu einer immer innigeren Begegnung mit Jesus Christus führen, der – ganz Gott und ganz Mensch<ref> Vgl. Symbolum „Quicumque“ (DS 76).</ref> – die Fülle des Menschseins erfahren lässt. Der Prozess sollte durch die Praxis der Sakramente, des Dienstes am Nächsten und der Mission zur Umkehr, zur Nachfolge in kirchlicher Gemeinschaft und zur Mündigkeit im Glauben führen.
290 Wir erinnern daran, dass der Bildungsweg des Christen bereits in der ältesten Überlieferung der Kirche stets einen „Erfahrungscharakter hatte, bei dem die lebendige und überzeugende Begegnung mit Christus, der durch authentische Zeugen verkündigt wurde, bestimmend war“.<ref> Sacrosanctum Concilium 64.</ref> Bei dieser Erfahrung werden die Sakramente mit allem Reichtum ihrer Zeichen als tief bewegende und froh machende Feier erlebt. Nach und nach verwandelt die Feier der heiligen Mysterien das Leben des Gläubigen so, dass er die Welt verwandeln kann. Das nennt man „mystagogische Katechese“.
291 Jünger sein ist ein Geschenk, in das man hineinwächst. Die christliche Initiation bietet die Chance, Jesus Christus schrittweise immer besser kennen zu lernen, immer mehr zu lieben und immer eindeutiger nachzufolgen. So baut sie allmählich die Identität des Christen durch Grundüberzeugungen auf und begleitet seine Suche nach dem Sinn des Lebens. Wir sollten akzeptieren, dass die christliche Initiation eine katechetische Dynamik besitzt. Eine Gemeinde, die sich die christliche Initiation zu Eigen macht, wird ihr Gemeinschaftsleben erneuern und ihren missionarischen Charakter beleben. Aber dazu sind auch neue pastorale Verhaltensweisen von Bischöfen, Priestern, Diakonen, Ordensleuten und von Mitverantwortlichen in der Pastoral erforderlich.
292 Der Prozess der christlichen Initiation hat einen Jünger vor Augen, der sich durch folgende Merkmale auszeichnet: Für ihn ist der Mensch Jesus Christus, als unser Retter und Fülle unseres Menschseins, die Mitte seines Lebens, auf der alle menschlich-christliche Reife beruht. Er lebt im Geist des Gebetes, liebt das Wort Gottes, empfängt oft das Sakrament der Versöhnung und nimmt an der Eucharistie teil. Er gehört der kirchlichen und der gesellschaftlichen Gemeinschaft von Herzen an, ist aus Liebe solidarisch und ein begeisterter Missionar.
293 Die Pfarrgemeinde muss die christliche Initiation gewährleisten. Sie hat unbedingt folgende Aufgaben zu erfüllen: Sie soll die getauften Erwachsenen, die nicht ausreichend evangelisiert sind, in das christliche Leben einführen; sie soll die getauften Kinder im Glauben erziehen, so dass sie ihre christliche Initiation nach und nach vervollständigen; sie soll die Nichtgetauften, die das kerygma vernommen haben und den Glauben kennen lernen möchten, in der christlichen Lehre unterweisen. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben sind das Studium und die Anwendung des „Ordo Initiationis Christianae Adultorum“ (der „Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem Rituale Romanum“) eine notwendige Referenz und eine sichere Stütze.
294 Wenn die Pfarrei sich diese christliche Initiation zu Eigen machen will, muss sie nicht nur ihr katechetisches Konzept erneuern. Wir schlagen vor, dass der katechetische Ausbildungsprozess, wie er von der Kirche für die christliche Initiation approbiert wurde, auf dem gesamten Kontinent als grundsätzlich verpflichtende Einführung in den christlichen Glauben und als Basiskatechese übernommen wird. Daran schließt sich die permanente Katechese an, die den Reifungsprozess im Glauben fortführt. Dazu sollen auch die Entscheidungsfindung für die je eigene Berufung und der Erkenntnisprozess für persönliche Lebensprojekte gehören.
Permanente Katechese
295 Betrachten wir die aktuelle Situation der Katechese, so wird klar, dass es einen großen Fortschritt gegeben hat. Man nimmt sich heute mehr Zeit für die Vorbereitung auf die Sakramente. Sowohl in den Familien als auch unter den Priestern besteht Einvernehmen, dass diese Vorbereitungszeit notwendig ist und dass dies für alle christlichen Bildungsstufen gilt. Seitens der Institution wurden Strukturen für die Katechese auf Diözesan- und Pfarreiebene gebildet. Eine wahrhaft große Anzahl von Personen fühlt sich berufen, mit großer Hingabe katechetisch tätig zu sein. Die Generalversammlung der Bischöfe bekundet ihnen allen hohe Anerkennung.
296 Trotz des guten Willens ist jedoch in der Regel die theologische und pädagogische Ausbildung der Katecheten nicht so, wie sie sein sollte. Die Materialien und Hilfsmittel sind sehr unterschiedlich und folgen selten einem Konzept von Gesamtpastoral; außerdem entsprechen sie nicht immer den aktuellen pädagogischen Methoden. Die katechetischen Mitarbeiter der Pfarrei arbeiten vielfach nicht genügend mit den Familien zusammen. Die Pfarrer und die übrigen Verantwortlichen sind nicht ausreichend bemüht, ihrer Aufgabe als Erstverantwortliche für die Katechese gerecht zu werden.
297 Die Herausforderungen der gesellschaftlichen Situation in Lateinamerika und der Karibik verlangen eine stärker gefestigte Identität der einzelnen Katholiken. Diese Identität kann durch eine Katechese bestärkt werden, die angemessen die Verbundenheit der Einzelnen und der Gemeinschaft mit Christus fördert, besonders bei denjenigen, die im Glauben noch nicht gefestigt sind.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Begegnung mit den Bischöfen Brasiliens, 11. Mai 2007.</ref> Diese Aufgabe stellt sich der gesamten Gemeinschaft der Jünger, ganz speziell jedoch uns Bischöfen, die wir berufen sind, der Kirche zu dienen, sie zu behüten, zur Begegnung mit Christus zu führen und sie zu lehren, alles zu befolgen, was er uns geboten hat (vgl. Mt. 28,19–20).
298 Die Katechese darf sich nicht mit der Vorbereitung auf den Empfang der Sakramente oder mit der Einführung in das christliche Leben begnügen, sondern soll ein „von ständiger Katechese begleiteter Weg sein“.<ref> Ebd. 3.</ref> Jede Ortskirche muss daher – mit der Unterstützung der jeweiligen Bischofskonferenz – ein kontinuierliches katechetisches Gesamtprogramm aufstellen, das den gesamten Lebensbogen von der Kindheit bis zum Alter umfasst. Dabei soll beachtet werden, dass das „Allgemeine Direktorium für die Katechese“ (Kleruskongregation Rom 1997) die Erwachsenenkatechese als die grundlegende Form der Erziehung im Glauben ansieht. Damit das Volk Christus wirklich intensiv kennen lernen und ihm in aller Treue nachfolgen kann, soll es speziell zum Lesen und zur Betrachtung des Wortes Gottes, als wichtigstem Fundament einer permanenten Katechese, angeleitet werden.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref>
299 Die Katechese darf sich nicht darauf beschränken, nur die kirchliche Lehre darzustellen, sondern muss eine wahre Schule umfassender Bildung sein. Daher ist die Freundschaft mit Christus zu pflegen durch das Gebet, durch die Wertschätzung der Liturgie, des Gemeindelebens und des apostolischen Engagements im ständigen Dienst an den anderen. Eine gute Hilfestellung dazu leisten einige katechetische Hilfsmittel, die auf der Grundlage des Katechismus der Katholischen Kirche und des Kompendiums der Soziallehre der Kirche erarbeitet wurden und als Kurse bzw. Unterrichtseinheiten von ständigen Weiterbildungskursen für die Katecheten zur Verfügung stehen.
300 Die Katechese muss so gestaltet sein, dass sie den Glauben, der in der Volksreligiosität bereits vorhanden ist, einbezieht. Konkret könnte es zum Beispiel so sein, dass ein Prozess der christlichen Initiation bei Familienbesuchen angeboten wird, bei denen man nicht nur etwas über die Glaubensinhalte sagt, sondern ganz praktisch mit den Familien betet oder sie zur geistlichen Lesung des Wortes Gottes und zu den evangelischen Tugenden hinleitet, so dass die Familien immer mehr als Hauskirchen gefestigt werden. Für diese Stärkung im Glauben ist es gut, das Bildungspotential, das die marianische Volksfrömmigkeit in sich birgt, pädagogisch zu nutzen. Eine solche Bildungspraxis verhilft dazu, sich die Haltung Mariens anzueignen, indem sie die persönliche Liebe zur Mutter Gottes als der wahren „Lehrmeisterin des Evangeliums“<ref> Puebla 290.</ref> pflegt und uns dahin bringt, Jesus Christus immer ähnlicher zu werden.
Orte der Ausbildung für die missionarischen Jünger
301 Im Folgenden erläutern wir kurz einige Orte für die Ausbildung der missionarischen Jünger.
Die Familie als erste Glaubensschule
302 Die Familie als „Weltkulturerbe“ gehört zu den kostbarsten Schätzen der lateinamerikanischen Völker. In ihr wurde und wird Gemeinschaft erfahren und gepflegt; aus ihr gehen menschliche und zivilgesellschaftliche Werte hervor; sie ist die Heimstatt, in der das menschliche Leben geboren und in selbstloser Verantwortung beschützt wird. Damit die Familie eine „Schule des Glaubens“ sein kann und die Eltern zu den ersten Glaubenslehrern ihrer Kinder werden können, muss die Familienpastoral Bildungsräume, katechetische Materialien und liturgische Feiern zur Stützung ihres Bildungsauftrags anbieten. Die Familie ist dazu berufen, die Kinder auf den Weg der christlichen Initiation zu führen. Die Familie als kleine Kirche muss zusammen mit der Pfarrei der erste Ort für die christliche Initiation der Kinder sein.<ref> Vgl. Sacrosanctum Concilium 19.</ref> Sie bietet ihren Kindern christliche Lebensdeutung und begleitet sie bei der Erarbeitung ihres Lebensprojekts als missionarische Jünger.
303 Den Eltern obliegt es außerdem, die Kinder besonders durch ihr beispielgebendes Leben dazu zu erziehen, dass sie die Liebe als Hingabe ihrer selbst verstehen, und ihnen bei der Wahl ihres Berufes behilflich zu sein – sei es für das Leben im Laienstand, sei es für das geweihte Leben. So werden die Kinder durch die Erfahrungen des täglichen Lebens in der Familie zu Jüngern Jesu Christi herangebildet. Die Kinder haben das Recht darauf, dass der Vater und die Mutter für sie sorgen und sie zur Fülle des Lebens begleiten. Die „Familienkatechese“, die auf ganz verschiedene Weise eingesetzt worden ist, hat sich als erfolgreicher Beistand für den Zusammenhalt der Familien erwiesen. Sie bietet außerdem eine wirksame Möglichkeit, Eltern, Jugendliche und Kinder so zu prägen, dass sie Zeugen des Glaubens in ihren jeweiligen Gemeinden werden.
Die Pfarreien
304 Der Gemeinschaftscharakter gehört wesentlich zum Mysterium und zur Realität der Kirche, weil sie ein Spiegelbild der Heiligsten Dreifaltigkeit sein soll. Im Laufe der Jahrhunderte ist diese wesentliche Dimension auf unterschiedliche Weise gelebt worden. Die Kirche ist Gemeinschaft. Die Pfarreien sind lebendige Zellen der Kirche<ref> Vgl. Apostolicam actuositatem 10; Santo Domingo 58.</ref> und bevorzugte Orte, an denen die meisten Gläubigen eine konkrete Erfahrung mit Christus und seiner Kirche machen.<ref> Vgl. Ecclesia in America 41.</ref> Sie verfügen über einen unerschöpflichen Reichtum an Gemeinschaftserfahrung; in ihnen trifft man auf die unterschiedlichsten Situationen, auf Menschen aller Alterstufen und eine Fülle von Aufgaben. Insbesondere heute, wo die Krise des Familienlebens so viele Kinder und Jugendliche schädigt, bieten die Pfarreien einen Raum für Gemeinschaft, in dem man sich im Glauben weiterbilden und im Ge- meinschaftsgeist wachsen kann.
305 Daher muss die Weiterbildung der Gemeinschaft speziell in der Pfarrei gepflegt werden. Dies kann durch verschiedene Feiern und Initiativen geschehen, insbesondere durch die sonntägliche Eucharistie als dem „bevorzugten Augenblick der Begegnung der Gemeinden mit dem auferstandenen Herrn“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> Die Gläubigen sollen die Gemeinde als eine Familie im Glauben und in der Liebe erfahren können, durch die sie sich in der Nachfolge Christi gegenseitig begleiten und helfen.
306 Wenn wir wollen, dass die Pfarreien Zentren missionarischer Ausstrahlung in ihrer Umgebung sind, müssen sie auch Orte ständiger Weiterbildung sein. Daher müssen in ihnen verschiedene Weiterbildungsmöglichkeiten organisiert werden, die sicherstellen, dass alle pastoralen Mitarbeiter und alle im weltlichen Leben tätigen Laien begleitet und fortgebildet werden. Auch benachbarte Pfarreien sollten in diesem Sinne ihre Kräfte bündeln und dabei das Bildungsangebot der Diözese und der Bischofskonferenz nicht ungenutzt lassen.
Kleine kirchliche Gemeinschaften
307 Wir stellen fest, dass in den letzten Jahren die Spiritualität der Gemeinschaft an Bedeutung gewonnen hat. Mit unterschiedlichen Methoden hat man viele Anstrengungen unternommen, um die Laien dazu zu veranlassen, kleine kirchliche Gemeinschaften zu bilden. Diese leisten eine sehr gute Arbeit. In den kleinen kirchlichen Gemeinschaften haben wir ein hervorragendes Instrument für die Neuevangelisierung; sie tragen dazu bei, dass die Getauften als authentische Jünger und Missionare Christi leben.
308 Diese Gemeinschaften bilden den geeigneten Raum, um das Wort Gottes zu hören, Geschwisterlichkeit zu leben, einander im Gebet zu ermutigen, sich im Glauben weiterzubilden und das anspruchsvolle Engagement zu stützen, in der heutigen Gesellschaft apostolisch zu wirken. Diese Gemeinschaften als Orte christlicher Erfahrung und Evangelisierung brauchen wir heute umso mehr, als die uns umgebende säkularisierte und der Kirche feindlich gesinnte kulturelle Lage uns in Mitleidenschaft zieht.
309 Wenn man lebendige, dynamische kleine Gemeinschaften will, brauchen sie eine solide, auf dem Wort Gottes aufbauende Spiritualität, die sie mit der Ortskirche, insbesondere mit der Pfarrgemeinde, in enger Lebensgemeinschaft und geistigem Austausch verbindet. Dadurch wird andererseits – wie wir es uns seit Jahren in Lateinamerika vorgenommen haben – die Pfarrgemeinde zur „Gemeinschaft der Gemeinschaften“.<ref> Vgl. Santo Domingo 58.</ref>
310 Auf dem Kontinent müssen die Prozesse zur Bildung kleiner Gemeinschaften neu belebt werden, denn aus ihnen gehen gewiss Priesterberufungen, Ordensberufungen und Berufungen für das Laienapostolat hervor. Durch die kleinen Gemeinschaften könnte man auch die Menschen erreichen, die sich entfernt haben und gleichgültig geworden sind, bzw. jene, die mit der Kirche unzufrieden sind oder Vorbehalte haben.
Die kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften
311 Die neuen Bewegungen und Gemeinschaften sind eine Gabe des Heiligen Geistes für die Kirche. In ihnen finden die Gläubigen die Möglichkeit, sich im christlichen Glauben weiterzubilden und ihren apostolischen Auftrag zu festigen, bis sie wirkliche missionarische Jünger sind. Auf diese Weise machen sie von ihrem angeborenen und durch die Taufe vermittelten Recht auf freie Vereinigung Gebrauch, wie es das Zweite Vatikanische Konzil<ref> Vgl. Apostolicam actuositatem 18 ff.</ref> betont hat und der Kodex des Kanonischen Rechts bestätigt. Einige Bewegungen und Vereinigungen, die heute eine gewisse Müdigkeit oder Schwäche zeigen, sollten ermutigt werden, ihr ursprüngliches Charisma zu erneuern; denn dieses bereichert die Vielfalt, durch die der Heilige Geist im christlichen Volk erfahrbar ist und handelt.
312 Die Bewegungen und neuen Gemeinschaften sind ein wertvoller Beitrag für das Leben der Ortskirche. Durch ihr Selbstverständnis sind sie Ausdruck der charismatischen Dimension der Kirche: „In der Kirche [besteht] weder Zwiespalt noch Gegensatz [...] zwischen der institutionellen und der charismatischen Dimension, für die die Bewegungen ein bedeutender Ausdruck sind. Denn beide sind gleichermaßen wesentlich für die göttliche Verfassung des Volkes Gottes.“<ref> Benedikt XVI., Ansprache, 24. März 2007.</ref> Im Leben und Evangelisierungshandeln der Kirche stellen wir fest, dass wir in der Moderne für ganz neue Situationen und Anforderungen an das christliche Leben Antworten finden müssen. In diesem Zusammenhang sind auch die kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften eine Chance, dass viele Menschen, die sich entfernt haben, eine lebendige Begegnung mit Jesus Christus erfahren. Dadurch können sie ihre durch die Taufe erhaltene Identität zurückgewinnen und sich wieder aktiv am kirchlichen Leben beteiligen.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> In den Bewegungen „können wir Zeichen der vielgestaltigen Gegenwart und des heilig machenden Wirkens des Heiligen Geistes“<ref> Ebd. 5.</ref> sehen.
313 Um die Charismen und Dienste der kirchlichen Bewegungen im Bereich der Ausbildung der Laien besser zu nutzen, wollen wir ihre Charismen und ihre Originalität respektieren, indem wir uns darum kümmern, dass sie sich uneingeschränkter in die gegebene Diözesanstruktur einfügen. Andererseits ist es natürlich notwendig, dass die Diözesangemeinschaft ihrerseits den spirituellen und apostolischen Reichtum der kirchlichen Bewegungen aufnimmt. Es ist richtig, dass die Bewegungen ihren eigenen Charakter behalten sollen, jedoch stets in tiefem Einklang mit der Ortskirche, nicht nur hinsichtlich des Glaubens, sondern auch hinsichtlich des Handelns. Je vielfältiger der Reichtum der Charismen wird, desto mehr sind die Bischöfe aufgerufen, sie pastoral kritisch zu prüfen und die notwendige Integration der Bewegungen in das diözesane Leben zu fördern, und zwar in Anerkennung ihrer Erfahrungen in Gemeinschaft, Ausbildung und missionarischem Handeln. Besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung kommt jenen kirchlichen Bewegungen zu, die – durch den Heiligen Stuhl bereits geprüft und anerkannt – als Geschenk und Gabe für die Universalkirche angesehen werden.
Die Priesterseminare und die ordenseigenen Bildungshäuser=
314 Im Bereich der Aus- und Weiterbildung der Jünger und Missionare Christi nimmt die Berufungspastoral einen besonderen Platz ein. Durch sie werden alle diejenigen sorgsam begleitet, die der Herr zu seinem Dienst im Priesteramt, im Ordensleben oder im Laienstand beruft. Die Berufungspastoral, für die das gesamte Volk Gottes verantwortlich ist, beginnt in der Familie und setzt sich in der christlichen Gemeinde fort. Sie muss sich an die Kinder und ganz speziell an die Jugendlichen richten, um ihnen bei dem Klärungsprozess behilflich zu sein, durch den sie den Sinn ihres Lebens und den Plan entdecken, den Gott mit jedem Einzelnen im Sinne hat. Die voll und ganz in die diözesanen Pastoralstrukturen integrierte Berufungspastoral ergibt sich aus einer soliden Gesamtpastoral in Familien, Pfarreien, katholischen Schulen und in anderen kirchlichen Institutionen. Wir müssen das Gebet um Berufungen auf verschiedene Weise intensivieren, um dadurch eine größere Sensibilität und Aufnahmebereitschaft für den Ruf des Herrn zu bewirken. Es ist auch notwendig, die verschiedenen Initiativen zur Berufungspastoral zu fördern und zu koordinieren.<ref> Vgl. Pastores dabo vobis 41; Ecclesia in America 40.</ref> Die Berufungen sind Geschenk Gottes; deshalb dürfen in keiner Diözese die besonderen Gebete zum „Herrn der Ernte“ fehlen.
315 Angesichts des Mangels an Berufungen zum Priesteramt und Ordensstand in Lateinamerika und der Karibik ist es dringend geboten, sich mit besonderer Sorgfalt um Berufungen zu bemühen. Es müssen alle jene Bereiche besonders beachtet werden, in denen Berufungen zum Priesteramt und Ordensleben entstehen können, und zwar mit der Gewissheit, dass Jesus auch heute Jünger und Missionare beruft, damit sie bei ihm seien und damit er sie sende, das Reich Gottes zu verkünden. Diese 5. Generalversammlung richtet einen dringenden Appell an alle Christen, insbesondere an die jungen Leute unter ihnen, dass sie sich einem möglichen Anruf Gottes zum Priesteramt oder zum geweihten Leben nicht verschließen mögen. Sie erinnert sie daran, dass der Herr ihnen mit der notwendigen Gnade dabei beistehen wird, entschlossen und großherzig antworten zu können, trotz der Probleme, die eine auf Konsumdenken und Vergnügungssucht ausgerichtete säkularisierte Gesellschaft verursacht. Die Familien bitten wir, es als Segen anzuerkennen, wenn ein Sohn von Gott zum Weiheamt berufen wird, und dann auch seinen Entschluss und seinen Prozess zu unterstützen, wenn er auf die Berufung reagiert. Die Priester ermutigen wir, von einem Leben voller Glück, Freude, Begeisterung und Heiligkeit im Dienst des Herrn Zeugnis zu geben.
316 Die Seminare und Bildungshäuser sind als Schulen und Ausbildungsstätten zweifellos ein privilegierter Ort für die Jünger und Missionare. In der ersten Zeit der Ausbildung leben die Priesteramtskandidaten gemeinsam nach dem Vorbild der Apostelgemeinschaft um Jesus Christus, den Auferstandenen: sie beten gemeinsam, sie feiern gemeinsam die Liturgie, deren Höhepunkt die Eucharistie ist. Auf der Grundlage des Wortes Gottes erhalten sie einen Unterricht, der ihren Verstand hell macht und ihr Herz bildet, damit sie geschwisterliche Liebe und Gerechtigkeit üben. Sie leisten regelmäßig in verschiedenen Gemeinden pastorale Dienste und bereiten sich so darauf vor, eine solide Spiritualität der Gemeinschaft mit Christus, dem Hirten, und eine Spiritualität der Hellhörigkeit für das Wirken des Heiligen Geistes zu leben. Dadurch werden sie auf dem Weg zur Heiligkeit, die dem priesterlichen Dienst eigen ist, zu personalen und attraktiven Zeichen Christi in der Welt.<ref> Vgl. Pastores dabo vobis 60; Optatam totius 4; Kongregation für den Klerus, Direktorium für Dienst und Leben der Priester, 4.</ref>
317 Wir anerkennen die Anstrengungen der für die Ausbildung Verantwortlichen in den Seminaren. Ihr Zeugnis und ihr Können sind bei der Begleitung der Seminaristen entscheidend, damit diese zu einer emotionalen Reife gelangen, die sie befähigt, den priesterlichen Zölibat anzunehmen und mit ihren zum Priesteramt berufenen Brüdern in Gemeinschaft zu leben. In diesem Sinne sind die Kurse, die für die Verantwortlichen der Ausbildung eingerichtet worden sind, ein wichtiges Hilfsmittel für ihre Sendung.<ref> In dieser Angelegenheit haben die Synodenväter die Bischöfe eingeladen, „für diese Aufgabe ihre geeignetsten Priester abzustellen, nachdem sie ihnen eine besondere Ausbildung haben zukommen lassen, die sie zu einer solch anspruchsvollen Aufgabe befähigt“ (Ecclesia in America 40); Kongregation für das katholische Bildungswesen, Ratio fundamentalis institutionalis sacerdotalis (dt.: Grundordnung für die Ausbildung der Priester), 31–36; ID, Anleitungen über die Ausbildung der Verantwortlichen in den Priesterseminaren, 65–71; Optatam totius 5.</ref>
318 Für die Ausbildungspläne in den Seminaren ist gegenwärtig größere Aufmerksamkeit erforderlich, denn die Jugendlichen sind Opfer vieler negativer Einflüsse der postmodernen Gesellschaft, speziell der sozialen Kommunikationsmittel. Sie haben u. a. zur Folge, dass sich die Persönlichkeit aufspaltet; dass man nicht mehr in der Lage ist, verbindliche Verpflichtungen einzugehen; dass die menschliche Reife fehlt und die spirituelle Identität schwach ist. Das alles erschwert den Prozess zur Bildung authentischer Jünger und Missionare. Die Ausbilder und Verantwortlichen müssen daher vor dem Eintritt in das Seminar eine sorgfältige Auswahl unter den jungen Leuten vornehmen, indem sie auf das psychologische Gleichgewicht einer gesunden Persönlichkeit achten, auf eine Motivation, die aus der Liebe zu Christus und zur Kirche entspringt, und gleichzeitig auf eine entsprechende intellektuelle Eignung, die den Anforderungen an den Dienst in der heutigen Zeit entspricht.<ref> Vgl. Codex iuris canonici can. 241, § 1; Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Instruktion über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesteramt und zu den heiligen Weihen.</ref>
319 Das Seminar braucht einen Ausbildungsplan, mit dessen Hilfe die Seminaristen einen wirklich ganzheitlichen Prozess durchlaufen, so dass Jesus Christus, der Gute Hirte, die Mitte bildet und alle menschlichen, geistlichen, intellektuellen und pastoralen Dimensionen berücksichtigt werden. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die Seminaristen in den Ausbildungsjahren wahre Jünger sind und durch das Beten mit dem Wort der Schrift zu einer wirklich persönlichen Begegnung mit Jesus Christus gelangen, damit sie in Freundschaft und Liebe mit Ihm leben lernen. Dadurch wird – besonders während des Propädeutikums – ein authentischer geistlicher Initiationsprozess gewährleistet. Die Spiritualität, die gefördert werden soll, muss der Identität der jeweiligen Berufung entsprechen, sei es für den Dienst in einer Diözese oder in einem Orden.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Rundschreiben über die Einführung der Priesteramtskandidaten in das geistliche Leben, 6. Januar 1980, S. 23; ID, Das Propädeutikum, 1. Mai 1998, S. 14.</ref>
320 Während der gesamten Ausbildung wird man sich um eine innig treue Liebe zu Maria bemühen, so dass jeder Ausbildungskandidat eine spontane familiäre Beziehung zu ihr spürt und sie – wie der Lieblingsjünger – „in sein Haus aufnimmt“. Sie wird den Priestern in schwierigen Augenblicken Kraft und Hoffnung geben und sie ermutigen, zu jeder Zeit missionarische Jünger für das Volk Gottes zu sein.
321 Inmitten einer Kultur, die einer Wegwerfmentalität huldigt und das Provisorische betont, ist der Ausbildung zur menschlichen Reife besondere Aufmerksamkeit zu schenken, damit die Berufung zum Priesteramt in jedem Kandidaten ein stabiles und entschiedenes Lebensprojekt werden kann. Das Gleiche gilt, wenn es um die Hinführung zur Reifung des Gefühls- und Sexuallebens geht. Diese muss zu einem besseren Verständnis der evangeliumsgemäßen Bedeutung der Ehelosigkeit führen. Der Zölibat ist ein mutiger Schritt, der den Priester mit Christus gleichförmig macht, und folglich eine Liebesbeziehung, die aus göttlicher Gnade gleichsam als Hochzeitsgabe des Gottessohnes geschenkt wird. Die Hinführung soll dem Kandidaten auch helfen, diese Gabe entschlossen, selbstlos und mit ganzem Herzen gutzuheißen; sie gelassen und beharrlich mit der gebotenen Askese persönlich und in Gemeinschaft als Hingabe an Gott und die Menschen mit ganzem, ungeteiltem Herzen zu leben.<ref> Vgl. Presbyterorum ordinis 16; Optatam totius 4; Pastores dabo vobis 50; Kongregation für den Klerus, Leitfaden für den Dienst und das Leben der Priester, 5; Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Orientierungen für die Erziehung zum Zölibat, Rom 1974, Nr. 31.</ref>
322 Während des gesamten Ausbildungsprozesses sollen die Atmosphäre im Seminar und die dort angewandte Pädagogik ein Klima gesunder Freiheit und persönlicher Verantwortlichkeit schaffen, damit es nicht zu einem künstlichen Klima oder zu erzwungenen Lebensplänen kommt. Die Option des Kandidaten für das Leben im priesterlichen Dienst muss reifen und sich auf wahre, authentische, freie und ganz persönliche Motivationen stützen. Darauf ist auch die Disziplin in den Ausbildungshäusern ausgerichtet. Die Erfahrungen in der Pastoral, die den Ausbildungsprozess begleiten und die kritisch geprüft werden, sind außerordentlich wichtig, um im Kandidaten die Authentizität der Motivationen zu stärken und ihm zu helfen, das Amt als einen wahren und großherzigen Dienst zu verstehen, in dem Sein und Handeln, geweihte Person und Dienst untrennbar miteinander verbunden sind.
323 Gleichzeitig muss das Seminar eine intellektuell seriöse, umfassende Bildung auf den Gebieten der Philosophie, der Humanwissenschaften und speziell der Theologie und der Missionskunde vermitteln, damit der zukünftige Priester lernt, den Glauben unversehrt zu verkünden, und zwar einerseits in Treue zum Lehramt der Kirche und andererseits in kritischer Aufmerksamkeit gegenüber dem kulturellen Kontext, den großen Geistesströmungen und den Verhaltenstendenzen unserer Zeit, da er sie evangelisieren soll. Ebenso muss das Studium des Wortes Gottes auf die akademischen Pläne der verschiedenen Ausbildungsbereiche ausgeweitet werden, um zu erreichen, dass das Wort Gottes nicht nur auf Begriffe reduziert wird, sondern als Geist und Leben wirklich die gesamte Existenz erleuchtet und nährt. Daher ist es notwendig, dass jedes Seminar über eine genügend große Anzahl von gut ausgebildeten Lehrern verfügt.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Ratio funda- mentalis, 32, 36–37.</ref>
324 Der zukünftige Priester muss in der Lage sein, die Anforderungen, die das Gemeinschaftsleben stellt, zu erfüllen. Dazu gehören Dialog, Dienstbereitschaft, Bescheidenheit, Achtung fremder Charismen, Bereitschaft, sich von den anderen anfragen zu lassen, Gehorsam gegenüber dem Bischof und die Offenheit, zusammen mit den Priestern, Diakonen, Ordensleuten und Laien immer missionarischer zu werden, um so der Einheit in der Verschiedenheit zu dienen. Die Kirche braucht Priester und Ordensleute, die stets in dem Bewusstsein leben, nur gemeinschaftlich Jünger sein zu können.
325 Die jungen Menschen, die aus armen Familien oder aus indigenen Gruppen kommen, brauchen eine inkulturierte Ausbildung, also eine angemessene theologisch-spirituelle Ausbildung für ihren zukünftigen Dienst, ohne dass sie dabei ihre Wurzeln verlieren. So können sie ihren Völkern und Kulturen bei der Evangelisierung sehr nahe sein.<ref> Vgl. Ecclesia in America 40; Redemptoris missio 54; Pastores dabo vobis 32; Kongregation für den Klerus, Leitfaden, Nr. 15.</ref>
326 Es ist wichtig, dass die im Priesterseminar begonnene Ausbildung und der ständige Ausbildungsprozess, der die verschiedenen Lebensabschnitte des Priesters begleitet, einander ergänzen. Es muss daran erinnert werden, dass die Ausbildung eines Priesters erst mit dem Tod endet. Die ständige Weiterbildung „nimmt zunächst und vor allem die jungen Priester in die Pflicht: Sie bedarf einer Häufigkeit und Regelmäßigkeit von entsprechenden Veranstaltungen, die die jungen Priester – während diese die Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der im Seminar genossenen Ausbildung beibehalten – fortschreitend dazu führt, den einzigartigen Reichtum der ,Gabe‘ Gottes, nämlich des Priestertums, zu verstehen und im Leben zu verwirklichen und ihren auf den Dienst ausgerichteten Möglichkeiten und Einstellungen Ausdruck zu verleihen. Dazu gehört auch eine immer überzeugendere und verantwortlichere Einfügung in das Presbyterium und somit in die Gemeinschaft und Mitverantwortung mit allen Mitbrüdern.“<ref> Pastores dabo vobis 76.</ref> Dazu braucht es gut ausgearbeitete und regelmäßig evaluierte Projekte auf diözesaner Ebene.
327 Die Ausbildungshäuser und Bildungszentren der Orden sind ebenfalls privilegierte Orte der Jüngerschaft und der Ausbildung von Missionarinnen und Missionaren entsprechend dem Charisma des jeweiligen Ordensinstituts.
Die katholische Ausbildung
328 Das Bildungswesen befindet sich in Lateinamerika und der Karibik in einer besonders prekären Lage. In der Tat sind die neuen Bildungsreformen auf unserem Kontinent, die zum Ziel hatten, auf die durch die globalen Veränderungen hervorgerufenen neuen Herausforderungen zu reagieren, offenbar in erster Linie darauf ausgerichtet, Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Sie folgen eindeutig einem anthropologischen Reduktionismus, da sie die Bildung vorwiegend im Dienst von Produktion, Wettbewerbsfähigkeit und Markt begreifen. Vielfach greifen sie auch auf solche Faktoren zurück, die im Widerspruch zum Leben, zur Familie und zu einer gesunden Sexualität stehen. Das wiederum hat zur Folge, dass sich in den jungen Menschen weder ihre besten Anlagen noch ihr religiöser Geist entfalten können. Die Reformen zeigen ihnen auch keine Wege zur Überwindung von Gewalt oder zu einem glücklichen Leben.
Sie helfen ihnen nicht einmal, ein einfaches Leben zu führen, geschweige denn solche Haltungen, Tugenden und Bräuche zu erwerben, durch die sie eine stabile Familie gründen sowie am Frieden und an der Zukunft der Gesellschaft solidarisch mitarbeiten können.<ref> Vgl. Familiaris consortio 36–38; Johannes Paul II., Brief an die Familien vom 2. Februar 1994, 13; Päpstlicher Rat für die Familie, Charta der Familienrechte, 22. Oktober 1983, Art. 5c; Päpstlicher Rat für die Familie, Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Orientierungen für die Erziehung in der Familie, 8. Dezember 1995.</ref>
329 Um eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern und eine gute Ausbildung zu fördern, auf die ausnahmslos alle Schüler und Schülerinnen unserer Völker ein Recht haben, ist es in dieser Situation notwendig, auf einem authentischen Erziehungsziel für alle Schulen zu bestehen. Die Schule muss durch die systematische und kritische Aneignung der Kultur in erster Linie zu einem privilegierten Ort ganzheitlicher Bildung und Förderung werden. Dies wird ihr vor allem durch eine intensive und lebendige Begegnung mit dem kulturellen Erbe gelingen. Eine solche Begegnung muss jedoch durch die Schule erarbeitet werden, indem sie sich mit den überlieferten Werten auseinandersetzt und diese in den heutigen Kontext überträgt. In der Tat, damit die Kultur erzieherisch wirken kann, muss sie in die Probleme der Zeit, in der sich das Leben der jungen Menschen abspielt, einbezogen werden. Daher dürfen die verschiedenen Disziplinen nicht nur Wissen darlegen, das es zu erwerben gilt, sondern müssen Werte vermitteln, die es anzunehmen, und Wahrheiten, die es zu entdecken gilt.
330 Es gehört zur Bildungsaufgabe der Schule als Erziehungseinrichtung, den sittlich-religiösen Bereich der Kultur hervorzuheben, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, die geistige Dynamik des jungen Menschen zu wecken und ihm zu helfen, die sittliche Freiheit zu erlangen, die die psychologische voraussetzt und vervollkommnet. Aber niemand erwirbt sittliche Freiheit, der sich nicht an die absoluten Werte hält, von denen Sinn und Wert des Menschenlebens abhängen. Diese Tatsache wird deshalb erwähnt, weil auch im Erziehungsbereich der Hang sichtbar wird, die Tagesmeinungen als Wertmaßstab zu übernehmen. Auf diese Weise läuft man Gefahr, flüchtigen und oberflächlichen Bestrebungen zu dienen und die tiefer greifenden Strömungen zu übersehen (Kongregation für das Katholische Bildungswesen: Die Katholische Schule, 30). „Die Erziehung humanisiert und personalisiert den Menschen, wenn sie es zustande bringt, dass dieser sein Denken und seine Freiheit zur vollen Entwicklung bringt, so dass er zu einem Verhalten gelangt, das vom Verständnis der Gemeinschaft mit der gesamten realen Ordnung erfüllt ist. Durch dieses Verhalten humanisiert der Mensch selbst seine Welt, bringt Kultur hervor, verändert die Gesellschaft und gestaltet die Geschichte“.<ref> Puebla 1025.</ref>
Die katholischen Ausbildungsstätten
331 Die vorrangige Aufgabe der Kirche ist es, das Evangelium so zu verkünden, dass sowohl für den einzelnen Menschen wie auch für den kulturell-gesellschaftlichen Kontext, in dem die Menschen leben, handeln und zueinander in Kontakt treten, Glauben und Leben eng miteinander verbunden sind. Die Kirche will erreichen, dass „durch die Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die bestimmenden Werte, die Interessenpunkte, die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration und die Lebensmodelle der Menschheit, die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz stehen, umgewandelt werden“.<ref> Evangelii nuntiandi 19.</ref>
332 Wenn wir von einer christlichen Erziehung sprechen, meinen wir, dass der Lehrer hin zu einem Projekt des Menschen erzieht, in dem Jesus Christus mit der transformatorischen Kraft seines neuen Lebens wohnt. Es gibt viele Aspekte, unter denen man erzieht und aus denen das Erziehungsprojekt des Menschen besteht. Es gibt viele Werte, aber diese Werte stehen nie allein, stets bilden sie explizit oder implizit ein geordnetes Gebilde. Wenn diese Ordnung Christus zum Fundament und Ziel hat, dann vereint diese Erziehung alles in Christus und ist eine wahrhaft christliche Erziehung; wenn nicht, kann sie zwar von Christus sprechen, doch sie ist nicht christlich.<ref> Vgl. Santo Domingo 265.</ref>
333 Auf diese Weise durchdringen sich beide Aspekte gegenseitig. Das bedeutet, jede Verkündigung des Evangeliums muss erleuchtend wirken, Mut und Hoffnung spenden und zu angemessenen Lösungen für die Probleme der Menschen inspirieren; andererseits kann die Förderung des Menschen nur dann wahrhaftig umfassend sein, wenn sie den Menschen für Gott öffnet und mit Jesus Christus vertraut macht.<ref> Vgl. Iuvenum Patris, Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. zum hundertsten Todestag des hl. Don Bosco, 10.</ref>
334 Die Kirche ist aufgerufen, in ihren Schulen eine Erziehung zu fördern, deren Mittelpunkt der Mensch ist, der sich in die Gemeinschaft einfügt und seinen Teil zum Gemeinwohl beiträgt. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, muss die Kirche darauf dringen, dass alle, insbesondere die Ärmsten eine qualitätsvolle formelle und informelle Erziehung erhalten. Die Erziehung soll die Kinder, die Jugendlichen und die Erwachsenen mit den kulturellen Werten ihres Landes vertraut machen, indem sie die in den Werten enthaltene transzendent-religiöse Dimension entdecken und integrieren hilft. Dazu brauchen wir eine Pastoral dynamischer Erziehung. Sie soll die Ausbildungsprozesse begleiten und sich gleichzeitig dafür einsetzen, dass die Unabhängigkeit der Erziehung gegenüber dem Staat gewahrt bleibt und dass das Recht auf eine gute Ausbildung – auch der Ärmsten – gewährleistet wird.
335 Auf diese Weise können wir den Beweis antreten, dass Christus – der vollkommene Mensch, in dem alle menschlichen Werte ihre Erfüllung und daher ihre Einheit finden, das Fundament des Bildungsprojekts der katholischen Schule darstellt. Christus offenbart und entfaltet den neuen Sinn des Daseins und wandelt das Leben um, indem er Mann und Frau fähig macht, auf göttliche Weise zu leben, das heißt, im Geist des Evangeliums zu denken, zu wollen und zu handeln und die Seligpreisungen zur Richtschnur des eigenen Lebens zu machen. Die Schule ist gerade dadurch „katholisch“, dass alle Mitglieder der Schulgemeinschaft – wenn auch in verschiedenen Ausmaßen und unter Respektierung der Gewissens- und Religionsfreiheit der in ihr befindlichen Nichtchristen – ausdrücklich und gemeinsam an der christlichen Sichtweise teilhaben, so dass die Grundsätze des Evangeliums zu ihren Erziehungsregeln, ihrem inneren Handlungsantrieb und zu ihrem Endzweck werden. Das ist der spezifisch katholische Charakter des Bildungswesens. Jesus Christus erhöht und adelt den Menschen, wertet sein Dasein auf und bildet das vollkommene Vorbild für sein Leben. Das ist die beste Nachricht, die den jungen Menschen durch die katholischen Bildungseinrichtungen übermittelt werden kann.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Die katholische Schule, Nr. 34.</ref>
336 Daher ist es das Ziel der katholischen Schule, die Kinder und Jugendlichen zur Begegnung mit dem lebendigen Jesus Christus zu führen, dem Sohn des Vaters, Bruder und Freund, dem Meister und barmherzigen Hirten, Hoffnung, Weg, Wahrheit und Leben, und sie dadurch den Bund erfahren zu lassen, den Gott mit den Menschen geschlossen hat. Die katholische Schule arbeitet mit am Aufbau der Persönlichkeit der Schüler und rückt Christus in den Mittelpunkt des Denkens und Lebens. Ein solcher Orientierungspunkt, immer mehr bewusst und immer stärker verinnerlicht, wird dem Schüler helfen, die Geschichte zu sehen, wie Christus sie sieht, das Leben zu beurteilen, wie er es tut, zu entscheiden und zu lieben wie er, die Hoffnung zu bewahren, wie er es uns lehrt, sowie in ihm die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Heiligen Geist zu leben. Da diese Verbundenheit auf geheimnisvolle Weise Früchte trägt, entwickelt die Persönlichkeit sich als existentielle Gesamtheit, das heißt sie übernimmt Verantwortung und strebt nach dem tiefsten Sinn ihres Lebens. Eingebettet in die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, gelingt es ihr, in Freiheit intensiv den Glauben zu leben, ihn zu verkünden und in der täglichen Realität mit Freude zu feiern. Daraus ergeben sich und reifen wie von selbst Verhaltensweisen, die dahin drängen, sich aufrichtig der Wahrheit zu öffnen, den Menschen mit Respekt und Liebe zugetan zu sein sowie der eigenen Freiheit dadurch Ausdruck zu verleihen, dass man sich selbst verschenkt und in den Dienst der anderen stellt, um die Gesellschaft zu verwandeln.
337 An die katholische Schule ergeht der Appell, sich grundlegend zu erneuern. Durch einen mutigen und entschlossenen missionarischen Impuls müssen wir die katholische Identität unserer Bildungszentren zurückgewinnen, damit sie zu einer prophetischen Option wird, die sich durch eine Pastoral partizipativer Bildung herausbildet. Bildungspläne müssen ihr Fundament in Christus haben, kirchlich und kulturell identifiziert sowie akademisch hoch qualifiziert sein und eine ganzheitliche Entfaltung der menschlichen Person im Sinne haben. Außerdem müssen sie die Solidarität und Liebe zu den Ärmsten lehren. Zu den vorrangigen Aufgaben der Bildungspastoral gehören die Begleitung der Bildungsprozesse, die Beteiligung der Eltern an diesen Prozessen und die Weiterbildung des Lehrpersonals.
338 Wir empfehlen, dass in den katholischen Institutionen die Ausbildung im Glauben ganzheitlich das gesamte Curriculum durchzieht, dass sie stets die Begegnung mit Christus und das Leben als seine Jünger und Missionare zum Ziel hat und dass die christliche Initiation ein wichtiger Bestandteil wird. Ebenso empfehlen wir, dass die gesamte Erziehergemeinschaft (Leitung, Lehrpersonal, Verwaltungspersonal, Schüler, Eltern usw.) als wahrhaft kirchliche Gemeinschaft und als Zentrum für Evangelisierung die Rolle übernimmt, in allen Entwicklungsstufen Jünger und Missionare heranzubilden. Von hier aus soll sie in Gemeinschaft mit der christlichen Gemeinde, zu der sie gehört, einen pastoralen Dienst für ihren Bereich übernehmen, ganz besonders für die Jugendlichen, aber auch für die Familie, die Katechese und die menschliche Entwicklung der Ärmsten. Diese Ziele sind bei der Aufnahme von Schülern und beim Kontakt zu ihren Familien sowie bei der Einstellung des Lehrpersonals besonders zu berücksichtigen.
339 Ein unverzichtbares Prinzip für die Kirche ist die Freiheit der Erziehung. Die uneingeschränkte Ausübung des Rechts auf Erziehung fordert als Bedingung für eine authentische Realisierung die volle Freiheit jedes Menschen, für die eigenen Kinder eine Ausbildung zu wählen, die den eigenen unverzichtbaren Werten am meisten entspricht. Da die Eltern den Kindern das Leben gegeben haben, steht es auch in ihrer Verantwortung, sie unter günstigen Bedingungen aufwachsen zu lassen, und sie haben die ernste Verpflichtung, für ihre Ausbildung zu sorgen. Die Gesellschaft muss die Eltern als die Haupterziehenden respektieren. Die Verpflichtung zur Erziehung in der Familie als der ersten Schule sozialen Verhaltens ist von so großer Bedeutung, dass sie nur sehr schwer ersetzbar ist. Das ist ein unverzichtbarer Grundsatz.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Charta der Familienrechte, 22. Oktober 1983, Art. 3c.</ref>
340 Dieses nicht übertragbare Recht, das zugleich eine Verpflichtung bedeutet und die Freiheit der Familie in der Frage der Erziehung zum Ausdruck bringt, muss wegen seiner Bedeutung und Reichweite vom Staat entschlossen garantiert werden. Der staatlichen Macht obliegt es, die Freiheiten der Bürger zu schützen und zu verteidigen. Deshalb muss sie unter Beachtung der Verteilungsgerechtigkeit die öffentlichen Mittel, die aus den Steuergeldern aller Bürger hervorgehen, so verteilen, dass alle Eltern, ungeachtet ihrer sozialen Verhältnisse, ihrem Gewissen entsprechend aus einer Vielzahl von Bildungseinrichtungen die für ihre Kinder geeignete Schule auswählen können. Dies ist ein fundamentaler Wert und ein Bürgerrecht, auf denen die staatliche Finanzierung des Schulwesens basiert. Daher darf kein Bildungssektor, ja nicht einmal der Staat selbst, die Befugnis erhalten, ausschließlich für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, für die Erziehung der Ärmsten verantwortlich zu sein, ohne damit wichtige Rechte zu missachten. Auf diese Weise werden Grundrechte des Menschen, das friedliche Zusammenleben und der Fortschritt für alle gefördert.
Die Universitäten und höheren katholischen Bildungseinrichtungen
341 Jede katholische Universität leistet ihrem eigenen Wesen gemäß der Kirche eine große Hilfe beim Werk der Evangelisierung. Es handelt sich um ein lebendiges Zeugnis auf institutioneller Ebene, das Christus und seiner Botschaft geleistet wird und das so notwendig ist in den durch den Säkularismus geprägten Kulturen. Die wichtigen Aktivitäten einer katholischen Universität werden harmonisch mit dem Evangelisierungsauftrag der Kirche verbunden: Forschung, im Licht der christlichen Botschaft, welche die neuen Entdeckungen der Menschheit in den Dienst der Menschen und der Gesellschaft stellt; Bildung im Kontext des Glaubens, welche die Menschen zu vernünftigem und kritischem Urteil fähig macht und sie der hohen Würde der menschlichen Person bewusst werden lässt; Berufsausbildung, welche die ethischen Werte und die Bereitschaft zum Dienst an den einzelnen Menschen und an der Gesellschaft mit einbezieht; Dialog mit der Kultur, der zu einem besseren Verständnis des Glaubens führt; theologische Forschung, welche hilft, den Glauben in neuer Sprache auszudrücken. Gerade weil sich die Kirche immer mehr ihrer Heilssendung für die gesamte Welt bewusst wird, möchte sie mit diesen Einrichtungen in enger Verbindung stehen, denn bei der Verbreitung der wahren Botschaft Jesu Christi sollen sie präsent sein und wirksam mitarbeiten.<ref> Vgl. Ex corde ecclesiae 49.</ref>
342 Die katholischen Universitäten müssen folglich ihrem eigenen christlichen Charakter treu bleiben, weil das Evangelium ihnen Verantwortlichkeiten abverlangt, zu denen andere Institutionen nicht verpflichtet sind. Zu diesen Verantwortlichkeiten gehören vor allem der Dialog zwischen Glaube und Vernunft sowie der Dialog zwischen Glaube und Kultur; die Ausbildung von Lehrpersonal, Schülern und Verwaltungspersonal in der Sozial- und Morallehre der Kirche, damit sie einerseits befähigt werden, solidarisch für die Menschenwürde einzutreten und mit der Gemeinschaft solidarisch zu sein, aber andererseits auch prophetisch auf das Neue aufmerksam machen können, das durch das Christentum im Leben der lateinamerikanischen und karibischen Gesellschaften erfahrbar wurde. Dafür ist es unverzichtbar, dass sich die Hauptverantwortlichen für Forschung und Lehre menschlich, akademisch und christlich profilieren. (343) Wir brauchen eine Universitätspastoral, die das Leben und den Weg aller Angehörigen der Universitätsgemeinschaft begleitet, sie zu einer persönlich-engagierten Begegnung mit Jesus Christus führt und zu vielseitigen solidarisch-missionarischen Initiativen anregt. Die Universitätspastoral sollte sich auch um den Kontakt und Dialog mit Angehörigen anderer staatlicher Universitäten und Studieneinrichtungen kümmern.
344 Wir haben bemerkt, dass in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika und der Karibik verschiedene Institute für Pastoral und Theologie entstanden sind, in denen pastorale Mitarbeiter sich weiterbilden und ihr Wissen auf den neuesten Stand bringen können. Damit sind Räume für Dialog und Diskussion entstanden, und man kann hier nach Antworten auf die enormen Herausforderungen suchen, denen die Evangelisierung in unserem Kontinent gegenübersteht. Ebenso konnten unzählige Verantwortliche für den Dienst in den Ortskirchen ausgebildet werden.
345 Wir bitten darum, die nach dem Konzil in Lateinamerika und der Karibik entstandene reichhaltige Reflexion zu würdigen, aber auch die philosophische, theologische und pastorale Reflexion in unseren Kirchen, ihren Ausbildungs- und Forschungszentren wertzuschätzen, um unsere eigene Identität zu stärken, unsere pastorale Kreativität weiterzuentwickeln und das, was für uns richtig und wichtig ist, zu erweitern und zu vertiefen. In Theologie und Pastoral müssen sich Forschung und Studium stärker den Herausforderungen stellen, die von der neuen gesellschaftlich-pluralen, differenzierter gewordenen und globalisierten Realität ausgehen, um nach neuen Antworten zu suchen, die für den Glauben und die Jüngerschaft der Mitarbeitenden in der Pastoral eine Unterstützung darstellen. Wir schlagen vor, die Dienste der pastoral-theologischen Ausbildungsinstitute mehr zu nutzen, indem sie stärker den Dialog miteinander suchen und gemeinsam der Ausbildung von Frauen und Männern aus dem Laienstand mehr Mittel und Angebote zur Verfügung stellen.
346 Die 5. Generalversammlung ist den verschiedenen katholischen Bildungsinstitutionen sehr dankbar für ihre unschätzbaren Dienste, die sie für die Förderung des Menschen und die Evangelisierung der neuen Generationen leisten, wie auch für ihren Beitrag zur Kultur unserer Völker. Sie ermutigt alle Diözesen, Ordens-Kongregationen und Organisationen der katholischen Laien, die Schulen, Universitäten und Institute für höhere Bildung sowie für informelle Weiterbildung unterhalten, ihre selbstlose und unersetzbare apostolische Mission mit nicht ermüdender Kraft weiterzuführen.
Dritter Teil: Das Leben Jesu Christi für unsere Völker
Die Sendung der Jünger im Dienst an der Fülle des Lebens
347 „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ‚missionarisch’ (d. h. als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters.“<ref> Ad gentes 2.</ref> Deshalb folgt der Impuls zur Mission notwendig aus dem Leben, das die Heilige Dreifaltigkeit den Jüngern mitteilt.
Das neue Leben in Christus erfahren und unseren Völkern mitteilen
348 Die Kirche verkündet der Welt die große Neuigkeit, dass Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, Gottes Wort und Gottes Leben, in die Welt kam, um uns „an der göttlichen Natur Anteil“ (2 Petr 1,4) zu geben, um uns an seinem eigenen Leben teilhaben zu lassen, am dreifaltigen Leben von Vater, Sohn und Heiligem Geist, am ewigen Leben. Seine Sendung besteht darin, die unendliche Liebe des Vaters zu offenbaren, der will, dass wir seine Kinder sind. Die Verkündigung des kerygma lädt dazu ein, uns dieser lebendig machenden Liebe Gottes, die der getötete und auferweckte Christus uns schenkt, bewusst zu werden. Zuallererst müssen wir dieses kerygma hören und verkündigen, weil die Gnade im Leben des Christen und in der gesamten Evangelisierungstätigkeit der Kirche absoluten Vorrang hat: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,10).
349 Der Ruf Jesu im Heiligen Geist und die Verkündigung der Kirche appellieren stets an unsere vom Glauben geleitete, vertrauensvolle Zustimmung. „Wer an mich glaubt, hat das ewige Leben“. Die Taufe reinigt nicht nur von den Sünden. Sie lässt den Getauften wiedergeboren werden und übermittelt ihm das neue Leben in Christus, das ihn in die Gemeinschaft der Jünger und Missionare, in die Kirche, eingliedert und ihn zum Kind Gottes macht, so dass er Christus als Erstgeborenen und Haupt der ganzen Menschheit anerkennen kann. Geschwister sein heißt geschwisterlich leben und stets aufmerksam für die Not der Schwächsten sein.
350 Unsere Völker wollen nicht im Schatten des Todes wandeln. Sie dürsten nach Leben und Glück in Christus. Sie suchen ihn als Quelle des Lebens. Sie sehnen sich nach dem neuen Leben in Gott, in das der Jünger des Herrn durch die Taufe hineingeboren und durch das Sakrament der Versöhnung wiedergeboren wird. Sie suchen das Leben, das gefestigt wird, wenn der Geist Jesu es besiegelt und wenn der Jünger sein Liebesbündnis in Christus mit dem Vater und mit den Geschwistern durch jede Eucharistiefeier erneuert. Wer das Wort des ewigen Lebens in sich aufnimmt und sich von dem Brot nährt, das vom Himmel herabgekommen ist, will die Liebe in Fülle leben und alle zur Begegnung mit jenem hinführen, der Weg, Wahrheit und Leben ist.
351 Aber bei der Ausübung unserer Freiheit verweigern wir uns manchmal (vgl. Joh 5,40) dem neuen Leben bzw. bleiben nicht auf dem Weg (vgl. Hebr 3,12–14). Mit der Sünde entscheiden wir uns für den Weg des Todes. Deshalb ruft uns die Verkündigung Jesu Christi stets zu der Umkehr, durch die wir am Sieg des Auferstandenen Anteil haben und uns auf den Weg der Erneuerung begeben.
352 Von allen, die in Christus leben, erwartet man ein besonders glaubwürdiges Zeugnis der Heiligkeit und Verantwortung. Wenn wir uns nach solcher Heiligkeit sehnen und uns um sie bemühen, leben wir nicht schlechter, sondern besser; denn sobald Gott von uns mehr verlangt, gibt er uns noch viel mehr: „Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles.“<ref> Benedikt XVI., Predigt zur Amtseinführung, 24. April 2005.</ref>
Jesus im Dienst am Leben
353 Jesus, der Gute Hirt, will uns an seinem Leben teilhaben lassen und dem Leben dienen. Das erkennen wir, wenn er sich dem Blinden am Rande des Weges nähert (vgl. Mk 10,46–52), wenn er die Würde der Samariterin achtet (vgl. Joh 4,7–56), wenn er Kranke heilt (vgl. Mt 11,2–6), wenn er das hungernde Volk sättigt (vgl. Mk 6,30–44), wenn er die Besessenen befreit (vgl. Mk 5,1–20). Jesus lädt alle in sein Reich des Lebens ein: er isst und trinkt mit den Sündern (vgl. Mk 2,16), ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihn einen Fresser und Säufer nennen (Mt 11,19); er berührt die Aussätzigen (vgl. Lk 5,13), lässt zu, dass eine Prostituierte seine Füße salbt (vgl. Lk 7,36–50) und empfängt Nikodemus bei Nacht, um ihn zu bewegen, neu geboren zu werden (vgl. Joh 3,1–15). Ebenso fordert er seine Jünger zur Versöhnung auf (vgl. Mt 5,24), zur Feindesliebe (vgl. Mt 5,44) und zur Option für die Armen (vgl. Lk 14,15– 34).
354 Durch sein Wort und durch alle Sakramente bietet Jesus uns Nahrung für den Weg an. Die Eucharistie ist die Lebensmitte des Universums, sie kann den Hunger nach Leben und Glück stillen: „Jeder, der mich isst, [wird] durch mich leben“ (Joh 6,57). Durch dieses froh machende Festmahl haben wir Anteil am ewigen Leben, und unser alltägliches Leben wird zu einer Fortsetzung der Messe. Doch nur wenn die Gaben Gottes bereitwillig angenommen werden, können sie Veränderungen bewirken. Sie verlangen insbesondere von uns den Geist der Gemeinschaft und offene Augen, damit wir Christus in den Ärmsten erkennen und ihm in ihnen dienen: „Im Geringsten begegnen wir Jesus selbst.“<ref> Deus caritas est 15.</ref> Deshalb mahnte der heilige Johannes Chrysostomus: „Willst du also Christi Leib ehren? Geh nicht an ihm vorüber, wenn du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht hier mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn kümmerst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht!“<ref> Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Matthäusevangelium, 50. Homilie, 3 f., in: Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 23.</ref>
Verschiedene Dimensionen des Lebens in Christus
355 Jesus Christus ist die Fülle des Lebens, der um seiner Verherrlichung willen die Grundbedingung menschlichen Lebens („conditio humana“) auf die Ebene der Grundbedingung göttlichen Lebens („conditio divina“) erhebt. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Die Freundschaft mit ihm steht nicht im Widerspruch zu unserer Sehnsucht nach der Fülle des Lebens, denn er hat es gern, wenn wir schon auf der Erde glücklich sind. Der Herr sagt, dass er uns „reichlich gibt, was wir brauchen“ (1 Tim 6,17).
356 Das neue Leben in Jesus Christus erfasst den ganzen Menschen und entfaltet „auch voll das menschliche Dasein in seiner persönlichen, familiären, sozialen und kulturellen Dimension“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4. </ref> Dazu muss man sich auf einen Wandlungsprozess einlassen, der die verschiedenartigen Aspekte des Lebens selbst umgestalten wird. Nur so lässt sich erfassen, dass Jesus Christus unser Erlöser im wahrsten Sinn des Wortes ist. Nur so können wir nach außen kundtun, dass das Leben in Christus uns heil macht, ertüchtigt und humanisiert. Denn „Er ist der Lebendige, der an unserer Seite geht, uns den Sinn der Ereignisse, des Schmerzes und des Todes, der Freude und des Festes enthüllt“.<ref> Ebd.</ref> Leben in Christus bedeutet, froh zu sein beim gemeinsamen Mahl, begeistert zu sein über einen Erfolg, Vergnügen zu haben an Arbeit und am Lernen, Freude zu verspüren beim Dienst an allen, die uns brauchen, und das Erleben der Natur, begeistert an gemeinsamen Projekten zu wirken, Lust zu erfahren an der Sexualität in Übereinstimmung mit dem Evangelium, alle Dinge wahrzunehmen, durch die der Vater uns seine aufrichtige Liebe erweist. In den beglückenden Erfahrungen unseres endlichen Daseins können wir dem Herrn begegnen, und daraus wird aufrichtige Dankbarkeit entstehen.
357 Aber der hedonistische und individualistische Konsumismus, der das menschliche Leben als Streben nach unmittelbarer unbeschränkter Lust begreift, verdunkelt den Sinn und degradiert das Leben. Die von Christus geschenkte Vitalität drängt uns dazu, unseren Horizont zu weiten und anzuerkennen, dass wir in tiefere Dimensionen unseres Daseins vordringen, wenn wir täglich das Kreuz auf uns nehmen. Der Herr, der uns anregt, die Dinge wertzuschätzen und uns zu entfalten, beugt auch unserem Akkumulationstrieb vor: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde“ (Mt 6,19). „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?“ (Mt 16,26). Jesus Christus gibt uns viel, ja sogar mehr als wir erwarten. Der Samariterin gibt er mehr als Wasser aus dem Brunnen; der hungrigen Menschenmenge gibt er mehr als Sattheit. Er gibt sich ihnen selbst als Leben in Fülle. Das neue Leben in Christus bedeutet Teilhabe an der Liebe des einen und dreifaltigen Gottes. Es beginnt mit der Taufe und gelangt bei der Auferstehung am Ende zu seiner Fülle.
Im Dienst an der Fülle des Lebens für alle
358 Aber die Lebensumstände, durch die viele Menschen missachtet, ausgeschlossen, ihrem Leid und Elend überlassen bleiben, widersprechen diesem Projekt des Vaters und drängen die Gläubigen, sich stärker zugunsten der Kultur des Lebens zu engagieren. Das Reich des Lebens, das Christus uns durch sein Kommen bringen wollte, ist mit diesen unmenschlichen Lebensumständen nicht zu vereinbaren. Wenn wir versuchen, vor diesen Realitäten die Augen zu verschließen, begeben wir uns auf den Weg des Todes, statt für das Reich des Lebens einzutreten: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14). Wir müssen „die unlösliche Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe“<ref> Deus caritas est 16.</ref> unterstreichen. Sie „fordert alle auf, die schwerwiegenden sozialen Ungleichheiten und die enormen Unterschiede beim Zugang zu den Gütern zu beseitigen“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> Sowohl die Sorge um die Schaffung gerechterer Strukturen als auch das Bemühen um die Weitergabe der sozialen Werte des Evangeliums gehören in diesen Kontext geschwisterlichen Dienstes für ein Leben in Würde.
359 So entdecken wir ein Grundgesetz der Wirklichkeit: Das Leben kann nur durch ein gerechtes geschwisterliches Zusammenleben zur Fülle finden. Denn „Gott erlöst durch Christus nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen“.<ref> Kompendium der Soziallehre der Kirche 52.</ref> Angesichts der Tatsache, dass die geschwisterlichen Beziehungen vielfach zerstört sind, ist es dringend notwendig, dass sich der katholische Glaube unserer Völker in Lateinamerika und der Karibik in einem Leben in Würde für alle Menschen kundtut. Das gehaltvolle Lehramt der Kirche zu sozialen Fragen weist uns darauf hin, dass wir die Verheißung des Lebens in Christus nur erfassen können, wenn wir uns auf die Dynamik von ganzheitlicher Befreiung, Humanisierung, Versöhnung und Eingliederung in die Gesellschaft einlassen.
Sendung zur Weitergabe des Lebens
360 Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt; es verkümmert, wenn man sich isoliert und es sich bequem macht. In der Tat, die größte Freude am Leben erfahren jene, die sich nicht um jeden Preis absichern, sondern sich vielmehr leidenschaftlich dazu gesandt wissen, anderen Leben zu geben. Durch das Evangelium können wir entdecken, dass eine krankhafte Sorge um das eigene Leben die Qualität menschlichen und christlichen Lebens untergräbt. Man lebt viel besser, wenn man die innere Freiheit besitzt, alles hinzugeben: „Wer an seinem Leben hängt, verliert es“ (Joh 12,25). Hier entdecken wir ein weiteres Grundgesetz der Wirklichkeit: Das Leben wird reifer und reicher, je mehr man es hingibt, um anderen Leben zu geben. Darin besteht letztendlich die Mission.
361 Das Projekt Jesu zielt darauf, das Reich seines Vaters zu errichten. Deshalb bittet er seine Jünger: „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe“ (Mt 10,7). Es geht um das Reich des Lebens. Denn Jesu Vorschlag für unsere Völker, der Grundgedanke der Mission, ist die Verheißung eines Lebens in Fülle für alle. Deshalb müssen die kirchliche Lehre, alle Normen, ethischen Orientierungen und jede Missionstätigkeit der Kirche erkennbar machen, dass dieses attraktive Versprechen eines Lebens voller Würde in Christus jedem Mann und jeder Frau in Lateinamerika und in der Karibik gilt.
362 Wir verpflichten uns, eine große Mission im ganzen Kontinent durchzuführen. Sie wird uns abverlangen, alles, was wir denken und was uns bewegt, tiefer zu erfassen und einfallsreicher darzulegen, damit jeder Gläubige zu einem missionarischen Jünger werden kann. Wir müssen die missionarische Dimension des Lebens in Christus besser entfalten. Durch die Kirche muss ein Ruck gehen, damit sie nicht mehr aus Bequemlichkeit, Apathie und Lethargie das Leid der Armen auf dem Kontinent unbeachtet lässt. Jede christliche Gemeinde muss zu einem machtvoll ausstrahlenden Zentrum des Lebens in Christus werden. Wir setzen auf ein neues Pfingsten, das uns aus Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Anbiederung an die Umgebung befreit. Wir erwarten, dass das Kommen des Heiligen Geistes Freude und Hoffnung in uns erneuert. Deshalb brauchen wir dringend einladende Räume für das gemeinsame Gebet, in denen wir das Feuer einer unbezähmbaren Leidenschaft nähren und ein beredtes Zeugnis der Einheit ablegen können, „damit die Welt glaube“ (Joh 17,21).
363 Wir werden das Leben kraftvoll verkündigen können, wenn wir es in der entsprechenden Weise tun, mit der Haltung des Meisters, und die Eucharistiefeier stets als Quelle und Höhepunkt jeglicher Missionstätigkeit betrachten. Wir bitten den Heiligen Geist, uns beizustehen, damit wir den Menschen ganz nahe sein können, und zwar – wie Jesus – durch liebevolle Zuwendung, aufmerksames Hinhören, Bescheidenheit, Solidarität, Mitleiden, Dialogbereitschaft, Versöhnung, Engagement für soziale Gerechtigkeit und durch die Fähigkeit zum Teilen. Jesus schart auch heute Menschen um sich, lädt auch heute alle ein und bietet auch heute unaufhörlich allen das Leben in Würde und in Fülle an. Heute sind wir in Lateinamerika und der Karibik als seine Jüngerinnen und Jünger berufen, aufs Meer hinauszufahren, um reichen Fischfang einzuholen. Wir sollen aus unserer Isoliertheit heraustreten und uns mit Mut und Zuversicht (parrhesia / Freimut) zusammen mit der gesamten Kirche auf die Mission einlassen.
364 Wir halten den Blick auf Maria gerichtet und erkennen in ihr die vollendete Gestalt der missionarischen Jüngerin. Sie ermahnt uns zu tun, was Jesus sagt (vgl. Joh 2,5), damit er sein Leben in Lateinamerika und der Karibik verschenken kann. Zusammen mit ihr wollen wir erneut aufmerksam auf den Meister hören. Um sie herum versammelt empfangen wir wieder in Furcht und Zittern den Missionsauftrag ihres Sohnes: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). Wir hören auf ihn in der Gemeinschaft all der missionarischen Jünger, die eine lebendige Begegnung mit ihm erfahren haben und diese unbeschreibliche Freude täglich mit allen anderen teilen wollen.
Pastorale Umkehr und missionarische Erneuerung der Gemeinschaften
365 Die feste Entschlossenheit zum missionarischen Tun soll alle kirchlichen Strukturen und alle Pastoralpläne von Diözesen, Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Bewegungen und jeder kirchlichen Institution durchdringen. Ausnahmslos jede Gemeinschaft sollte sich mit all ihren Kräften entschieden auf den ständigen Prozess missionarischer Erneuerung einlassen und die morsch gewordenen Strukturen, die der Weitergabe des Glaubens nicht mehr dienen, aufgeben.
366 Die persönliche Umkehr weckt die Fähigkeit, alles dafür zu tun, dass das Reich des Lebens errichtet werde. Wir alle – Bischöfe, Priester, Ständige Diakone, Ordensmänner und Ordensfrauen, Frauen und Männer im Laienstand – sind gemeinsam aufgerufen, pastoral immer neu umzukehren, indem wir auf die Zeichen der Zeit, durch die Gott sich offenbart, aufmerksam hören und erkennen, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,29).
367 Die Pastoral der Kirche darf den historischen Kontext nicht ignorieren, in dem ihre Mitglieder leben. Sie leben in sehr konkreten soziokulturellen Kontexten. Die heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse stellen natürlich neue Herausforderungen dar für die Sendung der Kirche, das Reich Gottes aufzubauen. Deshalb muss sich die Kirche – dem Heiligen Geist folgend, der sie leitet – durch spirituelle, pastorale und auch institutionelle Reformen erneuern.
368 Die Umkehr bringt uns Hirten auch dazu, immer mehr die Spiritualität von Kommunion und Partizipation zu leben, „indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut“.<ref> Novo millennio ineunte 43.</ref> Die pastorale Umkehr verlangt, dass die kirchlichen Gemeinschaften sich um Jesus Christus, den Meister und Hirten, versammeln und so zu Gemeinschaften von missionarischen Jüngern werden. Hier entstehen Offenheit, Dialog und Bereitschaft, allen Gläubigen immer mehr Mitverantwortung im Leben der christlichen Gemeinden zu geben und sie immer effektiver mitbestimmen zu lassen. Mehr als je zuvor ist es heute pastoral geboten, Gemeinschaft und Heiligkeit in der Kirche zu bezeugen. Die Pastoralplanung hat sich vom neuen Gebot der Liebe inspirieren zu lassen (vgl. Joh 13,35).<ref> Vgl. ebd. 20.</ref>
369 Das paradigmatische Modell für die Erneuerung unserer Gemeinschaft finden wir in den ersten christlichen Gemeinden (vgl. Apg 2,42–47). Sie hatten es verstanden, nach neuen Formen zu suchen, um den Kulturen und den gesellschaftlichen Umständen entsprechend zu evangelisieren. Dazu motivieren uns auch die Communio-Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Synodenpraxis der Nachkonzilszeit und die vorangegangenen Generalversammlungen des Episkopats aus Lateinamerika und der Karibik. Wir vergessen nicht, dass Jesus uns versichert: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).
370 Die pastorale Umkehr unserer Gemeinschaften verlangt, von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral überzugehen. So kann „das eine und einzige Programm des Evangeliums [...], wie es seit jeher in der Geschichte jeder kirchlichen Wirklichkeit geschieht“,<ref> Ebd. 29.</ref> mit neuer missionarischer Leidenschaft weitergegeben werden. Dann wird sich die Kirche als die Mutter zeigen, die dem Menschen entgegengeht, als ein gastfreundliches Haus und eine ständige Schule missionarischer Gemeinschaft.
371 Das Pastoralprojekt der Diözese als Weg zu einer organischen Gesamtpastoral soll bewusst und wirksam auf die Herausforderungen der Welt von heute reagieren mit „konkreten programmatischen Züge(n) [...], die es der Verkündigung Jesu Christi erlauben, die Personen zu erreichen, die Gemeinschaften zu formen und durch das Zeugnis in die Gesellschaft und die Kultur tief einzuwirken. Zu diesen programmatischen Zügen gehören Arbeitsziele und -methoden, Ausbildung und Förderung der Mitarbeiter sowie die Suche der notwendigen Mittel“.<ref> Ebd.</ref> Die Laien sollen im Prozess der Beurteilung, bei den konkreten Entscheidungen, bei der Planung und bei der Ausführung aktiv mitbestimmen können.<ref> Vgl. Christifideles laici 51.</ref> Der Bischof, die Priester und die pastoralen Mitarbeiter sollen dem Diözesanprojekt gegenüber eine flexible Haltung einnehmen, die es ihnen gestattet, die Anforderungen der sich ständig wandelnden Wirklichkeit aufmerksam wahrzunehmen.
372 Berücksichtigt man die räumlichen Dimensionen unserer Pfarreien, ist es ratsam, sie in kleine territoriale Einheiten zu unterteilen und diese mit eigenen Teams für Animation und Koordination auszustatten, die eine größere Nähe zu den Menschen und Gruppen in dem jeweiligen Gebiet erlauben. Empfehlenswert ist es, wenn die in der Mission Mitarbeitenden die Gründung von Familienkreisen fördern, in denen gemeinsam über den Glauben gesprochen und nach Lösungen für Probleme gesucht wird. Wir halten es für ein wichtiges Zeichen unserer Zeit, dass so viele verschiedene Arten missionarischer Freiwilligendienste überall entstanden und verbreitet sind, die für sehr unterschiedliche Aktivitäten zur Verfügung stehen. Den Prinzipien von Würde, Subsidiarität und Solidarität folgend und in Übereinstimmung mit der Soziallehre der Kirche unterstützt die Kirche die Netzwerke und Programme von Freiwilligendiensten auf nationaler und internationaler Ebene, die in vielen Ländern durch zivilgesellschaftliche Organisationen zum Wohl der Ärmsten auf unserem Kontinent entstanden sind. Dabei handelt es sich nicht um Strategien zur Erzielung pastoraler Erfolge, sondern um die Treue in der Nachfolge des Meisters, der immer nah, immer erreichbar und für alle verfügbar den starken Wunsch verspürt, Leben an alle Orte der Welt zu bringen.
Unsere Verpflichtung zur Mission ad gentes
373 Im dankbaren Wissen, dass der Vater so sehr die Welt geliebt hat, dass er seinen Sohn sandte, um sie zu retten (vgl. Joh 3,16) wollen wir seine Sendung weiter tragen; denn Mission ist der Existenzgrund der Kirche und definiert zutiefst ihre Identität.
374 Als missionarische Jünger wollen wir, dass der Einfluss Christi bis an die Grenzen der Erde reiche. An bestimmten Zeichen erkennen wir, dass der Heilige Geist in den Missionsgebieten am Werk ist:
a) Die Werte des Reiches Gottes erneuern die Kulturen von innen her, um das zu verändern, was dem Evangelium widerspricht.
b) Männer und Frauen finden in ihren religiösen Glaubensüberzeugungen den Antrieb für ihr geschichtliches Engagement.
c) Es entsteht eine kirchliche Gemeinschaft.
d) Einzelne und Gemeinschaften verkündigen Jesus Christus durch ihr heilig mäßiges Leben.
375 Seine Heiligkeit BenediktXVI. hat bestätigt, dass die Mission ad gentes für neue Aspekte offen ist: „Der Aufgabenbereich der ‚missio ad gentes’ erscheint [...] beachtlich erweitert und lässt sich nicht allein auf der Grundlage geographischer oder rechtlicher Überlegungen definieren. Tatsächlich sind nämlich nicht nur nichtchristliche Völker und ferne Länder, sondern auch die soziokulturellen Umfelder und vor allem die Herzen die wahren Adressaten der missionarischen Aktivität des Volkes Gottes.“<ref> Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses zum 40. Jahrestag der Verkündigung des Konzilsdekretes Ad gentes. Über die Missionstätigkeit der Kirche, 11. März 2006.</ref>
376 Gleichzeitig erwartet die Welt von unserer Kirche in Lateinamerika und in der Karibik ein eindeutigeres Engagement für die Weltmission in allen Kontinenten. Um nicht Gefahr zu laufen, nur um uns selbst zu kreisen, sollten wir uns als missionarische Jünger ohne Grenzen begreifen lernen, dazu bereit, „ans andere Ufer“ zu fahren, dorthin, wo Christus noch nicht als Gott und Herr anerkannt ist und die Kirche noch nicht tätig ist.<ref> Vgl. Ad gentes 6.</ref>
377 Wir Jünger, die durch Taufe und Firmung wesentlich Missionare sind, wollen unser Herz für die ganze Welt öffnen, für alle Kulturen und alle Wahrheiten, indem wir unsere Fähigkeit zu zwischenmenschlichem Kontakt und Dialog kultivieren. Ermutigt durch den Heiligen Geist sind wir bereit, durch unser Leben, durch unser Tun, durch unser Bekenntnis zum Glauben und mit Seinem Wort Christus dort zu verkündigen, wo er noch nicht angenommen worden ist. Auch die Emigranten sind als Jünger und Missionare dazu berufen, selber neue Samenkörner der Evangelisierung zu werden wie so viele Emigranten und Missionare vor ihnen, die den christlichen Glauben zu uns nach Amerika brachten.
378 Wir wollen die Ortskirchen anregen, nationale Missionszentren zu organisieren und zu unterstützen. Sie sollten mit den Päpstlichen Missionswerken und anderen Kooperationsinstanzen der Kirche, deren Bedeutung und Antriebskraft für missionarische Orientierung und Kooperation wir dankbar anerkennen, eng zusammenarbeiten. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Enzyklika Fidei donum danken wir Gott für die Männer und Frauen, die als Missionare auf unseren Kontinent kamen oder zurzeit hier tätig sind. Sie bezeugen den missionarischen Geist der Ortskirchen, die sie entsandt haben.
379 Wir haben den sehnlichen Wunsch, dass diese 5. Generalversammlung viele Jünger aus unseren Kirchen dazu ansporne, ans „andere Ufer“ zu fahren und zu evangelisieren. Der Glaube gewinnt an Kraft, wenn man ihn weitergibt. Wir brauchen auf unserem Kontinent einen neuen Frühling für die Mission ad gentes. Unsere Kirchen sind zwar arm, aber „wir müssen auch in unserer Armut geben, [und zwar von unserer] Glaubensfreude“,<ref> Puebla 368.</ref> und dürfen diese Verantwortung, die der gesamten christlichen Gemeinschaft obliegt, nicht auf einige wenige, die wir aussenden, abwälzen. Durch unsere Fähigkeit, unsere materiellen, menschlichen und spirituellen Gaben mit anderen Ortskirchen zu teilen, stellen wir unter Beweis, dass unsere neue Offenheit für die Mission authentisch ist. Deshalb ermutigen wir zur Teilnahme an den Missionskongressen.
Das Reich Gottes und die Förderung menschlicher Würde
380 Der Missionsauftrag, die Gute Nachricht von Jesus Christus zu verkündigen, bezieht sich auf die ganze Welt. Jesu Liebesgebot schließt alle Dimensionen des Daseins ein, alle Menschen, alle Milieus und alle Völker. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Durch Gottes Offenbarung und durch die Glaubenserfahrung der Menschen weiß die Kirche, dass Jesus Christus die Fragen der Menschen nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens und der Wirklichkeit, nach Glück, Gerechtigkeit und Schönheit umfassend, überreich und erschöpfend beantwortet. Diese Fragen beunruhigen jedes Menschen Herz und sind auch spürbar in den menschlichsten Grundzügen der Kulturen aller Völker. Jedes authentische Zeichen an Wahrem, Gutem und Schönem im Abenteuer menschlichen Lebens stammt deshalb von Gott und ruft nach Gott.
381 Unsere Völker sollen das Leben Jesu Christi als Antwort auf ihre tiefsten Wünsche erfahren. Deshalb heben wir im Folgenden einige Bereiche, Prioritäten und Aufgaben hervor, die in der heutigen Lage Lateinamerikas und der Karibik für die Mission der Jünger Jesu Christi von besonderer Bedeutung sind.
Gottes Reich, soziale Gerechtigkeit und christliche Liebe
382 “Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Der Herr beruft uns immer noch, seine Jünger und Missionare zu werden. Jesus fordert uns auf, unser gesamtes Leben an der verändernden Kraft des Reiches Gottes auszurichten, das in ihm angebrochen ist.
Diese Gute Nachricht nehmen wir mit großer Freude auf. Der liebende Gott ist der Vater aller Frauen und Männer in allen Völkern und Rassen. Jesus Christus ist das Reich Gottes, das in unserer Kirche und in unseren Gesellschaften seine ganze verwandelnde Kraft entfalten möchte. In ihm hat Gott uns erwählt, seine Kinder zu werden. Wir sind gleicher Abstammung und gleicher Bestimmung wie er, mit gleicher Würde, gleichen Rechten und Pflichten, die im höchsten Gebot, dem Gebot der Liebe, gelebt werden. Diesen Keim des Reiches Gottes hat der Heilige Geist durch die Taufe in uns eingesenkt; er lässt diesen Keim wachsen, indem er uns durch das Wort Gottes und die Sakramente die Gnade erfahren lässt, stets neu umkehren zu können.
383 Die Wirksamkeit des Reiches Gottes erfahren wir dort, wo wir persönlich und in Gemeinschaft die Seligpreisungen erleben; wo die Armen evangelisiert werden und evangelisieren; wo Gottes Wille erkannt wird und geschieht; wo Menschen auf Grund ihres Glaubens zum Martyrium bereit sind; wo alle Menschen an den Gaben der Schöpfung Anteil erhalten; wo die Menschen als Geschwister einander ehrlichen Herzens vergeben; wo die Vielfalt der Menschen als Reichtum verstanden und respektiert wird; wo man sich gegen die Versuchung des Bösen zur Wehr setzt und nicht dessen Sklave sein will.
384 Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein, damit unsere Völker in ihm das Leben haben, drängt uns im Geist des Evangeliums und im Blick auf das Gottesreich, vorrangig dafür einzutreten, dass jedes Menschen Würde anerkannt wird und dass alle Bürgerinnen und Bürger sowie alle Institutionen zum Wohl des Menschen zusammenarbeiten. Der Herr zeigt uns durch seine Gesten der Barmherzigkeit, dass die barmherzige Liebe verlangt, allen, deren Leben in irgendeiner Hinsicht verletzt wird, in bedrängenden Notlagen Hilfe zu geben. Zugleich aber müssen wir mit anderen Instanzen bzw. Institutionen zusam- menarbeiten, um die Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene gerechter zu gestalten. Es müssen dringend Strukturen geschaffen werden, durch die die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung so konsolidiert wird, dass Ungleichheit beseitigt wird und alle Menschen gleiche Chancen erhalten. Wir brauchen auch neue Strukturen, um das Zusammenleben der Menschen aufrichtig zu gestalten, um die Vorherrschaft von Wenigen zu verhindern und einen konstruktiven Dialog zu ermöglichen, damit die Gesellschaft zum notwendigen Konsens findet.
385 Barmherzigkeit ist stets unentbehrlich, aber sie darf nicht zu einem „Circulus vitiosus“ beitragen, der das Funktionieren eines ungerechten Wirtschaftssystems aufrechterhält. Deshalb bedürfen die Werke der Barmherzigkeit der Ergänzung durch das Streben nach wirklicher sozialer Gerechtigkeit, die den Lebensstandard aller Bürger anhebt und sie zu Subjekten ihrer eigenen Entwicklung macht. In seiner Enzyklika Deus caritas est hat Papst Benedikt XVI. die komplexe Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Liebe mit inspirierender Klarheit dargestellt, wenn er sagt: „Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik“ und nicht der Kirche. Aber die Kirche „kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben“.<ref> Deus caritas est 28.</ref> Durch ihre Mitarbeit will die Kirche beitragen, dass die Vernunft von allen Elementen gereinigt werde, die sie verblenden und daran hindern, die ganzheitliche Befreiung zu verwirklichen. Die Kirche hat auch die Aufgabe, durch Predigt, Katechese und Protest sowie durch Taten der Liebe und Gerechtigkeit in der Gesellschaft die notwendigen spirituellen Kräfte zu wecken und soziale Werte zu entfalten. Nur so können die Strukturen wirklich gerechter, wirksamer und beständiger werden. Ohne Werte gibt es keine Zukunft.
Und Strukturen allein werden uns nicht retten, weil sie stets von menschlichen Schwächen mitbestimmt sind.
386 Die Kirche betrachtet es als ihre ureigene Mission, durch die Verkündigung des Wortes Gottes, durch die Verwaltung der Sakramente und durch die Praxis der Liebe das Leben in Jesus Christus allen Menschen mitzuteilen. Wir halten es für angebracht, daran zu erinnern, dass die Liebe eher durch Werke als durch Worte zu erkennen ist. Das gilt auch für all unsere Worte bei dieser 5. Generalversammlung. „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!“ (Mt 7,21). Als missionarische Jünger Jesu Christi haben wir vorrangig die Aufgabe, die Liebe zu Gott und zum Nächsten durch konkrete Werke unter Beweis zu stellen. Der heilige Alberto Hurtado hat gesagt: „An unseren Taten erkennt unser Volk, dass wir sein Leid verstehen!“
Die Würde des Menschen
387 In der heutigen Kultur gibt es die Tendenz zu Seinsund Lebensformen, die im Widerspruch zum Wesen und zur Würde des Menschen stehen. Der große Einfluss der Götzen von Macht, Reichtum und kurzlebiger Lust ist – mehr als der Respekt vor dem Menschen – zum obersten Gesetz des Handelns und zum entscheidenden Kriterium in der Gesellschaft geworden. Angesichts dieser Realität verkündigen wir erneut, dass jeder Mann und jede Frau höchste Würde besitzt. In der Tat offenbart der Schöpfer die Würde des Menschen, wenn er alles Geschaffene in den Dienst des Menschen stellt und ihn auffordert, diese Würde zu respektieren (Gen 1,26–30).
388 Feierlich erklären wir, dass jeder Mensch einzig und allein aus der Liebe Gottes stammt und die Liebe Gottes ihn in jedem Augenblick seines Lebens bewahrt. In der Erschaffung von Mann und Frau nach Gottes Bild und Gleichnis ereignet sich göttliches Leben, das seinen Ursprung in der treuen Liebe des Herrn hat. Daher ist nur Gott der Urheber und Herr des Lebens, und der Mensch, als sein lebendiges Abbild, ist vom Moment der Empfängnis an durch alle Etappen seines Daseins hindurch bis zum natürlichen Tod und über den Tod hinaus stets geheiligt. Das christliche Menschenbild lässt verstehen, dass der Mensch eine Größe besitzt, die das gesamte Universum transzendiert: „Gott hat uns in Jesus Christus auf unüberbietbare Weise gezeigt, wie er jeden einzelnen Menschen liebt und ihm dadurch unendliche Würde verleiht.“<ref> Johannes Paul II., Botschaft an die Behinderten, Angelus am 16. November 1980.</ref>
389 Unsere Mission, durch die unsere Völker in ihm das Leben haben sollen, beweist unsere Überzeugung, dass in dem von Jesus geoffenbarten lebendigen Gott das menschliche Leben seinen Sinn, seine Fruchtbarkeit und seine Würde findet. Uns drängt der Auftrag, unseren Völkern die Fülle und das Glück des Lebens weiterzugeben, das Jesus uns bringt, damit jeder Mensch gemäß der ihm von Gott verliehenen Würde leben kann. Wir nehmen den Missionsauftrag in dem Bewusstsein wahr, dass diese Würde erst dann zur Fülle gelangt, wenn Gott alles in allem ist. Er ist der Herr des Lebens und der Geschichte, besiegt das Geheimnis des Bösen und schafft Heil. Er befähigt uns dazu, die Realität wahrhaftig so zu beurteilen, dass in ihr die Würde des einzelnen Menschen und der Völker gewahrt bleibt.
390 Unsere Treue zum Evangelium verlangt von uns mit allen für Leben und Sendung der Kirche zuständigen Stellen, die Wahrheit über den Menschen und die Würde jedes einzelnen Menschen auf allen öffentlichen und privaten „Areopagen“ der heutigen Welt feierlich zu verkünden.
Die vorrangige Option für die Armen und Ausgeschlossenen
391 In den Kontext dieser umfassenden Sorge um die Würde des Menschen gehört unser Schmerz darüber, dass Millionen Männer und Frauen aus Lateinamerika daran gehindert sind, ein Leben führen zu können, das dieser Würde entspricht. Die vorrangige Option für die Armen gehört zu den charakteristischen Zügen unserer Kirche in Lateinamerika und der Karibik. Johannes Paul II. betonte, als er sich an unseren Kontinent richtete: „Für die amerikanischen Christen [bedeutet] die Umkehr zum Evangelium, erneut alle Bereiche und Dimensionen des eigenen Lebens, besonders aber all das zu überprüfen, was das Sozialwesen ausmacht und zur Erlangung des Allgemeinwohls beiträgt.“<ref> Ecclesia in America 27.</ref>
392 Im Glauben rufen wir aus: „Jesus Christus ist [...] menschliches Antlitz Gottes und göttliches Antlitz des Menschen.“<ref> Ebd. 67.</ref> Deshalb „ist die bevorzugte Option für die Armen im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen.“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Diese Option hat ihren Ursprung in unserem Glauben an Jesus Christus, den Mensch gewordenen Gott, der unser Bruder wurde (vgl. Hebr 2,11–12). Sie ist weder ausschließlich noch schließt sie aus.
393 Wenn diese Option implizit im christologischen Glauben enthalten ist, müssen wir Christen als Jünger und Missionare in den Leidensantlitzen unserer Geschwister das Antlitz Christi anschauen, der uns auffordert, ihm in ihnen zu dienen: „Die Leidensantlitze der Armen sind Leidensantlitze Christi.“<ref> Santo Domingo 178 f.</ref> Sie stellen kirchliches Handeln und kirchliche Pastoral sowie unser Verhalten als Christen zutiefst in Frage. Alles, was mit Christus zu tun hat, hat mit den Armen zu tun, und alles, was mit den Armen zu tun hat, ruft nach Jesus Christus: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Johannes Paul II. hat betont, dass dieser biblische Text „einen Lichtstrahl auf das Geheimnis Christi wirft“.<ref> Novo millennio ineunte 49.</ref> Denn in Christus machte sich der Bedeutende unbedeutend, der Starke schwach, der Reiche arm.
394 Aus unserem Glauben an Christus stammt auch die Solidarität im Sinne einer ständigen Bereitschaft zu Zuwendung, Geschwisterlichkeit und Hilfestellung. Sie muss in Entscheidungen und Gesten sichtbar werden, insbesondere dadurch, dass wir das Leben und die Rechte der Schwächsten und Ausgeschlossenen schützen, aber auch, indem wir sie stützen, wenn sie sich bemühen, selbst bestimmt ihre Lage zu verändern und neu zu gestalten. Der Liebesdienst der Kirche unter den Armen „ist ein Bereich, der das christliche Leben, den kirchlichen Stil und die pastorale Planung gleichermaßen bestimmt und kennzeichnet“.<ref> Ebd.</ref>
395 Der Heilige Vater hat uns daran erinnert, dass die Kirche angesichts der „unerträglichen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten“,<ref> Tertio millennio adveniente 51.</ref> „die zum Himmel schreien“,<ref> Ecclesia in America 56.</ref> zur „Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> bestellt ist. Wir haben viel anzubieten; „es besteht kein Zweifel darüber, dass die Soziallehre der Kirche auch in den schwierigsten Situationen Hoffnung zu wecken vermag, denn wenn es keine Hoffnung für die Armen gibt, wird es für niemanden, auch nicht für die so genannten Reichen, Hoffnung geben“.<ref> Pastores gregis 67.</ref> Die vorrangige Option für die Armen verlangt von uns, dass wir uns mit besonderer Aufmerksamkeit an jene katholischen Fachleute richten, die für die Finanzen der Nationen verantwortlich sind, die Arbeitsplätze schaffen können oder die Politiker sind und dafür zu sorgen haben, dass sich die Länder wirtschaftlich entwickeln. Ihnen müssen wir zu einer ethischen Orientierung verhelfen, die mit ihrem Glauben in Übereinstimmung steht.
396 Wir verpflichten uns dafür zu arbeiten, dass unsere Kirche in Lateinamerika und der Karibik mit noch größerem Eifer unseren ärmsten Geschwistern zur Seite steht, sogar bis hin zum Martyrium. Heute wollen wir die Option für die vorrangige Liebe zu den Armen, die auf den vorangegangenen Generalversammlungen<ref> Vgl. Medellín 14,4–11; Puebla 1134–1165; Santo Domingo 178–181.</ref> getroffen wurde, ratifizieren und intensivieren. Vorrangig bedeutet, dass sie all unsere pastoralen Prioritäten und Strukturen durchziehen soll. Die Kirche in Lateinamerika ist berufen, Sakrament der Liebe, der Solidarität und der Gerechtigkeit in unseren Völkern zu sein.
397 In der heutigen Zeit geschieht es immer wieder, dass wir unsere Privatsphäre und unseren Besitz in übertriebener Weise schützen wollen und uns leicht vom individualistischen Konsumdenken anstecken lassen. Deshalb läuft unsere Option für die Armen Gefahr, rein theoretisch bzw. nur emotional zu bleiben, ohne sich wirklich auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen auszuwirken. Notwendig aber ist ein Verhalten, das an konkreten Entscheidungen und Gesten erkennbar wird<ref> Vgl. Deus caritas est 28.</ref> und von jeder paternalistischen Einstellung frei ist. Gefordert ist von uns, dass wir den Armen Zeit widmen, uns ihnen liebevoll zuwenden, ihnen aufmerksam zuhören und ihnen in schwierigsten Momenten beistehen. So entscheiden wir uns für sie und teilen mit ihnen Stunden, Wochen oder auch Jahre unseres Lebens und suchen zusammen mit ihnen ihre Lage zu ändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Jesus selbst durch sein Tun und Reden ein Beispiel dafür ist: „Wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein“ (Lk 14,13).
398 Nur wenn wir den Armen so nahe kommen, dass Freundschaft entstehen kann, werden wir wahrhaft schätzen lernen, was den Armen von heute wichtig ist, wonach sie sich legitim sehnen und wie sie selbst ihren Glauben leben. Die Option für die Armen soll uns dahin bringen, Freundinnen und Freunde der Armen zu werden. Tag für Tag handeln die Armen selbstverantwortlich für die Evangelisierung und die ganzheitliche menschliche Entwicklung: Sie erziehen ihre Kinder im Glauben, leben stets solidarisch mit Verwandten und Nachbarn, suchen immer nach Gott und schenken der pilgernden Kirche Leben. Im Licht des Evangeliums erkennen wir, dass sie eine unendliche Würde und eine heilige Größe in den Augen Christi besitzen, der arm und ausgeschlossen war wie sie. Mit dieser im Glauben gewonnenen Erfahrung stehen wir ihnen bei der Verteidigung ihrer Rechte zur Seite.
Eine erneuerte Sozialpastoral für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen
399 Entschlossen machen wir uns erneut die Option für die Armen zu Eigen und erklären, dass jeder Evangelisierungsprozess die Förderung des Menschen und seine authentische Befreiung zum Inhalt hat, „ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> Wir sind außerdem davon überzeugt, dass die wahre Förderung des Menschen nicht auf Teilaspekte reduziert werden darf: „Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“.<ref> Populorum progressio 14.</ref> Das neue Leben in Christus formt den Menschen so um, dass er „Subjekt seiner eigenen Entwicklung wird“.<ref> Medellín 4,8; Puebla 485; vgl. Populorum progressio 15.</ref> Für die Kirche ist der Liebesdienst ebenso wie die Verkündigung von Gottes Wort und die Feier der Sakramente „unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“.<ref> Deus caritas est 25.</ref>
400 Als Jünger und Missionare wollen wir daher durch unsere Pastoralpläne im Licht der kirchlichen Soziallehre dem Evangelium von Leben und Solidarität den Weg bahnen. Außerdem wollen wir in der Kirche nach wirksameren Möglichkeiten suchen, damit sich die Laien vorbereitet und engagiert in die gesellschaftlichen Anliegen einschalten können. Hoffen lassen uns die Worte von Johannes Paul II.: „Nichts von dem, was man durch die solidarische Anstrengung aller und mit Hilfe der Gnade Gottes in einem bestimmten Augenblick der Geschichte verwirklichen kann und muss – auch wenn es unvollkommen und nur vorläufig ist –, um das Leben der Menschen ‚menschlicher’ zu gestalten, wird verloren oder vergeblich sein“.<ref> Sollicitudo rei socialis 48.</ref>
401 Die Bischofskonferenzen und die Ortskirchen haben dafür Sorge zu tragen, dass neue Anstrengungen unternommen werden, um die Sozialpastoral besser zu strukturieren, organischer zu gestalten und ganzheitlicher auszurichten. Sie sollte durch Fürsorge und Förderung der Menschen in den neuen Realitäten von Ausschluss und Marginalisierung, wo die Schwächsten leben und das Leben am stärksten bedroht ist, präsent sein.<ref> Vgl. Ecclesia in America 58.</ref> Im Mittelpunkt eines solchen Handelns steht jeder einzelne Mensch, der in christlicher Liebe Aufnahme und Hilfe erfahren soll. Bei diesem Einsatz zugunsten des Lebens unserer Völker unterstützt die katholische Kirche die Zusammenarbeit mit anderen christlichen Gemeinschaften.
402 Durch die Globalisierung werden in unseren Völkern neue Gesichter von Armen erkennbar. In Kontinuität mit den vorangegangenen Generalversammlungen richten wir daher besonders aufmerksam unseren Blick auf die neuen Ausgeschlossenen: auf die Migranten und die Opfer von Gewalt, auf Vertriebene und Flüchtlinge, auf Opfer von Entführungen und Menschenhandel, auf Verschwundene, auf Menschen, die an HIV und anderen Pandemien erkrankt sind, auf Drogenabhängige und ältere Menschen, auf Mädchen und Jungen, die zu Opfern von Prostitution, Pornographie und Gewalt oder von Kinderarbeit werden; auf misshandelte Frauen, die gesellschaftlich ausgeschlossen und Opfer von Menschenhandel zu sexueller Ausbeutung sind; auf Menschen mit abweichenden Anlagen, auf die großen Gruppen von Frauen und Männern, die arbeitslos sind, auf alle, die ausgeschlossen sind, weil sie beruflich keinen Anschluss mehr finden; auf Menschen, die auf den Straßen der Großstädte leben, auf Indigene und Menschen afrikanischer Abstammung, auf Landlose und Minenarbeiter. Diese aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen sollte die Kirche in ihren jeweiligen Lebensbereichen durch die Sozialpastoral aufsuchen und begleiten.
403 Bei dieser Aufgabe sollten mit pastoraler Kreativität konkrete Aktionen entworfen werden, die sich auf die Sozial- und Wirtschaftspolitiken der Staaten auswirken, damit diese die verschiedenartigen Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen und zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Mit Hilfe verschiedener Instanzen und Organisationen kann die Kirche immer wieder die Realität des Kontinents aus christlicher Sicht in den Blick nehmen und sich ihr pastoral annähern, indem sie sich das reichhaltige Erbe der kirchlichen Soziallehre zunutze macht. Auf diese Weise wird sie mit konkreten Forderungen darauf dringen können, dass alle, die Verantwortung tragen für die Erarbeitung und Bewilligung politischer Maßnahmen, die unsere Völker betreffen, sich an ethischen, solidarischen und wahrhaft humanistischen Kriterien orientieren. Männer und Frauen aus dem Laienstand spielen dabei eine entscheidende Rolle, denn sie können entsprechende Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen.
404 Die Unternehmer großer, mittlerer und kleinerer Betriebe, aber auch die Manager für Produktion und Handel sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der Gemeinwirtschaft ermutigen wir, in unseren Nationen Wertschöpfung zu ermöglichen. Sie sollen sich bemühen, menschenwürdige Arbeitsplätze zu schaffen, Demokratie zu ermöglichen sowie eine gerechtere Gesellschaft und ein von Wohlstand und Frieden bestimmtes Zusammenleben anzustreben. Wir sprechen auch jenen Mut zu, die ihr Kapital nicht in spekulative Unternehmungen investieren, sondern in die Schaffung von Arbeitsplätzen und sich um die arbeitenden Menschen kümmern, indem sie diese sowie deren Familien als den größten Reichtum des Unternehmens betrachten. Wir spornen auch all diejenigen an, die genügsam leben, weil für sie als Christen der einfache Lebensstil ein unschätzbarer Wert ist; all diejenigen, die in der Sorge für das Gemeinwohl mit den Regierungen zusammenarbeiten und sich für Werke der Solidarität und Barmherzigkeit einsetzen.
405 Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die größte Armut darin besteht, nicht zu erkennen, wie durch Gottes Geheimnis und Liebe im Leben des Menschen allein Rettung und Befreiung möglich werden. In der Tat: „Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff ‚Wirklichkeit’ und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> Die Wahrheit dieses Satzes ist evident angesichts des Zusammenbruchs aller Systeme, die Gott ausklammern.
Globalisierung der Solidarität und internationale Gerechtigkeit
406 Die Kirche in Lateinamerika und der Karibik spürt ihre Verantwortung, die Christen im Hinblick auf die großen Probleme internationaler Gerechtigkeit zu sensibilisieren und auszubilden. Deshalb müssen die Hirten wie alle, die am Aufbau der Gesellschaft mitarbeiten, aufmerksam die internationalen Debatten und Normen in diesen Bereichen verfolgen. Das gilt insbesondere für Laien, die aus Solidarität mit dem Leben der Völker öffentliche Verantwortung übernehmen. Deshalb unterbreiten wir folgende Vorschläge:
a) Die Zivilgesellschaft darin bestärken, an der Neuorientierung und der daraus folgenden ethischen Rehabilitierung der Politik mitzuwirken. Deshalb ist es so wichtig, dass die Zivilgesellschaft Möglichkeiten hat, an der Durchsetzung demokratischer Formen, an einer wirklich solidarischen Wirtschaft und einer ganzheitlichen, solidarischen und nachhaltigen Entwicklung mitarbeiten zu können.
b) Eine christliche Ethik ausbilden, die folgende Ziele hat: Arbeit zugunsten des Gemeinwohls, Herstellung von Chancengleichheit für alle, Bekämpfung der Korruption, Geltung von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten. Bevölkerungskreise, die traditionell marginalisiert werden, wie Frauen und Jugendliche, sollten in Anerkennung ihrer Würde vorrangig wirtschaftliche Chancen bekommen. Deshalb muss auf allen Ebenen an einer Kultur der Verantwortlichkeit gearbeitet werden, in die einzelne Menschen, Unternehmen, Regierungen und sogar das Internationale System einbezogen werden.
c) Für das Gemeinwohl auf globaler Ebene arbeiten, was bedeutet, Wirtschaft, Finanzen und Welthandel gerechten Regeln zu unterwerfen. Dringlich müssen weitere Entschuldungsmaßnahmen getroffen werden, um Investitionen in Entwicklung und Sozialbereiche zu begünstigen;<ref> Vgl. Tertio millennio adveniente 51, Santo Domingo 197.</ref> dringlich sind globale Regeln, um den Bewegungen spekulativen Kapitals vorzubeugen und sie zu kontrollieren, um einen gerechten Handel zu fördern und die protektionistischen Schranken der Mächtigen immer mehr zu beseitigen, um angemessene Preise für Rohstoffe zu sichern, die von den armen Ländern gefördert werden, und um gerechte Normen durchzusetzen, so dass Investitionen und Dienstleistungen reguliert, aber auch angeregt werden.
d) Verträge auf Regierungsebene und andere Vereinbarungen zum Freihandel aufmerksam prüfen. Wenn ein lateinamerikanisches Land darin einbezogen ist, muss die Kirche durch eine Bilanz aller auf dem Spiel stehenden Faktoren effektivere Mittel und Wege finden, um die verantwortlichen Politiker und die öffentliche Meinung auf die möglichen negativen Konsequenzen aufmerksam zu machen, von denen meist die schutzlosesten und schwächsten Bevölkerungskreise betroffen sind.
e) Alle Menschen guten Willens aufrufen, grundlegende Prinzipien in die Tat umzusetzen, wie z. B. die Orientierung am Gemeinwohl (das Haus gehört allen), die Subsidiarität sowie die Solidarität innerhalb und zwischen den Generationen.
Das Leid der Menschen schmerzt uns
Menschen, die auf den Straßen der Großstädte leben
407 In den Großstädten leben immer mehr Menschen auf der Straße. Sie bedürfen seitens der Kirche besonderer Betreuung, Zuwendung und Förderung, um zum einen die für das tägliche Leben notwendige Hilfe zu bekommen, und zum anderen in Förderungs- und Beteiligungsprojekte einbezogen zu werden, in denen sie selbst den Prozess ihrer gesellschaftlichen Wiedereingliederung bestimmen.
408 Wir wollen die lokalen und nationalen Regierungsstellen dazu drängen, politische Maßnahmen zu ergreifen, die einerseits diesen Menschen gerecht werden, sich andererseits aber auch den Ursachen für die Geißel eines solch elenden Lebens stellen, von der Millionen Menschen in ganz Lateinamerika und der Karibik betroffen sind.
409 Die vorrangige Option für die Armen veranlasst uns als Jünger und Missionare Jesu, neue, kreative Antworten zu suchen auf die vielen Auswirkungen der Armut. Die prekäre Lage der Familien und die innerfamiliäre Gewalt zwingen viele Jungen und Mädchen, auf der Straße für das persönliche und familiäre Überleben nach Einkünften zu suchen und dabei ein hohes menschliches und moralisches Risiko einzugehen.
410 Der Staat hat die Pflicht, politische Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschen zu integrieren, die auf der Straße leben. Gewalt oder gar Mord an Straßenkindern, wie sie bedauerlicherweise in einigen Ländern unseres Kontinentes vorgekommen sind, kann man als Lösung für diese schlimme gesellschaftliche Problematik niemals akzeptieren.
Migranten
411 Die pastorale Begleitung der Migranten ist ebenfalls Ausdruck der Liebe, die durch die Kirche gelebt wird. Millionen Menschen sind aus verschiedenen Gründen ständig unterwegs. Ein neues, dramatisches Phänomen in Lateinamerika und der Karibik sind die Emigranten, Vertriebenen und Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen oder aus Gründen der Gewalt unterwegs sind.
412 Die Mutter Kirche muss sich selbst als eine Kirche ohne Grenzen verstehen, als kirchliche Familie, die aufmerksam das Phänomen zunehmender Mobilität von Menschen verschiedener Bevölkerungskreise wahrnimmt. Sie hält es für unverzichtbar, eine Mentalität und Spiritualität für den pastoralen Dienst an den Geschwistern, die unterwegs sind, zu entwickeln. Sie muss diözesane und nationale Strukturen schaffen, die für eine Begegnung zwischen den Fremden und der aufnehmenden Ortskirche geeignet sind. Die Bischofskonferenzen und die Diözesen müssen diese Sonderpastoral prophetisch als ihr Anliegen begreifen, um Kriterien und Maßnahmen aufeinander abzustimmen, die eine ständige Begleitung von Migranten sichern, denn auch sie sollen Jünger und Missionare werden.
413 Um dieses Ziel zu erreichen, sind Dialog und Zusammenarbeit zwischen den Herkunftskirchen und den Ankunftskirchen verstärkt notwendig, so dass allen, die sich unterwegs befinden, humanitär und pastoral geholfen werden kann, indem sie in ihrer Religiosität unterstützt und mit ihren kulturellen Ausdrucksformen anerkannt werden, die sie im Umgang mit dem Evangelium pflegen. Bereits in den Seminaren und Ausbildungsstätten muss man sich mit der Realität menschlicher Mobilität vertraut machen, um eine pastorale Antwort darauf geben zu können. Auch brauchen wir die Einarbeitung von Laien, die in christlicher Überzeugung, professionell und einfühlsam alle ankommenden Menschen begleiten können und in den Herkunftsorten die Familien aufsuchen, die zurückbleiben.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Instruktion Erga migrantes caritas Christi, 70 f., 86–88.</ref> Wir glauben, dass „die Realität der Migrationsphänomene [...] nie nur als Problem gesehen werden [darf], sondern auch und vor allem als eine bedeutende Ressource für den Weg der Menschheit“.<ref> Benedikt XVI., Angelus-Ansprache, 14. Januar 2007.</ref>
414 Zu den Aufgaben der Kirche für die Migranten gehört es zweifellos, die Diskriminierung der Migranten prophetisch anzuklagen und zusammen mit den Organisationen der Zivilgesellschaft die Regierungen der jeweiligen Länder zu drängen, die Migrationspolitik so zu gestalten, dass die Rechte der Menschen unterwegs berücksichtigt werden. Die Kirche sollte auch die wegen der Gewalt Vertriebenen im Blick haben. In den von Gewalt heimgesuchten Ländern ist eine Pastoralarbeit zur Begleitung der Opfer nötig, um ihnen Zuflucht zu bieten und ihnen dabei behilflich zu sein, von ihrer Arbeit leben zu können. Die Kirche sollte ebenfalls pastoral und theologisch stärker für eine universal gültige Staatsbürgerschaft eintreten, die keine Unterschiede mehr zwischen den Personen macht.
415 Die Migranten sollten von ihren Herkunftskirchen pastoral begleitet und angeregt werden, in den Ländern und Gemeinden, in die sie kommen, Jünger und Missionare zu werden, indem sie den Reichtum ihres Glaubens und ihrer religiösen Traditionen weitergeben. Die Migranten, die unsere Gemeinden verlassen, können einen wertvollen missionarischen Dienst an den Gemeinden tun, die sie aufnehmen.
416 Die großzügigen Geldsendungen, die lateinamerikanische Immigranten aus den USA, aus Kanada, aus den europäischen und aus anderen Ländern schicken, beweisen die Opferbereitschaft und die solidarische Liebe zugunsten ihrer eigenen Familien und ihrer Herkunftsländer. Das ist im Allgemeinen Hilfe der Armen für die Armen.
Kranke
417 Die Kirche hat eine Option für das Leben getroffen. Diese Option öffnet uns die Augen für die äußersten Ränder des Daseins, für die Geburt und den Tod, für das Kind und den Greis, für die Gesunden und die Kranken. Der heilige Irenäus sagt uns: „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“, selbst der schwache, der soeben empfangene, der von den Jahren verbrauchte und der kranke Mensch. Christus sandte seine Apostel, das Reich Gottes zu verkündigen und die Kranken zu heilen. Das sind die wahren Kathedralen für die Begegnung mit Jesus, dem Herrn.
418 Seit Beginn der Evangelisierung ist dieses Doppelgebot erfüllt worden. Die Auseinandersetzung mit Krankheiten hat zum Ziel, die Harmonie zwischen Körper, Geist, Seele und sozialem Umfeld des Menschen wiederherzustellen, damit er den an ihn ergangenen Missionsauftrag wahrnehmen kann. Die Gesundheitspastoral ist im Licht des Todes und der Auferstehung des Herrn die Antwort auf die großen Fragen des Lebens, wie z. B. Leiden und Tod.
419 Beim Thema Gesundheit sind mächtige Interessen in der Welt im Spiel, die jedoch keinerlei Ziele verfolgen, die darüber hinausweisen. In der heutigen Kultur hat der Tod keinen Platz; man versucht, ihn zu verschweigen. Da die Gesundheitspastoral sich der spirituellen und transzendenten Dimension des Todes öffnet, wird sie zur Verkündigerin von Tod und Auferstehung des Herrn, der einzig wahren Gesundheit. In der sakramentalen Ökonomie der Liebe Christi führt sie die Liebe von vielen „barmherzigen Samaritern“, von Priestern, Diakonen, Ordensschwestern, Laien und medizinischen Fachleuten zusammen. Die 32.116 katholischen Institutionen, die sich in Lateinamerika der Gesundheitspastoral widmen, stellen eine Ressource für die Evangelisierung dar, die genutzt werden sollte.
420 Bei Krankenbesuchen in den Gesundheitszentren, bei stiller Betreuung der Kranken, durch liebevollen Umgang und sorgsame Behandlung in schweren Krankheitsfällen erweisen die professionellen und freiwilligen Jünger des Herrn die Mütterlichkeit der Kirche. Sie deckt den Kranken zärtlich zu, richtet sein Herz auf und begleitet ihn beim Sterben. Die kranken Menschen empfangen mit Liebe das Wort Gottes, die Vergebung, das Sakrament der Krankensalbung und die liebevolle Zuwendung der Geschwister. Das Leiden ist für den Menschen eine besondere Erfahrung von Kreuz und Auferstehung des Herrn.
421 Man sollte in den Ortskirchen also die Gesundheitspastoral, die unterschiedliche Betreuungsgebiete umfasst, aktivieren. Für besonders wichtig halten wir eine weit gefasste und viele Bereiche berührende Pastoral für Menschen, die mit HIV / AIDS leben: Sie soll dafür sorgen, dass die infizierten Menschen verständnisvoll und mitfühlend begleitet und ihre Rechte geschützt werden; sie soll Informationen verbreiten, für Aufklärung und Prävention unter ethischen Kriterien sorgen, insbesondere in der jungen Generation, damit alle bewusst daran mitwirken, die Pandemie einzudämmen. Aus dieser 5. Generalversammlung rufen wir die Regierungen auf, den Zugang zu einer ausreichenden Menge von Medikamenten gegen AIDS uneingeschränkt und kostenlos zu ermöglichen.
Drogenabhängige
422 Das Drogenproblem ist wie ein Ölfleck, der alles durchdringt. Es kennt weder geographische noch zwischenmenschliche Grenzen. Arme und reiche Länder, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen, Männer und Frauen – alle sind gleichermaßen davon betroffen. Die Kirche kann dieser Geißel, von der die Menschheit, insbesondere die junge Generation, zugrunde gerichtet wird, nicht untätig zusehen. Die Arbeit der Kirche geht vor allem in drei Richtungen: Prävention, Begleitung sowie Unterstützung für die staatliche Politik zur Bekämpfung dieser Pandemie. Bei der Prävention besteht die Kirche auf der Vermittlung von Werten, die die junge Generation leiten sollen, insbesondere die Werte des Lebens und der Liebe, der Eigenverantwortlichkeit und der Würde der Menschen als Kinder Gottes. In der Begleitung steht die Kirche an der Seite des Drogenabhängigen, um ihm behilflich zu sein, die Krankheit zu besiegen und seine Würde zurückzugewinnen. Bei der Unterstützung zur Ausmerzung der Droge unterlässt es die Kirche nicht, die unbeschreibliche Kriminalität der Drogenhändler anzuprangern, die mit so vielen Menschenleben Handel treiben und dabei nur das Ziel verfolgen, sich mit verwerflichster Gewalt durchzusetzen und Gewinne zu machen.
423 In Lateinamerika und der Karibik muss die Kirche für eine frontale Auseinandersetzung mit dem Drogenhandel und -konsum sorgen und dabei auf Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen bestehen. Sie soll auch die Regierung und gesellschaftlichen Instanzen unterstützen, die in diesem Sinne tätig sind; sie soll auf die Verantwortung des Staates dringen, den Drogenhandel zu bekämpfen und jeder Art von Drogenkonsum vorzubeugen. Die Wissenschaft hat darauf hingewiesen, dass die Religiosität ein wichtiger Faktor zur Verhütung des Drogenkonsums und zur Genesung von Drogenkonsumenten darstellt.
424 Wir klagen an, dass wegen der damit verbundenen enormen wirtschaftlichen Interessen der Drogenhandel in einem Teil unserer Länder alltäglich geworden ist. Die Folge davon ist, dass eine große Anzahl von Menschen, mehrheitlich Kinder und Jugendliche, die wie Sklaven in äußerst prekären Verhältnissen leben, nach der Droge greifen, um ihren Hunger zu stillen bzw. um ihren entsetzlich hoffnungslosen Lebensbedingungen zu entfliehen.<ref> „Brasilien hat eine der markantesten Statistiken im Hinblick auf die Abhängigkeit von Drogen und Rauschgiften. Und Lateinamerika steht dem nicht nach. Daher fordere ich die Drogenhändler auf, über das Böse nachzudenken, das sie zahlreichen Jugendlichen und Erwachsenen aller sozialen Schichten zufügen: Gott wird sie für das, was sie getan haben, zur Rechenschaft ziehen. Die menschliche Würde darf nicht auf diese Weise mit Füßen getreten werden. Das verursachte Böse verdient dieselbe Verurteilung, die Jesus gegenüber denen aussprach, die die ‚Kleinsten’, die Bevorzugten Gottes, verführten (vgl. Mt 18,7–10).“ (Benedikt XVI., Ansprache beim Besuch des Drogenrehabilitationszentrums Fazenda da Esperança, 12. Mai 2007).</ref>
425 Der Staat hat die Verantwortung, mit Entschlossenheit und auf gesetzlicher Grundlage, die leichtfertige Kommerzialisierung von Drogen und den illegalen Drogenkonsum zu bekämpfen. Leider ist oft auch Korruption mit im Spiel. Diejenigen, die eigentlich für den Schutz eines Lebens in Würde zu sorgen hätten, missbrauchen ihr Amt, um sich ökonomisch zu bereichern.
426 Wir unterstützen alle Bemühungen, die von Seiten des Staates, der Zivilgesellschaft und der Kirchen unternommen werden, um diesen Menschen beizustehen. Die katholische Kirche hat viele Einrichtungen zur Verfügung, in denen wir uns als Jünger und Missionare Jesu dieser Problematik stellen, wenn sie auch angesichts des Ausmaßes dieser Problematik noch nicht ausreichen. In den Einrichtungen machen die Drogenabhängigen Erfahrungen, die sie mit der Erde, der Arbeit, der Familie und mit Gott wieder versöhnen. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang therapeutische Gemeinschaften wegen ihres humanistischen und transzendentalen Verständnisses vom Menschen.
Häftlinge in den Gefängnissen=
427 Eine Realität, die sich auf alle Bevölkerungskreise, insbesondere aber auf die Ärmsten verheerend auswirkt, ist die Gewalt auf Grund von Unrecht und anderen Übeln, die sich viele Jahre hindurch in den Gemeinden ausgebreitet hat. Sie führt zu einer um sich greifenden Kriminalität und bewirkt schließlich, dass viele Menschen unter unmenschlichen Bedingungen ihre Strafen abbüßen müssen. In den Strafanstalten wird mit Waffen und Drogen gehandelt. Es sind zu viele Menschen in einer Zelle untergebracht, es wird gefoltert. Es gibt keine Rehabilitierungsprogramme. Es herrscht das organisierte Verbrechen. All das verhindert einen Prozess der Umerziehung und Eingliederung in das produktive Leben der Gesellschaft. Heutzutage sind die Gefängnisse bedauerlicherweise oft Schulen des Verbrechens.
428 Die Staaten müssen sich ernsthaft und aufrichtig mit dem Zustand des Justizsystems und der Gefängnisse befassen. Wir brauchen eine raschere Abwicklung der Gerichtsverfahren, eine persönliche Betreuung für das zivile und militärische Personal, das unter höchst schwierigen Bedingungen in den Strafanstalten arbeitet, und eine Intensivierung der Fortbildung hinsichtlich ethischer Werte und entsprechender Inhalte.
429 Die Kirche dankt den Priestern und Freiwilligen, die mit pastoraler Hingabe in den Strafanstalten arbeiten. Trotzdem muss die Gefängnispastoral intensiviert werden, so dass die Priester und die Freiwilligendienste für die Gefängnisse Evangelisierungsarbeit und Förderung der Menschen miteinander verbinden können. Priorität genießen die Teams bzw. Vikarien für Menschenrechte, die für die Gefangenen einen angemessenen Prozess garantieren und deren Familien aus der Nähe betreuen.
430 Den Bischofskonferenzen und Diözesen wird empfohlen, die Kommissionen für Gefängnispastoral darin zu unterstützen, dass sie die Gesellschaft für die schwerwiegende Problematik in den Gefängnissen sensibler machen, Versöhnungsprozesse in den Strafanstalten anregen und in Bezug auf die öffentliche Sicherheit und die Strafvollzugsproblematik in die Lokal- und Nationalpolitik eingreifen.
Familie, Personen und Leben
431 An dieser Stelle können wir weder alle Fragen zur pastoralen Arbeit der Kirche analysieren noch fertige Projekte oder perfekte Handlungsrichtlinien vorschlagen. Daher wollen wir im Folgenden nur einige Fragen ansprechen, die in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen haben. Später können sie von den einzelnen Bischofskonferenzen und anderen lokalen Organisation ausführlicher, konkreter und auf den Bedarf des jeweiligen Landes zugeschnitten behandelt werden.
Ehe und Familie
432 Die Familie, „Erbe der Menschheit“, stellt einen der bedeutendsten Schätze der Völker Lateinamerikas und der Karibik dar. In unseren Ländern ist ein großer Teil der Bevölkerung durch schwierige Lebensbedingungen, die die Institution Familie direkt bedrohen, beeinträchtigt. Als Jünger und Missionare Jesu Christi sind wir aufgerufen, dafür zu arbeiten, dass diese Lage sich ändert und dass die Familie wieder ihr Wesen und ihre Mission<ref> Vgl. Johannes Paul II., 2. Welttreffen der Familien in Rio de Janeiro, 4. Oktober 1997, Nr. 4.</ref> in Gesellschaft und Kirche<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache anlässlich des 1. Welttreffens der Familien, Rom, 8. Oktober 1994, Nr. 2, 7; 2. Welttreffen der Familien in Rio de Janeiro, 4. Oktober 1997; Familiaris consortio 17; Benedikt XVI., Familie, ich weiß was du bist!, Valencia, 8. Juli 2006.</ref> leben kann.
433 Die christliche Familie hat ihr Fundament im Sakrament der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau. Die Ehe ist Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen und der Hingabe Christi an seine Braut, die Kirche. Aus diesem Liebesbund heraus entfalten sich Vaterschaft und Mutterschaft, Kindschaft und Geschwisterlichkeit und das Engagement der beiden für eine bessere Gesellschaft.
434 Wir glauben, dass „die Familie das Ebenbild Gottes ist, der in seinem tiefsten Geheimnis nicht einzelner, sondern Familie ist“.<ref> Puebla 582.</ref> In der Liebesgemeinschaft der drei göttlichen Personen haben unsere Familien ihren Ursprung, ihr vollkommenes Modell, ihre schönste Motivation und ihre letzte Bestimmung.
435 Da die Familie für unsere Völker einen hohen Wert darstellt, muss die Sorge um sie eine der tragenden Säulen der gesamten Evangelisierungarbeit der Kirche sein. Jede Diözese braucht eine „intensive und starke“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 5.</ref> Familienpastoral, um das Evangelium der Familie zu verkünden, die Kultur des Lebens zu fördern und sich dafür einzusetzen, dass die Rechte der Familien anerkannt und respektiert werden.
436 Wir hoffen, dass die Gesetzgeber, die Regierenden und die Fachleute im Gesundheitswesen – im Bewusstsein der Würde des menschlichen Lebens und der Verwurzelung der Familie in unseren Völkern – die Familie vor den abscheulichen Verbrechen der Abtreibung und der Euthanasie bewahren und schützen. Dafür tragen sie die Verantwortung. Gesetzen und regierungsamtlichen Verfügungen, die im Licht des Glaubens und der Vernunft ungerecht sind, sollte man aus Gewissensgründen stärker widersprechen. Wir müssen uns der „eucharistischen Kohärenz“ verpflichtet verfühlen, das heißt uns bewusst sein, dass die heilige Kommunion nicht empfangen kann, wer zugleich in Tat und Wort gegen die Gebote verstößt, insbesondere wenn man sich für Abtreibung, Euthanasie und andere schwere Verbrechen gegen das Leben und die Familie ausspricht. Diese Verantwortung liegt in ganz besonderer Weise auf den Gesetzgebern, Regierenden und den Fachleuten des Gesundheitswesens.<ref> Vgl. Sacramentum Caritatis, 83; Evangelium vitae 73, 74, 89.</ref>
437 Zum Schutz und zur Unterstützung der Familie kann die Familienpastoral unter anderem folgende Maßnahmen anregen:
a) Die anderen Pastoralbereiche, die Bewegungen und Vereinigungen für Ehe und Familie verpflichten, sich für die Familien einzusetzen und dabei gemeinsam vorzugehen.
b) Projekte anregen und die Familien dabei unterstützen, sich selbst und andere zu evangelisieren.
c) Mit Hinführungen zum Glauben die unmittelbare und die langfristige Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe und das Familienleben erneuern.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe, 13. Mai 1996, 19; Familiaris consortio 66.</ref>
d) Im Dialog mit den Regierungen und der Gesellschaft politische Entscheidungen und Gesetze zu Gunsten des Lebens, der Ehe und der Familie fördern.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Charta der Familienrechte, 22. Oktober 1983.</ref>
e) Bei der umfassenden Erziehung der Familienmitglieder speziell jene Mitglieder fördern, die sich in schwierigen Situationen – einschließlich ihrer Liebesbeziehung und der Sexualität – befinden.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 5.</ref>
f) Pfarr- und Diözesanzentren zu einer Pastoral anregen, die sich ganzheitlich um die Familien kümmert, besonders um solche Familien, die sich in einer schwierigen Lage befinden: junge und allein erziehende Mütter, Witwer und Witwen, alte Menschen, verwahrloste Kinder usw.
g) Programme zur Fortbildung, Betreuung und Begleitung für verantwortete Vaterschaft und Mutterschaft anbieten.
h) Die Ursachen für Familienkrisen gründlich besprechen, um sie von allen Seiten her zu bearbeiten.
i) Für die Verantwortlichen in der Familienpastoral ständig lehramtliche und pädagogische Weiterbildung anbieten.
j) Mit Sorgfalt, Klugheit und einfühlsamer Nächstenliebe<ref> Vgl. Familiaris consortio 84; Sacramentum Caritatis 29.</ref> die Paare begleiten, die in einer irregulären Situation leben, und dabei die Orientierungen des Lehramtes beachten, dass wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zugelassen sind.<ref> Vgl. Familiaris consortio 77.</ref> Vermittlungsdienste sind erforderlich, damit die Botschaft von der Erlösung alle Menschen erreicht. Es ist dringend erforderlich, durch eine interdisziplinäre Arbeit von Theologie und Humanwissenschaften kirchliche Maßnahmen anzuregen, damit spezialisiertes Personal auf seinen Pastoraldienst für die Begleitung dieser Geschwister angemessen vorbereitet werden kann.
k) Angesichts der vielen Anträge auf Ehe-Nichtigkeitserklärung dafür sorgen, dass die kirchlichen Gerichte erreichbar sind und korrekt und schnell handeln.<ref> Vgl. Sacramentum Caritatis 29.</ref>
l) Hilfestellung geben, damit Waisenkinder oder verlassene Kinder aus christlicher Nächstenliebe heraus Möglichkeiten der Aufnahme und Adoption finden und in Familien leben können.
m) Für schwangere Kinder und Jugendliche, allein erziehende Mütter und unvollständige Familien Häuser gründen, in denen sie Aufnahme, spezielle Begleitung, Mitgefühl und Solidarität erfahren.
n) Bedenken, dass das Wort Gottes – sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament – uns ermahnt, die Witwen in besonderer Weise zu achten. Sie mit angemessenen Mitteln pastoral so begleiten, dass sie sich der neuen Situation, die für sie oft Verlassenheit und Einsamkeit bedeutet, gewachsen fühlen.
Die Kinder
438 Kirche, Familie und staatliche Institutionen müssen sich heute vorrangig den Kindern zuwenden, weil diese vielen Gefahren ausgesetzt sind und daher besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die Kinder sind Geschenk und Zeichen der Präsenz Gottes in unserer Welt, weil sie die Fähigkeit haben, die Botschaft des Evangeliums in aller Schlichtheit anzunehmen. Jesus wählte sie mit großer Zärtlichkeit aus (vgl. Mt 19,14) und bezeichnete ihre Fähigkeit, das Evangelium anzunehmen, als beispielhaft, um in das Himmelreich zu gelangen (vgl. Mk 10,14; Mt 18,3).
439 Voller Schmerz stellen wir fest, dass eine große Zahl unserer Kinder betroffen ist von Armut, innerfamiliärer Gewalt (vor allem in irregulären und zerfallenen Familien) und sexuellem Missbrauch. Zu ihnen gehören die vielen arbeitenden Kinder, die Straßenkinder, die HIV-infizierten Kinder, Waisen, Kindersoldaten, betrogene Mädchen und Jungen, die virtuell und real zu Pornografie und Prostitution gezwungen werden. Vor allem in den ersten Lebensjahren (0–6 Jahre) bedürfen die Kinder besonderer Aufmerksamkeit und besonderen Schutzes. Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben angesichts des Leids so vieler unschuldiger Kinder.
440 Andererseits bietet die Kindheit als erster Lebensabschnitt des Neugeborenen eine wunderbare Gelegenheit, den Glauben weiterzugeben. Mit großer Dankbarkeit sehen wir das wertvolle Wirken so vieler Institutionen im Dienste der Kinder.
441 In diesem Kontext unterbreiten wir einige Orientierungen für die Pastoral:
a) Sich von der Haltung Jesu gegenüber den Kindern inspirieren lassen; sie als die Auserwählten des Gottesreiches aufnehmen und respektieren, indem man ihnen eine umfassende Bildung zuteil werden lässt. Von großer Bedeutung für ihr Leben ist das Beispiel des Gebets der Eltern und Großeltern, die den Auftrag haben, ihre Kinder und Enkelkinder die ersten Gebete zu lehren.
b) Einen Fachbereich bzw. eine Abteilung für Kinder gründen – falls es so etwas noch nicht gibt –, um zeitweilig oder langfristig regelmäßige Aktionen für Mädchen und Jungen durchzuführen.
c) Stärker dafür sorgen, dass die Kinder als wichtige und besonders schutzbedürftige Gruppe in Kirche, Gesellschaft und Staat anerkannt werden.
d) Die Würde und die unverzichtbaren natürlichen Rechte der Jungen und Mädchen schützen, unbeschadet der legitimen Rechte der Eltern. Darüber wachen, dass die Kinder eine ihrem Alter entsprechende Erziehung in einer Atmosphäre von Solidarität, Zuneigung und gesunder Sexualität erfahren.
e) Die pastoralen Aktivitäten für die jüngste Altersstufe unterstützen.
f) Die pädagogischen Konzepte für die Erziehung der Kinder im Glauben studieren und bewerten, insbesondere alles, was sich auf die christliche Initiation bezieht. Dabei spielt die Zeit der Erstkommunion eine herausragende Rolle.
g) Die missionarische Fähigkeit der Mädchen und Jungen anerkennen, denn sie können nicht nur die anderen Kinder, mit denen sie zusammen sind, sondern auch ihre Eltern evangelisieren.
h) Das Kindermissionswerk unterstützen.
i) Die Erforschung der Kindheit weiter vorantreiben und die Ergebnisse darüber ständig verbreiten, damit sowohl ihre Schutzbedürftigkeit nachhaltig anerkannt als auch Initiativen zugunsten ihrer Verteidigung und ihrer umfassenden Förderung nachhaltig wirken können.
Heranwachsende und Jugendliche
442 Der Lebensabschnitt der Adoleszenz verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Heranwachsenden sind keine Kinder mehr, aber auch noch keine Jugendlichen. Sie sind in dem Alter, wo sie ihre eigene Identität suchen, von den Eltern unabhängig werden wollen und die Bedeutung der Gruppe für sich entdecken. In diesem Alter können sie leicht falschen Führern in die Hände fallen und Banden bilden. Es ist also notwendig, die Pastoral für Heranwachsende durch eigene Gestaltungsmöglichkeiten anzuregen, damit die Heranwachsenden am Glauben festhalten und darin wachsen können. Der Heranwachsende will die Freundschaft mit Jesus erfahren können.
443 Heranwachsende und Jugendliche bilden die große Mehrheit der Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik. Sie stellen als Jünger und Missionare unseres Herrn Jesus ein enormes Potential für die Gegenwart und Zukunft der Kirche und unserer Völker dar. Die Jugendlichen sind offen dafür, ihre Berufung zu Freunden und Jüngern Christi zu entdecken. Sie sind aufgerufen, „Wächter des Morgen“<ref> Johannes PaulII., Botschaft für den XVIII. Weltjugendtag, Rom, 8. März 2003, Nr. 6.</ref> zu sein, indem sie sich für die Erneuerung der Welt im Licht des Planes Gottes einsetzen. Sie fürchten weder Opfer noch die Hingabe des eigenen Lebens, wohl aber ein sinnloses Leben. Wegen ihrer Großherzigkeit sind sie aufgerufen, den Geschwistern, besonders den Bedürftigsten, mit all ihrer Zeit und ihrem Leben zu dienen. Sie sind in der Lage, sich falschen Glücksversprechungen und vorgetäuschten Paradiesen der Drogen, der Vergnügungssucht, dem Alkohol und allen Formen der Gewalt zu widersetzen. Bei ihrer Suche nach Lebenssinn besitzen sie die Fähigkeit und Empfindsamkeit, den besonderen Ruf, den der Herr Jesus an sie richtet, zu hören. Als missionarische Jünger sind die neuen Generationen aufgerufen, den Lebensentwurf Christi allen jungen Geschwistern zu überbringen und ihn beim Aufbau von Kirche und Gesellschaft gemeinsam mit ihnen zu leben.
444 Auf der anderen Seite stellen wir mit Besorgnis fest, dass unzählige Jugendliche unseres Kontinents Situationen durchleben, die sie zutiefst beeinträchtigen: die Folgen der Armut hemmen ein harmonisches Aufwachsen und sind Ursache für gesellschaftlichen Ausschluss; Sozialisierung und Wertevermittlung vollzieht sich immer seltener in den traditionellen Institutionen, hauptsächlich in neuen Milieus, die stark belastet sind durch Entfremdung; die Jugendlichen sind besonders empfänglich für die neuen, durch die Globalisierung verbreiteten Formen kulturellen Ausdrucks, die ihre eigene persönliche und gesellschaftliche Identität in Mitleidenschaft ziehen. Sie lassen sich allzu leicht von neuen religiösen und pseudoreligiösen Strömungen beeinflussen. Die Krise, die die Familie heutzutage durchlebt, verursacht in den jungen Menschen eine tiefe Gefühlsarmut und emotionale Konflikte.
445 Die Jugendlichen sind besonders gefährdet, weil sie keine gute Ausbildung erhalten und deshalb im Wettbewerb nicht standhalten können. Hinzu kommen reduktionistische anthropologische Sichtweisen, die ihren Lebenshorizont einengen und verhindern, dass sie Entscheidungen treffen, die von Dauer sind. Jugendliche beteiligen sich nicht am politischen Leben, weil sie durch Korruptionsfälle, durch das geringe Ansehen von Politikern und das Bestreben, die persönlichen Interessen dem Gemeinwohl voranzustellen, misstrauisch geworden sind. Mit Sorge stellen wir fest, dass Jugendliche Selbstmord begehen. Andere wiederum haben keine Möglichkeit zu studieren oder zu arbeiten, und viele verlassen ihre Heimat, weil sie in ihren Ländern keine Zukunft sehen. Dadurch erhält das Phänomen der Mobilität und der Migration der Menschen ein jugendliches Gesicht. Besorgniserregend ist auch, dass viele Jugendliche die virtuelle Kommunikation unüberlegt nutzen und Missbrauch damit treiben.
446 Angesichts dieser Herausforderungen und Bedrohungen möchten wir einige Handlungsvorschläge machen:
a) In Fortsetzung der vorangegangenen Generalversammlungen und in engem Kontakt mit den Familien in wirksamer und realistischer Weise die vorrangige Option für die Jugend erneuern und der Jugendpastoral in den kirchlichen Gemeinschaften (Diözesen, Pfarrgemeinden, Bewegungen usw.) neue Impulse geben.
b) Die kirchlichen Bewegungen, die eine auf die Evangelisierung der Jugendlichen gerichtete Pädagogik vertreten, ermutigen und sie einladen, ihren charismatischen, erzieherischen und missionarischen Reichtum großzügiger in den Dienst der Ortskirchen zu stellen.
c) Den Jugendlichen nahe bringen, in der Kirche die Begegnung mit dem lebendigen Jesus Christus zu suchen und ihm nachzufolgen, und zwar im Licht des Planes Gottes, der ihnen die volle Verwirklichung ihrer Menschenwürde garantiert, der sie anregt, ihre Persönlichkeit zu bilden, und jedem eine besondere Option für seine Berufung anbietet: das Priesteramt, das geweihte Leben oder die Ehe. Bei der Begleitung in ihrer Berufungsentscheidung werden die Jugendlichen hingeführt zum persönlichen Gebet und zur lectio divina, zum häufigen Empfang der Eucharistie und des Versöhnungssakraments, zu geistlicher Führung und zum Apostolat.
d) In der Jugendpastoral auf die Sinn- und Orientierungsfragen des Lebens reagieren und das missionarische Engagement sichern helfen, und zwar dadurch, dass man stärker den Prozesscharakter von Bildung und Reifung im Glauben hervorhebt. Ganz besonders soll nach der Einführung einer ansprechenden Katechese für die Jugendlichen gesucht werden, durch die sie das Mysterium Christi und die Schönheit der sonntäglichen Eucharistie kennen lernen, damit sie in ihr den lebendigen Christus und das faszinierende Mysterium der Kirche entdecken.
e) Den Jugendlichen durch die Jugendpastoral helfen, sich die vorrangige Option für die Armen und Bedürftigen zu Eigen zu machen und sich – im Einklang mit der Soziallehre der Kirche – zu bilden, damit sie nach und nach sozial und politisch handeln und Strukturen verändern können.
f) Die Jugendlichen dringend weiterbilden, damit sie in der Arbeitswelt Chancen haben und sich nicht den Drogen und der Gewalt hingeben.
g) Die pastoralen Methoden für die Arbeit mit Erwachsenen und Jugendlichen besser aufeinander abstimmen.
h) Dafür sorgen, dass Jugendliche begleitet von ihren Hirten mit entsprechender spiritueller und missionarischer Vorbereitung an Wallfahrten teilnehmen und zu den nationalen Jugendtagen oder Weltjugendtagen kommen können.
Die alten Menschen sind ein wahrer Reichtum
447 Die Darstellung Jesu im Tempel (vgl. Lk 2,41–50) zeigt uns, wie die Generationen, die Kinder und alten Menschen, einander begegnen. Das Kind betritt das Leben, nimmt das Gesetz an und erfüllt es; die alten Menschen feiern das Leben in der Freude des Heiligen Geistes. Kinder und alte Menschen erbauen die Zukunft der Völker. Die Kinder, weil sie die Geschichte vorantreiben, die Alten, weil sie ihre Lebenserfahrungen und Lebensweisheit einbringen.
448 Die alten Menschen müssen Respekt und Dankbarkeit in erster Linie durch die eigene Familie erfahren. Auf vielfältige Weise ermahnt uns Gottes Wort, die älteren und alten Menschen zu respektieren und zu schätzen. Es fordert uns sogar auf, dankbar von ihnen zu lernen und sie zu begleiten, wenn sie einsam und gebrechlich werden. Die Aussage Jesu: „Die Armen habt ihr immer bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, so oft ihr wollt“ (Mk 14,7) kann man sehr wohl auf sie hin verstehen, denn sie sind Teil jeder Familie, jedes Volkes und jeder Nation. Dennoch werden sie oft vergessen oder von der Gesellschaft, ja sogar von ihren eigenen Familien vernachlässigt.
449 Viele ältere Menschen haben an ihrem Ort und mit ihrer Berufung ihr Leben für das Wohl der Familie und der Gemeinschaft eingesetzt. Viele sind durch ihr Zeugnis und ihr Tun wahre missionarische Jünger Jesu. Sie verdienen Anerkennung, als Söhne und Töchter Gottes an der Fülle der Liebe Anteil zu haben; sie verdienen unsere Liebe besonders, weil sie das Kreuz ihrer Gebrechen, zunehmenden Schwäche oder ihrer Einsamkeit tragen. Die Familie sollte nicht nur die Schwierigkeiten sehen, die das Zusammenleben mit den alten Menschen und ihre Betreuung bedeutet. Die Gesellschaft darf sie nicht als Last bzw. Ballast ansehen. Es ist daher bedauernswert, dass es in einigen Ländern keine Sozialpolitik gibt, die die Rentner, Pensionäre, Kranken oder Verlassenen ausreichend berücksichtigt. Daher rufen wir dazu auf, eine gerechte und solidarische Sozialpolitik zu entwerfen, die diesen Bedarf berücksichtigt.
450 Die Kirche fühlt sich verpflichtet, für eine umfassende menschenwürdige Betreuung aller älteren Menschen zu sorgen, ihnen zu helfen, in ihrer jeweiligen Situation die Nachfolge Christi zu leben und sie soweit als möglich in die Aufgabe der Evangelisierung einzubeziehen. Deshalb möchte sie einerseits den Ordensfrauen, Ordensmännern und den Freiwilligen für ihre Arbeit, die sie leisten, danken, andererseits die eigenen pastoralen Strukturen erneuern und noch mehr Hilfspersonal ausbilden, um diesen kostbaren Liebesdienst auszuweiten.
Die Würde und Mitbeteiligung der Frau
451 Die christliche Anthropologie betont die gleiche Würde von Mann und Frau, da sie nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen worden sind. Das Mysterium der Dreifaltigkeit lädt uns ein, in der Verschiedenheit eine Gemeinschaft von Gleichrangigen zu leben. In einer Zeit ausgeprägter männlicher Dominanz hat Jesus durch seine Praxis entscheidend auf die Würde und unbezweifelbare Größe der Frau verwiesen: Er sprach mit ihnen (vgl. Joh 4,27), hatte außergewöhnliches Mitleid mit den Sünderinnen (vgl. Lk 7,36–50; Joh 8,11), heilte sie (vgl. Mk 5,25–34), forderte die Anerkennung ihrer Würde (vgl. Joh 8,1– 11), erwählte sie als erste Zeuginnen seiner Auferstehung (vgl. Mt 28,9–10) und gab ihnen einen Platz im engsten Kreis (vgl. Lk 8,1–3). Maria, die exemplarische Jüngerin unter allen Jüngern, spielt eine grundlegende Rolle für die Rückbesinnung auf die Identität der Frau und ihre Stellung in der Kirche. Das Lied des Magnifikat erweist Maria als die Frau, die sich in der Realität engagiert und ihr mit prophetischer Stimme begegnet.
452 Die Beziehung von Mann und Frau beruht auf Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit. Es geht darum, in Eintracht zu leben, einander zu ergänzen und in gemeinsamer Anstrengung die Aufgaben zu erfüllen. Frauen und Männer tragen gemeinsam die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft unserer menschlichen Gesellschaft.
453 Wir beklagen, dass unzählige Frauen aller Schichten in ihrer Würde missachtet werden, dass sie oft allein und verlassen sind, dass ihr selbstloses Opfer und ihre selbstlose Großherzigkeit weder bei der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder noch bei der Weitergabe des Glaubens in der Familie ausreichende Anerkennung finden. Auch werden ihre unverzichtbare Mitwirkung und ihr besonderer Beitrag zum Aufbau eines humaneren gesellschaftlichen Lebens und zum Aufbau der Kirche nicht angemessen geschätzt und gefördert. Die so dringliche Würdigung und Mitwirkung der Frau wird zugleich von ideologischen Strömungen verzerrt, die von der Kultur der Konsum- und Spaßgesellschaften geprägt sind; sie bringen es sogar fertig, die Frauen neuen Formen der Sklaverei zu unterwerfen. Wir müssen in Lateinamerika und der Karibik die machohafte Mentalität hinter uns lassen, die nicht zur Kenntnis nehmen will, was das Neuartige am Christentum ist: dass es „gleiche Würde und Verantwortung der Frau wie des Mannes“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 5.</ref> anerkennt und verkündet.
454 In dieser Stunde Lateinamerikas und der Karibik muss dringend die so oft zum Schweigen gebrachte Klage der Frauen Gehör finden, die in allen Lebensphasen den verschiedensten Formen von gesellschaftlichem Ausschluss und von Gewalt unterworfen werden. Die von Armut betroffenen Frauen, die indigenen und die afrikanischstämmigen Frauen leiden unter einer doppelten Marginalisierung. Es ist dringend notwendig, dass alle Frauen ohne Einschränkung am kirchlichen, familiären, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben können, indem Räume und Strukturen geschaffen werden, die eine stärkere Einbeziehung ermöglichen.
455 Die Frauen bilden im Allgemeinen die Mehrheit in unseren Gemeinden; sie vor allem geben den Glauben weiter. Sie arbeiten mit den Pfarrern zusammen und müssen von ihnen beachtet, geschätzt und respektiert werden.
456 Es ist dringend notwendig, die Mutterschaft als einzigartige Sendung der Frauen zu schätzen. Dies steht nicht im Widerspruch zu ihrer Berufsausbildung und Berufstätigkeit in all ihren Aspekten, sondern gestattet es, dem ursprünglichen Plan Gottes treu zu bleiben, der dem Menschenpaar gemeinsam die Sendung übertragen hat, die Welt zu verbessern. Die Mutter ist in der Familie, bei der Erziehung der Kinder und der Weitergabe des Glaubens unentbehrlich. Das schließt aber nicht aus, dass sie auch aktiv am Aufbau der Gesellschaft beteiligt sein muss. Deshalb müssen die Frauen eine ganzheitliche Bildung erfahren, damit sie ihre Sendung in Familie und Gesellschaft erfüllen können.
457 Die Weisheit des Planes Gottes verlangt von uns, der weiblichen Identität – gegenüber und komplementär zur Identität des Mannes – mehr Raum zur Entfaltung zu geben. Deshalb ist die Kirche aufgerufen, zusammen mit bereits existierenden gesellschaftlichen Organisationen Projekte zur Förderung der Frau zu entwickeln, zu begleiten und durchzuführen. Dabei soll sie das geistliche Amt anerkennen, das die Frau in ihrem Wesen zutiefst bestimmt, nämlich das Leben zu empfangen, anzunehmen, zu ernähren, zu gebären, zu erhalten und zu begleiten. Die Kirche soll der Frau helfen, ihr Wesen als Frau entfalten zu können, indem sie bewohnbare Räume der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft schafft. Die Mutterschaft ist nicht eine ausschließlich biologische Realität, sondern äußert sich auf ganz verschiedene Weise. Die Berufung zur Mutterschaft vollzieht sich in vielen Formen der Liebe, des Verständnisses und des Dienstes am anderen. Die mütterliche Dimension konkretisiert sich zum Beispiel auch in der Adoption von Kindern, um ihnen Schutz und Familie zu schenken. Die Kirche engagiert sich in diesem Bereich aus ethischen und zutiefst im Evangelium verwurzelten Motiven.
458 Wir schlagen einige pastorale Maßnahmen vor:
a) Die Pastoral so gestalten, dass sie jeder einzelnen Frau und dem kirchlichen und gesellschaftlichen Umfeld ermöglicht, den „Genius der Frau“<ref> Johannes Paul II., Brief an die Frauen, 29. Juni 1995, Nr. 11.</ref> zu entdecken und zu entfalten, aber auch der eigenständigen Führungsrolle der Frauen mehr Raum zu geben.
b) Die effektive Mitwirkung von Frauen in solchen Diensten garantieren, die in der Kirche den Laien anvertraut sind, aber sie auch auf den Planungs- und Entscheidungsebenen der Pastoral beteiligen, um dadurch ihren Beitrag anzuerkennen.
c) Frauenorganisationen begleiten, die sich dafür einsetzen, dass Frauen einen Ausweg finden aus schwierigen Situationen und Gewaltverhältnissen und überall dort, wo sie ausgeschlossen sind.
d) Den Dialog mit Behörden suchen, um Programme, Gesetze und politische Maßnahmen zu erarbeiten, die es den Frauen ermöglichen, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.
Die Verantwortung des Mannes und Familienvaters
459 Der Mann ist mit seiner eigenen Charakteristik vom Gott des Lebens berufen, beim Aufbau der Gesellschaft, bei der Weiterentwicklung der Kultur und bei der Realisierung der Geschichte einen originären und notwendigen Platz einzunehmen. Zutiefst motiviert durch die wunderbare Realität der Liebe, die ihre Quelle in Jesus Christus hat, fühlt sich der Mann aufgefordert, eine Familie zu gründen. Wesentlich offen und bereit zu Gegenseitigkeit und Ergänzung erlebt und schätzt er den aktiven und unersetzbaren Reichtum, den die Frau zur Fülle seines Lebens beiträgt, und der es ihm ermöglicht, seine eigene Identität klarer zu erkennen.
460 In allen Bereichen seiner Berufung und Mission soll der getaufte Mann sich durch die Kirche gesendet fühlen, als Jünger und Missionar Zeugnis von Jesus Christus zu geben. Dennoch ist es nicht selten, dass die Männer diese Verantwortung nicht wahrnehmen und sie an die Frauen bzw. Ehefrauen delegieren.
461 Wir müssen zugestehen, dass sich in Lateinamerika und der Karibik traditionell ein großer Teil der Männer von der Kirche und damit von dem Auftrag distanziert, den sie zu erfüllen haben. Auf diese Weise haben sie sich immer mehr von Jesus Christus, dem Leben in Fülle, entfernt, das sie so sehr suchen und ersehnen. Dieses distanzierte und indifferente Verhalten der Männer stellt den Stil unserer herkömmlichen Pastoral erheblich in Frage. Es trägt dazu bei, dass die Kluft zwischen Glaube und Kultur sich immer mehr vertieft, dass der Werte- und Sinnverlust um sich greift, dass die Kraft nicht reicht, Konflikte und Frustrationen angemessen zu lösen, dass man der Wucht und Verführung der Konsum-, Spaß- und Konkurrenzkultur keinen Widerstand mehr entgegensetzen kann usw. Alles das macht die Männer anfällig für Lebensstile, die als attraktiv gelten, aber letztlich nicht menschenwürdig sind. Viele von ihnen erliegen schließlich den Versuchungen von Gewalt, Untreue, Machtmissbrauch, Drogenkonsum, Alkoholismus, Machismo und Korruption und vernachlässigen ihre Vaterrolle.
462 Zum andern fühlen sich viele Männer überfordert durch die Situation der Familie, der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Umfeldes. In der Familie fehlen Verständnis, Akzeptanz und Zuneigung; Wertschätzung wird an materielles Einkommen gebunden; sie finden keine Lebensräume, wo sie in aller Freiheit über ihre Gefühle sprechen können. Das alles macht sie zutiefst unzufrieden und liefert sie der zersetzenden Macht der heutigen Kultur aus. Angesichts dieser Situation und in Anbetracht der Folgen, die diese Lage für das Eheleben und für die Kinder hat, müssen wir in unseren Ortskirchen eine Sonderpastoral für Familienväter einrichten.
463 Folgende pastorale Maßnahmen schlagen wir vor:
a) Die Inhalte der verschiedenen Katechesen zur Vorbereitung auf die Sakramente sowie die kirchlichen Aktivitäten und Bewegungen für Familienpastoral überprüfen, um die Verkündigung und die Reflexion über die Berufung der Männer in Ehe, Familie, Kirche und Gesellschaft besser zu gestalten.
b) In den einschlägigen pastoralen Strukturen gründlicher nachdenken über die besondere Rolle, die dem Mann beim Aufbau der Familie im Sinne einer Hauskirche zukommt, insbesondere als Jünger und evangelisierender Missionar seiner Familie.
c) In allen Bereichen der katholischen Bildung und Jugendpastoral stärker jene Werte und Einstellungen verbreiten und entwickeln, die die jungen Männer und Frauen dazu befähigen, die Rolle der Männer in der Ehe, in der Ausübung der Vaterschaft und bei der Glaubenserziehung der Kinder besser wahrnehmen zu können.
d) An den katholischen Universitäten im Licht der christlichen Anthropologie und Moral entsprechende Forschungen und Reflexionen betreiben, um die heutige Lage der Männer kennen zu lernen, den Einfluss heutiger kultureller Vorbilder auf ihre Identität und ihre Mission zu verstehen und Wege zu finden, die für die Erarbeitung entsprechender pastoraler Orientierungen hilfreich sein können.
e) Die neoliberale Mentalität verurteilen, die den Familienvater darauf reduziert, ein Instrument für Produktion und Gewinn zu sein, und die ihm in der Familie nur die Rolle des Versorgers zuweist. Das stärker werdende Bestreben öffentlicher Politik und privater Initiativen, auch noch den Sonntag zum Arbeitstag zu machen, wirkt sich destruktiv auf Familie und Eltern aus.
f) Die Männer aktiv am Leben der Kirche beteiligen, indem mehr Räume und Dienste in den angesprochenen Bereichen geschaffen werden.
Die Kultur des Lebens verbreiten und verteidigen
464 Der Mensch, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen worden ist, besitzt höchste Würde, die wir nicht mit Füßen treten dürfen, sondern zu respektieren und zu fördern haben. Das Leben ist ein unentgeltliches Geschenk Gottes, es ist Gabe und Aufgabe, und wir müssen es von der Empfängnis an in all seinen Entwicklungsstufen bis hin zum natürlichen Tod – ohne Einschränkungen – schützen.
465 Die Globalisierung beeinflusst die Wissenschaften und ihre Methoden, lässt aber alle ethischen Maßstäbe beiseite. Als Jünger Jesu müssen wir das Evangelium in das große Szenario der Wissenschaften hineintragen, den Dialog zwischen Wissenschaft und Glaube fördern und in diesem Kontext die Verteidigung des Lebens zur Sprache bringen. Dieser Dialog muss von der Ethik her – und in besonderen Fällen – von einer gut begründeten Bioethik her geführt werden. Die Bioethik arbeitet auf der erkenntnistheoretischen Grundlage interdisziplinär, so dass jede Wissenschaft ihre Schlussfolgerungen beitragen kann.
466 Dieser Herausforderung des Dialogs zwischen Glaube, Vernunft und Wissenschaften dürfen wir uns nicht entziehen. In erster Linie gilt unsere Aufmerksamkeit den Familien, die leidvoll mit den ethischen und bioethischen Fragestellungen konfrontiert sind. Deshalb müssen wir dringend versuchen, die entsprechenden Debatten im Licht des Evangeliums und des Lehramts der Kirche zu erhellen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Fides et ratio, 14. September 1998.</ref>
467 Heutzutage erleben wir neue Herausforderungen, die von uns verlangen, Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben. Das Kind, das im Mutterschoß wächst, und die Menschen am Abend des Lebens schreien zum Himmel nach einem würdigen Leben. Davon sind wir innerlich zutiefst bewegt. Die Liberalisierung und Verharmlosung von Abtreibungspraktiken sind abscheuliche Verbrechen, ebenso wie Euthanasie, genetische Manipulation sowie Manipulation an Embryonen, medizinische Experimente, die mit der Ethik unvereinbar sind, Todesstrafe und so viele andere Angriffe auf die Würde und das Leben des Menschen. Wenn wir an einem soliden unverletzlichen Fundament für die Menschenrechte festhalten wollen, ist es unabdingbar anzuerkennen, dass das menschliche Leben vom Moment der Befruchtung an immer verteidigt werden muss. Wenn dem nicht so ist, werden die Mächtigen stets je nach Belieben und Umständen Rechtfertigungen finden, um Menschen zu misshandeln.<ref> Vgl. Evangelium vitae.</ref>
468 Die Sehnsucht nach Leben, Frieden, Geschwisterlichkeit und Glück wird durch die Götzen von Profit und Effizienz nicht gestillt. Unempfindlichkeit gegenüber fremdem Leid, Angriffe auf das Leben im Mutterschoß, Kindersterblichkeit, Verfall von Krankenhäusern, Gewalttätigkeiten gegen Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen – das alles unterstreicht, wie wichtig der Kampf für das Leben, für die Würde und Integrität der menschlichen Person ist. Die grundlegende Verteidigung der Würde und dieser Werte beginnt in der Familie.
469 Damit die Jünger und Missionare Gott loben, ihm für das Leben danken und dem Leben dienen können, schlagen wir folgende Handlungsmöglichkeiten vor:
a) In den Bischofskonferenzen und in den Diözesen immer wieder Weiterbildungskurse zur Familie und zu ethischen Fragen für Bischöfe und für Mitarbeitende in der Pastoral durchführen. Sie sollen dazu beitragen, die Dialoge zu besonderen Lebensfragen und Lebensproblemen auf eine feste Basis zu stellen.
b) Dafür sorgen, dass Priester, Diakone, Ordensleute und Laien Zugang zu Universitätsstudien über Familienmoral und ethische Fragen haben und – wenn möglich – auch spezielle Kurse zu Fragen der Bioethik besuchen können.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Familie und ethische Fragen, 2006.</ref>
c) Weitere Foren, Gespräche, Seminare und Kongresse durchführen, bei denen konkrete aktuelle Themen über das Leben in seinen verschiedensten Manifestationen, insbesondere über das Leben des Menschen, studiert, reflektiert und analysiert werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang dem Respekt vor dem Leben von der Empfängnis an bis zu seinem natürlichen Tod.
d) Die katholischen Universitäten bitten, Studienprogramme zur Bioethik zu organisieren, die für alle zugänglich sind, und öffentlich zu den großen Themen der Bioethik Stellung zu nehmen.
e) In den Bischofskonferenzen jeweils eine Arbeitsgruppe für Ethik und Bioethik gründen. Ihr sollen Fachleute angehören, die treu zur Lehre des kirchlichen Lehramtes über das Leben stehen. Die Arbeitsgruppe soll forschen, studieren, diskutieren und die Gemeinschaft auf den neuesten Stand bringen, wenn die öffentliche Diskussion dies erfordert. Die Arbeitsgruppe stellt sich der jeweiligen Wirklichkeit vor Ort, im Land oder in der Welt, um im gegebenen Moment das Leben zu verteidigen und zu fördern.
f) Den Eheleuten Bildungsprogramme für verantwortete Elternschaft und den Gebrauch natürlicher Methoden zur Geburtenregelung anbieten als anspruchsvolle Erziehung zum Leben und zur Liebe.<ref> Vgl. Evangelium vitae 97, Humanae vitae 10.</ref>
g) Frauen, die sich entschieden haben, nicht abzutreiben, mit besonderer Zuwendung und Solidarität pastoral unterstützen und begleiten; Frauen, die abgetrieben haben, liebevoll annehmen, um ihnen zu helfen, ihre tiefen Wunden zu heilen, und sie einladen, das Leben zu verteidigen. Die Abtreibung hinterlässt zwei Opfer: zum einen das Kind, zum andern aber auch die Mutter.
h) Kompetente Laien weiterbilden und zum Handeln befähigen, sie anregen, sich zu organisieren, um das Leben und die Familie zu verteidigen, und sie ermutigen, sich an nationalen und internationalen Organisationen zu beteiligen.
i) Sicherstellen, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen in die Gesetzgebung aufgenommen wird, und darüber wachen, dass sie von den öffentlichen Verwaltungen respektiert wird.
Schutz der Umwelt
470 Als Jünger Jesu fühlen wir uns gedrängt, für das Geschenk der Schöpfung Dank zu sagen. Sie spiegelt die Weisheit und Schönheit des schöpferischen Logos wider. Im wunderbaren Plan Gottes sind Mann und Frau dazu bestimmt, in Gemeinschaft mit Gott, in Gemeinschaft untereinander und in Gemeinschaft mit der ganzen Schöpfung zu leben. Der Gott des Lebens hat dem Menschen sein Schöpfungswerk anvertraut, damit er „es bebaue und hüte“ (Gen 2,15). Jesus kannte die Sorge des Vaters für die Geschöpfe, die er ernährt (vgl. Lk 12,24) und in all ihrer Pracht kleidet (vgl. Lk 12,27), sehr gut. Als er auf den Wegen seiner Heimat umherging, hielt er nicht nur inne, um die Schönheit der Natur zu betrachten, sondern er forderte seine Jünger dazu auf, die Botschaft zu entdecken, die in den Dingen verborgen ist (vgl. Lk 12,24–27; Joh 4,35). Die Geschöpfe des Vaters preisen ihn „schon allein durch ihr Dasein“,<ref> Katechismus der Katholischen Kirche 2416.</ref> und deshalb muss der Mensch sie in aller Vorsicht und Zurückhaltung gebrauchen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 2418.</ref>
471 In Lateinamerika und der Karibik wächst das Bewusstsein dafür, dass die Natur ein unverdientes Erbe ist, das wir geschenkt bekommen haben, um es zu schützen; dass sie ein kostbarer Raum für das Zusammenleben der Menschen und der Verantwortungsbereich sorgsamer Verwaltung durch den Menschen für das Wohlergehen aller ist. Dieses Erbe erweist sich oft als zerbrechlich und schutzlos gegenüber den ökonomischen und technologischen Mächten. Als Propheten des Lebens wollen wir deshalb darauf bestehen, dass bei den Eingriffen in die natürlichen Ressourcen nicht die Interessen von Wirtschaftskreisen den Vorrang haben dürfen, die zum Schaden ganzer Nationen und sogar der Menschheit auf irrationale Weise die Quellen des Lebens vernichten. Die nachfolgenden Generationen haben das Recht, von uns eine bewohnbare Welt zu bekommen und nicht einen vergifteten Planeten. Erfreulicherweise hat man in einigen katholischen Schulen damit begonnen, in den Lehrplan die Erziehung zu ökologischer Verantwortung mit einzubeziehen.
472 Die Kirche dankt allen, die sich um den Schutz des Lebens und der Umwelt sorgen. Es ist viel zu wenig im Bewusstsein der Menschen, dass heute die Humanökologie<ref> Vgl. Centesimus annus 38.</ref> auf die schwerwiegendste Weise zerstört wird. Sie findet allerdings hohe Beachtung bei den Kleinbauern, die mit selbstloser Liebe unter großer Mühe den Boden bearbeiten, um unter manchmal äußerst schwierigen Bedingungen für den Unterhalt ihrer Familien und für die Weitergabe der Früchte der Erde an alle Menschen zu arbeiten. Sie wird auch besonders geschätzt von den Indigenen, weil sie die Natur respektieren und die Mutter Erde lieben als Nahrungsquelle, gemeinsames Haus und Altar, auf dem die Menschen miteinander teilen.
473 Der Naturreichtum Lateinamerikas und der Karibik erfährt heute eine irrationale Ausbeutung, die immer mehr Spuren der Verwüstung, ja sogar des Todes in unserer gesamten Region hinterlässt. Für diesen Prozess trägt das heutige Wirtschaftsmodell die entscheidende Verantwortung, das dem maßlosen Gewinnstreben Vorrang vor dem Leben der Menschen und Völker und vor dem vernunftgemäßen Umgang mit der Natur gibt. Die Zerstörung unserer Wälder und der biologischen Vielfalt durch räuberisch-egoistisches Verhalten ist moralisch von denen zu verantworten, die sie verursachen. Denn sie bringt das Leben von Millionen Menschen und speziell den Lebensraum der Bauern und Indigenen in Gefahr, die auf die Ländereien an Berghängen und in die Großstädte vertrieben werden, wo sie in den Elendsgürteln dicht zusammengedrängt leben müssen. Unsere Region muss sich in agroindustrieller Hinsicht weiterentwickeln, damit der Reichtum ihres Bodens und die Fähigkeiten ihrer Menschen vor allem dem Gemeinwohl zugute kommen. Wir müssen aber auch die Probleme erwähnen, die eine wilde, unkontrollierte Industrialisierung unserer Städte und des Landes verursacht; sie vergiftet die Umwelt zunehmend durch alle Arten von organischen und chemischen Abfällen. Wir sind auch alarmiert durch Industrien der Rohstoffförderung. Wenn diese ihre schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt nicht kontrollieren und gegensteuern, vernichten sie die Wälder, vergiften das Wasser und verwandeln die ausgebeuteten Gebiete in ungeheure Wüsten.
474 Angesichts dieser Situation geben wir nachfolgend einige Vorschläge und Orientierungen:
a) Unsere Völker evangelisieren, um das Geschenk der Schöpfung zu entdecken und zu lernen, sie als Haus aller Lebewesen und als Mutter des Lebens auf dem Planeten zu betrachten und zu schützen. Durch die Erziehung zu einem Lebensstil solidarischer Einfachheit und Genügsamkeit sollen die Menschen die Erde und ihre Reichtümer verantwortlich verwalten, damit sie ihrer universalen Bestimmung entsprechend Früchte für alle bringen kann.
b) Bei den Bevölkerungen, die in den durch die rücksichtslose Entwicklung am meisten geschwächten und bedrohten Gebieten leben, stärker pastoral präsent sein, um ihre Anstrengungen für eine gerechte Verteilung des Landes, des Wassers und der urbanen Räume zu unterstützen.
c) Ein alternatives Modell für ganzheitlich solidarische Entwicklung suchen.<ref> Populorum progressio 20: „Die wahre Entwicklung [ist jene], die für den Einzelnen, die für die Völker der Weg von weniger menschlichen zu menschlicheren Lebensbedingungen ist“.</ref> Es muss auf einer Ethik gegründet sein, die um die Verantwortung für eine authentische Natur- und Humanökologie weiß. Es muss auf dem Evangelium von Gerechtigkeit, Solidarität und der universellen Bestimmung der Güter gegründet sein. Es muss die utilitaristische und individualistische Logik beenden, die es unterlässt, die ökonomischen und technologischen Mächte nach ethischen Kriterien zu beurteilen. Wir haben also unsere Bauern zu ermutigen, sich so zu organisieren, dass sie ihre gerechten Forderungen durchsetzen können.
d) Stärkere Anstrengungen unternehmen zur Verbreitung einer transparenten Politik und einer Bürgerbeteiligung, die den Schutz, die Bewahrung und die Erholung der Natur garantieren.
e) Maßnahmen festlegen zur Überwachung und gesellschaftlichen Kontrolle, damit in unseren Ländern internationale Umweltstandards angewendet werden.
475 In ganz Amerika die Bedeutung Amazoniens für die gesamte Menschheit bewusst machen. Zwischen den Ortskirchen der verschiedenen südamerikanischen Länder, die sich im Amazonasbecken befinden, eine Gesamtpastoral mit jeweils angepassten unterschiedlichen Prioritäten etablieren, um ein Entwicklungsmodell zu schaffen, das die Armen privilegiert und dem Gemeinwohl dient. Durch Einsatz von Personal und von notwendigen finanziellen Mitteln die Kirche in Amazonien unterstützen, damit sie weiter das Evangelium vom Leben verkündet und ihre pastorale Arbeit in der Ausbildung von Laien und Priestern fortsetzt, indem sie Seminare, Kurse, Austausch und Besuche in den Gemeinden organisiert und Bildungsmaterialien anbietet.
Unsere Völker und die Kultur
Die Kultur und ihre Evangelisierung
476 Kultur im weitesten Sinne ist die je eigene Art, mit der Menschen und Völker ihr Verhältnis zur Natur und zu ihren Mitmenschen, untereinander und zu Gott gestalten, um zur vollen Verwirklichung des Menschseins zu gelangen.<ref> Vgl. Gaudium et spes 53.</ref> Kultur gehört zum Erbe aller Völker, auch der Völker von Lateinamerika und der Karibik.
477 Die 5. Generalversammlung von Aparecida schaut positiv und voller Wohlwollen auf die in unserem Kontinent vorhandenen verschiedenen Kulturen. Der Glaube kann nur dann angemessen bekannt, verstanden und gelebt werden, wenn er tief in das kulturelle Fundament eines Volkes eindringt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Nationalen Kongresses der Kirchlichen Bewegung für kulturelles Engagement, 16. Januar 1982.</ref> Daran erkennt man, wie wichtig die Kultur für die Evangelisierung ist. Denn die Erlösung durch Jesus Christus muss Licht und Kraft sein für alle Sehnsucht und Freude, für alles Leid und für die Probleme, die in den jeweiligen Kulturen der Völker vorhanden sind. Wenn der Glaube den Kulturen begegnet, reinigt er sie, bringt ihre Wirkungskräfte zur Entfaltung und bereichert sie. Denn sie alle suchen letztlich die Wahrheit, die Christus ist (Joh 14,6).
478 Mit dem Heiligen Vater danken wir dafür, dass die Kirche, „indem sie den christlichen Gläubigen hilft, dass sie ihren Glauben freudig und bewusst leben“, im Verlauf der Geschichte dieses Kontinents schöpferisch und anregend für die Kultur gewirkt hat: „Der Glaube an Gott beseelt seit mehr als fünf Jahrhunderten das Leben und die Kultur dieser Länder.“ Diese Realität hat „in der Kunst, in der Musik, in der Literatur und vor allem in den religiösen Traditionen und in der Lebensweise seiner Völker Ausdruck gefunden [...], die durch ein und dieselbe Geschichte und ein und denselben Glauben so verbunden sind, dass sie selbst bei der Vielfalt von Kulturen und Sprachen einen tiefen Einklang entstehen lassen“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref>
479 Durch die Inkulturation des Glaubens wird die Kirche mit neuen Ausdrucksformen und Werten bereichert. Sie kann auf diese Weise immer besser das Geheimnis Christi bekunden und feiern, den Glauben mit dem Leben verbinden und so nicht nur geographisch, sondern auch kulturell zu einer vollkommeneren Katholizität beitragen. Dennoch sind die Licht- und Schattenseiten der heutigen Kultur eine Herausforderung für das kulturelle Erbe Lateinamerikas und der Karibik. Einerseits müssen wir uns wohlwollend bemühen, sie zu verstehen, andererseits sie aber auch kritisch hinterfragen, um zu erkennen, was an ihr menschlicher Begrenzung und Sünde entstammt. Durch die neuen Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik ergeben sich stets neue, vielfältige Veränderungen. Daher hat sich das einheitliche Weltbild aufgelöst, das dem täglichen Leben Orientierung gab. Jeder einzelne Mensch muss die gesamte Verantwortung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit übernehmen und seine soziale Identität selbst bestimmen. So stellen wir einerseits fest, dass Subjektivität eine größere Rolle spielen kann, dass Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen respektiert werden; zweifellos eine wichtige Errungenschaft der Menschheit. Andererseits macht der von der globalisierten Kultur stark propagierte kulturelle und religiöse Pluralismus, den Individualismus, der für den ethischen Relativismus und die Krise der Familie verantwortlich ist, schließlich zum beherrschenden Charakteristikum der heutigen Gesellschaft.
480 Viele Katholiken haben angesichts dieser kulturellen Veränderung ihre Orientierung verloren. Es ist Aufgabe der Kirche, „anthropologische Modelle [...], die mit der Natur und der Würde des Menschen unvereinbar sind“,<ref> Benedikt XVI., Ansprache an das Diplomatische Korps, 8. Januar 2007.</ref> eindeutig beim Namen zu nennen. Wir müssen den Menschen in die Mitte des sozialen und kulturellen Lebens rücken, denn in ihm vereinigt sich die Würde, Bild und Gleichnis Gottes zu sein, mit der Bestimmung, durch den Sohn Gottes Kinder Gottes zu sein, die berufen sind, an seinem Leben für alle Ewigkeit Teil zu haben. Der christliche Glaube zeigt uns Jesus Christus als letzte Wahrheit des Menschen,<ref> Vgl. Gaudium et spes 22.</ref> als Modell, in dem das Menschsein sich in all seinem ontologischen und existentiellen Glanz entfaltet. Ihn in unserer Zeit mit allem, was er bedeutet, zu verkünden, erfordert Mut und prophetischen Geist. Die Kultur des Todes aufzuhalten durch die christliche Kultur der Solidarität ist ein Gebot, das uns alle angeht und das von jeher Ziel der Soziallehre der Kirche war. Dennoch kann das Evangelium nicht losgelöst von der heutigen Kultur verkündet werden. Die Kirche muss sie kennen, sie bewerten und in gewissem Sinn aufgreifen, indem sie eine Sprache spricht, die von unseren Zeitgenossen verstanden wird. Nur so kann der christliche Glaube erfahrbar und wirksam erlösen. Doch zugleich muss der Glaube alternative kulturelle Modelle für die heutige Gesellschaft hervorbringen. Die Christen sollten mit den Talenten, die sie bekommen haben, mit den in ihren jeweiligen Handlungsräumen sachgemäßen Talenten in Kultur, Politik, öffentlicher Meinung, Kunst und Wissenschaft kreativ tätig werden.
Bildung als öffentliches Gut
481 An anderer Stelle haben wir von der katholischen Bildung gesprochen, doch als Hirten müssen wir auch darauf hinweisen, dass der Staat die Aufgabe hat, in besonderer Weise über die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zu wachen. In den Ausbildungszentren darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass Offenheit für Transzendenz zum menschlichen Leben gehört und dass deshalb eine ganzheitliche Bildung der Menschen die Einbeziehung religiöser Inhalte fordert.
482 Die Kirche meint: „Die Kinder und Heranwachsenden haben ein Recht darauf, angeleitet zu werden, die sittlichen Werte mit richtigem Gewissen zu schätzen und sie in personaler Bindung zu erfassen und Gott immer vollkommener zu erkennen und zu lieben. Daher richtet sie an alle Staatslenker und Erzieher die dringende Bitte, dafür zu sorgen, dass die Jugend niemals dieses heiligen Rechtes beraubt werde“.<ref> Gravissimum educationis 1.</ref>
483 Angesichts der Schwierigkeiten, die wir in dieser Hinsicht in verschiedenen Ländern vorfinden, wollen wir uns für die religiöse Bildung der Gläubigen, die staatliche Schulen besuchen, einsetzen und uns darum bemühen, sie außerdem durch andere Bildungsinstanzen in unseren Gemeinden und Diözesen zu begleiten. Gleichzeitig danken wir den Religionslehrern, die sich in den staatlichen Schulen engagieren, und ermutigen sie zu dieser Tätigkeit. Wir möchten sie anregen, sich in kirchlicher Lehre und Pädagogik weiterzubilden. Wir danken auch allen, die durch Gebet und Gemeinschaftsleben sich mühen, Zeugen des Glaubens und der Friedfertigkeit in diesen Schulen zu sein.
Pastoral der sozialen Kommunikation
484 Die technologische Revolution und die Globalisierungsprozesse machen die heutige Welt zu einem großen, medial vermittelten Kulturraum. Das bedeutet auch, die neuen Sprachen anzuerkennen, die zu stärkerer Humanisierung des Globus beitragen können. Diese neuen Sprachen bilden ein Artikulationselement für die Veränderungen in der Gesellschaft.
485 „In unserer Zeit, die von den Massenmedien oder sozialen Kommunikationsmitteln geprägt ist, [kann] bei der ersten Bekanntmachung mit dem Glauben, bei der katechetischen Unterweisung und bei der weiteren Vertiefung des Glaubens auf diese Mittel nicht verzichtet werden. In den Dienst des Evangeliums gestellt, vermögen diese Mittel den Bereich der Vernehmbarkeit des Wortes Gottes fast unbegrenzt auszuweiten; sie bringen die Frohbotschaft zu Millionen von Menschen. Die Kirche würde vor dem Herrn schuldig, wenn sie nicht diese machtvollen Mittel nützte, die der menschliche Verstand immer noch weiter vervollkommnet. Dank dieser Mittel verkündet die Kirche die ihr anvertraute Botschaft ‚von den Dächern‘ (vgl. Mt 10,27; Lk 12,3). In ihnen findet sie eine moderne, wirksame Form der Kanzel. Durch sie vermag sie zur Masse des Volkes zu sprechen.“<ref> Evangelii nuntiandi 45.</ref>
486 Die bei der 5. Generalversammlung in Aparecida anwesenden Bischöfe versprechen, die Gemeinden zu begleiten, um in diesem Bereich Jünger und Missionare auszubilden. Dabei geht es um folgende Ziele:
a) Diese neue Kommunikationskultur kennen und schätzen lernen.
b) Alle Mitarbeiter und Gläubigen bei der beruflichen Ausbildung in der Kultur der Kommunikation unterstützen.
c) Kompetente Kommunikationsfachleute ausbilden – insbesondere unter den Eigentümern, Direktoren, Programmverantwortlichen, Journalisten und Sprechern –, die sich bei der Umwandlung der Gesellschaft im Geiste des Evangeliums für menschlich-christliche Werte engagieren.
d) Seitens der Kirche eigene soziale Kommunikationsmedien einrichten und ausbauen, und zwar sowohl in Radio und Fernsehen als auch auf Internet-Seiten und in den Printmedien.
e) In den sozialen Kommunikationsmitteln präsent sein: Presse, Radio und Fernsehen, digitales Kino, Internetplätze, Foren und viele andere Systeme, damit das Mysterium Christi in ihnen Platz findet.
f) Ab dem Kleinkindalter zu einer kritischen Einstellung im Gebrauch der Kommunikationsmittel erziehen.
g) Die bereits existierenden oder in diesem Bereich zu schaffenden Initiativen mit Gemeinschaftsgeist beleben.
h) Gesetze zur Förderung einer neuen Kultur anregen, die Kinder, Jugendliche und die verwundbarsten Menschen schützen, damit die Kommunikation die Werte nicht verunglimpft, sondern im Gegenteil gültige Unterscheidungskriterien schafft.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Charta der Familienrechte, 22. Oktober 1983, Art. 5 f.</ref>
i) Eine Kommunikationspolitik entwickeln, die dazu beitragen kann, dass sowohl die Kommunikationspastoral als auch die Kommunikationsmedien katholischer Prägung im Evangelisierungsauftrag der Kirche ihren Platz finden.
487 Das Internet muss im Rahmen der sozialen Kommunikation in der bereits vom Zweiten Vatikanischen Konzil verkündeten Linie als eine der „wunderbaren Erfindungen der Technik“<ref> Inter mirifica 1.</ref> verstanden werden. „Die neue Welt des Cyberspace spornt die Kirche zu dem großen Abenteuer an, sein Potential für die Verkündigung der Evangeliumsbotschaft zu nutzen. Diese Herausforderung steht im Mittelpunkt jenes Auftrags, der uns zu Beginn des gegenwärtigen Jahrtausends dazu ermutigt, dem Gebot des Herrn Folge zu leisten und ‚hinauszufahren’: Duc in altum! (Lk 5,4).“<ref> Johannes Paul II., Botschaft zum 36. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, Internet: ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums, 12. Mai 2002, Nr. 2.</ref>
488 „Die Kirche nähert sich diesem neuen Medium mit Realismus und Zuversicht. Wie andere Kommunikationsmittel ist es ein Mittel und kein Selbstzweck. Das Internet bietet ausgezeichnete Möglichkeiten der Evangelisierung, wenn es auf kompetente Art und Weise und im klaren Wissen um seine Stärken und Schwächen eingesetzt wird.“<ref> Ebd. 3.</ref>
489 Die Kommunikationsmittel sind im Allgemeinen kein Ersatz für persönliche Beziehungen oder das Zusammenleben an einem Ort. Dennoch können die Internetseiten den Austausch von Erfahrungen und Informationen unterstützen und anregen und so das religiöse Leben durch Begleitung und Orientierung intensivieren. Auch in der Familie müssen die Eltern ihre Kinder zu einem bewussten Umgang mit im Internet verfügbaren Inhalten ermutigen, um sie auch hier erzieherisch und moralisch zu orientieren.
490 Da nicht zu übersehen ist, dass Menschen aus der digitalen Kommunikation ausgeschlossen werden, könnten die Pfarreien, Gemeinden, kulturellen Zentren und katholischen Ausbildungsstätten dazu anregen, Internet-Cafés und Räume für digitale Kommunikation zu schaffen, um ausgeschlossene Menschen immer mehr einzubeziehen. Dafür können sie bereits vorhandene Initiativen positiv aufgreifen und neue Initiativen entwickeln. In Lateinamerika und der Karibik gibt es Zeitschriften, Zeitungen, Internet-Seiten, Internet-Portale und Online-Dienste, die außer verschiedenen religiösen und sozialen Orientierungen auch Informations- und Bildungsthemen anbieten, wie zum Beispiel: „Priester“, „Geistlicher Führer“, „Leitfaden zur Berufung“, „Lehrer“, „Arzt“ u. a. Eine Vielzahl von katholischen Schulen und Institutionen bieten Fernkurse für Theologie und biblische Studien an.
Neue „Areopage“ und Entscheidungszentren
491 Wir möchten die vielen Jünger und Missionare Jesu Christi beglückwünschen und ermutigen, die durch ihr überzeugendes ethisches Wirken die Werte des Evangeliums sowohl in den traditionellen Bereichen der Kultur als auch auf den neuen „Areopagen“ immer wieder verbreiten: im Kommunikationsbereich, in der Friedensarbeit, bei der Entwicklung und Befreiung der Völker, insbesondere von Minderheiten, bei der Förderung der Frauen und der Kinder, in der Ökologie und im Umweltschutz. Aber auch im „überaus weitläufigen Areopag der Kultur, der wissenschaftlichen Forschungen, der internationalen Beziehungen“.<ref> Redemptoris missio 37.</ref> Die Kultur zu evangelisieren bedeutet nicht, die vorrangige Option für die Armen und das Engagement angesichts der Realität aufzugeben. Die Evangelisierung der Kultur hat vielmehr ihren Ursprung in der leidenschaftlichen Liebe zu Christus, der das Volk Gottes bei seiner Aufgabe begleitet, das Evangelium dadurch in die Geschichte zu inkulturieren, dass es eifrig und unermüdlich den Liebesdienst des Samariters tut.
492 Eine besonders wichtige Aufgabe ist es, die Intellektuellen und die Entscheidungsträger fortzubilden. Deshalb müssen wir kreativ sein in unserem Bemühen, Unternehmer, Politiker, Meinungsbildner, die Arbeitswelt und Führungskräfte von Gewerkschaften, Kooperativen und Gemeinden zu evangelisieren.
493 In der heutigen Kultur tun sich neue missionarische und pastorale Räume auf. Dazu gehört zweifellos die Tourismus- und Freizeitpastoral,<ref> Vgl. „Orientierungen für die Tourismuspastoral“, L’Osservatore Romano, italienische Ausgabe, Suppl. Nr. 157, 12. Juli 2001.</ref> die ein breites Betätigungsfeld bietet in den Klubs, Sportstätten, Kinos, Einkaufszentren und in anderen Bereichen, auf die wir täglich hingewiesen werden und die nach Evangelisierung verlangen.
494 Angesichts der heute so weit verbreiteten falschen Meinung, dass Glaube und Vernunft nicht miteinander vereinbar seien, verkündet die Kirche, dass der Glaube nicht etwas Irrationales ist. „Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“<ref> Fides et ratio, Einleitung.</ref> Deshalb achten wir die vielen Männer und Frauen des Glaubens und der Wissenschaft, die es verstanden haben, in der Schönheit der Natur Zeichen des Mysteriums, der Liebe und der Schönheit Gottes zu erkennen. Sie sind gleichsam Lichtsignale, die verstehen helfen, dass das Buch der Natur und die Heilige Schrift vom gleichen Wort sprechen, das Fleisch geworden ist.
495 Wir möchten die Räume für den Dialog zwischen Glaube und Vernunft immer mehr beachten, auch in den Kommunikationsmedien. Dies könnte geschehen durch die Verbreitung der Gedanken und Werke großer katholischer Persönlichkeiten, besonders des 20. Jahrhunderts, um Stützen für das rechte Verständnis von Wissenschaft zu haben.
496 Gott ist nicht nur die höchste Wahrheit. Er ist auch die höchste Güte und die erhabenste Schönheit. Deshalb gilt: „Die Gesellschaft braucht tatsächlich Künstler ebenso, wie sie Wissenschaftler, Techniker, Arbeiter, Fachleute, Glaubenszeugen, Lehrer, Väter und Mütter benötigt. Durch jene sehr erhabene Kunstform, die ‚Erziehungskunst’ heißt, sollen diese das Wachstum des Einzelnen und die Entwicklung der Gemeinschaft gewährleisten.“<ref> Johannes Paul II., Brief an die Künstler, 4. April 1999, Nr. 4.</ref>
497 Die Werte des Evangeliums müssen in positiver und angemessener Weise kommuniziert werden. Viele Menschen äußern ihre Unzufriedenheit nicht in erster Linie über den Inhalt der Lehre der Kirche, sondern über die Art und Weise, wie sie dargeboten wird. Deshalb möchten wir bei der Ausarbeitung unserer Pastoralpläne
a) die Laien so ausbilden, dass sie als wahrhaft kirchliche Subjekte und kompetente Gesprächspartner zwischen Kirche und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Kirche handeln können;
b) den Gebrauch der katholischen Kommunikationsmedien optimieren, das heißt sie handlungsfähiger und wirksamer machen, sei es für die Kommunizierung des Glaubens, sei es für den Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft;
c) die Zusammenarbeit suchen mit Künstlern, Sportlern, Modefachleuten, Journalisten, Fachleuten für Kommunikation und Präsentation sowie mit Informationsproduzenten in den Kommunikationsmedien, mit Intellektuellen, mit Lehrern, mit führenden Persönlichkeiten des kommunalen und des religiösen Lebens;
d) die Rolle des Priesters als Meinungsbildner zurückgewinnen.
498 Auf der Grundlage der Erfahrungen, die in den Zentren für Glaube und Kultur bzw. in den katholischen Kulturzentren gemacht wurden, wollen wir versuchen, Gruppen für den Dialog zwischen der Kirche und Meinungsbildnern aus verschiedensten Bereichen zu gründen bzw. neu zu beleben. Wir appellieren an unsere katholischen Universitäten, sich immer mehr zu Foren zu entwickeln, auf denen der Dialog zwischen Glaube und Vernunft stattfindet und katholisches Gedankengut ausstrahlt.
499 Die Kirchen Lateinamerikas und der Karibik sollten Möglichkeiten schaffen, der Kunst einen Platz in der Katechese für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie in anderen Pastoralbereichen der Kirche einzuräumen. Maßnahmen der Kirche in diesem Bereich müssen nach den Maßstäben der künstlerischen Arbeit technisch und professionell weiter vervollkommnet werden. Andererseits muss auch das kritische Bewusstsein geschult werden, um mit objektiven Kriterien die künstlerische Qualität unserer Maßnahmen beurteilen zu können.
500 Es ist von grundlegender Bedeutung, dass bei den liturgischen Feiern künstlerische Elemente Platz haben, die die versammelte Gemeinde erneuern und auf die Begegnung mit Christus vorbereiten können. Die Wertschätzung bestehender kultureller Räume, zu denen auch die Gotteshäuser zählen, gehört wesentlich zu den Aufgaben der Evangelisierung durch die Kultur. In diesem Zusammenhang sollten vor allem in den ärmsten Gegenden, die dringend den Zugang zur Kultur brauchen und wo der Sinn für das Menschliche verbessert werden muss, katholische Kulturzentren gegründet werden.
Jünger und Missionare im öffentlichen Leben
501 Die Jünger und Missionare Christi müssen mit dem Licht des Evangeliums alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erleuchten. Die vorrangige Option für die Armen, die ihre Wurzeln im Evangelium hat, erfordert eine pastorale Aufmerksamkeit für diejenigen, die die Gesellschaft aufbauen.<ref> Vgl. Evangelium vitae 5.</ref> Wenn viele heutige Strukturen Armut verursachen, dann ist das zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass viele Christen, die Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Kultur tragen, den Verpflichtungen des Evangeliums nicht genügend treu sind.
502 Die heutige Realität unseres Kontinents zeigt „im Bereich der Politik, der Kommunikation und der Universität das beträchtliche Fehlen von Stimmen und Initiativen katholischer Führungskräfte mit starker Persönlichkeit und hochherziger Hingabe – Initiativen, die mit deren ethischen und religiösen Überzeugungen übereinstimmen“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref>
503 Zu den besorgniserregenden Zeichen zählen wir besonders, dass sich eine bestimmte Auffassung vom Menschen, von Mann und Frau, immer stärker durchgesetzt hat. Angriffe auf das Leben in all seinen Formen, insbesondere auf die Unschuldigsten und Hilflosesten, extreme Armut und Ausschluss aus der Gesellschaft, Korruption und ethischer Relativismus u. a. m. zeigen, dass man sich in der Praxis auf ein Menschenbild bezieht, das sich dem Anderen und Gott gegenüber verschließt.
504 Sowohl ein alter, übertriebener Laizismus als auch ein ethischer Relativismus, der sich für das Fundament der Demokratie hält, regen starke Kräfte an, die jede Präsenz und jeden Beitrag der Kirche im öffentlichen Leben der Völker abwehren wollen und Druck auf sie ausüben, sich auf ihre Kirchenräume und ihre „religiösen“ Dienstleistungen zu beschränken. Die Kirche, die sich der Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Gemeinschaft als der Grundlage eines gesunden Laienapostolats wohl bewusst ist, wird nicht aufhören, sich um das Gemeinwohl der Völker zu kümmern, insbesondere um die Verteidigung der nicht verhandelbaren ethischen Prinzipien, weil diese in der Natur des Menschen verwurzelt sind.
505 Die Laien unseres Kontinents, die sich ihrer Berufung zur Heiligkeit kraft ihrer Taufe bewusst sind, müssen wie Hefe im Teig wirken, um eine irdische Stadt zu bauen, die mit dem Plan Gottes im Einvernehmen steht. Damit Glaube und Leben im politischen, ökonomischen und sozialen Bereich übereinstimmen, müssen die Gewissen gebildet werden. Das kann konkret durch die Kenntnis der kirchlichen Soziallehre geschehen. Dafür ist das Kompendium der Soziallehre der Kirche eine gute Grundlage. Die 5. Generalversammlung verpflichtet sich, eine einprägsame Sozialkatechese durchzuführen, weil sich „das christliche Leben nicht nur in den persönlichen, sondern auch in den sozialen und politischen Tugenden“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 3.</ref> ausdrückt.
506 Die Jünger und Missionare Christi, die sich in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft und in Entscheidungsgremien engagieren, sind dem Einfluss einer Kultur ausgesetzt, die oft beherrscht ist von Materialismus, egoistischen Interessen und einem Menschenbild, das dem christlichen widerspricht. Deshalb ist es unverzichtbar, dass der Jünger in der Nachfolge des Herrn immer sicherer wird, damit er ihm die notwendige Kraft gibt, zum einen nicht in die Fallen des Materialismus und Egoismus zu geraten, und zum andern durch den Bezug zu Christus einen moralischen Konsens über jene grundlegenden Werte zu erzielen, die den Aufbau einer gerechten Gesellschaft möglich machen.
507 Wir sind der Meinung, dass Politiker eine hohe moralische Integrität besitzen müssen. Viele lateinamerikanische und karibische Länder, aber auch Länder anderer Kontinente, leben im Elend, weil die Korruption immer wiederkehrende Probleme schafft. Wir brauchen viel Disziplin moralischer Integrität – im christlichen Sinn sprechen wir von Selbstbeherrschung, um Gutes tun zu können, der Wahrheit zu dienen und unsere Aufgaben bewältigen zu können, ohne uns durch Gunsterweisungen, Interessen und Vorteile korrumpieren zu lassen. Man braucht viel Kraft und Ausdauer, um den Anstand zu wahren, der aus einer neuen Bildung hervorgeht, die den Teufelskreis der herrschenden Korruption durchbricht. Wir brauchen in der Tat viel Kraft, um wahren moralischen Reichtum zu schaffen, mit dem wir unsere eigene Zukunft sichern können.
508 Wir bei der 5. Generalversammlung anwesenden Bischöfe möchten allen zur Seite stehen, die am Gesellschaftsaufbau mitwirken. Denn es ist die grundlegende Berufung der Kirche, in diesem Bereich die Gewissen zu bilden, Anwältin der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu sein und zu den individuellen und politischen Tugenden zu erziehen.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> Wir möchten an die Laien appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein, im öffentlichen Leben und ganz konkret „in der notwendigen Konsensbildung und im Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten“<ref> Ebd. 4.</ref> mitzuwirken.
Die Pastoral in der Stadt
509 Der Christ von heute steht nicht mehr in der vordersten Linie der Kulturschaffenden. Er lässt sich vielmehr von der Kultur beeinflussen und anregen. Die großen Städte sind Laboratorien dieser zeitgenössischen komplexen und pluralen Kultur.
510 Die Stadt ist zu dem eigentlichen Ort geworden, wo neue Kulturen mit einer neuen Sprache und einer neuen Symbolik entstehen und sich durchsetzen. Diese urbane Mentalität breitet sich auch auf die ländlichen Gebiete aus. Letztendlich versucht die Stadt, die Notwendigkeit der Entwicklung mit der Entwicklung der Bedürfnisse in Einklang zu bringen, doch vielfach scheitert sie dabei.
511 In der urbanen Welt vollziehen sich komplexe sozioökonomische, kulturelle, politische und religiöse Veränderungen, die sich auf alle Bereiche des Lebens auswirken. Zu dieser Welt gehören Satellitenstädte und die Stadtteile an der Peripherie.
512 In der Stadt leben die verschiedensten sozialen Schichten zusammen: wirtschaftliche, politische und soziale Eliten, die Mittelklasse mit ihren unterschiedlichen Abstufungen und die große Masse der Armen. In der Stadt koexistieren Binome, die eine tägliche Herausforderung darstellen: Tradition – Moderne, Globalität – Regionalität, Inklusion – Exklusion, Personalisierung – Entpersonalisierung, säkulare Sprache – religiöse Sprache, Homogenität – Pluralität, Stadtkultur – multikulturelle Phänomene.
513 In der Anfangszeit entstand die Kirche in den großen Städten. Sie bediente sich ihrer, um sich auszubreiten. Deshalb können wir uns mit Freude und Mut der Evangelisierung der heutigen Stadt stellen. Die neuen Realitäten in der Stadt führen auch zu neuen Erfahrungen in der Kirche, wie zum Beispiel: Erneuerung der Pfarreien, ihre Aufteilung in kleinere Sektoren, neue Dienstämter, neue Vereinigungen, Gruppen, Gemeinschaften und Bewegungen. Doch wir stellen auch Ängste in Bezug auf die urbane Pastoral fest: Tendenzen, sich auf alte Methoden zurückzuziehen und sich gegenüber der neuen Kultur in eine Verteidigungsposition zu begeben oder sich Ohnmachtsgefühlen hinzugeben angesichts der großen Schwierigkeiten in den Städten.
514 Der Glaube lehrt uns, dass Gott in der Stadt lebt, inmitten ihrer Freuden, Sehnsüchte und Hoffnungen, aber auch in ihrem Schmerz und ihrem Leid. Die Schatten, von denen das tägliche Leben der Städte geprägt ist, wie zum Beispiel Gewalt, Armut, Individualismus und Ausschluss, können uns nicht daran hindern, den Gott des Lebens auch im städtischen Umfeld zu suchen und zu betrachten. Die Städte bieten Freiheit und Chancen. In ihnen haben die Menschen die Möglichkeit, andere Menschen kennen zu lernen, mit ihnen gemeinsam etwas zu tun und mit ihnen zusammenzuleben. In den Städten ist es möglich, Bande der Freundschaft, der Solidarität und der Universalität zu leben. Der Mensch ist dort stets aufgerufen, immer mehr auf den Anderen zuzugehen, mit dem Anderssein des Anderen zu leben, ihn zu akzeptieren und von ihm akzeptiert zu werden.
515 Der Plan Gottes ist „die heilige Stadt, das neue Jerusalem“, das von Gott her aus dem Himmel herabkommt, „bereit wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat“. Sie ist „die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,2–4). Dieser Plan in seiner ganzen Fülle ist Zukunft, aber er wird bereits Wirklichkeit in Jesus Christus, der „das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende“ (21,6) ist und der zu uns sagt: „Seht, ich mache alles neu“ (21,5).
516 Die Kirche steht im Dienst der Verwirklichung dieser heiligen Stadt, wenn sie das Wort Gottes lebt und verkündigt, wenn sie die Liturgie feiert, die Geschwister zur Gemeinschaft zusammenführt und besonders den Ärmsten und den am meisten Leidenden dient. So wirkt sie in Christus wie der Sauerteig des Gottesreiches verändernd auf die heutige Stadt.
517 In Anerkennung und voller Dankbarkeit gegenüber den Erneuerungsbemühungen in vielen urbanen Zentren gibt die 5. Generalversammlung folgende Empfehlungen: Eine neue urbane Pastoral sollte
a) auf die zunehmenden Herausforderungen der wachsenden Urbanisierung reagieren;
b) die unterschiedlichen und komplexen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Gruppen – Arme, Mittelklasse und Eliten – kompetent begleiten;
c) eine Spiritualität der Dankbarkeit, des Mitgefühls, der geschwisterlichen Solidarität entwickeln, also Haltungen von Menschen, die uneigennützig und unentgeltlich lieben;
d) sich neuen Erfahrungen, Stilen und Sprachen öffnen, die das Evangelium in die Stadt inkarnieren können;
e) die Pfarreien immer mehr zu Gemeinschaften von Gemeinschaften machen;
f) stärker auf das Experiment von milieu-orientierten Gemeinden setzen, die überpfarrlich und diözesan integriert sind;
g) die Elemente des christlichen Lebens im engeren Sinne einbeziehen: das Wort Gottes, die Liturgie, die geschwisterliche Gemeinschaft und den Dienst besonders für alle, die unter wirtschaftlicher Armut und unter neuen Formen der Armut leiden;
h) das Wort Gottes verbreiten, es mit Freude und Mut verkünden und die Laien so ausbilden, dass sie auf die großen Fragen und Sehnsüchte der Zeit Antworten geben und sich in die verschiedenen Bereiche, Strukturen und Entscheidungszentren des urbanen Lebens einbringen können;
i) die Pastoral der Aufnahme mehr ausbauen für diejenigen, die in die Stadt kommen oder bereits in ihr leben. Statt passiv abzuwarten, dazu übergehen, die Fernstehenden aktiv aufzusuchen, und dabei neue Strategien anwenden wie Hausbesuche, Verwendung der neuen gesellschaftlichen Kommunikationsmittel und ständige Nähe zur Alltäglichkeit jedes einzelnen Menschen;
j) besonders aufmerksam die Welt des Leids in der Stadt beachten. Das heißt, sich um alle sorgen, die am Rande des Weges liegen geblieben sind, um diejenigen, die in Krankenhäusern und Gefängnissen sind, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, um die Drogensüchtigen, die Bewohner der neuen Stadtrandzonen, der neuen Stadtviertel und um Familien, die sich aufgelöst haben, aber faktisch zusammenleben;
k) sich bemühen, dass in den neuen Wohngebieten, die am Rand der großen Städte durch die Auswirkungen von interner Migration und gesellschaftlichem Ausschluss sehr schnell wachsen, die Kirche durch neue Pfarreien und Kapellen, christliche Gemeinschaften und pastorale Zentren präsent ist.
518 Damit die Einwohner der urbanen Zentren und deren Peripherien, Gläubige oder Nichtgläubige, in Christus die Fülle des Lebens finden können, halten wir es für dringend notwendig, dass die pastoralen Mitarbeiter als Jünger und Missionare Christi sich verantwortlich fühlen für:
a) einen der urbanen Realität entsprechenden pastoralen Stil mit besonderer Aufmerksamkeit für die Sprache, die Strukturen, die Praktiken und die Zeitangebote in der Pastoral;
b) einen gegliederten Gesamtplan für die Pastoral, der Pfarrgemeinden, Ordensgemeinschaften, kleine Gemeinschaften, Bewegungen und Institutionen, die es in der Stadt gibt, in einem gemeinsamen Projekt integriert. Ziel ist es, überall in der Stadt präsent zu sein. Wenn es sich um sehr große Städte handelt, die mehrere Diözesen umfassen, ist ein gemeinsamer Plan der Diözesen notwendig;
c) eine Unterteilung der Pfarreien in kleinere Einheiten, die mehr Nähe und ein wirksameres Arbeiten erlauben;
d) einen Prozess der Einführung in den christlichen Glauben und der ständigen Weiterbildung, der den Glauben der Jünger des Herrn stärkt und dabei ihre Kenntnisse, ihre Gefühle und Verhaltensweisen einbezieht;
e) Zuwendung, persönliche Begegnung, geistliche Führung und Spendung des Versöhnungssakramentes für Menschen, die in den Städten unter Einsamkeit leiden und psychisch tief verwundet sind. Wichtig dabei sind immer die zwischenmenschlichen Beziehungen;
f) jeweils spezifischen Beistand für die unterschiedlichen Gruppen von Laien: für Akademiker, Unternehmer und Arbeiter;
g) eine bestimmte Art christlicher Bildung auch durch große Massenveranstaltungen, die die Stadt mobilisieren und spüren lassen, dass sie eine Einheit, ein Ganzes ist; die es verstehen, die Stimmung der Bürger aufzugreifen und dabei eine Symbolsprache verwenden, mit der sie das Evangelium allen Bewohnern der Stadt überbringen können;
h) Strategien, mit denen man auch in die abgesonderten Stadtteile gelangt, in die Villenkolonien, Wohnsiedlungen und -türme, in die Elendsviertel oder Favelas;
i) die prophetische Präsenz, die dann ihre Stimme erhebt, wenn es um Fragen der Werte und der Grundsätze des Reiches Gottes geht, auch wenn sie gegen alle anderen Meinungen spricht, Angriffe provoziert und allein bleibt mit dem, was die verkündet. Sie soll Leuchtturm sein, gleichsam eine Stadt auf dem Berge, die der Umgebung Licht gibt;
j) eine stärkere Präsenz in den Entscheidungszentren der Stadt, sowohl in den Verwaltungsstrukturen als auch in kommunalen, berufsspezifischen Organisationen oder anderen Vereinigungen, um über das Gemeinwohl zu wachen und die Werte des Gottesreiches ins Gespräch zu bringen;
k) die Ausbildung und Begleitung von Frauen und Männern des Laienstandes, die Einfluss auf die Meinungszentren ausüben: damit sie sich untereinander organisieren und als Berater für das gesamte kirchliche Handeln fungieren können;
l) eine Pastoral, die in der Verkündigung des Wortes Gottes und in den verschiedenen Initiativen das Schöne berücksichtigt und dadurch die vollkommene Schönheit, die Gott ist, zu entdecken hilft;
m) besondere Dienstleistungen, die auf die verschiedenen, für die Stadt charakteristischen Aktivitäten reagieren: auf Arbeit, Freizeit, Sport, Tourismus, Kunst usw.;
n) eine Dezentralisierung kirchlicher Dienste, so dass immer mehr pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Sendung mittragen und dabei die unterschiedlichen Berufsgruppen im Blick haben;
o) eine pastorale Ausbildung zukünftiger Priester und pastoraler Mitarbeiter, die geeignete Antworten auf die neuen Herausforderungen der urbanen Kultur findet.
519 Das zuvor Gesagte stellt in keiner Weise in Frage, dass auch die Landpastoral erneuert werden muss, um die Landbevölkerung sowie ihre ökonomische und soziale Entwicklung zu unterstützen und dadurch der Migration entgegenzuwirken. Diesen Menschen muss die Gute Nachricht verkündet werden, damit sie ihre eigene Kultur, ihre Gemeinschaftsformen und gesellschaftlichen Beziehungen reicher gestalten können.
Im Dienst der Einheit und der Geschwisterlichkeit unserer Völker
520 Wir bekräftigen, dass das Projekt des Gottesreiches in der neuen kulturellen Situation möglich und wirksam ist. Deshalb trachten wir danach, dass Lateinamerika und die Karibik integriert, versöhnt und geeint sind. In diesem gemeinsamen Haus, das von einem vielschichtigen Völkergemisch, von einer großen ethnischen und kulturellen Vielfalt bewohnt wird, ist „das Evangelium [...] zum tragenden Element einer dynamischen Synthese geworden, die je nach den verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen Facetten die Identität der lateinamerikanischen Völker zum Ausdruck bringt“.<ref> Benedikt XVI., Generalaudienz, 23. Mai 2007.</ref>
521 Die heutigen Herausforderungen Lateinamerikas und der Welt weisen ein besonderes Merkmal auf. Sie betreffen alle unsere Völker nicht nur auf ähnliche Weise, sondern verlangen auch globales Verstehen und gemeinsames Handeln, wenn man sich ihnen stellen will. Wir meinen, „hier wäre ein Faktor, der erheblich zur Überwindung der drängenden Probleme, mit denen dieser Kontinent heute zu tun hat, beitragen könnte, die Integration Lateinamerikas“.<ref> Johannes Paul II., Eröffnungsansprache Santo Domingo 15.</ref>
522 Einerseits entsteht eine globale Realität: sie eröffnet neue Möglichkeiten des Wissens, Lernens und Kommunizierens; sie bringt uns täglich in Kontakt mit der Verschiedenheit unserer Welt; sie schafft Möglichkeiten für eine größere Einheit und Solidarität auf regionaler und auf weltweiter Ebene. Andererseits entstehen neue Formen der Verarmung, des gesellschaftlichen Ausschlusses und der Ungerechtigkeit. Der Kontinent der Hoffnung kann seine Integration nur auf den Fundamenten des Lebens, der Liebe und des Friedens erlangen.
523 Wir anerkennen, dass jeder Mensch im Grunde seines „Herzens“ zur Einheit mit allen anderen Menschen berufen ist, weil alle gleichen Ursprungs sind, den gleichen Vater haben und das Bild und Gleichnis desselben Gottes in seiner trinitarischen Einheit in sich tragen (vgl. Gen 1,26). In den Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils erkennt sich die Kirche als „Sakrament für die Einheit der ganzen Menschheit“, sie weiß um den österlichen Sieg Christi, aber lebt in einer Welt, die noch unter der Macht der Sünde steht mit ihren Folgen von Widersprüchen, Herrschaftsformen und Tod. Mit dieser aus dem Glauben stammenden Interpretation der Geschichte nimmt man die Zwiespältigkeit des heutigen Globalisierungsprozesses wahr.
524 Die Kirche Gottes in Lateinamerika und der Karibik ist Sakrament für die Einheit der hier lebenden Völker. Sie ist Wohnstatt dieser Völker; sie ist das Zuhause für die Armen Gottes. Sie lädt alle ein und versammelt alle in ihrem Mysterium der Gemeinschaft, ohne aus Gründen des Geschlechtes, der Rasse, der sozialen Stellung oder nationalen Zugehörigkeit zu diskriminieren bzw. auszuschließen. Je mehr die Kirche dieses Geschenk unbeschreiblicher Einheit, das seinen Ursprung, sein Vorbild und seine Bestimmung in der trinitarischen Gemeinschaft hat, reflektiert, lebt und kommuniziert, desto bedeutsamer und spürbarer ist ihr Wirken als Subjekt für Versöhnung und Gemeinschaft im Leben unserer Völker. Die heiligste Maria ist die unverzichtbare und entscheidende mütterliche Präsenz bei der Entwicklung eines Volkes von Kindern und Geschwistern, von Jüngern und Missionaren ihres Sohnes.
525 Uns voller Würde als eine Familie von Menschen aus Lateinamerika und der Karibik anzuerkennen, bedeutet, Nähe, Geschwisterlichkeit und Solidarität auf einzigartige Weise zu erfahren. Wir sind nicht nur ein Kontinent, nicht nur ein geographisches Faktum mit einem unübersehbar vielfältigen Mosaik von Inhalten. Wir sind auch nicht nur eine Summe von Völkern und Ethnien, die nebeneinander her leben. Lateinamerika ist ein plurales Ganzes, das gemeinsame Haus, die große Heimat von Geschwistern aus einzelnen Völkern – wie Seine Heiligkeit Johannes Paul II. in Santo Domingo sagte –, „die der gleiche geographische Raum, der christliche Glaube, die Sprache und Kultur ein für allemal auf dem Weg der Geschichte vereint haben“.<ref> Johannes Paul II., Eröffnungsansprache Santo Domingo 15.</ref> Diese Einheit darf also keineswegs zur Uniformität reduziert werden, sondern wird vielmehr durch die lokalen, nationalen und kulturellen Verschiedenheiten sehr bereichert.
526 Bereits die 3. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats wollte „mit neuer Kraft die Evangelisierung der Kultur unserer Völker und der verschiedenen ethnischen Gruppen wieder aufnehmen, damit der Glaube an das Evangelium [...] neu belebt werde [...] als Grundlage der Gemeinschaft in Formen einer gerechten Integration in den Rahmen der jeweiligen Nationalität, in das große lateinamerikanische Vaterland“.<ref> Puebla 428.</ref> Die 4. Generalversammlung in Santo Domingo schlug erneut die ständige Verjüngung „des Ideals unserer Vorfahren von einem großen Vaterland“ (Botschaft Santo Domingo, Nr. 45) vor. Die 5. Generalversammlung in Aparecida gibt ihrem festen Willen Ausdruck, dieses Versprechen fortzuführen.
527 Es gibt sicherlich keine andere Region, die so viele Faktoren der Einheit aufzuweisen hat wie Lateinamerika – wobei der starke Einfluss der katholischen Tradition das Hauptfundament dieser Einheit ist. Aber es handelt sich um eine zerrissene Einheit, weil sie immer wieder von Herrschaftsansprüchen und Widersprüchen durchsetzt und noch nicht fähig war, „alles Blut“ in sich aufzunehmen und die Kluft schreiender Ungleichheiten und Marginalisierungen zu überwinden. Es ist unser großes Vaterland, aber es wird erst dann wirklich „groß“ sein, wenn es das Vaterland für alle ist, mit einem Höchstmaß an Gerechtigkeit. Es ist in der Tat ein schmerzlicher Widerspruch, dass der Kontinent mit der höchsten Anzahl von Katholiken auch der Kontinent mit der größten sozialen Ungleichheit ist.
528 Wir erkennen an, dass während der letzten 20 Jahre in den Integrationsprozessen und -systemen unserer Länder bedeutende und viel versprechende Fortschritte gemacht worden sind. Die Handelsbeziehungen und die politischen Beziehungen sind intensiver geworden. Es gibt eine neue, engere Kommunikation und Solidarität Brasiliens mit den hispanoamerikanischen und karibischen Ländern. Dennoch behindern immer noch sehr ernste Blockaden diese Prozesse. Eine nur vom Handel bestimmte Integration ist anfällig und zweischneidig, und zwar auch dann, wenn sie darauf reduziert wird, ein Anliegen der politischen und wirtschaftlichen Spitzen zu sein und nicht im Leben und dem Zusammenwirken der Völker verwurzelt ist. Die Verzögerung der Integration vertieft eher noch die Armut und Ungleichheit, während die Netze des Drogenhandels immer engmaschiger über alle Grenzen hinweg geknüpft werden. Obwohl die Politik häufig von Integration redet, scheint die Dialektik des Gegensatzes doch stärker zu sein als die Dynamik von Solidarität und Freundschaft. Die Einheit lässt sich nicht durch Konfrontation mit gemeinsamen Feinden herstellen, sondern nur durch die Verwirklichung einer gemeinsamen Identität.
Die Integration der Indigenen und der Afroamerikaner
529 Als Jünger Jesu Christi, der im Leben aller Völker Mensch geworden ist, entdecken und erkennen wir im Glauben, dass in den Traditionen und Kulturen der indigenen Völker Lateinamerikas die „Samenkörner des Wortes“<ref> Vgl. Santo Domingo 245.</ref> leben. Wir schätzen ihre tiefe gemeinschaftliche Achtung vor dem Leben, die in der Schöpfung, im alltäglichen Leben und in der jahrtausendealten religiösen Erfahrung erkennbar ist. Sie gibt ihren Kulturen Leben und bringt sie zur Fülle durch die Offenbarung des wahren Antlitzes Gottes in Jesus Christus.
530 Als Jünger und Missionare im Dienst des Lebens stehen wir den indigenen und einheimischen Völkern bei, wenn sie ihre Identität und ihre Selbstorganisation sichern, wenn sie ihr Territorium schützen, wenn sie sich zweisprachig interkulturell bilden und ihre Rechte verteidigen. Wir verpflichten uns auch dazu, durch Kommunikationsmittel und andere Möglichkeiten der Meinungsbildung in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die indigene Realität und ihre Werte zu schaffen. Ausgehend von den Grundsätzen des Evangeliums verurteilen wir Haltungen, die dem Leben in Fülle unserer indigenen Völker entgegenstehen. Wir verpflichten uns, das Werk der Evangelisierung mit den Indigenen fortzusetzen und die Lernprozesse im Bildungs- und Arbeitsbereich sowie die damit verbundenen kulturellen Veränderungen zu begleiten.
531 Die Kirche wird wachsam sein angesichts der Versuche, den katholischen Glauben aus den indigenen Gemeinschaften zu vertreiben. Das würde die Gemeinschaften gegen den Ansturm der Ideologien bzw. einiger entfremdender Gruppen wehrlos und orientierungslos machen und das Wohl dieser Gemeinschaften untergraben.
532 In der Nachfolge Jesu auf unserem Kontinent sind wir auch durch die Anerkennung der Afroamerikaner herausgefordert, weil sie uns die Frage stellen, ob wir die wahre Liebe zu Gott und zum Nächsten leben. Jünger und Missionare sein bedeutet, sich das Erbarmen und die Fürsorge des Vaters zu Eigen zu machen, die im befreienden Tun Jesu ihren Ausdruck finden. „Die Kirche verteidigt die wahren kulturellen Werte aller Völker, besonders der unterdrückten, wehrlosen und marginalisierten, angesichts der überwältigenden Macht der Strukturen der Sünde, die die moderne Gesellschaft prägen“.<ref> Santo Domingo 243.</ref> Die kulturellen Werte, die Geschichte und die Traditionen der Afroamerikaner zu kennen und in einen geschwisterlichen und respektvollen Dialog mit ihnen einzutreten, ist ein wichtiger Bestandteil des Evangelisierungsauftrages der Kirche. Möge das Zeugnis des heiligen Petrus Claver uns dabei begleiten.
533 Deshalb verurteilt die Kirche die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Diskriminierung und Rassismus, denn solche Praktiken beleidigen zutiefst die Würde des Menschen, der nach dem „Bild und Gleichnis Gottes“ geschaffen wurde. Wir sind besorgt, weil nur wenige Afroamerikaner zu höherer Bildung gelangen. Dadurch ist für sie der Zugang zu Entscheidungsebenen der Gesellschaft sehr erschwert. In ihrer Sendung, Anwältin für Gerechtigkeit und für die Armen zu sein, ist die Kirche solidarisch mit den Afroamerikanern, wenn sie die Verteidigung ihrer Territorien beanspruchen, wenn sie ihre Rechte, ihre Staatsbürgerschaft, ihre eigenen Entwicklungsprojekte und das Bewusstsein ihrer kulturellen Eigenständigkeit in Anspruch nehmen. Die Kirche unterstützt den Dialog der Kultur der Schwarzen mit dem christlichen Glauben und ihren Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Sie regt an, dass die Afroamerikaner sich aktiv am pastoralen Handeln unserer Kirchen und des CELAM beteiligen. Die Kirche muss in ihrer Verkündigung, ihrem sakramentalen und pastoralen Leben behilflich sein, damit die Wunden, die den Afroamerikanern in ihrer Geschichte durch Unrecht zugefügt wurden, die Entfaltung ihrer menschlichen Persönlichkeit, ihrer ethnischen Identität, ihres kulturellen Gedächtnisses, ihrer sozialen Entwicklung in den neu entstehenden Szenarien nicht absorbieren oder von innen her lähmen.
Wege zu Versöhnung und Solidarität
534 Die Kirche muss jedes Volk ermutigen, das Heimatland zu einem Haus von Geschwistern zu machen, wo alle einen Ort haben, an dem sie wohnen und mit anderen in Würde zusammenleben können. Diese Berufung setzt voraus, mit Freude eine Nation schaffen zu wollen und zu sein, ein historisches Projekt, das zum Leben in Gemeinschaft anregt. Die Kirche muss die Menschen immer mehr dazu befähigen und dahin führen, sich miteinander und mit Gott zu versöhnen. Es kommt darauf an, zusammenzufügen und nicht zu spalten. Es ist wichtig, Wunden zu heilen und Schwarz-Weiß-Malerei, gefährliche Übertreibungen und Polarisierungen zu vermeiden. Die Bestrebungen mit dem Ziel einer würdigen, gerechten und gleichrangigen Integration in jedem einzelnen Land begünstigt die regionale Integration und wird zugleich durch sie verstärkt.
535 Es ist notwendig, unsere Völker alle Gesten, Werke und Wege der Versöhnung und sozialen Freundschaft, der Kooperation und Integration zu lehren und diese zu favorisieren. Die Gemeinschaft, die wir durch die versöhnende Hingabe des Blutes Christi bereits erlangt haben, gibt uns die Kraft, Brücken zu bauen, die Wahrheit zu verkünden, die Wunden zu heilen. Die Versöhnung ist die Mitte des christlichen Lebens. Sie ist Gottes eigene Initiative bei der Suche nach unserer Freundschaft und zieht die notwendige Versöhnung mit den Geschwistern nach sich. Diese Versöhnung brauchen wir in den verschiedenen Bereichen sowie in allen Ländern und zwischen unseren Ländern. Die geschwisterliche Versöhnung setzt die Versöhnung mit Gott voraus, der einzigartigen Quelle von Gnade und Vergebung. Sie findet ihren Ausdruck und ihre Verwirklichung im Sakrament der Buße, das Gott uns durch die Kirche schenkt.
536 Im Herzen und im Leben unserer Völker pulsiert ein starker Sinn für Hoffnung, obwohl die Lebensbedingungen jede Hoffnung zu verwirren scheinen. Die Hoffnung lebt und wächst immer dann, wenn das Geschenk und die Zeichen des Lebens miteinander geteilt werden. Sie drängt dazu, an einer Zukunft in größerer Würde und Gerechtigkeit mitzubauen, und sehnt sich nach „dem neuen Himmel und der neuen Erde“, die Gott für seine ewige Wohnung verheißen hat.
537 Lateinamerika und die Karibik sollen nicht nur der Kontinent der Hoffnung sein, sondern darüber hinaus Wege zur Zivilisation der Liebe eröffnen. Dies hat Papst Benedikt XVI. im Marienheiligtum von Aparecida<ref> Vgl. Papst Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 4.</ref> zum Ausdruck gebracht. Damit unser gemeinsames Zuhause ein Kontinent der Hoffnung, der Liebe, des Lebens und des Friedens sein kann, müssen wir als barmherzige Samariter die Not der Armen und der Leidenden sehen sowie „gerechte Strukturen“ schaffen, „ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist“. Über diese Strukturen sagt der Papst weiter: „Weder entstehen sie noch funktionieren sie ohne ein moralisches Einvernehmen der Gesellschaft über die Grundwerte und über die Notwendigkeit, diese Werte mit dem nötigen Verzicht, selbst gegen das persönliche Interesse, zu leben“.<ref> Ebd.</ref> Diese gerechten Strukturen entstehen und funktionieren, wenn die Gesellschaft erkennt, dass Mann und Frau – nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen – eine unverletzliche Würde besitzen. Dieser Würde sollen die grundlegenden Werte dienen, die das menschliche Zusammenleben bestimmen. Dementsprechend müssen sie konzipiert und verwirklicht werden. Der moralische Konsens und die Veränderung der Strukturen sind wichtig, um die verletzende Ungleichheit heute auf unserem Kontinent zu verringern, und zwar sowohl durch politische Maßnahmen und durch gut investierte Sozialausgaben als auch durch die Kontrolle der unverhältnismäßigen Gewinne großer Unternehmen. Die Kirche ermutigt dazu, sich mehr in der „Phantasie der Liebe“ zu üben, die wirksame Lösungen möglich macht.
538 Alle wahren Veränderungen werden in den Herzen der Menschen ersonnen und geschmiedet und wirken sich dann auf alle Aspekte des Daseins und Zusammenlebens aus. Neue Strukturen gibt es nur, wenn es neue Männer und neue Frauen gibt, die in den Völkern Leitbilder und kraftvolle moralischreligiöse Energien mobilisieren und zusammenführen. Auf diese Anforderung gibt die Kirche eine Antwort, wenn sie Jünger und Missionare ausbildet.
539 Die Kirche ermuntert und unterstützt die Menschen dabei, sich selbst sowie ihre Bande der Zusammengehörigkeit und des Zusammenlebens durch die Kraft der Freundschaft, der Selbstlosigkeit und der Gemeinschaft zu erneuern, um so den Zerfall und die Zersetzung der Gesellschaft aufzuhalten. Dabei muss das Prinzip der Subsidiarität auf allen Ebenen und Strukturen der gesellschaftlichen Organisation angewendet werden. Staat und Markt können nicht alle menschlichen Bedürfnisse befriedigen. Die sozialen Freiwilligendienste, die verschiedenen Formen von Selbstorganisation und Mitbestimmung des Volkes sowie die Initiativen in Caritas-, Bildungs- und Krankenhausbereichen und in Kooperationen bei der Arbeit sowie andere von der Kirche geförderte Initiativen, die angemessen auf diesen Bedarf antworten, sollten daher gebührend geschätzt und unterstützt werden.
540 Die Jünger und Missionare Christi fördern – im Gegensatz zur herrschenden Kultur der egoistischen Akkumulation – eine Kultur des Teilens auf allen Ebenen. Sie übernehmen aufrichtig die Tugend der Armut im Sinne eines bescheidenen Lebensstils, um zu den Not leidenden Geschwistern zu gehen und ihnen zu helfen.
541 Es ist auch Aufgabe der Kirche, daran mitzuwirken, dass die zerbrechlichen Demokratien konsolidiert werden und der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika und der Karibik positiv weitergeht, auch wenn er im Moment durch autoritäre Verirrungen schwer herausgefordert und bedroht wird. Wir müssen dringend zum Frieden erziehen; wir müssen dringend dafür eintreten, dass unsere zivilen Institutionen verlässlich und glaubwürdig weiter daran wirken, die Menschenrechte zu verteidigen und zu fördern, insbesondere die Religionsfreiheit zu unterstützen und durch Kooperation den größtmöglichen nationalen Konsens zu erreichen.
542 Der Frieden ist ein wertvolles, aber empfindliches Gut, das von allen Menschen unseres Kontinents geschützt, aufgebaut und gefördert werden muss. Wir wissen, dass Frieden sich nicht reduzieren lässt auf die Abwesenheit von Krieg, auf den Verzicht von Atomwaffen in unserem gemeinsamen Raum, selbst wenn dies bereits bedeutende Erfolge sind. Der Frieden entsteht vielmehr durch die Schaffung einer „Kultur des Friedens“, die aus einer nachhaltigen, gleichrangigen und respektvollen Entwicklung aller Geschöpfe erwächst („Entwicklung ist der neue Name für Frieden“, sagte Paul VI.). Die Kultur des Friedens hilft uns, gemeinsam die Angriffe des Drogenhandels und Drogenkonsums, des Terrorismus und der vielen Formen von Gewalt, die heute in unserer Gesellschaft herrschen, abzuwehren. Die Kirche, das Sakrament der Versöhnung und des Friedens, wünscht, dass die Jünger und Missionare Christi überall, wo sie einander begegnen, „Erbauer des Friedens“ unter den Völkern und Nationen unseres Kontinents seien. Die Kirche ist dazu berufen, eine ständige Schule der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Vergebung und der Versöhnung zu sein, um den wahren Frieden aufzubauen.
543 Eine authentische Evangelisierung unserer Völker impliziert, sich die Radikalität der christlichen Liebe voll und ganz zu Eigen zu machen. Sie wird konkret, wenn man dem gekreuzigten Christus nachfolgt; wenn man mit Christus um der Gerechtigkeit willen leidet; wenn man die Feinde liebt und ihnen vergibt. Eine solche Liebe übersteigt die menschliche Liebe und hat Teil an der göttlichen Liebe, dem einzigen kulturellen Pfeiler, der in der Lage ist, eine Kultur des Lebens zu tragen. Im dreieinigen Gott verursacht die Verschiedenheit der Personen weder Gewalt noch Konflikte, sondern ist die eigentliche Quelle für Liebe und Leben. Wenn die Evangelisierung die Erlösung, die aus der gekreuzigten Liebe hervorgegangen ist, in den Mittelpunkt rückt, kann sie die Strukturen der gewalttätigen Gesellschaft reinigen und neue schaffen. Die Radikalität der Gewalt wird ihre Lösung nur in der Radikalität erlösender Liebe finden. Evangelisierung durch eine Liebe uneingeschränkter Hingabe als Lösung für den Konflikt, das muss der „radikale“ kulturelle Pfeiler einer neuen Gesellschaft sein. Nur so kann der Kontinent der Hoffnung wirklich zu einem Kontinent der Liebe werden.
544 Wir unterstreichen noch einmal die Bedeutung des CELAM und anerkennen, dass er eine prophetische Instanz für die Einheit der Völker Lateinamerikas und der Karibik geworden ist, und dass er auf der Basis der kirchlichen Gemeinschaft bewiesen hat, wie wirksam Kooperation und Solidarität sind. Deshalb verpflichten wir uns, seinen Dienst für die kollegiale Zusammenarbeit der Bischöfe und für die Realisierung der kirchlichen Identität Lateinamerikas und der Karibik zu stärken. Die Bischöfe jener Länder, die sich den verschiedenen subregionalen Integrationssystemen – einschließlich derjenigen des Amazonasbeckens – angeschlossen haben, bitten wir, noch intensiver gemeinsam zu reflektieren und zu kooperieren. Wir ermutigen den CELAM auch, die Verbindungen des Lateinamerikanischen Episkopats mit den Episkopaten der Vereinigten Staaten und Kanadas im Licht des Apostolischen Schreibens „Ecclesia in America“ zu stärken, aber auch jene zu den europäischen Episkopaten.
545 Davon überzeugt, dass der missionarische Auftrag der Evangelisierung nicht von der Solidarität mit den Armen und deren ganzheitlicher Förderung getrennt werden darf, und im Wissen darum, dass es kirchliche Gemeinschaften gibt, denen die notwendigsten Mittel fehlen, halten wir es für zwingend, ihnen zu helfen, wie es die christlichen Urgemeinden getan haben, damit sie sich wirklich geliebt fühlen. Daher müssen wir dringlich einen Solidaritätsfonds der Kirchen Lateinamerikas und der Karibik gründen, der eigenen pastoralen Initiativen zur Verfügung stehen soll.
546 Uns diesen gewaltigen Herausforderungen zu stellen, ermutigen uns die Worte des Heiligen Vaters: „Es steht außer Zweifel, dass die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Versöhnung und die Vergebung Bedingungen zur Schaffung eines wirklichen Friedens sind. Aus diesem Bewusstsein entsteht der Wille, auch die ungerechten Strukturen zu verwandeln, um die Achtung der Würde des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, zu gewährleisten [...] Wie ich bereits an anderer Stelle betonte, ist es nicht eigene Aufgabe der Kirche, den politischen Kampf an sich zu reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen; trotzdem kann und darf sie im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben.“<ref> Sacramentum Caritatis 89.</ref>
Schluss
547 „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen ...“ (Apg 15,28). Die Erfahrung der Apostelgemeinde am Anfang weist auf das Wesen der Kirche selbst hin: Sie ist Geheimnis der Gemeinschaft mit Christus im Heiligen Geist. Seine Heiligkeit BenediktXVI. hat uns auf diese ursprüngliche „Methode“ durch seine Predigt in Aparecida aufmerksam gemacht. Am Ende der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik stellen wir fest, dass wir dank der Gnade Gottes die gleiche Erfahrung machen konnten. Nach 19 Tagen intensiven Betens, Miteinanderredens und Nachdenkens – aufopferungsbereit bis zur Erschöpfung – haben wir unsere pastorale Sorge in einem Schlussdokument zusammengefasst, das im Laufe der Zeit immer mehr an Dichte und Reife gewann. Der Heilige Geist Gottes hat uns sanft, aber bestimmt zu diesem Ziel geführt.
548 Diese 5. Generalversammlung möchte – in Erinnerung an das Gebot, hinauszugehen und alle Menschen zu Jüngern zu machen (vgl. Mt 28,19) – die Kirche in Lateinamerika und der Karibik zu einem großartigen missionarischen Impuls aufrütteln. Diese Gnadenstunde dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wir brauchen ein neues Pfingsten! Wir müssen hinausgehen und mit den einzelnen Menschen, den Familien, den Gemeinden und den Völkern zusammentreffen, um ihnen zu erzählen und mit ihnen zu teilen, was uns durch die Begegnung mit Jesus Christus geschenkt wurde. Er hat unser Leben mit „Sinn“, Wahrheit und Liebe, mit Freude und Hoffnung erfüllt. Wir können nicht passiv abwartend in unseren Kirchenräumen sitzen bleiben, sondern müssen dringend in alle Richtungen eilen und kundtun, dass das Böse und der Tod nicht das letzte Wort behalten, dass die Liebe stärker ist, dass wir durch den österlichen Sieg des Herrn der Geschichte befreit und erlöst sind, dass er uns als Kirche zusammenruft und dass er die Anzahl seiner Jünger und Missionare für den Aufbau des Reiches Gottes auf unserem Kontinent vervielfachen will. Wir sind Zeugen und Missionare in den Großstädten und auf dem Lande, auf den Bergen und in den Wäldern unseres Amerika, in allen gesellschaftlichen Milieus, auf den unterschiedlichsten „Areopagen“ des öffentlichen Lebens der Nationen, in den äußersten Notlagen des Daseins, und wir übernehmen Verantwortung für die weltweite Sendung der Kirche ad gentes.
549 Um eine Kirche zu werden, die sich voller Elan und Wagemut der Evangelisierung widmen kann, müssen wir selbst neu evangelisiert und standhafte Jünger werden. Wir wissen, dass wir Verantwortung für jene Getauften tragen, die zwar am österlichen Geheimnis teilhatten und in den Leib Christi eingegliedert wurden, diese Gnade aber unter einer Schicht von Gleichgültigkeit und Vergessenheit nicht mehr wahrnehmen. Wir müssen die Volksreligiosität als wertvollen Schatz unserer Völker pflegen, damit in ihr „die kostbare Perle“, die Jesus Christus ist, immer heller leuchte. Die Volksreligiosität soll durch den Glauben der Kirche und ihr sakramentales Leben immer wieder neu evangelisiert werden. Wir müssen den Glauben stärken, dem sich ernste „Herausforderungen stellen, weil die harmonische Entwicklung der Gesellschaft und die katholische Identität ihrer Völker auf dem Spiel stehen“.<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 1.</ref> Wir dürfen nichts für gegeben und nichts für verloren halten. Als Getaufte sind wir alle aufgerufen, „wieder neu mit Christus anzufangen“, sein Wirken zu erkennen und ihm zu folgen, ebenso real und ungewöhnlich, so wirksam und voller Zuneigung, so überzeugt und voller Hoffnung, wie die ersten Jüngern am Ufer des Jordan vor 2000 Jahren und die „Juan Diegos“ in der Neuen Welt. Nur dank dieser Begegnung und Nachfolge, die Vertrautheit und Gemeinschaft zur Folge hat, werden wir aus unserem isolierten Ichgefühl herausgeholt und gehen – überströmt von Dankbarkeit und Freude – heraus, allen das wahre Leben, Glück und Hoffnung weiterzugeben, die wir selbst voll Freude erfahren haben.
550 Papst Benedikt XVI. hat uns aufgefordert zu einer „Mission der Evangelisierung, die alle lebendigen Energien dieser immensen Herde hinzuziehen soll“, die das Volk Gottes in Lateinamerika und der Karibik darstellt: „Ich denke [...] an die Priester, an die Ordensmänner, an die Ordensfrauen und an die Laien, die sich oftmals unter ungeheuren Schwierigkeiten für die Verbreitung der Wahrheit des Evangeliums aufopfern“. Die missionarische Energie bei der Verkündigung muss sich von Mensch zu Mensch, von Haus zu Haus, von Gemeinde zu Gemeinde ausbreiten. „In diesem angestrengten Bemühen um die Evangelisierung“ – sagt der Heilige Vater weiter – „zeichnet sich die kirchliche Gemeinschaft durch pastorale Initiativen aus, vor allem durch die Entsendung ihrer Missionare, Laien und Ordensleute in die Häuser an der Peripherie der Städte und im Landesinneren, die im Geist des Verständnisses und einfühlsamer Liebe mit allen in Dialog zu treten versuchen.“ Diese Mission der Evangelisierung drückt in der Liebe Gottes alle, insbesondere die Armen und Leidenden, ans Herz. Deshalb darf sie von der Solidarität mit den Bedürftigen und ihrer ganzheitlichen Förderung als Menschen nicht getrennt werden: „Wenn jedoch die Menschen, denen ihr begegnet, in Armut leben, muss man ihnen helfen, so wie es die ersten christlichen Gemeinden getan haben, indem man Solidarität übt, damit sie sich wirklich geliebt fühlen. Die arme Bevölkerung an den Rändern der Großstädte oder auf dem Land muss die Nähe der Kirche spüren, sei es als Hilfe für die dringendsten Bedürfnisse, sei es in der Verteidigung ihrer Rechte und in der gemeinsamen Förderung einer Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit und Frieden gegründet ist. Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums, und der Bischof muss – nach dem Bild des Guten Hirten – besonders darauf achten, den göttlichen Balsam des Glaubens anzubieten, ohne das ‚materielle Brot’ zu vernachlässigen“ (Anm. d. Übers.: Die in diesem Abschnitt angeführten Zitate stammen aus der Ansprache, die Papst Benedikt XVI. am 11. Mai 2007 an die brasilianischen Bischöfe gerichtet hat).
(551) Das missionarische Erwachen in Gestalt einer kontinentalen Mission, deren Grundlinien wir in unserer Versammlung für gut befunden haben und die hoffentlich die reichhaltigen Einsichten, Orientierungen und Prioritäten aus dieser Versammlung überall hinbringen wird, soll bei der nächsten Vollversammlung des CELAM in Havanna noch konkreter überdacht werden. Die kontinentale Mission wird auf die entschiedene Mitarbeit der Bischofskonferenzen und insbesondere jeder einzelnen Diözese angewiesen sein. Sie soll die Kirche in den Zustand permanenter Mission versetzen. Lasst uns mit den Booten aufs Meer hinausfahren, mit dem kräftigem Rückenwind des Heiligen Geistes, ohne Furcht vor den Stürmen, in der Überzeugung, dass Gottes Vorsehung große Überraschungen für uns bereithält.
552 Lassen wir uns also vom Feuer des Geistes wieder anstecken. „Hegen wir die innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn wir unter Tränen säen sollten. Es sei für uns – wie für Johannes den Täufer, für Petrus und Paulus, für die anderen Apostel und die vielen, die sich in bewundernswerter Weise im Lauf der Kirchengeschichte für die Evangelisierung eingesetzt haben – ein innerer Antrieb, den niemand und nichts ersticken kann. Es sei die große Freude unseres als Opfer dargebrachten Lebens. Die Welt von heute, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkünder hören, die keine Geduld haben und ängstlich sind, sondern von Dienern des Evangeliums, deren Leben voller Glut erstrahlt, die als Erste die Freude Christi in sich aufgenommen haben und die entschlossen sind, ihr Leben einzusetzen, damit das Reich Gottes verkündet und die Kirche in das Herz der Welt eingepflanzt werde“.<ref> Evangelii nuntiandi 80.</ref> Lasst uns wieder mit der Courage und Kühnheit der Apostel beginnen.
553 Die heiligste Maria sei uns allezeit nahe, begleite und stütze uns mit all ihrer Sanftmut und ihrem Verständnis. Sie zeige uns die gebenedeite Frucht ihres Leibes und lehre uns zu antworten, wie sie es im Geheimnis der Verkündigung und der Menschwerdung getan hat. Sie lehre uns, mit Hingabe, Liebe und Dienstbereitschaft aus uns selbst herauszugehen, wie sie es tat, als sie sich zu ihrer Cousine Elisabeth auf den Weg machte. Dann können wir als Pilger unterwegs die Großtaten Gottes verkünden, die er an uns, wie er verheißen, getan hat.
554 Geleitet von Maria, richten wir unseren Blick auf Jesus Christus, Urheber und Vollender des Glaubens, und sagen ihm mit dem Nachfolger Petri:
„’Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt’ (Lk 24,29).
Bleib bei uns, Herr, begleite uns, obwohl wir dich nicht immer zu erkennen vermochten. Bleib bei uns, denn um uns herum verdichten sich die Schatten, und du bist das Licht; Entmutigung schleicht sich in unsere Herzen ein, und du lässt sie durch die Gewissheit von Ostern brennen. Wir sind müde vom Weg, aber du bestärkst uns durch das Brechen des Brotes, unseren Brüdern zu verkünden, dass du wirklich auferstanden bist und uns mit der Sendung betraut hast, Zeugen deiner Auferstehung zu sein.
Bleib bei uns, Herr, wenn rund um unseren katholischen Glauben die Nebel des Zweifels, der Müdigkeit oder der Schwierigkeiten aufziehen: Du, der du als Offenbarer des Vaters die Wahrheit selbst bist, erleuchte unseren Geist durch dein Wort; hilf uns, die Schönheit des Glaubens an dich zu empfinden.
Bleib in unseren Familien, erleuchte sie in ihren Zweifeln, hilf ihnen in ihren Schwierigkeiten, tröste sie in ihren Leiden und in der tagtäglichen Mühe, wenn sich um sie herum Schatten zusammenziehen, die ihre Einheit und ihre natürliche Identität bedrohen. Du, der du das Leben bist, bleibe in unseren Häusern und Wohnungen, damit sie weiterhin Stätten sind, wo das menschliche Leben selbstlos geboren wird, wo man das Leben empfängt, liebt und es von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende respektiert.
Bleib, Herr, bei denen, die in unseren Gesellschaften am verwundbarsten sind; bleib bei den Armen und Geringen, bei den Indigenen und Afroamerikanern, die nicht immer Raum und Unterstützung gefunden haben, um dem Reichtum ihrer Kultur und der Weisheit ihrer Identität Ausdruck zu verleihen. Bleib, Herr, bei unseren Kindern und unseren Jugendlichen, die die Hoffnung und der Reichtum unseres Kontinents sind, bewahre sie vor den großen Bedrohungen, die ihre Unschuld und ihre berechtigten Hoffnungen gefährden. O Guter Hirt, bleib bei unseren alten Menschen und bei unseren Kranken. Stärke alle im Glauben, damit sie deine Jünger und Missionare sind!“<ref> Benedikt XVI., Eröffnungsansprache 6.</ref>
Anmerkungen
<references />
Papst Benedikt XVI.
Gebet von Papst Benedikt XVI. für die 5. Generalversammlung
Herr Jesus Christus, du Weg, Wahrheit und Leben, menschliches Antlitz Gottes und göttliches Antlitz des Menschen, entzünde in unseren Herzen die Liebe zum Vater im Himmel und die Freude, Christen zu sein. Komm in unsere Gemeinschaft und führe unsere Schritte, damit wir dir folgen und dich lieben in der Gemeinschaft deiner Kirche, indem wir feiern und leben aus dem Geschenk der Eucharistie, unser Kreuz auf uns nehmen und uns beflügeln lassen für deine Sendung. Gib uns immer das Feuer deines Heiligen Geistes, dass er unseren Verstand erleuchte, und wecke in uns die Sehnsucht, dich zu schauen, wecke die Liebe zu den Schwestern und Brüdern, vor allem zu den Betrübten, und wecke den Eifer dich zu verkündigen am Beginn dieses Jahrhunderts.
Als deine Jünger und Missionare wollen wir in See stechen, damit unsere Völker teilhaben an der Fülle deines Lebens und in Solidarität Geschwisterlichkeit und Frieden aufbauen. Herr Jesus, komm und sende uns! Maria, Mutter der Kirche, bitte für uns! Amen!
Ansprache von Papst Benedikt XVI. nach dem Rosenkranzgebet am 12. Mai 2007 in Aparecida<ref>Ansprache von Papst Benedikt XVI. nach dem Rosenkranzgebet am 12. Mai 2007 in Aparecida auf der Vatikanseite</ref>
Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst,
liebe Ordensleute und alle, die ihr, von der Stimme Jesu Christi angespornt, ihm aus Liebe gefolgt seid,
liebe Seminaristen, die ihr euch auf das Priesteramt vorbereitet,
liebe Vertreter der kirchlichen Bewegungen und liebe Laien, die ihr alle die Kraft des Evangeliums in die Welt der Arbeit und der Kultur,
in den Schoß der Familien und in eure Pfarreien tragt!
1. Wie die Apostel zusammen mit Maria in das Obergemach hinaufgingen und dort einmütig im Gebet verharrten (vgl. Apg 1,13–14), so haben auch wir uns heute hier im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida versammelt, das in dieser Stunde für uns das »Obergemach« ist, wo Maria, die Mutter des Herrn, unter uns ist. Sie ist es, die heute unsere Meditation leitet; sie ist es, die uns beten lehrt. Sie ist es, die uns zeigt, wie wir unsere Sinne und unsere Herzen der Macht des Heiligen Geistes öffnen sollen, der kommt, um der ganzen Welt mitgeteilt zu werden.
Wir haben soeben den Rosenkranz gebetet. Durch dessen Meditationszyklen will uns der göttliche Tröster in die Erkenntnis Christi einführen, die aus der klaren Quelle des Textes des Evangeliums strömt. Die Kirche des dritten Jahrtausends nimmt sich ihrerseits vor, den Christen die Fähigkeit zu bieten, »das göttliche Geheimnis zu erkennen, das Christus ist, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind« (Kol 2,2–3), wie der Apostel Paulus sagt. Maria, die reine und unbefleckte Jungfrau, ist für uns Schule des Glaubens, die dazu bestimmt ist, uns zu leiten und uns Kraft zu geben auf dem Weg, der zum Schöpfer des Himmels und der Erde führt. Der Papst ist mit großer Freude nach Aparecida gekommen, um euch vor allem zu sagen: »Bleibt in der Schule Marias«. Inspiriert euch an ihren Lehren; versucht in eurem Herzen das Licht aufzunehmen und zu bewahren, das sie euch in göttlichem Auftrag von oben sendet.
Wie schön ist es, hier im Namen Christi, im Glauben, in der Geschwisterlichkeit, in der Freude, im Frieden und »im Gebet mit Maria, der Mutter Jesu« (Apg 1,14), vereint zu sein. Wie schön ist es, liebe Priester, Diakone, geweihte Männer und Frauen, Seminaristen und christliche Familien, hier, im Nationalheiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida zu weilen, das die Wohnung Gottes ist, das Haus Marias und das Haus der Brüder und das sich in diesen Tagen auch in den Sitz der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik verwandelt. Wie schön ist es, hier in dieser Marienbasilika zu sein, auf die sich in diesem Moment die Blicke und die Hoffnungen der christlichen Welt, insbesondere von Lateinamerika und der Karibik, richten!
2. Ich bin glücklich, hier bei euch, mitten unter euch zu sein! Der Papst liebt euch! Der Papst grüßt euch herzlich! Er betet für euch! Und er erbittet vom Herrn reichsten Segen für die kirchlichen Bewegungen, die Vereinigungen und für die neuen kirchlichen Initiativen, die lebendiger Ausdruck der immerwährenden Jugend der Kirche sind! Seid wahrhaft gesegnet! Von hier aus richte ich meinen herzlichen Gruß an euch Familien, die ihr hier in Vertretung aller lieben christlichen Familien in der ganzen Welt versammelt seid. Ich freue mich ganz besonders mit euch, und ich entbiete euch meinen Friedensgruß.
Ich danke für die Aufnahme und für die Gastfreundschaft des brasilianischen Volkes. Von meiner Ankunft an bin ich mit viel Liebe empfangen worden! Die vielen Bekundungen der Hochschätzung und die Grüße beweisen, wie sehr ihr den Nachfolger des Apostels Petrus liebt, schätzt und achtet. Mein Vorgänger, der Diener Gottes Johannes Paul II., hat mehrmals eure Sympathie und den Geist der brüderlichen Aufnahme erwähnt. Er hatte wirklich recht!
3. Ich grüße die hier anwesenden lieben Priester, während ich an alle Priester denke, die in der ganzen Welt und besonders in Lateinamerika und in der Karibik verstreut sind – unter ihnen auch die »Fidei-donum«-Priester –, und ich bete für sie. Wie viele Herausforderungen, wie viele schwierige Situationen, die bewältigt wurden, wieviel Hochherzigkeit, wieviel Entsagung, wie viele Opfer und Verzichte! Die Treue in der Ausübung des Dienstes und im Gebetsleben, die Suche nach der Heiligkeit, die totale Hingabe an Gott im Dienst an den Brüdern und Schwestern, wenn ihr euer Leben und eure Kräfte aufzehrt, indem ihr die Gerechtigkeit, die Brüderlichkeit, die Solidarität und das Teilen fördert – das alles spricht mit lauter Stimme zu meinem Herzen als Hirte. Das Zeugnis eines gut gelebten Priestertums adelt die Kirche, ruft unter den Gläubigen Bewunderung hervor, ist Quelle des Segens für die Gemeinschaft, ist die beste Förderung der Berufungen, die herzlichste Einladung, damit auch die anderen Jugendlichen auf den Ruf des Herrn positiv antworten. Es ist die beste Mitarbeit im Hinblick auf die Errichtung des Reiches Gottes!
Ich danke euch aufrichtig, und ich rufe euch auf, die Berufung, die ihr empfangen habt, in würdiger Weise zu leben. Der missionarische Eifer, die Leidenschaft für eine immer aktuelle Evangelisierung, der wahre apostolische Geist und der Eifer für die Seelen sollen in euren Leben stets gegenwärtig sein! Meine Zuneigung, mein Gebet und mein Dank gelten auch den alten und kranken Priestern. Eure Ähnlichkeit mit dem leidenden und auferstandenen Christus ist das fruchtbarste Apostolat! Vielen Dank!
4. Liebe Diakone und Seminaristen, an euch, die ihr im Herzen des Papstes einen besonderen Platz einnehmt, richte ich ebenfalls einen sehr herzlichen, brüderlichen Gruß. Die Liebenswürdigkeit, der Enthusiasmus, der Idealismus, die Ermutigung, um den neuen Herausforderungen entschlossen zu begegnen, erneuern die Bereitschaft des Volkes Gottes, machen die Gläubigen dynamischer und lassen die Gemeinde wachsen, Fortschritte machen und vertrauensvoller, freudiger und optimistischer sein. Ich danke für das Zeugnis, das ihr gebt, indem ihr mit euren Bischöfen in den pastoralen Tätigkeiten der Diözesen zusammenarbeitet. Habt immer die Gestalt Jesu, des guten Hirten, vor Augen, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). Seid wie die ersten Diakone der Kirche: Männer von gutem Ruf, erfüllt vom Heiligen Geist, von Weisheit und vom Glauben (vgl. Apg 6,3–5). Und ihr Seminaristen, dankt Gott für den Ruf, den er an euch richtet. Denkt daran, daß das Priesterseminar die »Wiege eurer Berufung und der Übungsplatz der ersten Erfahrung von Gemeinschaft« ist (Direktorium für den Dienst und das Leben der Priester, 32). Ich bete, daß ihr mit Gottes Hilfe heilige, treue Priester seid und daß ihr glücklich seid, der Kirche zu dienen!
5. Jetzt wende ich meinen Blick und meine Aufmerksamkeit euch zu, liebe gottgeweihte Männer und Frauen, die ihr hier im Heiligtum der Mutter, der Königin und Patronin des brasilianischen Volkes, versammelt seid, und auch denen, die in allen Teilen der Welt verstreut sind.
Ihr Ordensmänner und Ordensfrauen seid eine Opfergabe, ein Geschenk, eine göttliche Gabe, die die Kirche von ihrem Herrn empfangen hat. Ich sage Gott Dank für euer Leben und für das Zeugnis, das ihr vor der Welt von einer treuen Liebe zu Gott und den Mitmenschen gebt. Diese vorbehaltlose, totale, endgültige, bedingungslose und leidenschaftliche Liebe zeigt sich in der Stille, in der Betrachtung, im Gebet und in den unterschiedlichsten Tätigkeiten, die ihr in euren Ordensfamilien zugunsten der Menschheit und hauptsächlich der Ärmsten und Verlassenen ausübt. All das weckt in den Herzen der jungen Menschen den Wunsch, Christus, dem Herrn, aus der Nähe und radikal nachzufolgen und das Leben hinzugeben, um vor den Menschen unserer Zeit Zeugnis abzulegen von der Tatsache, daß Gott Liebe ist und daß es sich lohnt, sich erobern und faszinieren zu lassen, um sich ausschließlich ihm zu widmen (vgl. Apostolisches Schreiben Vita consecrata, 15).
Seit Beginn der Kolonisation war das Ordensleben in Brasilien immer von großer Bedeutung und spielte eine wichtige Rolle im Werk der Evangelisierung. Erst gestern hatte ich die große Freude, der Eucharistiefeier vorzustehen, in der der sel. Antônio de Sant’Ana Galvão, Priester und Franziskaner, heiliggesprochen wurde. Es ist der erste in Brasilien geborene Heilige . Ein anderes bewundernswertes Zeugnis einer geweihten Person ist neben ihm die hl. Paulina, Gründerin der Kleinen Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis. Ich könnte noch viele andere Beispiele nennen. Mögen sie alle zusammen euch als Anregung dienen, damit ihr eine vollkommene Weihe leben könnt. Gott segne euch!
6. Heute, am Vorabend der Eröffnung der V. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, der ich zu meiner Freude vorstehen werde, habe ich den Wunsch, euch allen zu sagen, wie wichtig der Sinn unserer Zugehörigkeit zur Kirche ist, die die Christen anleitet, als Brüder und Schwestern, als Kinder desselben Gottes und Vaters zu wachsen und zu reifen. Liebe Männer und Frauen von Lateinamerika, ich weiß, daß ihr einen großen Durst nach Gott habt. Ich weiß, daß ihr jenem Jesus nachfolgt, der gesagt hat: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich« (Joh 14,6). Deshalb will der Papst euch allen sagen: Die Kirche ist unser Haus! Das ist unser Haus! In der katholischen Kirche finden wir alles, was gut ist, alles, was Grund zu Sicherheit und Erleichterung ist! Wer Christus, »den Weg, die Wahrheit und das Leben«, in seiner Gesamtheit annimmt, sichert sich den Frieden und die Glückseligkeit in diesem und im kommenden Leben! Darum ist der Papst hierhergekommen, um mit euch allen zu beten und zu bekennen: Es lohnt sich, zu glauben; es lohnt sich, am eigenen Glauben festzuhalten! Die Kohärenz im Glauben erfordert aber auch eine solide Bildung in der Lehre und Spiritualität, um so zum Aufbau einer gerechteren, menschlicheren und christlicheren Gesellschaft beizutragen. Der Katechismus der Katholischen Kirche, auch in seiner verkürzten, mit dem Titel Kompendium veröffentlichten Ausgabe, wird helfen, klare Kenntnisse von unserem Glauben zu haben. Schon jetzt bitten wir, daß die Herabkunft des Heiligen Geistes für alle ein neues Pfingsten werde, damit er mit dem Licht, das aus der Höhe kommt, unsere Herzen und unseren Glauben erleuchte.
7. Ich wende mich mit großer Hoffnung an euch alle, die ihr in dieser imposanten Basilika versammelt seid und an all jene, die draußen am Rosenkranzgebet teilgenommen haben; ich möchte euch einladen, zutiefst Missionare zu werden und die Frohe Botschaft des Evangeliums in alle Himmelsrichtungen Lateinamerikas und der Welt zu tragen.
Bitten wir die Mutter Gottes, Unsere Liebe Frau von Aparecida, daß sie das Leben aller Christen behüte. Sie, die der Stern der Evangelisierung ist, lenke unsere Schritte auf dem Weg zum himmlischen Reich.
»Unsere Mutter, beschütze die brasilianische und lateinamerikanische Familie!
Behüte unter deinem Schutzmantel die Kinder dieses geliebten Vaterlandes, das uns beherbergt.
Du bist Anwältin bei deinem Sohn Jesus, gib dem brasilianischen Volk beständigen Frieden und vollen Wohlstand;
Gieße in unsere Brüder und Schwestern aller Länder Lateinamerikas wahren missionarischen Eifer ein, der den Glauben und die Hoffnung verbreitet;
gib, daß dein Ruf, der in Fatima zur Bekehrung der Sünder erklang, Wirklichkeit werde und das Leben unserer Gesellschaft verwandle,
und Du, die du vom Heiligtum von Guadalupe aus für das Volk des Kontinents der Hoffnung Fürsprache einlegst, segne seine Länder und all seine Familien.
Amen«.
Predigt von Papst Benedikt XVI. in der Eucharistiefeier zu Beginn der 5. Generalversammlung am 13. Mai 2007<ref>Predigt von Papst Benedikt XVI. in der Eucharistiefeier zu Beginn der 5. Generalversammlung am 13. Mai 2007 auf der Vatikanseite</ref>
Liebe Brüder im Bischofsamt,
liebe Priester und ihr alle, Brüder und Schwestern im Herrn!
Es fehlen mir die Worte, um meiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, daß ich hier bei euch bin, um anläßlich der Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik diese Eucharistiefeier zu zelebrieren. Ich richte an jeden von euch meinen herzlichsten Gruß, besonders an Erzbischof Raymundo Damasceno Assis, dem ich für die Worte danke, die er im Namen der ganzen Versammlung an mich gerichtet hat, und an Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa, Präsident des CELAM und Mitvorsitzender dieser Generalversammlung. Ehrerbietig grüße ich die zivilen und militärischen Autoritäten, die uns durch ihre Anwesenheit beehren. Von diesem Heiligtum aus schließe ich, erfüllt von Liebe und Gebet, in meine Gedanken alle jene ein, die in geistiger Weise mit uns verbunden sind, besonders die Gemeinschaften geweihten Lebens, die in den Vereinigungen und Bewegungen engagierten Jugendlichen, die Familien sowie die Kranken und Alten. Allen rufe ich zu: »Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« (1 Kor 1,3).
Ich sehe es als ein besonderes Geschenk der Vorsehung an, daß diese heilige Messe zu dieser Zeit und an diesem Ort gefeiert wird. Wir befinden uns liturgisch in der Osterzeit und feiern den sechsten Sonntag nach Ostern: Pfingsten ist schon nahe, und die Kirche ist eingeladen, die Anrufung des Heiligen Geistes zu intensivieren. Der Ort ist das Nationalheiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida, das marianische Herz Brasiliens: Maria empfängt uns in diesem Abendmahlssaal und hilft uns als Mutter und Lehrerin, ein einmütiges und vertrauensvolles Gebet an Gott zu richten. Diese Liturgiefeier bildet das feste Fundament der V. Generalkonferenz, weil sie ihr das Gebet und die Eucharistie, das Sacramentum caritatis, zugrunde legt. In der Tat, allein die vom Heiligen Geist ausgegossene Liebe Christi kann aus dieser Versammlung ein authentisches kirchliches Ereignis machen, einen Augenblick der Gnade für diesen Kontinent und für die ganze Welt. Heute Nachmittag werde ich die Möglichkeit haben, zum Kern der Inhalte zu kommen, die das Thema eurer Versammlung nahelegt. Jetzt lassen wir dem Wort Gottes Raum, das wir mit Freude nach dem Vorbild Marias, Unserer Lieben Frau von der Unbefleckten Empfängnis, mit offenem und gefügigem Herzen aufnehmen können, damit durch die Kraft des Heiligen Geistes Christus im Heute unserer Geschichte aufs neue »Fleisch annehmen« kann.
Die Erste Lesung, die der Apostelgeschichte entnommen ist, bezieht sich auf das sogenannte »Konzil von Jerusalem«, das sich mit der Frage auseinandersetzte, ob die Heiden, die Christen wurden, zur Einhaltung des mosaischen Gesetzes verpflichtet werden sollten. Der Text überspringt die Diskussion zwischen »den Aposteln und den Ältesten« (Apg 15,4–21) und gibt die abschließende Entscheidung wieder, die in einem Brief niedergeschrieben und zwei Gesandten anvertraut wurde, die den Brief der Gemeinde von Antiochia überbringen sollten (vgl. ebd., 22–29). Dieser Abschnitt aus der Apostelgeschichte ist sehr passend für uns, da auch wir hier zu einer Kirchenversammlung zusammengekommen sind. Der Text erinnert uns an den Sinn der gemeinschaftlichen Unterscheidung angesichts der großen Probleme, denen die Kirche auf ihrem Weg begegnet und die von den »Aposteln« und »Ältesten« geklärt werden durch das Licht des Heiligen Geistes, der, wie das heutige Evangelium sagt, an die Lehre Jesu Christi erinnert (vgl. Joh 14,26) und so der christlichen Gemeinde hilft, sich in Liebe der vollen Wahrheit zu nähern (vgl. Joh 16,13). Die Häupter der Kirche diskutieren und argumentieren, und dies geschieht immer in der Haltung des gottesfürchtigen Hörens auf das Wort Christi im Heiligen Geist. Deshalb können sie am Ende sagen: »Der Heilige Geist und wir haben beschlossen…« (Apg 15,28).
Das ist die »Methode«, mit der wir in der Kirche arbeiten, in den kleinen wie großen Versammlungen. Das ist nicht nur eine Verfahrensfrage; es ist das Spiegelbild der Natur der Kirche selbst, Geheimnis der Gemeinschaft mit Christus im Heiligen Geist. Was die Generalversammlungen der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik angeht, so nutzte die erste Konferenz im Jahr 1955 in Rio de Janeiro einen von Papst Pius XII. seligen Angedenkens eigens übersandten Brief als Arbeitsgrundlage; zu den folgenden Konferenzen bis zur heutigen ist der Bischof von Rom an den Ort der kontinentalen Versammlung gekommen, um deren Anfangsphase zu leiten. In ehrfürchtiger Dankbarkeit denken wir an die Diener Gottes Paul VI. und Johannes Paul II., die den Konferenzen in Medellin, Puebla und Santo Domingo das Zeugnis von der Nähe der Weltkirche zur Kirche in Lateinamerika überbrachten, die, proportional gesehen, den größten Teil der katholischen Gemeinschaft ausmachen.
»Der Heilige Geist und wir.« Das ist die Kirche: Wir, die gläubige Gemeinde, das Volk Gottes mit seinen Hirten, die gerufen sind, sie auf ihrem Weg zu führen; zusammen mit dem Heiligen Geist, Geist des Vaters, im Namen des Sohnes Jesus gesandt, Geist dessen, der »größer« ist als alle und uns durch Christus geschenkt ist, der sich für uns »klein« gemacht hat. Geist – »Paraklet«, »Advocatus«, das heißt Beistand, Verteidiger und Tröster. Er läßt uns in der Gegenwart Gottes leben, im Hören auf sein Wort, frei von Verwirrung und Furcht, mit dem Frieden im Herzen, den Jesus uns hinterlassen hat und den die Welt nicht geben kann (vgl. Joh 14,26–27). Der Geist begleitet die Kirche auf dem langen Weg, der zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi liegt: »Ich gehe fort und komme wieder zu euch zurück« (Joh 14,28), sagte Jesus zu den Aposteln. Zwischen dem »Fortgehen« und dem »Wiederkommen« Christi liegt die Zeit der Kirche, die sein Leib ist; das sind die zweitausend Jahre, die bis jetzt vergangen sind; das sind auch die fünfhundert Jahre und mehr, in denen die Kirche in Amerika auf Pilgerschaft ist, in den Gläubigen durch die Sakramente das Leben Christi verbreitet und in diesen Ländern den guten Samen des Evangeliums ausstreut, wo er dreißigfach, sechzigfach und hundertfach Frucht trägt. Zeit der Kirche, Zeit des Geistes: Er ist der Meister, der die Jünger formt: Er entzündet in ihnen die Liebe zu Jesus; er erzieht sie zum Hören auf sein Wort, zur Betrachtung seines Antlitzes; er paßt sie seiner als »selig« bezeichneten Menschheit an: arm im Geist, betrübt, sanftmütig, hungernd nach Gerechtigkeit, barmherzig, mit reinem Herzen, Friedensstifter, verfolgt um der Gerechtigkeit willen (vgl. Mt 5,3–10). So wird Jesus dank des Wirkens des Heiligen Geistes der »Weg«, auf dem der Jünger weitergeht. »Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten«, sagt Jesus am Beginn des heutigen Abschnitts aus dem Evangelium. »Das Wort, das ihr hört, stammt nicht von mir, sondern vom Vater, der mich gesandt hat« (Joh 14,23–24). Wie Jesus die Worte des Vaters weitergibt, so erinnert der Heilige Geist die Kirche an die Worte Christi (vgl. Joh 14,26). Und wie die Liebe zum Vater Jesus dazu brachte, sich von seinem Willen zu nähren, so zeigt sich unsere Liebe zu Jesus im Gehorsam gegenüber seinen Worten. Die Treue Jesu zum Willen des Vaters kann sich den Jüngern dank des Heiligen Geistes mitteilen, der die Liebe Gottes in ihre Herzen ausgießt (vgl. Röm 5,5).
Das Neue Testament zeigt uns Christus als Gesandten, als Missionar des Vaters. Besonders im Johannesevangelium spricht Jesus von sich oft in Beziehung zum Vater, der ihn in die Welt gesandt hat. So sagt Jesus auch im heutigen Text: »Das Wort, das ihr hört, stammt nicht von mir, sondern vom Vater, der mich gesandt hat« (Joh 14,24). In diesem Augenblick, liebe Freunde, sind wir eingeladen, den Blick fest auf ihn zu richten, weil die Sendung der Kirche nur darin besteht, Fortführung der Mission Christi zu sein: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch« (Joh 20,21). Und der Evangelist hebt auch bildlich hervor, daß diese Übertragung des Auftrags im Heiligen Geist geschieht: »Er hauchte sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist…« (Joh 20,22). Die Sendung Christi hat sich in der Liebe erfüllt. Er hat in der Welt das Feuer der Liebe Gottes entzündet (vgl. Lk 12,49). Die Liebe schenkt das Leben: Deshalb ist die Kirche gesandt, die Liebe Christi in der Welt zu verbreiten, damit die Menschen und die Völker »das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Auch euch, die ihr die Kirche in Lateinamerika vertretet, kann ich voll Freude auf ideelle Weise meine Enzyklika Deus caritas est nochmals anvertrauen, mit der ich alle auf das hinweisen wollte, was an der christlichen Botschaft wesentlich ist. Die Kirche fühlt sich als Jüngerin und Missionarin dieser Liebe: Missionarin nur insofern, als sie auch Jüngerin ist, das heißt fähig, sich stets mit erneuertem Staunen von Gott anziehen zu lassen, der uns zuerst geliebt hat und uns zuerst liebt (vgl. 1 Joh 4,10). Die Kirche betreibt keinen Proselytismus. Sie entwickelt sich vielmehr durch »Anziehung«: Wie Christus mit der Kraft seiner Liebe, die im Opfer am Kreuz gipfelt, »alle an sich zieht«, so erfüllt die Kirche ihre Sendung in dem Maß, in dem sie, mit Christus vereint, jedes Werk in geistlicher und konkreter Übereinstimmung mit der Liebe ihres Herrn erfüllt.
Liebe Brüder! Das ist der unermeßliche Schatz, an dem der lateinamerikanische Kontinent so reich ist, das ist sein kostbarstes Erbe: der Glaube an Gott, der die Liebe ist, der in Christus Jesus sein Antlitz enthüllt hat. Ihr glaubt an Gott, der die Liebe ist: Das ist eure Stärke, die die Welt besiegt, die Freude, die euch nichts und niemand je nehmen kann, der Friede, den Christus durch sein Kreuz für euch errungen hat! Dieser Glaube hat aus Amerika den »Kontinent der Hoffnung« gemacht. Keine politische Ideologie, keine soziale Bewegung, kein Wirtschaftssystem, sondern der Glaube an den Gott, der Liebe ist, Mensch geworden, gestorben und auferstanden in Jesus Christus, ist das authentische Fundament dieser Hoffnung, der von der Zeit der Evangelisierung bis heute so viele großartige Früchte getragen hat, wie die Schar der Heiligen und Seligen beweist, die der Heilige Geist in jedem Teil des Kontinents hervorgebracht hat. Papst Johannes Paul II. hat euch zu einer Neuevangelisierung aufgerufen, und ihr habt seinen Auftrag mit der Großzügigkeit und dem Einsatz angenommen, die für euch typisch sind. Ich bestätige euch das und fordere euch mit den Worten dieser V. Generalversammlung auf: Seid gläubige Jünger, um mutige und überzeugende Missionare zu sein.
Die Zweite Lesung hat uns die wunderbare Vision des himmlischen Jerusalem vor Augen geführt. Es ist ein Bild von strahlender Schönheit, an der nichts dekorativ ist, sondern alles zur vollkommenen Harmonie der Heiligen Stadt beiträgt. Der Seher Johannes schreibt, daß sie »von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes« (Offb 21,10–11). Aber die Herrlichkeit Gottes ist die Liebe; deshalb ist das himmlische Jerusalem Bild der Kirche, ganz heilig und herrlich, ohne Flecken und Falten (vgl. Eph 5,27), die in ihrer Mitte und in allen ihren Teilen von der Gegenwart Gottes, der die Liebe ist, erstrahlt. Sie wird »Braut« genannt, »Braut des Lammes« (Apg 21,9), weil sich in ihr das Bild vom Hochzeitsmahl erfüllt, das von Anfang bis Ende die biblische Offenbarung durchzieht. Die Stadt als Braut ist Heimat der vollen Gemeinschaft Gottes mit den Menschen; in ihr braucht man keinen Tempel noch eine äußere Lichtquelle, weil die Gegenwart Gottes und des Lammes ihr innewohnt und sie von innen her erleuchtet.
Dieses wunderbare Bild hat eine eschatologische Bedeutung: Es drückt das Geheimnis der Schönheit aus, die schon jetzt die Gestalt der Kirche ausmacht, auch wenn sie noch nicht zu ihrer Fülle gelangt ist. Sie ist das Ziel unserer Pilgerschaft, die Heimat die uns erwartet und nach der wir uns verzehren. Sie mit den Augen des Glaubens zu sehen, zu betrachten und zu ersehnen darf nicht Grund für eine Flucht aus der geschichtlichen Wirklichkeit sein, in der die Kirche lebt und Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der heutigen Menschheit, besonders der Ärmsten und Bedürftigsten teilt (vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution Gaudium et spes, 1). Wenn die Schönheit des himmlischen Jerusalem die Herrlichkeit Gottes, also seine Liebe, ist, dann können wir uns ihr nur in der Liebe nähern und in einem bestimmten Maß bereits in ihr leben. Wer den Herrn Jesus liebt und sein Wort befolgt, erfährt schon in dieser Welt die geheimnisvolle Gegenwart des dreieinigen Gottes, wie wir im Evangelium gehört haben: »Wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Joh 14,23). Jeder Christ ist deshalb gerufen, lebendiger Stein dieser wunderbaren »Wohnung Gottes unter den Menschen« zu werden. Was für eine großartige Berufung!
Eine Kirche, die ganz von der Liebe Christi, des aus Liebe geopferten Lammes, beseelt und bewegt ist, ist das historische Bild des himmlischen Jerusalem, Vorwegnahme der Heiligen Stadt, die von der Herrlichkeit Gottes erstrahlt. Sie strömt eine unwiderstehliche missionarische Kraft aus, die die Kraft der Heiligkeit ist. Die Jungfrau Maria erwirke für die Kirche in Lateinamerika und in der Karibik, daß sie reichlich mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werde (vgl. Lk 24,49), um auf dem Kontinent und in der ganzen Welt die Heiligkeit Christi auszustrahlen. Ihm sei Ehre, mit dem Vater und dem Heiligen Geist, in alle Ewigkeit. Amen.
==Eröffnungsansprache der V. Generalversammlung] der CELAM von Papst Benedikt XVI. im Konferenzsaal des Heiligtums von Aparecida<ref>Eröffnungsansprache der V. Generalversammlung der CELAM von Papst Benedikt XVI. im Konferenzsaal des Heiligtums von Aparecida am Sonntag, 13. Mai 2007</ref>==
Liebe Brüder im Bischofsamt,
geliebte Priester,
Ordensmänner, Ordensfrauen und Laien,
liebe Beobachter anderer religiöser Bekenntnisse!
Es ist ein Grund großer Freude, heute hier bei euch zu sein, um die V. Generalversammlung der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik zu eröffnen, die nahe dem Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida, der Schutzpatronin Brasiliens, abgehalten wird. Meine ersten Worte sollen Danksagung und Lob an Gott sein für das große Geschenk des christlichen Glaubens an die Völker dieses Kontinents.
1. Der christliche Glaube in Lateinamerika
Der Glaube an Gott beseelt seit mehr als fünf Jahrhunderten das Leben und die Kultur dieser Länder. Aus der Begegnung jenes Glaubens mit den Urvölkern ist die reiche christliche Kultur dieses Kontinents entstanden, die in der Kunst, in der Musik, in der Literatur und vor allem in den religiösen Traditionen und in der Lebensweise seiner Völker Ausdruck gefunden hat, die durch ein und dieselbe Geschichte und ein und denselben Glauben so verbunden sind, daß sie selbst bei der Vielfalt von Kulturen und Sprachen einen tiefen Einklang entstehen lassen.
Zur Zeit muß sich dieser Glaube ernsten Herausforderungen stellen, weil die harmonische Entwicklung der Gesellschaft und die katholische Identität ihrer Völker auf dem Spiel stehen. In diesem Zusammenhang schickt sich die V. Generalversammlung an, über diese Situation nachzudenken, um den christlichen Gläubigen zu helfen, daß sie ihren Glauben freudig und konsequent leben und sich bewußt werden können, Jünger und Missionare Christi zu sein, die von ihm in die Welt gesandt wurden, um von unserem Glauben und unserer Liebe Kunde und Zeugnis zu geben.
Welche Bedeutung hatte aber die Annahme des christlichen Glaubens für die Länder Lateinamerikas und der Karibik? Es bedeutete für sie, Christus kennenzulernen und anzunehmen, Christus, den unbekannten Gott, den ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen religiösen Traditionen suchten. Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten. Es bedeutete auch, mit dem Taufwasser das göttliche Leben empfangen zu haben, das sie zu Adoptivkindern Gottes gemacht hat; außerdem den Heiligen Geist empfangen zu haben, der gekommen ist, ihre Kulturen zu befruchten, indem er sie reinigte und die unzähligen Keime und Samen, die das fleischgewordene Wort in sie eingesenkt hatte, aufgehen ließ und sie so auf die Wege des Evangeliums ausrichtete. Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur. Echte Kulturen sind weder in sich selbst verschlossen noch in einem bestimmten Augenblick der Geschichte erstarrt, sondern sie sind offen, mehr noch, sie suchen die Begegnung mit anderen Kulturen, hoffen, zur Universalität zu gelangen in der Begegnung und im Dialog mit anderen Lebensweisen und mit den Elementen, die zu einer neuen Synthese führen können, in der man die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und ihrer konkreten kulturellen Verwirklichung respektiert.
Letzten Endes eint allein die Wahrheit, und der Beweis für sie ist die Liebe. Aus diesem Grund ist Christus, da er wirklich der fleischgewordene »Logos«, »die Liebe bis zur Vollendung« ist, weder irgendeiner Kultur noch irgendeinem Menschen fremd; im Gegenteil, die im Herzen der Kulturen ersehnte Antwort ist jene, die ihnen ihre letzte Identität dadurch gibt, daß sie die Menschheit eint und gleichzeitig den Reichtum der Vielfalt respektiert und alle dem Wachstum in der wahren Humanisierung, im echten Fortschritt öffnet. Das Wort Gottes ist, als es in Jesus Christus Fleisch wurde, auch Geschichte und Kultur geworden.
Die Utopie, den präkolumbischen Religionen durch die Trennung von Christus und von der Gesamtkirche wieder Leben zu geben, wäre kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Sie wäre in Wirklichkeit eine Rückentwicklung zu einer in der Vergangenheit verankerten geschichtlichen Periode.
Ihre Weisheit brachte die Urvölker glücklicherweise dazu, eine Synthese zwischen ihren Kulturen und dem christlichen Glauben zu bilden, den ihnen die Missionare anboten. Daraus wurde die reiche und tiefe Volksfrömmigkeit geboren, in der die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt:
- Die Liebe zum leidenden Christus, dem Gott des Mitleids, der Vergebung und der Versöhnung; dem Gott, der uns so geliebt hat, daß er sich für uns ausgeliefert hat; - Die Liebe zu dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn, dem Gott, der Fleisch geworden, gestorben und auferstanden ist, um Brot des Lebens zu sein; - Zu dem Gott, der den Armen und Leidenden nahe ist; - Die tiefe Verehrung der allerseligsten Jungfrau von Guadalupe, der Aparecida, der Jungfrau mit verschiedenen nationalen und lokalen Titeln. Als die Jungfrau von Guadalupe dem hl. Juan Diego, einem Indio, erschien, sprach sie zu ihm die bedeutsamen Worte: »Bin ich nicht hier, um deine Mutter zu sein? Stehst du nicht unter meinem Schirm und Schutz? Bin ich nicht die Quelle deiner Freude? Bist du nicht in meinen Mantel gehüllt, in meinen Armen geborgen?« (Nican Mopohua, Nr. 118–119)..
Zum Ausdruck kommt diese Frömmigkeit auch in der Verehrung der Heiligen mit ihren Patronatsfesten, in der Liebe zum Papst und zu den anderen Hirten, in der Liebe zur Universalkirche als großer Familie Gottes, die ihre Kinder niemals allein oder im Elend lassen kann noch darf. Das alles bildet das große Mosaik der Volksfrömmigkeit, die der kostbare Schatz der katholischen Kirche in Lateinamerika ist und den sie schützen, fördern und, wenn nötig, auch reinigen muß.
2. Kontinuität mit den anderen Generalversammlungen
Diese V. Generalversammlung wird in Kontinuität mit den anderen vier Konferenzen abgehalten, die ihr in Rio de Janeiro, Medellin, Puebla und Santo Domingo vorausgegangen sind. Mit demselben Geist, der diese Versammlungen beseelt hat, wollen die Bischöfe nun der Evangelisierung einen neuen Impuls geben, damit diese Völker weiter im Glauben wachsen und reifen, um durch ihr Leben Licht der Welt und Zeugen Jesu Christi zu sein.
Seit der IV. Generalversammlung in Santo Domingo hat sich in der Gesellschaft vieles verändert. Die Kirche, die an den Bestrebungen und Hoffnungen, an den Leiden und Freuden ihrer Kinder teilnimmt, will in dieser Zeit so vieler Herausforderungen an ihrer Seite gehen, um ihnen stets Hoffnung und Trost einzuflößen (vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution Gaudium et spes, 1).
In der heutigen Welt gibt es das Phänomen der Globalisierung als ein weltumspannendes Beziehungsgeflecht. Wenngleich die Globalisierung unter gewissen Aspekten ein Gewinn für die große Menschheitsfamilie und ein Zeichen ihrer Sehnsucht nach Einheit sein mag, bringt sie jedoch zweifellos auch das Risiko der großen Monopole und damit die Umdeutung des Gewinns zum höchsten Wert mit sich. Wie in allen Bereichen menschlichen Tuns muß auch die Globalisierung von der Ethik geleitet sein, so daß sie alles in den Dienst der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffenen menschlichen Person stellt.
In Lateinamerika und in der Karibik wie auch in anderen Regionen sind Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie zu verzeichnen, obschon es Anlaß zur Sorge gibt angesichts von Regierungsformen, die autoritär oder Ideologien unterworfen sind, die man eigentlich für überholt hielt und die nicht der christlichen Sicht des Menschen und der Gesellschaft, wie sie die Soziallehre der Kirche lehrt, entsprechen. Andererseits muß die liberale Wirtschaft mancher lateinamerikanischer Länder auch die Gerechtigkeit berücksichtigen, da die sozialen Bereiche, die sich immer mehr von einer enormen Armut unterdrückt oder sogar ihrer natürlichen Güter beraubt sehen, weiter zunehmen.
Beachtlich ist in den kirchlichen Gemeinschaften Lateinamerikas die Glaubensreife vieler engagierter und dem Herrn ergebener Laien, Männer und Frauen, zusammen mit der Präsenz vieler hochherziger Katecheten, zahlreicher Jugendlicher, neuer kirchlicher Bewegungen und in jüngster Zeit gegründeter Institute des geweihten Lebens. Als äußerst wichtig erweisen sich die vielen katholischen Erziehungs- und Hilfswerke. Es stimmt, daß eine gewisse Schwächung des christlichen Lebens in der Gesellschaft insgesamt und der Teilnahme am Leben der katholischen Kirche wahrzunehmen ist; die Ursachen dafür sind der Säkularismus, der Hedonismus, die Gleichgültigkeit und der Proselytismus zahlreicher Sekten, animistischer Religionen und neuer pseudoreligiöser Ausdrucksformen.
Das alles stellt eine neue Situation dar, die hier in Aparecida analysiert werden wird. Angesichts der neuen schwierigen Entscheidungen erhoffen die Gläubigen von dieser V. Generalversammlung eine Erneuerung und Wiederbelebung ihres Glaubens an Christus, unseren einzigen Lehrer und Retter, der uns die einzigartige Erfahrung der grenzenlosen Liebe Gottes, des Vaters, zu den Menschen offenbart hat. Aus dieser Quelle werden neue Wege und kreative pastorale Vorhaben entstehen können, die eine feste Hoffnung einzuflößen vermögen, um den Glauben verantwortungsvoll und mit Freude zu leben und ihn so in die Umgebung ausstrahlen zu lassen.
3. Jünger und Missionare
Diese Generalkonferenz hat als Thema: »Jünger und Missionare Jesu Christi, damit unsere Völker in ihm das Leben haben – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)«.
Die Kirche hat die große Aufgabe, den Glauben des Volkes Gottes zu bewahren und zu nähren und auch die Gläubigen dieses Kontinents daran zu erinnern, daß sie kraft ihrer Taufe dazu berufen sind, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein. Das schließt ein, daß sie ihm folgen, in Vertrautheit mit ihm leben, sein Beispiel nachahmen und Zeugnis geben. Jeder Getaufte erhält, wie die Apostel, von Christus den Missionsauftrag: »Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet« (Mk 16,15f.). Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein und das Leben »in ihm« zu suchen, setzt voraus, daß man tief in ihm verwurzelt ist.
Was gibt uns Christus wirklich? Warum wollen wir Jünger Christi sein? Die Antwort lautet: Weil wir hoffen, in der Gemeinschaft mit ihm das Leben zu finden, das wahre Leben, das diesen Namen verdient, und deshalb wollen wir die anderen mit ihm bekannt machen, ihnen das Geschenk kundtun, das wir in ihm gefunden haben. Aber ist es wirklich so? Sind wir wirklich überzeugt, daß Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist?
Gegenüber der Priorität des Glaubens an Christus und des Lebens »in ihm«, wie sie im Titel dieser V. Konferenz formuliert ist, könnte auch eine andere Frage auftauchen: Könnte diese Priorität nicht vielleicht eine Flucht in den Kult der Innerlichkeit, in den religiösen Individualismus, eine Preisgabe der Dringlichkeit der großen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme Lateinamerikas und der Welt und eine Flucht aus der Wirklichkeit in eine spirituelle Welt sein?
Als ersten Schritt können wir auf diese Frage mit einer anderen Frage antworten: Was ist diese »Wirklichkeit«? Was ist das Wirkliche? Sind »Wirklichkeit« nur die materiellen Güter, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme? Hierin liegt genau der große Irrtum der im letzten Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen, ein zerstörerischer Irrtum, wie die Ergebnisse sowohl der marxistischen wie der kapitalistischen Systeme beweisen. Sie verfälschen den Wirklichkeitsbegriff durch die Abtrennung der grundlegenden und deshalb entscheidenden Wirklichkeit, die Gott ist. Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff »Wirklichkeit« und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen.
Die erste grundlegende Aussage ist also folgende: Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten. Angesichts des Scheiterns aller Systeme, die Gott ausklammern wollen, erweist sich die Wahrheit dieses Satzes als offenkundig.
Aber sogleich erhebt sich eine weitere Frage: Wer kennt Gott? Wie können wir ihn kennenlernen? Wir können hier nicht in eine umfassende Erläuterung dieser fundamentalen Frage eintreten. Für den Christen ist der Kern der Antwort einfach: Nur Gott kennt Gott, nur sein Sohn, der Gott von Gott, wahrer Gott ist, kennt ihn. Und er, »der am Herzen des Vaters ruht, hat Kunde [von ihm] gebracht« (Joh 1,18). Daher rührt die einzige und unersetzliche Bedeutung Christi für uns, für die Menschheit. Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und da es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit.
Gott ist die grundlegende Wirklichkeit, nicht ein nur gedachter oder hypothetischer Gott, sondern der Gott mit dem menschlichen Antlitz; er ist der Gott-mit-uns, der Gott der Liebe bis zum Kreuz. Wenn der Jünger zum Verständnis dieser Liebe Christi »bis zur Vollendung« gelangt, kann er nicht umhin, auf diese Liebe nur mit einer ähnlichen Liebe zu antworten: »Ich will dir folgen, wohin du auch gehst« (Lk 9,57).
Wir können uns noch eine andere Frage stellen: Was gibt uns der Glaube an diesen Gott? Die erste Antwort darauf ist: Er gibt uns eine Familie, die universale Familie Gottes in der katholischen Kirche. Der Glaube befreit uns von der Isolation des Ich, weil er uns zur Gemeinschaft führt: Die Begegnung mit Gott ist in sich selbst und als solche Begegnung mit den Brüdern, ein Akt der Versammlung, der Vereinigung, der Verantwortung gegenüber dem anderen und den anderen. In diesem Sinn ist die bevorzugte Option für die Armen im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9).
Aber bevor wir uns mit dem auseinandersetzen, was der Realismus des Glaubens an den Mensch gewordenen Gott mit sich bringt, müssen wir die Frage vertiefen: Wie kann man Christus wirklich kennenlernen, um ihm folgen und mit ihm leben zu können, um in ihm das Leben zu finden und dieses Leben den anderen, der Gesellschaft und der Welt mitzuteilen? Christus gibt sich uns vor allem in seiner Person, in seinem Leben und in seiner Lehre durch das Wort Gottes zu erkennen. Für den Beginn des neuen Wegabschnittes, den die missionarische Kirche Lateinamerikas und der Karibik ab dieser V. Generalkonferenz in Aparecida einzuschlagen beabsichtigt, ist die gründliche Kenntnis des Wortes Gottes unerläßliche Voraussetzung.
Deshalb muß das Volk zum Lesen und zur Betrachtung des Wortes Gottes erzogen werden, auf daß es zu seiner Nahrung werde, damit die Gläubigen durch eigene Erfahrung sehen, daß die Worte Jesu Geist und Leben sind (vgl. Joh 6,63). Denn wie sollten sie eine Botschaft verkünden, deren Inhalt und Geist sie nicht gründlich kennen? Wir müssen unseren missionarischen Einsatz und unser ganzes Leben auf den Fels des Wortes Gottes gründen. Ich ermutige daher die Hirten, sich zu bemühen, das Wort Gottes bekannt zu machen.
Ein hervorragendes Mittel, das Volk Gottes in das Geheimnis Christi einzuführen, ist die Katechese. In ihr wird die Botschaft Christi auf einfache und gehaltvolle Weise weitergegeben. Man wird daher die Katechese und die Glaubensbildung sowohl der Kinder und Jugendlichen wie der Erwachsenen intensivieren müssen. Das reife Nachdenken über den Glauben ist Licht für den Weg des Lebens und Kraft, um Zeugen Christi zu sein. Dafür verfügt man über sehr wertvolle Werkzeuge, wie den Katechismus der Katholischen Kirche und seine Kurzfassung, das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche.
In diesem Bereich darf man sich nicht nur auf Predigten, Vorträge, Bibelkurse und Theologie beschränken, sondern soll auch die Medien einsetzen: Presse, Rundfunk und Fernsehen, Internetseiten, Foren und viele andere Systeme, um einer großen Zahl von Menschen die Botschaft Christi wirksam zu vermitteln.
Bei diesem Bemühen, die Botschaft Christi kennenzulernen und zum Leitbild des eigenen Lebens zu machen, gilt es daran zu erinnern, daß sich die Evangelisierung immer zusammen mit der Förderung des Menschen und der echten christlichen Befreiung entfaltet hat. »Gottes- und Nächstenliebe verschmelzen: Im Geringsten begegnen wir Jesus selbst, und in Jesus begegnen wir Gott selbst« (Enzyklika Deus caritas est, 15). Aus demselben Grund wird auch eine soziale Katechese und eine entsprechende Unterweisung in der Soziallehre der Kirche erforderlich sein, wofür das Kompendium der Soziallehre der Kirche sehr nützlich ist. Das christliche Leben drückt sich nicht nur in den persönlichen, sondern auch in den sozialen und politischen Tugenden aus.
Der Jünger, der auf diese Weise fest auf dem Felsen des Wortes Gottes steht, fühlt sich dazu angespornt, seinen Brüdern die gute Nachricht vom Heil zu bringen. Jüngerschaft und Mission sind gleichsam die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Wenn der Jünger in Christus verliebt ist, kann er nicht aufhören, der Welt zu verkünden, daß allein Christus uns rettet (vgl. Apg 4,12). Der Jünger weiß nämlich, daß es ohne Christus kein Licht, keine Hoffnung, keine Liebe und keine Zukunft gibt.
4. »Damit sie in ihm das Leben haben«
Die Völker Lateinamerikas und der Karibik haben das Recht auf ein erfülltes Leben unter menschlicheren Verhältnissen, wie es den Kindern Gottes zukommt: frei von den Bedrohungen durch Hunger und jeglicher Form von Gewalt. Für diese Völker müssen ihre Hirten eine Kultur des Lebens fördern, die ihnen, wie mein Vorgänger Paul VI. sagte, »den Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen … den Erwerb von Bildung … die Zusammenarbeit zum Wohle aller … bis hin zur Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und zur Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles« (Enzyklika Populorum progressio, 21) ermöglicht.
In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an die Enzyklika Populorum progressio, deren Veröffentlichung vor 40 Jahren wir heuer gedenken. Dieses päpstliche Dokument hebt hervor, daß echte Entwicklung umfassend sein, das heißt die Förderung des ganzen Menschen und aller Menschen im Auge haben muß (vgl. ebd., Nr. 14), und fordert alle auf, die schwerwiegenden sozialen Ungleichheiten und die enormen Unterschiede beim Zugang zu den Gütern zu beseitigen. Diese Völker sehnen sich vor allem nach der Fülle des Lebens, die uns Christus gebracht hat: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Mit diesem göttlichen Leben entfaltet sich auch voll das menschliche Dasein in seiner persönlichen, familiären, sozialen und kulturellen Dimension.
Um den Jünger auszubilden und den Missionar in seiner großen Aufgabe zu unterstützen, bietet ihnen die Kirche außer dem Brot des Wortes das Brot der Eucharistie. In diesem Zusammenhang inspiriert und erleuchtet uns der Abschnitt des Evangeliums über die Emmaus-Jünger. Als diese sich zu Tisch setzen und von Jesus Christus das gesegnete und gebrochene Brot empfangen, gehen ihnen die Augen auf, es enthüllt sich ihnen das Antlitz des Auferstandenen, sie fühlen in ihrem Herzen, daß alles, was er gesagt und getan hat, wahr ist und daß die Erlösung der Welt bereits begonnen hat. Jeder Sonntag und jede Eucharistie ist eine persönliche Begegnung mit Christus. Beim Hören des göttlichen Wortes brennt uns das Herz, weil er es ist, der es erklärt und verkündet. Wenn in der Eucharistie das Brot gebrochen wird, ist er es, den wir persönlich empfangen. Die Eucharistie ist die für das Leben des Jüngers und des Missionars Christi unverzichtbare Nahrung.
Die Sonntagsmesse, Mittelpunkt des christlichen Lebens
Daraus folgt die Notwendigkeit, in den Pastoralprogrammen der Aufwertung der Sonntagsmesse Vorrang zu geben. Wir müssen die Christen dazu motivieren, daß sie aktiv und, wenn möglich, am besten mit der Familie an ihr teilnehmen. Die Anwesenheit der Eltern mit ihren Kindern bei der sonntäglichen Eucharistiefeier ist eine wirksame Pädagogik für die Vermittlung des Glaubens und ein enges Band, das die Einheit zwischen ihnen aufrechterhält. Der Sonntag hatte im Leben der Kirche immer die Bedeutung des bevorzugten Augenblicks der Begegnung der Gemeinden mit dem auferstandenen Herrn.
Die Christen müssen erfahren, daß sie nicht einer Persönlichkeit der vergangenen Geschichte folgen, sondern dem lebendigen Christus, der im Hier und Jetzt ihres Lebens gegenwärtig ist. Er ist der Lebendige, der an unserer Seite geht, uns den Sinn der Ereignisse, des Schmerzes und des Todes, der Freude und des Festes enthüllt, in unsere Häuser eintritt und in ihnen bleibt, während er uns mit dem Brot nährt, das Leben schenkt. Die sonntägliche Eucharistiefeier muß deshalb das Zentrum des christlichen Lebens sein.
Die Begegnung mit Christus in der Eucharistie löst das Engagement für die Evangelisierung aus und gibt der Solidarität Auftrieb; sie weckt im Christen den starken Wunsch, das Evangelium zu verkünden und von ihm in der Gesellschaft Zeugnis zu geben, um sie gerechter und menschlicher zu machen. Aus der Eucharistie ist im Laufe der Jahrhunderte ein unermeßlicher Reichtum an Nächstenliebe, Anteilnahme an den Schwierigkeiten der anderen, an Liebe und Gerechtigkeit hervorgegangen. Nur aus der Eucharistie wird die Zivilisation der Liebe hervorkeimen, die Lateinamerika und die Karibik verwandeln wird, so daß sie außer dem Kontinent der Hoffnung auch der Kontinent der Liebe sind!
Die sozialen und politischen Probleme
Nachdem wir an diesem Punkt angekommen sind, können wir uns fragen: Wie kann die Kirche zur Lösung der dringenden sozialen und politischen Probleme beitragen und auf die große Herausforderung der Armut und des Elends antworten? Die Probleme Lateinamerikas und der Karibik wie der heutigen Welt überhaupt sind vielfältig und komplex und können nicht mit allgemeinen Programmen in Angriff genommen werden. Die grundlegende Frage, wie die vom Glauben an Christus erleuchtete Kirche angesichts dieser Herausforderungen reagieren solle, betrifft zweifellos uns alle. In diesem Zusammenhang ist es unvermeidlich, das Problem der Strukturen, vor allem jener, die Ungerechtigkeit verursachen, anzusprechen. Tatsächlich sind die gerechten Strukturen eine Voraussetzung, ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist. Aber wie entstehen sie? Wie funktionieren sie? Sowohl der Kapitalismus als auch der Marxismus haben versprochen, den Weg zur Schaffung gerechter Strukturen zu finden, und behaupteten, diese würden, sobald sie festgelegt seien, von allein funktionieren; sie behaupteten, sie würden nicht nur keiner vorausgehenden Sittlichkeit des Individuums bedürfen, sondern würden die allgemeine Sittlichkeit fördern. Und dieses ideologische Versprechen hat sich als falsch erwiesen. Die Fakten haben das offenkundig gemacht. Das marxistische System hat dort, wo es zur Herrschaft gelangt war, nicht nur ein trauriges Erbe ökonomischer und ökologischer Zerstörungen, sondern auch eine schmerzliche geistige Zerstörung hinterlassen. Und dasselbe sehen wir auch im Westen, wo der Abstand zwischen Armen und Reichen beständig wächst und wo durch Drogen, Alkohol und trügerische Vorspiegelungen von Glück eine beunruhigende Zersetzung der persönlichen Würde vor sich geht.
Die gerechten Strukturen sind, wie ich schon gesagt habe, eine unerläßliche Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft; aber weder entstehen sie, noch funktionieren sie ohne ein moralisches Einvernehmen der Gesellschaft über die Grundwerte und über die Notwendigkeit, diese Werte mit dem nötigen Verzicht, selbst gegen das persönliche Interesse, zu leben.
Wo Gott fehlt – Gott mit dem menschlichen Antlitz Jesu Christi –, zeigen sich diese Werte nicht mit ihrer ganzen Kraft und es kommt auch nicht zu einem Einvernehmen über sie. Ich will damit nicht sagen, daß Nichtgläubige keine hohe und vorbildliche Sittlichkeit leben können; ich sage nur, daß eine Gesellschaft, in der Gott nicht vorkommt, nicht das notwendige Einvernehmen über die sittlichen Werte und nicht die Kraft findet, um – auch gegen die eigenen Interessen – nach dem Vorbild dieser Werte zu leben.
Andererseits müssen die gerechten Strukturen gesucht und im Licht der grundlegenden Werte mit dem ganzen Einsatz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vernunft ausgearbeitet werden. Sie sind eine Frage der »recta ratio« und haben ihren Ursprung weder in Ideologien noch in deren Versprechungen. Gewiß gibt es einen reichen Schatz an politischen Erfahrungen und Erkenntnissen über die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die grundlegende Elemente eines gerechten Zustandes und die Wege markieren, die vermieden werden müssen. Aber in verschiedenen kulturellen und politischen Situationen und bei der fortschreitenden Veränderung der Technologien und der weltgeschichtlichen Wirklichkeit müssen in vernünftiger Weise die entsprechenden Antworten gesucht und – mit den unerläßlichen Verpflichtungen – das Einvernehmen über die festzulegenden Strukturen hergestellt werden.
Diese politische Arbeit fällt nicht in die unmittelbare Zuständigkeit der Kirche. Die Respektierung einer gesunden Laizität – einschließlich der Vielfalt politischer Einstellungen – hat in der authentischen christlichen Tradition ihren wesentlichen Platz. Wenn die Kirche sich direkt in ein politisches Subjekt zu verwandeln begänne, würde sie für die Armen und für die Gerechtigkeit nicht mehr tun, sondern weniger, weil sie ihre Unabhängigkeit und ihre moralische Autorität verlieren würde, wenn sie sich mit einem einzigen politischen Weg und mit diskutierbaren Parteipositionen identifiziert. Die Kirche ist Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen, eben weil sie sich weder mit den Politikern noch mit Parteiinteressen identifiziert. Nur wenn sie unabhängig ist, kann sie die großen Grundsätze und unabdingbaren Werte lehren, den Gewissen Orientierung geben und eine Lebensoption anbieten, die über den politischen Bereich hinausgeht. Die Gewissen zu bilden, Anwältin der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu sein, zu den individuellen und politischen Tugenden zu erziehen – das ist die grundlegende Berufung der Kirche in diesem Bereich. Und die katholischen Laien müssen sich ihrer Verantwortung im öffentlichen Leben bewußt sein; sie müssen in der notwendigen Konsensbildung und im Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten präsent sein.
Die gerechten Strukturen werden nie endgültig verwirklicht sein; wegen der ständigen Evolution der Geschichte müssen sie immer wieder erneuert und aktualisiert werden; sie müssen immer von einem politischen und humanen Ethos beseelt sein, für dessen Vorhandensein und Effizienz immer gearbeitet werden muß. Mit anderen Worten: Die Gegenwart Gottes, die Freundschaft mit dem menschgewordenen Sohn Gottes, das Licht seines Wortes sind immer Grundvoraussetzungen für das Vorhandensein und die Wirksamkeit der Gerechtigkeit und der Liebe in unseren Gesellschaften.
Da es sich um einen Kontinent der Getauften handelt, wird man im Bereich der Politik, der Kommunikation und der Universität das beträchtliche Fehlen von Stimmen und Initiativen katholischer Führungskräfte mit starker Persönlichkeit und hochherziger Hingabe – Initiativen, die mit deren ethischen und religiösen Überzeugungen übereinstimmen – auffüllen müssen. Die kirchlichen Bewegungen haben hier ein breites Feld, um die Laien an ihre Verantwortung und ihre Sendung zu erinnern, das Licht des Evangeliums in das öffentliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben hineinzutragen.
5. Andere vordringliche Bereiche
Um die Erneuerung der euch anvertrauten Kirche in diesen Ländern zum Abschluß zu bringen, möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige Bereiche lenken, die ich auf dieser neuen Etappe als vordringlich ansehe.
Die Familie
Die Familie, »Erbe der Menschheit«, stellt einen der bedeutendsten Schätze der lateinamerikanischen Länder dar. Sie war und ist die Schule des Glaubens, Übungsplatz menschlicher und ziviler Werte, das Zuhause, in dem das menschliche Leben geboren und hochherzig und verantwortungsvoll angenommen wird. Die Familie leidet heute zweifellos unter widrigen Verhältnissen, hervorgerufen vom Säkularismus und vom ethischen Relativismus, von den verschiedenen inneren und äußeren Migrantenströmen, von der Armut, von der sozialen Instabilität und von den gegen die Ehe gerichteten Zivilgesetzgebungen, die durch Förderung empfängnisverhütender Maßnahmen und der Abtreibung die Zukunft der Völker bedrohen.
In manchen Familien Lateinamerikas herrscht unglücklicherweise noch immer eine chauvinistische Mentalität, die die Neuartigkeit des Christentums ignoriert, in dem die gleiche Würde und Verantwortlichkeit der Frau und des Mannes anerkannt und verkündet wird.
Die Familie ist für das persönliche Wohlergehen und für die Erziehung der Kinder unersetzlich. Die Mütter, die sich ganz der Erziehung ihrer Kinder und dem Dienst an der Familie widmen wollen, müssen die notwendigen Voraussetzungen vorfinden, um das auch tun zu können, und haben daher ein Recht, auf die Hilfe des Staates zählen zu können. Die Rolle der Mutter ist in der Tat von grundlegender Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaft.
Der Vater hat seinerseits die Pflicht, wirklich ein Vater zu sein, der seine unentbehrliche Verantwortung und Mitarbeit bei der Erziehung der Kinder ausübt. Die Kinder haben das Recht, für ihre Gesamtentwicklung auf Vater und Mutter zählen zu können, die sich um sie kümmern und sie auf ihrem Weg zu einem erfüllten Leben begleiten. Notwendig ist daher eine intensive und starke Familienpastoral. Unerläßlich ist auch die Förderung beglaubigter familienpolitischer Zeichen, die den Rechten der Familie als unabdingbares soziales Subjekt entsprechen. Die Familie gehört zum Gut der Völker und der ganzen Menschheit.
Die Priester
Die ersten Förderer der Jüngerschaft und der Mission sind jene, die berufen worden sind, »um bei Jesus zu sein und dann ausgesandt zu werden, damit sie predigten« (Mk 3,14), das heißt die Priester. Ihnen muß vorrangig die Aufmerksamkeit und die väterliche Sorge ihrer Bischöfe gelten, weil sie die ersten sind, die eine echte Erneuerung des christlichen Lebens im Volk Gottes bewirken. An sie will ich ein Wort väterlicher Liebe richten mit dem Wunsch, »der Herr möge ihnen das Erbe geben und den Becher reichen« (vgl. Ps 16,5). Wenn der Priester Gott als Fundament und Mittelpunkt seines Lebens hat, wird er die Freude und Fruchtbarkeit seiner Berufung erfahren. Der Priester muß vor allem »ein Mann Gottes« (1 Tim 6,11) sein, der Gott direkt kennt, der eine tiefe persönliche Freundschaft zu Jesus hat, der den anderen gegenüber so gesinnt ist wie Christus (vgl. Phil 2,5). Nur so wird der Priester fähig sein, die Menschen zu Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, hinzuführen und Repräsentant seiner Liebe zu sein. Um seine hohe Aufgabe zu erfüllen, muß der Priester ein solides geistliches Gerüst besitzen und sein ganzes Leben beseelt vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe leben. Er muß wie Jesus ein Mensch sein, der durch das Gebet das Angesicht und den Willen Gottes sucht und sich auch um seine kulturelle und intellektuelle Formung kümmert.
Liebe Priester dieses Kontinents und ihr, die ihr als Missionare gekommen seid, um hier zu arbeiten, der Papst begleitet euch bei eurer pastoralen Arbeit und wünscht euch, daß ihr voller Freude und Hoffnung seid, und vor allem betet er für euch.
Ordensmänner, Ordensfrauen und geweihte Laien
Ich will mich auch an die Ordensmänner, an die Ordensfrauen und an die geweihten Frauen und Männer aus dem Laienstand wenden. Die lateinamerikanische und karibische Gesellschaft hat euer Zeugnis nötig: In einer Welt, die so oft vor allem den Wohlstand, den Reichtum und das Vergnügen als Lebensziel sucht und an Stelle der Wahrheit des für Gott geschaffenen Menschen die Freiheit verherrlicht, seid ihr Zeugen dafür, daß es eine andere Form sinnvollen Lebens gibt; erinnert eure Brüder und Schwestern daran, daß das Reich Gottes schon angebrochen ist; daß Gerechtigkeit und Wahrheit möglich sind, wenn wir uns der liebevollen Gegenwart Gottes, unseres Vaters, Christi, unseres Bruders und Herrn, des Heiligen Geistes, unseres Trösters, öffnen. Ihr müßt – in Übereinstimmung mit dem Charisma eurer Gründer – mit Hochherzigkeit und auch mit Heldenmut weiterarbeiten, damit in der Gesellschaft die Liebe, die Gerechtigkeit, die Güte, der Dienst und die Solidarität herrschen. Bekennt euch mit tiefer Freude zu eurer Weihe, die Mittel der Heiligung für euch und der Erlösung für eure Brüder ist.
Die Kirche Lateinamerikas dankt euch für die großartige Arbeit, die ihr im Laufe der Jahrhunderte für das Evangelium Christi zugunsten eurer Brüder und Schwestern, vor allem der ärmsten und am meisten benachteiligten, geleistet habt. Ich lade euch ein, immer mit den Bischöfen zusammenzuarbeiten und vereint mit ihnen, die für die pastorale Tätigkeit verantwortlich sind, zu wirken. Ich ermahne euch auch zum aufrichtigen Gehorsam gegenüber der Autorität der Kirche. Habt kein anderes Ziel als die Heiligkeit, wie ihr es von euren Gründern gelernt habt.
Die Laien
In dieser Stunde, in der sich die Kirche dieses Kontinents voll und ganz ihrer missionarischen Berufung stellt, erinnere ich die Laien daran, daß auch sie Kirche, Versammlung sind, die von Christus zusammengerufen wird, um der ganzen Welt sein Zeugnis zu bringen. Alle getauften Männer und Frauen sollen sich bewußt werden, daß sie durch das gemeinsame Priestertum des Volkes Gottes Christus, dem Priester, Propheten und Hirten, gleichgestaltet sind. Sie sollen sich mitverantwortlich fühlen beim Aufbau der Gesellschaft nach den Kriterien des Evangeliums, an der sie in Gemeinschaft mit ihren Hirten mit Enthusiasmus und Mut mitwirken.
Viele von euch Gläubigen gehören kirchlichen Bewegungen an, in denen wir Zeichen der vielgestaltigen Gegenwart und des heiligmachenden Wirkens des Heiligen Geistes in der Kirche und in der heutigen Gesellschaft sehen können. Ihr seid gerufen, der Welt das Zeugnis von Jesus Christus zu bringen und Sauerteig der Liebe Gottes unter den anderen zu sein.
Die Jugendlichen und die Berufungspastoral
In Lateinamerika besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus jungen Menschen. In diesem Zusammenhang müssen wir sie daran erinnern, daß es ihre Berufung ist, Freunde Christi, seine Jünger, zu sein. Die Jugendlichen fürchten sich nicht vor dem Opfer, wohl aber vor einem Leben ohne Sinn. Sie sind empfänglich für den Ruf Christi, der sie einlädt, ihm zu folgen. Sie können auf diesen Ruf als Priester, als Ordensmänner und Ordensfrauen oder als Familienväter und -mütter antworten, die sich mit ihrer ganzen Zeit und ihrer Hingabefähigkeit, mit ihrem ganzen Leben vollständig dem Dienst an ihren Brüdern und Schwestern widmen. Die jungen Menschen müssen sich dem Leben als einer ständigen Entdeckung stellen, ohne sich von den gängigen Modeerscheinungen oder Denkweisen umgarnen zu lassen, sondern indem sie mit einer tiefen Neugier auf den Sinn des Lebens und das Geheimnis Gottes, des Vaters und Schöpfers, und seines Sohnes, unseres Erlösers, innerhalb der menschlichen Familie vorangehen. Sie müssen sich auch um eine ständige Erneuerung der Welt im Lichte des Evangeliums bemühen. Mehr noch müssen sie sich den leichtfertigen Vorspiegelungen raschen Glücks und den trügerischen Lustgefilden der Droge, des Vergnügens, des Alkohols sowie jeder Form von Gewalt widersetzen.
6. »Bleib bei uns!«
Die Arbeiten dieser V. Generalversammlung veranlassen uns dazu, uns die Bitte der Emmaus-Jünger zu eigen zu machen: »Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt« (Lk 24,29).
Bleib bei uns, Herr, begleite uns, obwohl wir dich nicht immer zu erkennen vermochten. Bleib bei uns, denn um uns herum verdichten sich die Schatten, und du bist das Licht; Entmutigung schleicht sich in unsere Herzen ein, und du läßt sie durch die Gewißheit von Ostern brennen. Wir sind müde vom Weg, aber du bestärkst uns durch das Brechen des Brotes, unseren Brüdern zu verkünden, daß du wirklich auferstanden bist und uns mit der Sendung betraut hast, Zeugen deiner Auferstehung zu sein.
Bleib bei uns, Herr, wenn rund um unseren katholischen Glauben die Nebel des Zweifels, der Müdigkeit oder der Schwierigkeiten aufziehen: Du, der du als Offenbarer des Vaters die Wahrheit selbst bist, erleuchte unseren Geist durch dein Wort; hilf uns, die Schönheit des Glaubens an dich zu empfinden.
Bleib in unseren Familien, erleuchte sie in ihren Zweifeln, hilf ihnen in ihren Schwierigkeiten, tröste sie in ihren Leiden und in der tagtäglichen Mühe, wenn sich um sie herum Schatten zusammenziehen, die ihre Einheit und ihre natürliche Identität bedrohen. Du, der du das Leben bist, bleibe in unseren Häusern und Wohnungen, damit sie weiterhin Stätten sind, wo das menschliche Leben selbstlos geboren wird, wo man das Leben empfängt, liebt und es von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende respektiert.
Bleib, Herr, bei denen, die in unseren Gesellschaften am verwundbarsten sind; bleib bei den Armen und Geringen, bei den Indigenen und Afroamerikanern, die nicht immer Raum und Unterstützung gefunden haben, um dem Reichtum ihrer Kultur und der Weisheit ihrer Identität Ausdruck zu verleihen. Bleib, Herr, bei unseren Kindern und unseren Jugendlichen, die die Hoffnung und der Reichtum unseres Kontinents sind, bewahre sie vor den großen Bedrohungen, die ihre Unschuld und ihre berechtigten Hoffnungen gefährden. O Guter Hirt, bleib bei unseren alten Menschen und bei unseren Kranken. Stärke alle im Glauben, damit sie deine Jünger und Missionare sind!
Schluss
Zum Abschluß meines Aufenthalts bei euch möchte ich den Schutz der Mutter Gottes und Mutter der Kirche auf euch persönlich und auf ganz Lateinamerika und die Karibik herabrufen. In besonderer Weise bitte ich Unsere Liebe Frau von Guadalupe, Schutzpatronin Amerikas, und von Aparecida, Schutzpatronin Brasiliens, daß sie euch bei eurer faszinierenden und anspruchsvollen pastoralen Arbeit begleite. Ihr vertraue ich das Volk Gottes auf dieser Etappe des dritten christlichen Jahrtausends an. Ich bitte sie auch darum, daß sie die Arbeiten und Überlegungen dieser Generalkonferenz leite und die lieben Völker dieses Kontinents mit reichen Gaben segne.
Telegramm der 5. Generalversammlung an die zum G-8-Gipfel vom 6.–8. Juni 2007 versammelten Staats- und Regierungschefs
Wir katholischen Bischöfe aus Lateinamerika und der Karibik, zur fünften Generalversammlung im brasilianischen Aparecida versammelt und unserer Verantwortung als Hirten in unseren Völker bewusst, die so sehr unter den ungerechten Beziehungen zwischen armen und reichen Ländern leiden, richten an die in Heiligendamm / Deutschland versammelten Staats- und Regierungschefs der G-8 den Appell, die Weltwirtschaft auf den Pfad einer menschlichen, ökologisch-nachhaltigen Entwicklung zu führen, die auf Gerechtigkeit, Solidarität und dem Gemeinwohl der Menschheitsfamilie beruht. Wenn auch die G-8-Länder kein Mandat zur globalen Regierung haben, führen ihre Entscheidungen aber doch zu weit reichenden Konsequenzen für das Leben von Millionen Menschen überall in der Welt. Deshalb bitten wir sie inständig, diese Verantwortung in wirksamer Solidarität wahrzunehmen.
Wie Papst Benedikt XVI. in seinem Brief an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sind wir gemeinsam mit ihm davon überzeugt, dass eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit darin besteht, die extreme Armut vor dem Jahre 2015 zu beseitigen und die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies steht in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Weltfrieden und der weltweiten Sicherheit.
Aparecida, 31. Mai 2007
Im Auftrag der Bischofsversammlung
† Giovanni Kardinal Battista Re
† Francisco Javier Kardinal Errázuriz Ossa
† Geraldo Majella Kardinal Agnelo
Präsidenten der 5.Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik
Brief von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik vom 29. Juni 2007
An die Brüder im Episkopat von Lateinamerika und der Karibik Am 13. Mai dieses Jahres habe ich – zu Füßen der Heiligsten Jungfrau, Unserer Lieben Frau von Aparecida in Brasilien – mit großer Freude die V. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik eröffnet.
Lebhaft und dankbar erinnere ich mich an diese Begegnung, bei der ich mit Euch vereint war in der gleichen Zuneigung zu Euren geliebten Völker und mit dem gemeinsamen Auftrag, ihnen zu helfen, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein, damit sie in ihm das Leben haben.
Zugleich mit der Anerkennung, dass die Liebe zu Christus und zur Kirche und der Geist der Gemeinschaft diese Generalversammlung ausgezeichnet haben, autorisiere ich die Veröffentlichung des Abschlussdokuments und bitte den Herrn, es möge – in Gemeinschaft mit dem Heiligen Stuhl und im angemessenen Respekt vor der Verantwortung jedes Bischofs in seiner eigenen Ortskirche – Licht und Ermutigung sein für eine fruchtbare Pastoral- und Evangelisierungsarbeit in den kommenden Jahren.
Dieses Dokument enthält zahlreiche nützliche Hinweise für die Pastoral, die durch wichtige Überlegungen im Lichte des Glaubens und des aktuellen gesellschaftlichen Kontextes begründet worden sind. Mit besonderer Wertschätzung habe ich unter anderem die Worte gelesen, die dazu aufrufen, der Heiligung des Sonntags und der Eucharistiefeier am Tag des Herrn in den Pastoralprogrammen Priorität zu geben (vgl. Nr. 251 f.), sowie jene Abschnitte, die den Wunsch zum Ausdruck bringen, die christliche Bildung der Gläubigen im Allgemeinen und die der pastoralen Mitarbeiter im Besonderen auszubauen. In diesem Sinne war es für mich Grund zur Freude zu erfahren, dass es der Wunsch ist, eine „Kontinentalmission“ durchzuführen, die jetzt von jeder Bischofskonferenz und jeder Diözese unter Einberufung aller eifrigen Kräfte ausgearbeitet und realisiert werden muss, um so neu anzufangen mit Christus und sein Antlitz zu suchen (vgl. Novo millennio ineunte, 29).
Mit der Bitte um den Schutz der Heiligsten Jungfrau, die in Aparecida als Patronin von Brasilien angerufen wird, und auch Unserer Lieben Frau von Guadalupe, als Patronin von Amerika und Stern der Evangelisierung, erteile ich Euch in Liebe den Apostolischen Segen.
Benedictus PP. XVI.
Anmerkungen
<references />