Johannes Paul II.: Theologie des Leibes (1): Unterschied zwischen den Versionen
Oswald (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „<center>'''»Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan« oder die »Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe«'''<br>…“) |
Oswald (Diskussion | Beiträge) (link) |
||
Zeile 1.117: | Zeile 1.117: | ||
Eusebeia bezeichnet das Verhalten der Blutsverwandten untereinander, die Beziehungen zwischen den Ehegatten wie auch das Verhalten, das die Legionen dem Kaiser und die Sklaven dem Herrn schulden. Im Neuen Testament verwenden nur die späteren Schriften das Wort eusebeia bei Christen; in den älteren Schriften charakterisiert dieser Begriff die Haltung der »guten Heiden« (Apg 10, 2.7; 17, 23). So hat das griechische eusebeia, das sich wie die »Gabe der Frömmigkeit« zweifellos auf die Gottesverehrung bezieht, eine breite Grundlage in der Bezeichnung zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl. W. Foerster, eusebeia, in: Theological Dictionary of the New Testament, ed. G. KittelG. Bromiley, vol. VII, Grand Rapieds S. 177-182).</ref> zu sein. Wenn die Reinheit den Menschen fähig macht, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, wie wir im ersten Brief an die Thessalonicher lesen (4, 3-5), scheint die Frömmigkeit in besonderer Weise der Reinheit zu dienen, indem sie dem Menschen das Gefühl für die Würde gibt, die dem menschlichen Leib kraft des Geheimnisses der Schöpfung und Erlösung eigen ist. Durch die Gabe der Frömmigkeit gewinnen die Worte des Paulus: »Oder wißt ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt ... Ihr gehört nicht euch selbst« (1 Kor 6, 19), die Überzeugungskraft einer Erfahrung und werden lebendige und praktisch erlebte Wahrheit. Sie öffnen auch den volleren Zugang zur Erfahrung der Bedeutung des Leibes für die eheliche Vereinigung und zur Erfahrung der Freiheit des damit verbundenen Geschenks, in der sich das tiefe Antlitz der Reinheit und ihre organische Verbindung mit der Liebe enthüllt. | Eusebeia bezeichnet das Verhalten der Blutsverwandten untereinander, die Beziehungen zwischen den Ehegatten wie auch das Verhalten, das die Legionen dem Kaiser und die Sklaven dem Herrn schulden. Im Neuen Testament verwenden nur die späteren Schriften das Wort eusebeia bei Christen; in den älteren Schriften charakterisiert dieser Begriff die Haltung der »guten Heiden« (Apg 10, 2.7; 17, 23). So hat das griechische eusebeia, das sich wie die »Gabe der Frömmigkeit« zweifellos auf die Gottesverehrung bezieht, eine breite Grundlage in der Bezeichnung zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl. W. Foerster, eusebeia, in: Theological Dictionary of the New Testament, ed. G. KittelG. Bromiley, vol. VII, Grand Rapieds S. 177-182).</ref> zu sein. Wenn die Reinheit den Menschen fähig macht, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, wie wir im ersten Brief an die Thessalonicher lesen (4, 3-5), scheint die Frömmigkeit in besonderer Weise der Reinheit zu dienen, indem sie dem Menschen das Gefühl für die Würde gibt, die dem menschlichen Leib kraft des Geheimnisses der Schöpfung und Erlösung eigen ist. Durch die Gabe der Frömmigkeit gewinnen die Worte des Paulus: »Oder wißt ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt ... Ihr gehört nicht euch selbst« (1 Kor 6, 19), die Überzeugungskraft einer Erfahrung und werden lebendige und praktisch erlebte Wahrheit. Sie öffnen auch den volleren Zugang zur Erfahrung der Bedeutung des Leibes für die eheliche Vereinigung und zur Erfahrung der Freiheit des damit verbundenen Geschenks, in der sich das tiefe Antlitz der Reinheit und ihre organische Verbindung mit der Liebe enthüllt. | ||
− | '''3.''' Obwohl die Bewahrung des eigenen Leibes »in heiliger und ehrbarer Weise« durch Enthaltung von der »Unreinheit« geschieht - und ohne das geht es nicht -, trägt sie ihre Frucht immer in der tiefsten Erfahrung jener Liebe, die »von Anfang an«, nach dem Bild und Gleichnis Gottes selbst, zu jedem menschlichen Wesen und damit auch zu seinem Leib gehört. Deshalb schließt der hl. Paulus seine Argumentation in 1 Kor 6 mit einer wichtigen Mahnung: »Verherrlicht also Gott in eurem Leib« (Vers 20). Die Reinheit, diese Tugend oder Fähigkeit, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, verbunden mit der Gabe der Frömmigkeit als Frucht der Wohnung des Heiligen Geistes im »Tempel« des Leibes, bewirkt in diesem eine solche Fülle von Würde in den zwischenmenschlichen Beziehungen, dass Gott selbst im Leib verherrlicht wird. Die Reinheit ist die Herrlichkeit des menschlichen Leibes vor Gott. Sie ist die Herrlichkeit Gottes im menschlichen Leib, durch den sich der Mensch als Mann oder Frau zu erkennen gibt. Aus der Reinheit fließt jene einzigartige Schönheit, die alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens durchdringt und erlaubt, die Schlichtheit und Tiefe, die Herzlichkeit und unnachahmliche Echtheit des persönlichen Vertrauens auszudrücken. (Vielleicht bietet sich später noch eine Gelegenheit, dieses Thema breiter zu behandeln. Die Verbindung der Reinheit mit der Liebe und auch die Verbindung eben dieser Reinheit in der Liebe mit jener Gabe des Heiligen Geistes, die die Frömmigkeit ist, bildet einen wenig bekannten Zug der Theologie des Leibes, der trotzdem eine besondere Vertiefung verdient. Das wird im Verlauf der Untersuchungen über die Sakramentalität der Ehe geschehen können.) | + | '''3.''' Obwohl die Bewahrung des eigenen Leibes »in heiliger und ehrbarer Weise« durch Enthaltung von der »Unreinheit« geschieht - und ohne das geht es nicht -, trägt sie ihre Frucht immer in der tiefsten Erfahrung jener Liebe, die »von Anfang an«, nach dem [[Bild und Gleichnis Gottes]] selbst, zu jedem menschlichen Wesen und damit auch zu seinem Leib gehört. Deshalb schließt der hl. Paulus seine Argumentation in 1 Kor 6 mit einer wichtigen Mahnung: »Verherrlicht also Gott in eurem Leib« (Vers 20). Die Reinheit, diese Tugend oder Fähigkeit, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, verbunden mit der Gabe der Frömmigkeit als Frucht der Wohnung des Heiligen Geistes im »Tempel« des Leibes, bewirkt in diesem eine solche Fülle von Würde in den zwischenmenschlichen Beziehungen, dass Gott selbst im Leib verherrlicht wird. Die Reinheit ist die Herrlichkeit des menschlichen Leibes vor Gott. Sie ist die Herrlichkeit Gottes im menschlichen Leib, durch den sich der Mensch als Mann oder Frau zu erkennen gibt. Aus der Reinheit fließt jene einzigartige Schönheit, die alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens durchdringt und erlaubt, die Schlichtheit und Tiefe, die Herzlichkeit und unnachahmliche Echtheit des persönlichen Vertrauens auszudrücken. (Vielleicht bietet sich später noch eine Gelegenheit, dieses Thema breiter zu behandeln. Die Verbindung der Reinheit mit der Liebe und auch die Verbindung eben dieser Reinheit in der Liebe mit jener Gabe des Heiligen Geistes, die die Frömmigkeit ist, bildet einen wenig bekannten Zug der Theologie des Leibes, der trotzdem eine besondere Vertiefung verdient. Das wird im Verlauf der Untersuchungen über die Sakramentalität der Ehe geschehen können.) |
'''4.''' Und jetzt noch ein kurzer Hinweis auf das Alte Testament. Die paulinische Lehre über die Reinheit als »Leben im Geist« scheint eine gewisse Kontinuität mit den Weisheitsbüchern des Alten Testaments anzuzeigen. Wir finden hier z. B. das folgende Gebet um die Reinheit in Gedanken, Worten und Werken: »Herr, Vater und Gott meines Lebens, . . . . Unzucht und Sinnenlust sollen mich nicht ergreifen, schamloser Gier gib mich nicht preis« (Sir 23, 4-6). Die Reinheit ist in der Tat die Voraussetzung, um Weisheit zu finden und ihr zu folgen, wie wir im gleichen Buch lesen: »Ich richtete mein Verlagen auf die Weisheit und fand sie in ihrer Reinheit« (Sir 51, 20). Außerdem könnte man auch in gewisser Weise den aus der Liturgie bekannten Text aus dem Buch der Weisheit (8, 21) heranziehen, der in der Version der Vulgata heißt: »Scivi quoniam aliter non possum esse continens, nisi Deus det; et hop ipsum erat sapientiae, scire, cuius esset hoc donum - Ich wußte, dass ich ohne die Gnade Gottes nicht enthaltsam sein konnte; und schon das war Weisheit, zu wissen, wessen Geschenk das ist«.<ref>Diese Vulgata-Version, die sich in der Neo-Vulgata und der Liturgie erhalten hat und mehrmals bei Augustinus zitiert wird (De S. Virg., 43; Confess. VI, 11; X, 29; Serm. CLX, 7), ändert übrigens den Sinn des griechischen Originals, wo es heißt: »Ich erkannte aber, dass ich die Weisheit nur als Geschenk Gottes erhalten könne . . .«</ref> Nach dieser Vorstellung ist nicht so sehr die Reinheit die Voraussetzung der Weisheit als die Weisheit die Voraussetzung der Reinheit als einer besonderen Gabe Gottes. Es scheint, dass sich schon in den oben zitierten Weisheitstexten eine doppelte Bedeutung der Reinheit abzeichnet: als Tugend und als Gabe. Die Tugend steht im Dienst der Weisheit, und die Weisheit versetzt in die Lage, die Gabe, die von Gott kommt, anzunehmen. Diese Gabe festigt die Tugend und ermöglicht ihr, in der Weisheit die Früchte einer reinen Lebensführung zu genießen. | '''4.''' Und jetzt noch ein kurzer Hinweis auf das Alte Testament. Die paulinische Lehre über die Reinheit als »Leben im Geist« scheint eine gewisse Kontinuität mit den Weisheitsbüchern des Alten Testaments anzuzeigen. Wir finden hier z. B. das folgende Gebet um die Reinheit in Gedanken, Worten und Werken: »Herr, Vater und Gott meines Lebens, . . . . Unzucht und Sinnenlust sollen mich nicht ergreifen, schamloser Gier gib mich nicht preis« (Sir 23, 4-6). Die Reinheit ist in der Tat die Voraussetzung, um Weisheit zu finden und ihr zu folgen, wie wir im gleichen Buch lesen: »Ich richtete mein Verlagen auf die Weisheit und fand sie in ihrer Reinheit« (Sir 51, 20). Außerdem könnte man auch in gewisser Weise den aus der Liturgie bekannten Text aus dem Buch der Weisheit (8, 21) heranziehen, der in der Version der Vulgata heißt: »Scivi quoniam aliter non possum esse continens, nisi Deus det; et hop ipsum erat sapientiae, scire, cuius esset hoc donum - Ich wußte, dass ich ohne die Gnade Gottes nicht enthaltsam sein konnte; und schon das war Weisheit, zu wissen, wessen Geschenk das ist«.<ref>Diese Vulgata-Version, die sich in der Neo-Vulgata und der Liturgie erhalten hat und mehrmals bei Augustinus zitiert wird (De S. Virg., 43; Confess. VI, 11; X, 29; Serm. CLX, 7), ändert übrigens den Sinn des griechischen Originals, wo es heißt: »Ich erkannte aber, dass ich die Weisheit nur als Geschenk Gottes erhalten könne . . .«</ref> Nach dieser Vorstellung ist nicht so sehr die Reinheit die Voraussetzung der Weisheit als die Weisheit die Voraussetzung der Reinheit als einer besonderen Gabe Gottes. Es scheint, dass sich schon in den oben zitierten Weisheitstexten eine doppelte Bedeutung der Reinheit abzeichnet: als Tugend und als Gabe. Die Tugend steht im Dienst der Weisheit, und die Weisheit versetzt in die Lage, die Gabe, die von Gott kommt, anzunehmen. Diese Gabe festigt die Tugend und ermöglicht ihr, in der Weisheit die Früchte einer reinen Lebensführung zu genießen. |
Version vom 15. August 2019, 12:20 Uhr
Mittwochsansprachen, Exegesen oder erste Katechesenreihe von Papst Johannes Paul II. vom 5. September 1979 bis zu 6. Mai 1981.
(Quelle: Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache; abgekürzt z. B.: "5.9.79, OR 79/37": Jahrgang 1979, 37. Ausgabe, am 5. September; Die dort verwendeten Überschriften sind zum Teil geändert, weil eine größere Übereinstimmung mit dem jeweiligen wesentlichen Inhalt der Ansprache angezielt wurde; die gelegentliche Gliederung durch Zwischenüberschriften wurde weggelassen, da sie nicht original vom Papst stammt; Geändert wurden gelegentlich die Angaben in den Anmerkungen: statt der im OR genannten italienischen Literatur wurde die entsprechende deutsche zitiert; Die Texte wurden auch in den Werken: Wort und Weisung 1979, S. 135-188; 1980, S. 57-97; 1981, S. 3-60 abgedruckt)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Inhaltsverzeichnis
- 1 I. DER MENSCH IM „ANFANG" (Gen 1-4; Mt 19, 3 ff.)
- 1.1 Gott sah, dass alles gut war (1) 5. 9.1979, OR 79/3
- 1.2 Gott sah, dass alles gut war ( 2 ) 12. 9.1979, OR 79/38
- 1.3 Der Mensch erkennt Gut und Böse 19. 9. 1979, OR 79/39
- 1.4 Von der »Geschichte der Sünde« zur Heilsgeschichte 26. 9. 1979, OR 79/40
- 1.5 Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (1) 10. 10. 1979, OR 79/42
- 1.6 Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (2) 24. 10. 1979, OR 79/44
- 1.7 Wahl zwischen Tod und Unsterblichkeit 31. 10. 1979, OR 79/45
- 1.8 Von Anfang an »Mann und Frau« 7. 11. 1979, OR 79/46
- 1.9 In der Einheit Ebenbild Gottes (1) 14. 11. 1979, OR 79/47
- 1.10 In der Einheit Ebenbild Gottes (2) 21. 11. 1979, OR 79/48
- 1.11 »Aber sie schämten sich nicht voreinander« 12. 12. 1979, OR 79/51-52
- 1.12 Verlust der ursprünglichen Fülle 19. 12. 1979, OR 80/1
- 1.13 Die »bräutliche« Gemeinschaft als Geschenk des Schöpfers 2. 1. 1980, OR 80/2
- 1.14 Der bräutliche Sinn des Leibes 9. 1. 1980, OR 80/3
- 1.15 Die Personengemeinschaft als Geschenk 16. 1. 1980, OR 80/4
- 1.16 Von der ursprünglichen Unschuld 30. 1. 1980, OR 80/6
- 1.17 Der andere Mensch als Geschenk (1) 6. 2. 1980, OR 80/7
- 1.18 Der andere Mensch als Geschenk ( 2 ) 13. 2. 1980, OR 80/8
- 1.19 Gleichsam das erste Fest der Menschheit 20. 2. 1980, OR 80/9
- 1.20 Das tiefste Wesen ehelichen Zusammenlebens 5. 3. 1980, OR 80/11
- 1.21 »Erkennen«, Zeugung und Fruchtbarkeit (1) 12. 3. 1980, OR 80/12
- 1.22 »Erkennen«, Zeugung und Fruchtbarkeit (z) 26. 3. 1980, OR 80/14-15
- 1.23 Der »Anfang« im Heute 2. 4. 1980, OR 80/16
- 2 II. DER MENSCH DER GESCHICHTE (Mt 5, 27 f.)
- 2.1 A. Die Begierde als Entfremdung durch den Sündenfall
- 2.2 Radikale Entfremdung durch den Sündenfall 14. 5. 1980, OR 80/21
- 2.2.1 Der Bruch im Herzen des Menschen 28. 5. 1980, OR 80/23
- 2.2.2 Die Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaft der Personen 4. 6. 1980, OR 80/24
- 2.2.3 Die Begierde entstellt die personale Einheit des Paares 18. 6. 1980, OR 80/26
- 2.2.4 Die Begierde verzerrt den bräutlichen Sinn des Leibes 25. 6. 1980, OR 80/27
- 2.2.5 Das Herz: Kampfplatz zwischen Liebe und Begehrlichkeit 23.6. 1980, OR 80/31
- 2.2.6 Das Wort »mein« in der Sprache der Liebe 30. 6. 1980, OR 80/32-33
- 2.2.7 Die Kategorie des Herzens 6. 8. 1980, OR 80/32-33
- 2.2.8 Der Hintergrund des Alten Testaments: Abfall von der Einehe 13. 8. 1980, OR 80/34-35
- 2.2.9 Die Ehe im Alten Testament 20. 8. 1980, OR 80/34-35
- 2.2.10 Die Analogie zwischen Ehebruch und Götzendienst als Bundesbruch 27. 8. 1980, OR 80/36
- 2.2.11 Die Texte aus den Weisheitsbüchern 3. 9. 1980, OR 80/37
- 2.2.12 Der Blick ist die Schwelle zur inneren Wahrheit 10. 9. 1980, OR 80/38
- 2.2.13 Begierde: statt personaler Fülle - isolierte Sexualität 17. 9. 1980, OR 80/39
- 2.2.14 Das Sein von Mann und Frau »füreinander« 24. 9. 1980, OR 80/40 273
- 2.3 B. Die neue Reinheit des Herzens als Frucht der Erlösung des Leibes
- 2.3.1 Das neue Ethos der Bergpredigt: die »Reinheit des Herzens« (1) 1. 10. 1980, OR 80/41
- 2.3.2 Das neue Ethos der Bergpredigt: die »Reinheit des Herzens« (2) 8. 10. 1980, OR/42
- 2.3.3 Der Leib als Quelle des Bösen im Manichäismus 15. 10. 1980, OR 80/43
- 2.3.4 Der Leib ist »von Anfang an« zur Kundgabe des Geistes berufen 22. 10. 1980/OR 80/44
- 2.3.5 Nicht »angeklagt in Argwohn« sondern »angerufen in der Wahrheit« 29. 10. 1980, OR 80/45
- 2.3.6 Eros und Ethos begegnen sich 5. 11. 1980, OR 80/46
- 2.3.7 Das Ethos muss zur bestimmenden Gestalt des Eros werden 12. 11. 1980, OR 80/47
- 2.3.8 Den »neuen Menschen« wiederfinden 3. 12. 1980, OR 80/50
- 2.3.9 Reinheit kommt aus dem Herzen 10. 12. 1980, OR 80/51-52
- 2.3.10 »Nach dem Fleisch und nach dem Geist« 17. 12. 1980, OR 81/1
- 2.3.11 Die wahre Freiheit der Kinder Gottes 7. 1. 1981, OR 81/3
- 2.3.12 Freiheit, Reinheit und Heiligkeit 14. 1. 1981, OR 81/4
- 2.3.13 Bewahrung des Leibes in Heiligkeit 28. 1. 1981, OR 81/6
- 2.3.14 Achtung vor dem Leib 4. 2. 1981, OR 81/7
- 2.3.15 Der Leib, Tempel des Heiligen Geistes 11. 2. 1981, OR 81/8
- 2.3.16 Reinheit und Weisheit 18. 3. 1981, OR 81/13
- 2.3.17 Der Weg zur »Reinheit des Herzens« 1.4. 1981, OR 81/15
- 2.3.18 Spiritualität des Leibes 8. 4. 1981, OR 81/16-17
- 3 III. DIE THEOLOGIE DES LEIBES UND DAS ETHOS DER KUNST
- 3.1 Die ästhetische Erfahrung der Kunst und das Ethos des Leibes 15. 4. 1981, OR 81/18
- 3.2 Das Schamgefühl - »ein bleibendes Element der Kultur« 22. 4. 1981, OR 81/18
- 3.3 Die künstlerische Darstellung besitzt eine ästhetische und eine ethische Dimension 29. 4. 1981, OR 81/19
- 3.4 Das Ethos der Darstellung: der menschliche Leib in der Kunst 6. 5. 1981, OR 81/20
- 3.5 Anmerkungen
I. DER MENSCH IM „ANFANG" (Gen 1-4; Mt 19, 3 ff.)
Gott sah, dass alles gut war (1) 5. 9.1979, OR 79/3
1. Seit einiger Zeit sind die Vorbereitungen für die nächste ordentliche Versammlung der Bischofssynode im Gang, die im Herbst kommenden Jahres in Rom zusammentreten wird. Das Thema der Synode - De muneribus familiae christianae, »Die Aufgaben der christlichen Familie« - lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese Gemeinschaft des menschlichen und christlichen Lebens, die von Anfang an grundlegend war. Diesen Ausdruck »von Anfang an« verwendet dann auch unser Herr Jesus in dem Gespräch über die Ehe, das uns im Evangelium der hll. Matthäus und Markus überliefert wird. Wir wollen uns fragen, was dieses Wort Anfang bedeutet. Sodann wollen wir klären, warum Christus sich gerade bei dieser Gelegenheit auf den Anfang beruft, und deshalb eine genauere Analyse des betreffenden Textes der Heiligen Schrift versuchen.
2. Während des Gesprächs mit den Pharisäern, die die Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe gestellt hatten, beruft sich Jesus Christus zweimal auf den Anfang. Das Gespräch entwickelte sich folgendermaßen: ». . . Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose das Gebot erlassen, dass man der Frau eine Scheidungsurkunde geben muß, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so starrsinnig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Ursprünglich war das nicht so« (Mt 19, 3 ff.; vgl. auch Mk 10, 2 ff.).
Christus nimmt das Gespräch nicht auf der Ebene an, auf welcher es seine Gesprächspartner zu führen versuchen; in einem gewissen Sinn mißbilligt er die Dimension, die sie dem Problem zu geben versuchten. Er vermeidet es, sich in juristisch-kasuistische Streitfragen zu verstricken; stattdessen beruft er sich zweimal auf den Anfang. Damit nimmt er ganz klar auf die entsprechenden Worte im Buch Genesis Bezug, die auch seine Gesprächspartner auswendig kennen. Aus jenen Worten der Uroffenbarung zieht Christus die Schlussfolgerung, und das Gespräch ist beendet.
3. Anfang bedeutet also das, was das Buch Genesis sagt. Christus zitiert hier Genesis 1, 27 zusammenfassend: »Der Schöpfer hat am Anfang die Menschen als Mann und Frau geschaffen«, während der Text im vollen Wortlaut heißt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Weib schuf er sie.« Danach beruft sich der Herr auf Genesis 2, 24: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Dadurch dass Christus diese Worte sozusagen vollständig zitiert, verleiht er ihnen eine noch bestimmtere normative Bedeutung, vorausgesetzt, dass in der Genesis diese Aussagen Sachbehauptungen sind: »Er verlässt . . . er bindet sich . . . sie werden ein Fleisch.« Die normative Bedeutung wird dadurch einleuchtend, dass Christus sich nicht auf das bloße Zitat beschränkt, sondern hinzufügt: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.« Dieses »er darf nicht trennen« ist entscheidend. Im Lichte dieser Worte Christi verkündet Genesis 2, 24 die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe als eigentlichen Inhalt des Wortes Gottes, wie es in der Uroffenbarung zum Ausdruck kommt.
4. Man könnte an diesem Punkt behaupten, dass das Problem erschöpft sei, dass die Worte Jesu Christi das ewige Gesetz, das Gott »von Anfang an« bei der Schöpfung des Menschen formuliert und eingesetzt hat, bestätigen. Es könnte auch scheinen, dass der Herr, wenn er dieses Urgesetz des Schöpfers bestätigt, nichts anderes tue als ausschließlich seinen normativen Charakter festzusetzen, indem er sich auf die Autorität des ersten Gesetzgebers beruft. Doch jener bezeichnende Ausdruck »von Anfang an«, der zweimal wiederholt wird, veranlaßt die Gesprächspartner ausdrücklich zum Nachdenken über die Art und Weise, in der im Schöpfungsgeheimnis der Mensch gestaltet worden ist, nämlich als »Mann und Frau«, um den normativen Sinn der Worte der Genesis genau zu erfassen. Das aber gilt ebenso für die Gesprächspartner von heute wie für jene von damals. Wir müssen uns daher bei unserer Untersuchung, wenn wir all das bedenken, in die Lage der heutigen Gesprächspartner Christi versetzen.
5. In den kommenden Mittwochsaudienzen wollen wir versuchen, wie heutige Gesprächspartner Christi bei den Worten des hl. Matthäus (19, 3 ff.) zu verweilen. Um der Weisung zu entsprechen, die Christus in diese Worte eingeschlossen hat, wollen wir versuchen, zu jenem Anfang vorzudringen, auf den er in so bezeichnender Weise Bezug nimmt. So können wir von ferne der großen Arbeit folgen, die die Teilnehmer an der nächsten Bischofssynode jetzt zu diesem Thema in Angriff nehmen. Zusammen mit ihnen nehmen zahlreiche Gruppen von Seelsorgern und Laien daran teil, die sich in besonderer Weise für die Aufgaben verantwortlich wissen, die Christus der Ehe und der christlichen Familie zuweist: Aufgaben, die er ihr immer zugewiesen hat und die er ihr auch in unserer Zeit und in der heutigen Welt zuweist. Der Zyklus der Betrachtungen, den wir heute beginnen und den wir bei den kommenden Mittwochsaudienzen fortsetzen wollen, hat unter anderem auch das Ziel, den Vorbereitungsarbeiten für die Synode sozusagen von ferne zu folgen. Wir werden nicht direkt das Thema behandeln, sondern unsere Aufmerksamkeit auf die tiefen Wurzeln lenken, aus denen dieses Thema hervorgeht.
Gott sah, dass alles gut war ( 2 ) 12. 9.1979, OR 79/38
1. Am vergangenen Mittwoch haben wir eine Reihe von Betrachtungen begonnen über die Antwort, die Christus, der Herr, seinen Gesprächspartnern auf die Frage nach der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe erteilt hat. Die Pharisäer haben sich, wie erinnerlich, auf das Gesetz des Mose berufen; Christus hingegen berief sich auf das »am Anfang«, wobei er die Worte aus dem Buch Genesis zitierte. »Anfang« meint in diesem Fall das, wovon eine der erten Seiten der Genesis handelt. Wenn wir diese Tatsache analysieren wollen, müssen wir uns natürlich vor allem an den Text halten. Denn die Worte Christi in seinem Gespräch mit den Pharisäern, die uns Matthäus und Markus im 19. bzw. 10. Kapitel ihrer Evangelien überliefert haben, stellen einen Passus dar, der sich seinerseits in einen klar umrissenen Zusammenhang einfügt, ohne den diese Worte weder verstanden noch richtig interpretiert werden können. Dieser Zusammenhang ist durch die Worte: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat . . .?« (Mt 19, 4) gegeben und nimmt Bezug auf den sogenannten ersten Schöpfungsbericht, in dem die Erschaffung des Menschen in einen Sieben-Tage-Zyklus eingeordnet ist (Gen 1, 1-2, 4). Der Zusammenhang, in den die übrigen aus Gen 2, 24 entnommenen Worte Christi gehören, ist hingegen der sogenannte zweite Schöpfungsbericht (Gen 2, 5-25). Der zweite Bericht von der Erschaffung des Menschen bildet eine begriffliche und stilistische Einheit mit der Beschreibung der ursprünglichen Sündenlosigkeit, der Glückseligkeit des Menschen und auch seines ersten Falles im dritten Kapitel der Genesis. In Anbetracht dessen, was Christus mit seinen Worten aus Gen 2, 24 sagt, könnte man in den Zusammenhang zumindest auch den ersten Satz des vierten Kapitels der Genesis miteinschließen, der von der Empfängnis und der Geburt des Menschen von irdischen Eltern handelt. Das wollen wir in der folgenden Analyse auch tun.
2. Vom Gesichtspunkt der Bibelkritik her muß man sofort daran erinnern, dass der erste Schöpfungsbericht zeitlich später anzusetzen ist als der zweite. Der Ursprung des letzteren liegt viel weiter zurück. Diesen älteren Text bezeichnet man auch als »jahwistisch«, weil er sich zur Bezeichnung Gottes des Ausdrucks »Jahwe« bedient. Es fällt schwer, die Tatsache zu übersehen, dass das dort vorliegende Gottesbild beträchtliche anthropomorphe Züge aufweist - wir lesen dort u. a., dass », . . Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden formte und in seine Nase den Lebensatem blies« (Gen 2, 7). Gegenüber dieser Beschreibung ist der erste, also der zeitlich spätere Bericht viel reifer, sowohl was das Gottesbild betrifft als auch in der Formulierung der wesentlichen Wahrheiten über den Menschen. Dieser Bericht stammt aus der priesterlichen Überlieferung, in der Gott mit »Elohim« bezeichnet wird.
3. Weil in dieser Erzählung die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau, auf die sich Jesus in seiner Antwort, Mt 19, bezieht, in den Sieben-TageRhythmus der Schöpfung der Welt hineingenommen ist, könnte man ihr vor allem einen kosmologischen Charakter zuschreiben; der Mensch wird auf der Erde und zusammen mit der sichtbaren Welt erschaffen. Zur gleichen Zeit aber gebietet ihm der Schöpfer, sich die Erde Untertan zu machen und sie zu »unterjochen« (vgl. Gen 1, 28): er wird also über die Welt gestellt. Obwohl der Mensch so eng mit der sichtbaren Welt verbunden ist, spricht die biblische Erzählung dennoch nicht von seiner Ähnlichkeit mit den übrigen Geschöpfen, sondern einzig und allein von seiner Ähnlichkeit mit Gott: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn . . .« (Gen 1,27). Im Sieben-Tage-Zyklus der Schöpfung wird eine genaue Abstufung<ref>Wenn er von der unbelebten Materie spricht, verwendet der biblische Schriftsteller Ausdrücke wie »schied«, »nannte«, »machte«, »setzte«. Spricht er dagegen von lebenden Wesen, benutzt er die Begriffe »schuf« und »segnete«. Gott befiehlt ihnen: »Seid fruchtbar und vermehrt euch!« Dieser Befehl richtet sich an die Tiere wie an den Menschen und zeigt damit an, dass ihnen die Leiblichkeit gemeinsam ist (vgl. Gen 1, 22.28). Trotzdem unterscheidet sich die Schöpfung des Menschen in der biblischen Darstellung wesentlich von allen voraufgegangenen Werken Gottes. Ihr geht nicht nur eine feierliche Einleitung vorauf, als gehe Gott vor dieser wichtigen Schöpfungstat mit sich zu Rate; sondern vor allem wird die außergewöhnliche Würde des Menschen durch die »Ähnlichkeit« mit Gott, dessen Abbild der Mensch ist, hervorgehoben. - Bei der Schöpfung der leblosen Materie »schied« Gott; den Lebewesen befiehlt er, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, aber der Geschlechtsunterschied wird nur beim Menschen unterstrichen (»Als Mann und Weib schuf er sie«), wobei er zugleich ihre Fruchtbarkeit, also die Verbindung der Personen, segnet (Gen 1, 27-28).</ref> offenkundig; der Mensch jedoch wird nicht einer natürlichen Abfolge entsprechend erschaffen, sondern der Schöpfer scheint, ehe er ihn ins Leben ruft, innehalten zu wollen, um einen Entschluss zu fassen: »Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt« (Gen 1,26).
4. Dieser erste, wenn auch zeitlich spätere Bericht von der Erschaffung des Menschen hat vor allem theologischen Charakter. Darauf weist in erster Linie die Definition des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott hin (»als Abbild Gottes schuf er ihn«), die zugleich die Bestätigung der absoluten Unmöglichkeit einschließt, den Menschen auf die »Welt« zu beschränken. Bereits im Licht der ersten Sätze der Bibel kann der Mensch mit den aus der »Welt«, das heißt aus dem sichtbaren Bereich des Körperlichen entnommenen Kategorien weder begriffen noch ausreichend erklärt werden. Trotzdem ist auch der Mensch Körper. Gen 1, 27 stellt fest, dass diese Grundwahrheit über den Menschen sich sowohl auf den Mann wie auf die Frau bezieht: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild . . .
Als Mann und Weib schuf er sie«.<ref>Der Originaltext sagt: »Gott schuf den Menschen (hebr, haadam, kollektives Substantiv: die >Menschheit<?) als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann (hebr. >männlich<) und Weib (hebr.>weiblich<) schuf er sie«(Gen 1, 27).</ref> Man muß erkennen, dass der erste Bericht dicht ist und frei von jeder Spur von Subjektivismus: er enthält lediglich das objektive Faktum und definiert die objektive Wirklichkeit, sowohl wenn er von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau nach dem Ebenbild Gottes spricht, als auch wenn er kurz darauf die Worte der ersten Segnung hinzufügt: »Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch . . .« (Gen 1, 28).
5. Der erste Schöpfungsbericht des Menschen, der, wie gesagt, theologischen Charakter hat, birgt eine gewaltige metaphysische Aussagekraft in sich. Man sollte nicht vergessen, dass gerade dieser Text aus der Genesis zur Quelle der tiefsten Inspirationen für die Denker geworden ist, die »Sein« und »Dasein« zu begreifen versuchten. (Vielleicht kann nur das dritte Kapitel des Buches Exodus dem Vergleich mit diesem Text<ref>Diese hohe Wahrheit: »Ich bin der >Ich-bin-da<« (Ex 3, 14) war Gegenstand des Nachdenkens vieler Philosophen, angefangen vom hl. Augustinus, der meinte, Platon müsse diesen Text gekannt haben, weil er dessen Vorstellungen sehr nahe zu sein schien. Die augustinische Lehre von der göttlichen Wesenheit (»essentialitas«) hat über den hl. Anselm einen tiefen Einfluss auf die Theologie des Richard von St. Viktor, des Alexander von Haies und des hl. Bonaventura ausgeübt. - »Um von dieser philosophischen Deutung des Exodus-Textes zu der Deutung, die der hl. Thomas vortrug, überzugehen, mußte die Distanz überwunden werden, die das >Sein des Wesens< vom >Sein der Existenz< trennt. Die thomistischen Beweise der Existenz Gottes haben sie überschritten« (E. Gilson). - Anderer Meinung war Meister Eckhart, der auf der Grundlage dieses Textes Gott die »puritas essendi« (die Reinheit des Wesens) zuschrieb: »est aliquid altius ente . . .« (er ist etwas Höheres als das Seiende). (Vgl. E. Gilson, Le Thomisme, Paris, 1944, S. 122-127, und ds., History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955, S. 810.)</ref> standhalten.) Trotz einiger ausführlicher und plastisch-bildlicher Formulierungen in dem Abschnitt wird der Mensch hier vor allem in den Dimensionen des Seins und des Daseins bestimmt, also auf mehr metaphysische als physische Weise. Dem Mysterium seiner Erschaffung (»als Abbild Gottes schuf er ihn«) entspricht die Perspektive der Zeugung (»seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde«), jenes Werdens in Welt und Zeit, jenes »fieri« das notwendigerweise an die metaphysische Situation der Schöpfung gebunden ist: des zufälligen Seins »contingens«. Eben in diesem metaphysischen Zusammenhang der Beschreibung von Gen 1 muß man das Wesen des Guten, das heißt den Aspekt des Wertes begreifen. Denn dieser Aspekt kehrt im Rhythmus eigentlich aller Schöpfungstage wieder und erreicht seinen Höhepunkt nach der Erschaffung des Menschen: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Deshalb darf man mit Sicherheit sagen, dass das erste Kapitel der Genesis einen unwiderlegbaren Bezugspunkt und die solide Basis für eine Metaphysik und auch für eine Anthropologie und eine Ethik bildet, nach welcher das Sein und das Gute austauschbar sind (»ens et bonum convertuntur«). Das alles hat natürlich auch seine Bedeutung für die Theologie und vor allem für die Theologie des Leibes.
6. Hier wollen wir unsere Betrachtungen unterbrechen. In einer Woche werden wir uns mit dem zweiten Schöpfungsbericht befassen, also jenem, der den Bibelwissenschaftlern zufolge der ältere ist. Der Ausdruck »Theologie des Leibes«, den ich soeben gebraucht habe, bedarf einer genaueren Erklärung, doch das verschieben wir auf ein anderes Zusammentreffen. Zuerst müssen wir jenen Abschnitt aus dem Buch Genesis zu vertiefen versuchen, auf den Christus Bezug genommen hat.
Der Mensch erkennt Gut und Böse 19. 9. 1979, OR 79/39
1. Im Anschluss an die Worte Christi zur Ehe, in denen er sich auf den »Anfang« beruft, haben wir uns vergangene Woche mit dem ersten Schöpfungsbericht der Genesis (Kap. 1) beschäftigt. Heute wollen wir auf den zweiten Bericht eingehen, den man oft als »jahwistisch« bezeichnet, weil Gott hier »Jahwe« genannt wird.
Der zweite Schöpfungsbericht (der sich mit der Darstellung der ursprünglichen Unschuld und Glückseligkeit sowie dem Sündenfall befaßt) hat seiner Natur nach einen anderen Charakter. Auch wenn wir die Einzelheiten dieser Erzählung nicht vorwegnehmen wollen - auf die wir noch zurückkommen -, müssen wir feststellen, dass der ganze Text mit seiner Formulierung der Wahrheit über den Menschen uns durch seine ausgeprägte Tiefe, die sich merklich von jener des ersten Kapitels der Genesis unterscheidet, in Erstaunen setzt. Man kann von einer Tiefe vor allem subjektiver und daher in gewissem Sinne psychologischer Art sprechen. Das Kapitel 2 der Genesis stellt gewissermaßen die älteste Beschreibung und Aufzeichnung vom Selbstverständnis des Menschen dar und bildet zusammen mit Kapitel 3 das erste Zeugnis des menschlichen Bewusstseins. Bei einer vertieften Reflexion über diesen Text - mit der ganz archaischen Eigenart der Erzählung, in der sich der ursprünglich mythische Charakter kundtut<ref>Wenn in der Sprache des Rationalismus des 19. Jahrhunderts der Begriff »mythisch« das meinte, was es real nicht gibt, also ein Produkt der Vorstellung (Wundt), oder das Irrationale (LévyBruhl), so hat das 20. Jahrhundert die Auffassung vom Mythos modifiziert.
L. Walk sieht im Mythos eine primitive und areligiöse Naturphilosophie; für R. Otto ist er ein Instrument religiöser Erkenntnis; für C. G. Jung aber ist der Mythos Darstellung der »Archetypen« und Ausdruck des »kollektiven Unbewussten«, Symbol innerer Vorgänge.
M. Eliade entdeckt im Mythos die Struktur der Wirklichkeit, die dem rationalen und empirischen Forschen unzugänglich bleibt: der Mythos verwandelt das Ereignis in eine Kategorie und ermöglicht die Erfassung der transzendenten Wirklichkeit; er ist nicht allein Symbol innerer Vorgänge (wie Jung behauptet), sondern ein autonomer und schöpferischer Akt des menschlichen Geistes, durch den sich die Offenbarung verwirklicht (vgl. Traité d'histoire des religions, Paris, 1949, S. 363; Images et symboles, Paris, 1952, S. 199-235).
Nach P. Tillich ist der Mythos ein aus Elementen der Wirklichkeit gebildetes Symbol, um das Absolute und die Transzendenz des Seins, zu denen der religiöse Akt hinstrebt, dazustellen.
H. Schlier hebt hervor, dass der Mythos keine historischen Fakten kennt und braucht, weil er beschreibt, was kosmische Bestimmung des Menschen ist, der immer so und nicht anders ist. Schließlich: der Mythos trachtet zu erkennen, was unerkennbar ist.
P. Ricoeur schreibt: »Der Mythos ist keine Erklärung der Welt, der Geschichte und des Schicksals; mit dem Begriff Welt, ja Überwelt oder zweiter Welt gibt er das Verständnis wieder, das der Mensch selbst von der Grundlage und Begrenztheit seiner Existenz gewinnt . . . Er bringt in objektiver Sprache den Sinn zum Ausdruck, den der Mensch in seiner Abhängigkeit im Hinblick auf Grenze und Ursprung seiner Welt sieht« (Le conflit des interprétations, Paris, 1969, S. 383). »Der Mythos von Adam ist der anthropologische Mythos schlechthin; Adam heißt Mensch; aber dieser ganze Mythos vom >Urmenschen< ist kein >Adam-Mythos<. Nur dieser ... ist wirklich anthropologisch, wofür drei Züge kennzeichnend sind:
- der ätiologische Mythos schreibt den Ursprung des Bösen einem Vorfahren der heutigen Menschheit zu, dessen Situation der unsrigen gleicht ...
- der ätiologische Mythos ist der stärkste Versuch, den Ursprung des Bösen und des Guten zu trennen. Absicht dieses Mythos ist, der Verwurzelung des Bösen im Menschen im Unterschied zum ursprünglichen Gutsein der Dinge Gestalt zu geben ... Diese Unterscheidung ist für die Anthropologie des Mythos von Adam wesentlich; sie macht den Menschen zum Ausgangspunkt des Bösen inmitten einer Schöpfung, die bereits ihren absoluten Anfang im Schöpfungsakt Gottes hat;
- der Mythos von Adam ordnet der zentralen Gestalt des ersten Menschen andere Gestalten unter, die darauf abzielen, die Erzählung aufzugliedern, ohne jedoch den Primat der Gestalt Adams aufzuheben . . .
Der Mythos macht, wenn er Adam, den Menschen, nennt, die konkrete Universalität des menschlichen Bösen deutlich; der Geist der Buße wird im Mythos von Adam zum Symbol dieser Universalität. Wir stoßen also wieder ... auf die verallgemeinernde Funktion des Mythos. Aber gleichzeitig finden wir die beiden anderen Funktionen, die beide von der Bußerfahrung angeregt werden . . . Der urgeschichtliche Mythos dient also nicht nur dazu, die Erfahrung Israels für die Menschheit aller Zeiten und aller Orte zu verallgemeinern, sondern auf diese vor allem die große Spannung zwischen Verdammnis und Barmherzigkeit auszudehnen, wie sie nach der Lehre der Propheten eben im Schicksal Israels zu erkennen ist. Und schließlich die letzte Funktion des Mythos, die im Glauben Israels begründet liegt: der Mythos bereitet das spekulative Denken vor, indem er den Bruch zwischen Ontologie und Geschichte zu erklären versucht« (P. Ricoeur, Finitude et culpabilite: II. Symbolique du mal, Paris, 1960, S. 218-227).</ref> - entdecken wir hier »im Kern« nahezu alle Elemente einer Analyse des Menschen, für welche die moderne und vor allem die zeitgenössische philosophische Anthropologie aufgeschlossen ist. Man könnte sagen, Genesis z stellt die Erschaffung des Menschen besonders unter dem Aspekt des Subjektiven dar. Vergleicht man beide Berichte miteinander, gelangt man zu der Überzeugung, dass diese Subjektivität der objektiven Wirklichkeit des »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen Menschen entspricht. Und auch das ist - in anderer Weise - für die Theologie des Leibes von Bedeutung, wie wir bei der folgenden Analyse sehen werden.
z. Es ist bezeichnend, dass Christus in seiner Antwort an die Pharisäer, wo er sich auf den »Anfang« beruft, vor allem auf die Erschaffung des Menschen nach Gen 1, 27 verweist: »Der Schöpfer hat die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen«; erst später zitiert er Gen 2, 24. Die Worte, die unmittelbar die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe beschreiben, finden sich direkt im Kontext des zweiten Schöpfungsberichtes, dessen charakteristischer Zug die getrennte Erschaffung der Frau ist (vgl. Gen 2, 18-23), während der Bericht von der Erschaffung des ersten Menschen (des Mannes) in Gen 2, 5-7 steht. Dieses erste Menschenwesen nennt die Bibel »Mensch« (adam); vom Augenblick der Erschaffung der ersten Frau an spricht die Bibel jedoch von einem »männlichen« und einem »weiblichen« Wesen (Frau - 'issah heißt sie, weil sie vom Mann - 'is genommen ist).<ref>Etymologisch ist nicht auszuschließen, dass das hebräische Wort 'is auf eine Wurzel zurückgeht, die soviel bedeutet wie »Kraft« ('is oder 'ws); 'issah dagegen muß mit einer Reihe semitischer Wörter in Verbindung gebracht werden, deren Bedeutung zwischen »Weib« und »Ehefrau« schwankt.
Der biblische Text hat volksetymologischen Charakter und soll lediglich die Einheit der Herkunft von Mann und Frau unterstreichen; das scheint durch den Gleichklang der beiden Wörter bestätigt.</ref> Bezeichnend ist auch, dass Christus, wenn er auf Gen 2, 24 Bezug nimmt, nicht nur den »Anfang« mit dem Schöpfungsgeheimnis verbindet, sondern uns auch in den Grenzbereich von ursprünglicher Unschuld des Menschen und Erbsünde führt. Der zweite Schöpfungsbericht ist in der Genesis in diesen Zusammenhang hineingestellt. Wir lesen dort vor allem: »Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, vom Mann ist sie genommen« (Gen 2, 22-23). »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen 2, 24). »Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« (Gen 2, 25).
3. Dann, unmittelbar nach diesen Versen, beginnt das 3. Kapitel mit der Erzählung des Sündenfalls des Mannes und der Frau, verbunden mit dem geheimnisvollen Baum, der schon vorher »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« genannt wurde (Gen 2, 17). Damit tut sich eine völlig neue Situation auf, die sich von der vorhergehenden wesentlich unterscheidet. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist eine Trennungslinie zwischen den beiden Ursituationen, von denen die Genesis spricht. Die erste Situation ist die der ursprünglichen Unschuld, wo sich der Mensch (Mann und Frau) gleichsam außerhalb der Erkenntnis von Gut und Böse befindet, solange er nicht das Verbot des Schöpfers übertritt und nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis ißt. Die zweite Situation dagegen ist jene, wo der Mensch, nachdem er auf Einflüsterung des durch die Schlange symbolisierten bösen Geistes das Gebot des Schöpfers übertreten hat, gewissermaßen in der Erkenntnis von Gut und Böse steht. Diese zweite Situation bezeichnet den Zustand menschlicher Sündhaftigkeit im Gegensatz zum Zustand ursprünglicher Unschuld. Obwohl der jahwistische Text im ganzen sehr knapp ist, reicht das doch aus für eine Differenzierung und klare Gegenüberstellung der beiden ursprünglichen Situationen. Wir sprechen hier von Situationen, obwohl wir einen Bericht vor Augen haben, der eigentlich eine Beschreibung von Ereignissen ist. Trotzdem wird durch diese Beschreibung mit all ihren Einzelheiten der wesentliche Unterschied zwischen dem Zustand der Sündhaftigkeit des Menschen und jenem seiner ursprünglichen Unschuld sichtbar.<ref>»Dieselbe religiöse Sprache verlangt Übersetzung von >Bildern< oder vielmehr symbolischen Ausdrucksformen< in >Begriffsbestimmungen<.
Auf den ersten Blick kann diese Übersetzung als rein äußerliche Veränderung erscheinen . . . Die Symbolsprache scheint der westlichen Kultur ungeeignet, begrifflich verwendet zu werden. In dieser Kultur ist die religiöse Sprache stets von einer anderen, nämlich der philosophischen, bestimmt gewesen, die als Begriffssprache schlechthin bezeichnet werden muß . . . Wenn es stimmt, dass religiöse Sprache nur in einer Gemeinschaft verstanden wird, die sie deutet, und nach einer bestimmten Interpretationsüberlieferung, so stimmt es doch auch, dass es keine Interpretationsüberlieferung gibt, die nicht von irgendeiner philosophischen Auffassung >vermittelt< würde.
So muß das Wort >Gott<, das in den biblischen Texten seine Bedeutung aus der Konvergenz verschiedener Darstellungsweisen (Erzählungen und Prophezeiungen, Gesetzestexte und Weisheitsliteratur, Sprüche und Hymnen) empfängt - ob diese Konvergenz nun als Schnittpunkt oder als Horizont, der sich jeder, gleichweicher Form entzieht, gesehen wird -, in den begrifflichen Raum aufgenommen und in den Begriffen des philosophischen Absoluten neu interpretiert werden: erster Beweger, erste Ursache, Seinsakt, vollkommenes Sein, usw. Unser Gottesbegriff gehört also zu einer Seinstheologie, in der sich die Gesamtkonstellation der Schlüsselwörter der theologischen Sprache herausbildet, allerdings in einem von der Metaphysik vorgeschriebenen Bedeutungsrahmen« (P. Ricoeur, Biblical Hermeneutics, Montana, 1975).
Die Frage, ob die Reduktion auf die Metaphysik tatsächlich den Inhalt zum Ausdruck bringt, der sich hinter der Symbolund Bildsprache verbirgt, ist eine andere Sache.</ref> Die systematische Theologie wird in diesen beiden gegensätzlichen Situationen zwei verschiedene Zustände der menschlichen Natur erkennen: den Status naturae integrae (Zustand der unversehrten Natur) und den Status naturae lapsae (Zustand der gefallenen Natur). Das alles geht aus unserem jahwistischen Text in Gen 2 und 3 hervor, der das älteste Offenbarungswort enthält und offensichtlich für die Theologie des Menschen und die Theologie des Leibes fundamentale Bedeutung hat.
4. Wenn Christus sich auf den »Anfang« bezieht und seine Gesprächspartner auf die Worte von Gen 2, 24 verweist, gebietet er ihnen gewissermaßen, die Grenze zu überschreiten, die im jahwistischen Text der Genesis zwischen der ersten und zweiten Situation des Menschen verläuft. Er billigt nicht, was Mose ihnen »wegen ihrer Herzenshärte« zugestanden hat, und beruft sich auf die Worte der ersten göttlichen Weisung, die in diesem Text ausdrücklich mit dem Zustand der ursprünglichen Unschuld des Menschen verbunden ist. Das heißt, diese Weisung hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren, auch wenn der Mensch seine ursprüngliche Unschuld verloren hat. Die Antwort Christi ist endgültig und unmißverständlich. Wir müssen also daraus die maßgebenden Normen ableiten, die nicht nur für die Ethik wesentliche Bedeutung haben, sondern vor allem für die Theologie des Menschen und die Theologie des Leibes, die sich, als besonderer Teil der theologischen Anthropologie, auf das Wort Gottes gründet, der sich offenbart. Bei unserem nächsten Zusammentreffen wollen wir versuchen, diese verpflichtenden Schlussfolgerungen zu ziehen.
Von der »Geschichte der Sünde« zur Heilsgeschichte 26. 9. 1979, OR 79/40
1. In seiner Antwort auf die Frage nach der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe hat sich Christus auf das Buch Genesis berufen. Bei den Betrachtungen in den beiden vorangegangenen Wochen sind wir auf den sogenannten elohistischen (Gen 1) und den jahwistischen Text (Gen 2) eingegangen. Heute möchten wir einige Schlussfolgerungen ziehen. Wenn sich Christus auf den »Anfang« beruft, verlangt er von seinen Gesprächspartnern, gewissermaßen die Grenzlinie zu überschreiten, die die Genesis zwischen dem Zustand ursprünglicher Unschuld und dem der Sündhaftigkeit zieht, die mit der Erbsünde beginnt. Symbolisch lässt sich diese Grenzlinie mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verbinden, der im jahwistischen Text zwei diametral entgegengesetzte Situationen gegenüberstellt: die der ursprünglichen Unschuld und die der Erbsünde. Beide Situationen haben im Menschen in seinem Innern, in seiner Erkenntnis, seinem Bewusstsein, seiner Grundentscheidung eine eigene Dimension, und zwar in Bezug auf den Schöpfergott, der im jahwistischen Text (Gen 2 und 3) zugleich der Gott des Bundes ist, des ältesten Bundes des Schöpfers mit seinem Geschöpf, also dem Menschen. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse als Ausdruck und Symbol des Bundes mit Gott, den der Mensch innerlich gebrochen hat, grenzt zwei diametral entgegengesetzte Zustände voneinander ab: den Zustand der ursprünglichen Unschuld und den der Erbsünde des Menschen. Doch die Worte Christi, die Bezug nehmen auf den »Anfang«, lassen uns im Menschen einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen diesen beiden verschiedenen Situationen oder Dimensionen menschlichen Seins entdecken. Der Zustand der Sünde gehört zum »geschichtlichen Menschen«, also zu dem damaligen Gesprächspartner Christi in Matthäus 19, wie auch jedem anderen möglichen oder tatsächlichen Gesprächspartner aller Zeiten der Geschichte und daher natürlich auch zum Menschen von heute. Jener Zustand - eben der »geschichtliche« Zustand - reicht jedoch in jedem Menschen, ohne Ausnahme, mit seinen Wurzeln theologisch in seine eigene »Vorgeschichte« zurück, d. h. in den Zustand der ursprünglichen Unschuld.
2. Hier handelt es sich nicht um formale Dialektik. Die Gesetze des Erkennens entsprechen den Gesetzen des Seins. Es ist unmöglich, den Zustand »geschichtliche« Sündhaftigkeit zu begreifen, ohne sich auf den Zustand der ursprünglichen (in gewissem Sinne »vorgeschichtlichen«) und fundamentalen Unschuld zu beziehen, wie Christus es tatsächlich getan hat. Der Einbruch der Sündhaftigkeit in die menschliche Existenz ist also von Anfang an verbunden mit der tatsächlichen Unschuld des Menschen als grundgelegtem Urzustand, als Dimension des »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen Wesens. Das gilt nicht nur von den ersten Menschen, Mann und Frau als den handelnden Personen im jahwistischen Text des 2. und 3. Kapitels der Genesis, sondern auch für die ganze Geschichte menschlicher Existenz. Der geschichtliche Mensch ist theologisch also sozusagen in seiner offenbarten Vorgeschichte verwurzelt. Daher erklärt sich seine ganze geschichtliche Sündhaftigkeit in Leib und Seele im Vergleich zur ursprünglichen Unschuld. Man kann sagen, dass dieser Bezug »Miterbschaft« der Sünde, ja der Erbsünde ist. Wenn diese Sünde in jedem geschichtlichen Menschen einen Zustand der verlorenen Gnade bezeichnet, dann meint sie auch einen Bezug zur Gnade der ursprünglichen Unschuld.
3. Wenn sich Christus, im 19. Kapitel bei Matthäus auf den »Anfang« beruft, will er nicht nur auf die ursprüngliche Unschuld als den verlorenen Horizont der menschlichen Existenz in der Geschichte hinweisen. Wir dürfen den Worten seines Mundes mit Recht zugleich die ganze Kraft des Erlösungsgeheimnisses zuschreiben.
Schon im Bereich des jahwistischen Textes von Gen 2 und 3 sind wir ja in der Tat Zeugen, dass die Menschen, Mann und Frau, nachdem sie den Urbund mit ihrem Schöpfer gebrochen haben, in den Worten des sogenannten Protoevangeliums in Gen 3, 15<ref>Bereits die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die um das 2. Jh. v. Chr. entstandene sogenannte Septuaginta, interpretiert Gen 3, 15 im messianischen Sinn, indem sie das männliche Pronomen autos in Bezug auf das im Griechischen neutrale Substantivum sperma, »Samen« (in der Vulgata semen), anwendet. Die jüdische Tradition setzt diese Interpretation fort. Die christliche Exegese, die mit dem hl. Irenäus (Adversus Haereticos, III, 23, 7) einsetzt, betrachtet diesen Text als »Ur-Evangelium«, das den von Jesus Christus errungenen Sieg über Satan ankündigt. Obwohl in den letzten Jahrhunderten die Bibelwissenschaftler diese Perikope sehr verschieden interpretiert haben und einige von ihnen die messianische Auslegung beanstanden, kehrt man in letzter Zeit, wenn auch unter einem etwas anderen Gesichtspunkt, doch wieder zu ihr zurück. Der Verfasser des jahwistischen Textes verbindet ja die Vorgeschichte mit der Geschichte Israels, die ihren Höhepunkt im Herrschergeschlecht Davids (aus welchem der Messias hervorgehen wird) erreicht, das zur Erfüllung der Verheißungen von Gen 3, 15 führen wird (vgl. 2 Sam 7, 12).
Das Neue Testament hat die Erfüllung der Verheißung in derselben messianischen Sicht dargestellt: Jesus ist der Messias, der Nachkomme Davids (Röm 1, 3; 2 Tim 2, 8), geboren von einer Frau (Gal 4, 4), der neue Adam-David (1 Kor 15), der herrschen muß, »bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat« (1 Kor 15, 25). Und Offb 12, 1-10 stellt schließlich die Enderfüllung der Prophezeiung von Gen 3, 15 dar, die zwar keine klare und unmittelbare Ankündigung Jesu als des Messias Israels ist,. doch über die Tradition vom Messias-König, die das Alte und Neue Testament verbindet, zu Ihm hinführt.</ref> die erste Verheißung der Erlösung empfangen und von da an in der Hoffnung auf Erlösung leben. Der »geschichtliche« Mensch - sei es der damalige Gesprächspartner Jesu, von dem Mt 19 spricht, sei es der Mensch unserer Zeit - hat also teil an dieser Hoffnung. Er nimmt also nicht nur in seiner Eigenschaft als Erbe und zugleich als einmalige Person an der Geschichte der menschlichen Sündhaftigkeit teil, sondern auch an der Geschichte des Heils, und das ebenfalls als aktiver Mitschöpfer. Es ist ihm also wegen seiner Sündhaftigkeit nicht nur die ursprüngliche Unschuld verschlossen, sondern er ist gleichzeitig auch offen für das Mysterium der Erlösung, das sich in Christus und durch Christus erfüllt hat. Paulus, der Verfasser des Briefes an die Römer, verleiht dieser Hoffnung auf Erlösung, in welcher der »geschichtliche« Mensch lebt, folgendermaßen Ausdruck: ». . . obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung des Leibes als Söhne offenbar werden« (Röm 8,23). Wir dürfen diese Perspektive nicht aus dem Auge verlieren, wenn wir den Worten Christi folgen, der sich in seiner Auseinandersetzung über die Unauflöslichkeit der Ehe auf den »Anfang« beruft. Würde sich jener »Anfang« lediglich auf die Erschaffung des Menschen »als Mann und Frau« beziehen und würde er - was wir bereits erwähnt haben - die Gesprächspartner nur über die Grenze des Standes menschlicher Sündhaftigkeit hinaus zu der ursprünglichen Unschuld hinführen und nicht gleichzeitig die Aussicht auf eine »Erlösung des Leibes« eröffnen, dann wäre die Antwort Christi gar nicht richtig verstanden. Denn eben diese Aussicht auf eine Erlösung des Leibes gewährleistet die Kontinuität und Einheit zwischen dem ererbten Stand der menschlichen Sündhaftigkeit und seiner ursprünglichen Unschuld, auch wenn der Mensch in der Geschichte diese Unschuld unwiderruflich verloren hat. Es ist auch einleuchtend, dass Christus mit vollem Recht auf die Frage, die ihm die Gesetzeslehrer des Alten Bundes stellten (wie wir bei Mt 19 und Mk 10 lesen), im Hinblick auf die Erlösung antwortet, auf die sich der Bund selber stützt.
4. Wenn wir in dem so im wesentlichen umrissenen Rahmen der Theologie der leiblichen Dimension des Menschen an weitere Auslegungen der Offenbarung über den »Anfang« denken - wozu ganz wesentlich die Bezugnahme auf die ersten Kapitel der Genesis gehört -, müssen wir unsere Aufmerksamkeit sogleich einer Tatsache zuwenden, die für die theologische Auslegung von besonderer Bedeutung ist: von Bedeutung deshalb, weil sie sich auf das Verhältnis zwischen Offenbarung und Erfahrung bezieht. Bei der Auslegung der Offenbarung über den Menschen und vor allem über den Leib müssen wir uns aus verständlichen Gründen auf die Erfahrung berufen, weil der Mensch in seiner Leiblichkeit von uns vor allem auf dem Weg der Erfahrung wahrgenommen wird. Im Lichte der erwähnten Grundsatzüberlegungen haben wir das volle Recht, anzunehmen, dass diese unsere »geschichtliche« Erfahrung in einem gewissen Sinne an der Schwelle der ursprünglichen Unschuld des Menschen haltmachen muß, weil sie in ihren Vergleichen unzulänglich ist. Doch im Lichte dieser grundlegenden Erwägungen müssen wir zu der Überzeugung gelangen, dass unsere menschliche Erfahrung in diesem Fall ein irgendwie zulässiges Mittel für die theologische Auslegung und in gewissem Sinne einen unerläßlichen Bezugspunkt darstellt, auf den wir uns bei der Interpretation des »Anfangs« berufen müssen. Eine genauere Auslegung des Textes wird uns hier eine klarere Sicht gewähren.
5. Die soeben zitierten Worte aus Röm 8, 23 könnten sehr gute Richtlinien für unsere Untersuchungen über die Offenbarung jenes »Anfangs« liefern, auf den sich Christus in seiner Auseinandersetzung über die Unauflöslichkeit der Ehe (Mt 19 und Mk 10) berufen hat. Alle weiteren Auslegungen, die in diesem Zusammenhang auf der Grundlage der ersten Kapitel der Genesis vorgenommen werden sollen, spiegeln notwendigerweise die Wahrheit der Paulusworte wieder: »Obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden.« Wenn wir uns in diese Lage versetzen - die zutiefst mit der Erfahrung übereinstimmt<ref>Wenn wir hier von der Beziehung zwischen »Erfahrung« und »Offenbarung«, ja von einer überraschenden Konvergenz beider sprechen, wollen wir nur feststellen, dass der Mensch in seinem jetzigen Zustand der leiblichen Existenz die Erfahrung vielfacher Schmerzen, Leidenschaften, Schwächen, ja schließlich des Todes selbst macht, die zugleich sein leibliches Dasein zu einer anderen Dimension in Beziehung setzen. Wenn Paulus von der »Erlösung des Leibes« schreibt, spricht er die Sprache der Offenbarung. Der Erfahrung fehlt die Möglichkeit, diesen Inhalt, besser diese Wirklichkeit, zu erfassen. Gleichzeitig mit diesem Inhalt greift der Verfasser in Röm 8, 23 all das wieder auf, was sowohl ihm wie gewissermaßen jedem Menschen (unabhängig von seinem Verhältnis zur Offenbarung) durch die Erfahrung des menschlichen Daseins, das eine leibliche Existenz hat, angeboten wird. Wir haben also das Recht, von der Beziehung zwischen Erfahrung und Offenbarung zu sprechen, ja wir haben das Recht, die Frage nach ihrer wechselseitigen Beziehung zu stellen, auch wenn für viele zwischen der einen und der anderen eine Demarkationslinie läuft, die eine Linie völligen Gegensatzes und radikaler Antinomie bezeichnet. Ihrer Meinung nach muß zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen Theologie und Philosophie eine solche Trennungslinie gezogen werden. Bei der Formulierung dieses Standpunktes werden meist abstrakte Begriffe in Betracht gezogen, die nichts mit dem lebendigen Menschen zu tun haben.</ref> -, dann muß der »Anfang« mit dem vollen Licht zu uns sprechen, das aus der Offenbarung hervorgeht, und auf die vor allem die Theologie eine Antwort zu geben versucht. Die Fortsetzung der Auslegungen wird uns Klarheit bringen, warum und in welchem Sinn diese Theologie eine Theologie des Leibes sein muß.
Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (1) 10. 10. 1979, OR 79/42
1. Bei der letzten Betrachtung innerhalb unseres Zyklus sind wir zu einer ersten Schlussfolgerung gelangt, die sich aus den Worten der Genesis über die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau ergab. Auf diese Worte, das heißt auf den »Anfang«, hat sich der Herr in seinem Streitgespräch über die Unauflöslichkeit der Ehe berufen (vgl. Mt 19, 3-9; Mk 10, 1-12). Aber die Schlussfolgerung, zu der wir gelangt sind, beendigt unsere Analyse noch nicht. Wir müssen nämlich die Berichte des ersten und zweiten Kapitels der Genesis in einem umfassenderen Zusammenhang noch einmal lesen, der uns die Aufhellung einer Reihe von Bedeutungen des alten Textes, auf den sich Christus bezog, erlauben wird. Wir wollen daher heute über die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen nachdenken.
2. Der Anstoß zu dieser Überlegung ergibt sich für uns unmittelbar aus folgenden Worten der Genesis: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Es ist Gott - Jahwe -, der diese Worte spricht. Sie gehören zum zweiten Bericht über die Erschaffung des Menschen und gehören somit zur jahwistischen Überlieferung. Wie wir schon früher erwähnt haben, ist es bezeichnend, dass im jahwistischen Text die Erzählung von der Erschaffung des Menschen (des Mannes) einen eigenen Abschnitt bildet (Gen 2, 7), welcher dem Bericht über die Erschaffung der ersten Frau vorausgeht (Gen 2, 21-22). Es ist ferner bezeichnend, dass der erste Mensch (adam), aus »Erde vom Ackerboden« geschaffen, erst nach der Erschaffung der ersten Frau als ein »männliches« Wesen ('is) definiert wird. Wenn Gott-Jahwe daher die Worte von der Einsamkeit spricht, bezieht er sie auf die Einsamkeit des »Menschen« als solchen und nicht nur auf jene des Mannes.<ref>Der hebräische Text nennt den ersten Menschen ständig haadam. Der Begriff 'is (männliches Wesen) taucht erst in der Gegenüberstellung mit 'issah (weibliches Wesen) auf.
Solange der Mensch einsam ist, findet sich also keine Bezugnahme auf sein Geschlecht.
Bei der Übersetzung in einige europäische Sprachen ist es allerdings schwierig, die Ausdrucksweise der Genesis deutlich zu machen, weil hier »Mensch« und »Mann« mit dem gleichen Wort bezeichnet werden: Homo, uomo, homme, hombre, man.</ref>
Es ist jedoch schwierig, allein aufgrund dieses Faktums weitgehende Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch vermag der Gesamtzusammenhang jener Einsamkeit, von welcher Gen 2, 18 spricht, uns zu überzeugen, dass es sich hier um die Einsamkeit des »Menschen« (des Mannes und der Frau) und nicht allein um die Einsamkeit des Mannes, hervorgerufen durch das Fehlen der Frau, handelt. Aufgrund des Zusammenhanges scheint diese Einsamkeit also zwei Bedeutungen zu haben: eine, die sich aus dem Wesen des Menschen, das heißt aus seinem Menschsein herleitet (und das ist offenkundig im Bericht von Gen 2 der Fall), und eine zweite, die von der Beziehung zwischen Mann und Frau herrührt, was gewissermaßen aufgrund der ersten Bedeutung klar wird. Eine tiefergehende Analyse scheint das zu bestätigen.
3. Das Problem der Einsamkeit tritt nur im Zusammenhang des zweiten Schöpfungsberichtes auf. Der erste Bericht kennt dieses Problem nicht. Dort wird der Mensch in einem einzigen Akt »als Mann und Frau« erschaffen (»Gott schuf also den Menschen als sein Abbild . . . Als Mann und Frau schuf er sie«, Gen 1, 27). Der zweite Bericht, der, wie wir bereits erwähnt haben, zuerst von der Erschaffung des Mannes und erst dann von der Erschaffung der Frau aus der »Rippe« des Mannes spricht, konzentriert unsere Aufmerksamkeit darauf, dass »der Mensch allein ist«, und das erscheint als ein fundamentales anthropologisches Problem, das in gewissem Sinne noch vor der Tatsache kommt, dass der Mensch Mann und Frau ist. Dieses Problem ist weniger im chronologischen als vielmehr im existentiellen Sinn vorgängig: es ist »seiner Natur nach« früher. So stellt sich auch das Problem der Einsamkeit des Menschen vom Gesichtspunkt der Theologie des Leibes her, wenn uns eine vertiefte Analyse des zweiten Schöpfungsberichts (Gen 2) gelingt.
4. Die Feststellung des Gottes Jahwe, »es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe«, erscheint nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Entschluss, eine Frau zu erschaffen (»ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht«), sondern auch im weiteren Zusammenhang mit Motiven und Umständen, die den Sinn der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen tiefer erklären. Der jahwistische Text verbindet vor allem die Erschaffung des Menschen mit dem Verlangen, »den Ackerboden zu bestellen« (Gen z, 5), was im ersten Bericht dem Gebot entsprechen würde, die Erde zu bevölkern und zu unterwerfen (vgl. Gen 1, 28). Weiter spricht der zweite Schöpfungsbericht vom Menschen im »Garten Eden« und führt uns so in den Zustand seiner ursprünglichen Glückseligkeit ein. Bis zu diesem Augenblick ist der Mensch Objekt des Schöpfungsaktes des Gottes Jahwe, der gleichzeitig als Gesetzgeber die Bedingungen des ersten Bundes mit dem Menschen festsetzt. Bereits dadurch wird die Subjektivität des Menschen unterstrichen. Sie findet einen weiteren Ausdruck, als Gott der Herr »aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels formte und sie dem Menschen zuführte, um zu sehen, wie er sie benenne« (Gen 2, 19). So wird also die Urbedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen aufgrund eines besonderen »Tests« bzw. einer Prüfung definiert, die der Mensch vor Gott (und gewissermaßen auch vor sich selbst) bestehen muß. Durch diesen »Test« wird der Mensch sich seiner eigenen Überlegenheit bewusst, das heißt der Tatsache, dass er mit keiner anderen Art von Lebewesen auf Erden auf die gleiche Stufe gestellt werden kann. Wie der Text sagt: »Wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen« (Gen 2, 19). »Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber - so schließt der Verfasser - eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht« (Gen 2, 20).
5. Dieser ganze Textabschnitt ist zweifellos als Vorbereitung auf den Bericht von der Erschaffung der Frau zu betrachten. Doch auch unabhängig davon besitzt er seine eigene tiefe Bedeutung. Der geschaffene Mensch befindet sich vom ersten Augenblick seiner Existenz an vor Gott gleichsam auf der Suche nach seinem Wesen; man könnte sagen: auf der Suche nach seiner Selbstbestimmung. Heute würde man sagen: auf der Suche nach seiner Identität. Die Feststellung, dass der Mensch in der sichtbaren Welt und besonders unter den Lebewesen »allein ist«, hat für diese Suche eine negative Bedeutung, da es ausdrückt, was der Mensch »nicht ist«.
Nichtsdestoweniger hat die Feststellung, sich mit der sichtbaren Welt der übrigen Lebewesen (animalia) dem Wesen nach nicht identifizieren zu können, zugleich einen positiven Aspekt für diese vorrangige Suche: auch wenn diese Feststellung noch keine vollständige Definition darstellt, ist sie doch ein Element von ihr. Wenn wir die aristotelische Tradition in der Logik und in der Anthropologie übernehmen, wäre dieses Element als genus proximum, »Genus« zu definieren.<ref>»Eine Seins-Definition ist eine Angabe, die das Sein oder die Natur der Dinge erklärt. Das Sein der Dinge wird durch ihr genus proximum (Gattungsbegriff) und ihre differentia specifica (spezifischer Unterschied definiert.
Der Gattungsbegriff schließt alle wesentlichen Elemente der ihm untergeordneten Gattungen ein und somit alle Dinge, die dem zu definierenden Ding dem Sein nach verwandt oder ähnlich sind. Der spezifische Unterschied hingegen bezeichnet jenes Element, das dieses Ding von allen anderen ähnlicher Natur unterscheidet, indem er zeigt, worin sich das Ding von anderen, mit denen es irrtümlich identifiziert werden könnte, unterscheidet. Der Mensch wird als animal rationale (vernünftiges Lebewesen) definiert. >Lebewesen< ist sein Gattungsbegriff, >vernünftig< sein spezifischer Unterschied. Der Gattungsbegriff >Lebewesen< schließt alle wesentlichen Elemente der untergeordneten Gattungen ein, weil ein >Lebewesen< eine empfindungsfähige, lebendige, stoffliche Substanz ist . . . Der spezifische Unterschied >vernünftig< ist das unterscheidende Seinselement, das den >Menschen< von jedem anderen >Lebewesen< unterscheidet. Es macht ihn zu einer eigenen Gattung und unterscheidet ihn von jedem anderen Lebewesen und jeder ihrer Gattungen, einschließlich der Pflanzen, unbelebten Körper und Substanzen.
Da der spezifische Unterschied das unterscheidende Element im Sein des Menschen ist, schließt er außerdem alle charakteristischen >Eigenschaften< ein, die im Sein des Menschen als Mensch angelegt sind: Sprachfähigkeit, Sittlichkeit, Herrschaft, Religion, Unsterblichkeit usw., Wirklichkeiten, die allen anderen Wesen in der physischen Welt fehlen.«
(C. N. Bittle, The Science of Correct Thinking. Logic, Milwaukee 194712, S. 73-74).</ref>
6. Der jahwistische Text erlaubt uns, weitere Elemente in jenem großartigen Abschnitt zu entdecken, in dem sich der Mensch allein vor Gott befindet, um vor allem durch eine erste Selbstbestimmung die Selbsterkenntnis als ursprüngliche und grundlegende Äußerung des Menschseins auszudrücken. Das eigene Erkennen geht einher mit dem Erkennen der Welt, aller sichtbaren Geschöpfe, aller Lebewesen, denen der Mensch einen Namen gegeben hat, um ihnen gegenüber sein Anderssein zu behaupten. Das Erkennen offenbart den Menschen als den, der im Hinblick auf die sichtbare Welt die Fähigkeit der Erkenntnis besitzt. Mit diesem Erkennen, das ihn gewissermaßen über sein eigenes Sein hinausgehen lässt, entdeckt sich der Mensch zugleich selbst in der ganzen Besonderheit seines Seins. Er ist nicht nur seinem Wesen nach und subjektiv allein. Die Einsamkeit bezeichnet auch die Subjektivität des Menschen, die sich gerade durch die Selbsterkenntnis entwickelt. Der Mensch ist allein, weil er sich von der sichtbaren Welt, von der Welt der Lebewesen, »unterscheidet«. Wenn wir den Text des Buches Genesis analysieren, sind wir in gewissem Sinne Zeugen der Tatsache, dass sich der Mensch mit dem ersten Akt der Selbsterkenntnis vor Gott von der gesamten Welt der Lebewesen (animalia) »unterscheidet« und sich daher selbst entdeckt und zugleich damit sich in der sichtbaren Welt als »Person« behauptet. Dieser in Gen 2, 19-20 so eindrucksvoll beschriebene Prozess, ein Prozess der Suche nach einer Selbstbestimmung, führt - vorausgesetzt, dass wir uns der aristotelischen Tradition anschließen - nicht nur zur Bezeichnung des genus proximum, das im 2. Kapitel der Genesis mit den Worten »er benannte sie« ausgedrückt ist, dem die differentia specifica entspricht, die nach Aristoteles in noûs und zôón noêtikón besteht. Dieser Prozess führt uns auch zu einer ersten Beschreibung des menschlichen Wesens als menschliche Person mit der Subjektivität, die sie kennzeichnet. Wir unterbrechen hier die Analyse der Bedeutung der Einsamkeit des Menschen. In einer Woche wollen wir sie wieder aufnehmen.
Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (2) 24. 10. 1979, OR 79/44
1. Bei unserer Betrachtung vor zwei Wochen haben wir damit begonnen, die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen zu analysieren. Den Anstoß dazu lieferte uns der jahwistische Text, im besonderen die folgenden Worte: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Die Analyse der entsprechenden Abschnitte des Buches Genesis (Kap. 2) hat uns bereits zu überraschenden Schlussfolgerungen bezüglich der in diesem Buch enthaltenen Anthropologie, also der Grundwissenschaft vom Menschen, geführt. In der Tat skizziert der alte Text in relativ knappen Sätzen den Menschen als Person mit der sie charakterisierenden Subjektivität. Als Gott-Jahwe diesem ersten so beschaffenen Menschen das Gebot erteilt, das alle Bäume, die im »Garten Eden« wachsen, betrifft, vor allem jenen der Erkenntnis von Gut und Böse, kommt zu den oben beschriebenen Grundzügen des Menschen das Moment der Entscheidung und der Selbstbestimmung, das heißt des freien Willens, hinzu. Auf diese Weise erscheint vor uns das Bild des Menschen als einer Person, die mit einer wesenseigenen Subjektivität ausgestattet ist, gleichsam in seinem ersten Entwurf vollendet.
Im Begriff der ursprünglichen Einsamkeit ist sowohl das Selbstbewusstsein als auch die Selbstbestimmung eingeschlossen. Die Tatsache, dass der Mensch »allein« ist, birgt in sich diese Seinsstruktur und ist zugleich ein Hinweis für ein richtiges Verständnis. Ohne das letztere sind wir nicht in der Lage, die folgenden Worte richtig zu begreifen, die die Einleitung zur Schöpfung der ersten Frau bilden: »Ich will ihm eine Hilfe machen«. Vor allem aber kann ohne jene tiefe Bedeutung seiner ursprünglichen Einsamkeit die ganze Situation des »nach dem Bilde Gottes« geschaffenen Menschen nicht verstanden und richtig interpretiert werden, die die Situation des ersten, ja ursprünglichen Bundes mit Gott ist.
2. Dieser Mensch, von dem der Bericht des ersten Kapitels sagt, dass er »nach dem Bilde Gottes« geschaffen worden ist, erweist sich im zweiten Bericht als Subjekt des Bundes, das heißt Subjekt, das als Person, als »Partner des Absoluten« eingesetzt wurde, insofern es bewusst zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod unterscheiden und wählen muß. Die Worte des ersten Gebotes Gott-Jahwes (Gen 2, 16-17), die unmittelbar von der Unterwerfung des Menschengeschöpfes und seiner Abhängigkeit vom Schöpfer sprechen, enthüllen indirekt eben diese Stufe des Menschseins als Subjekt des Bundes und »Partner des Absoluten«. Der Mensch ist »allein«: das besagt, dass er durch sein Menschsein, durch das, was er ist, zugleich in eine einzigartige, ausschließliche und unwiederholbare Beziehung und Verbindung mit Gott selbst gebracht wird. Die in dem jahwistischen Text enthaltene anthropologische Definition kommt ihrerseits dem nahe, was die theologische Definition des Menschen zum Ausdruck bringt, die wir im ersten Schöpfungsbericht finden (»Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt«, Gen 1, 26).
3. Der so gestaltete Mensch gehört der sichtbaren Welt an, ist Körper unter Körpern. Indem wir die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit wieder aufnehmen und gewissermaßen wieder aufbauen, wenden wir sie auf den Menschen in seiner Ganzheit an. Der Körper, durch den der Mensch an der sichtbaren geschaffenen Welt teilhat, bringt ihm zugleich zu Bewusstsein, dass er »allein« ist. Er wäre sonst nicht imstande gewesen, zu jener Überzeugung zu gelangen, zu der er, wie wir lesen, tatsächlich gelangt ist (vgl. Gen 2, 20), wenn ihm sein Körper nicht geholfen hätte, das zu erfassen, indem er es ihm deutlich machte. Bewusstsein der Einsamkeit hätte aufgrund desselben Körpers zerbrechen können. Der Mensch, 'adam, hätte, auf die Erfahrung des eigenen Körpers gestützt, zu dem Schluss gelangen können, den übrigen Lebewesen wesenhaft ähnlich zu sein. Und doch ist er, wie wir lesen, nicht zu diesem Schluss gekommen, er ist vielmehr zu der Überzeugung gelangt, »allein« zu sein.
Der jahwistische Text spricht nirgends direkt vom Körper; selbst dort, wo er sagt, dass »der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden formte«, spricht er vom Menschen und nicht vom Körper. Trotzdem bietet uns der Bericht in seiner Gesamtheit ausreichende Grundlagen, um diesen in der sichtbaren Welt geschaffenen Menschen als Körper unter Körpern wahrzunehmen.
Die Analyse des jahwistischen Textes erlaubt uns darüber hinaus, die ursprüngliche Einsamkeit des Menschen mit dem Körperbewusstsein in Verbindung zu bringen, durch das sich der Mensch von allen Lebewesen unterscheidet und sich von ihnen »scheidet« und durch das er Person ist. Man darf mit Sicherheit behaupten, dass der so beschaffene Mensch gleichzeitig über das Bewusstsein und über das Wissen um den Sinn des eigenen Körpers verfügt, und das aufgrund der Erfahrung der ursprünglichen Einsamkeit.
4. All das kann als im zweiten Schöpfungsbericht enthalten angesehen werden, und die Analyse des Textes erlaubt uns ein weiteres Ausholen. Wenn wir am Anfang des jahwistischen Textes, noch ehe von der Erschaffung des Menschen »aus Erde vom Ackerboden« die Rede ist, lesen: »es gab noch keine Menschen, die den Ackerboden bestellten, aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens« (Gen 2, 5-6), bringen wir mit Recht diesen Abschnitt mit jenem des ersten Berichts in Verbindung, wo das göttliche Gebot formuliert wird: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht« (Gen 1,28). Der zweite Bericht spielt deutlich auf die Arbeit des Menschen an, die Erde zu bebauen. Das erste grundlegende Mittel, um die Erde zu beherrschen, findet sich im Menschen selbst. Der Mensch kann die Erde nur beherrschen, weil er - und keines der anderen Lebewesen - fähig ist, »sie zu kultivieren« und entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten (»Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens«). So scheint denn diese erste Skizzierung einer spezifisch menschlichen Tätigkeit zur Definition des Menschen zu gehören, wie sie sich aus der Analyse des jahwistischen Textes ergibt. Man kann folglich behaupten, dass diese Skizzierung zur Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit und zu jener Dimension der Einsamkeit gehört, durch welche der Mensch von Anfang an in der sichtbaren Welt sich als Körper unter Körpern findet und den Sinn seiner eigenen Körperlichkeit entdeckt.
Auf dieses Thema werden wir bei unserer nächsten Begegnung zurückkommen.
Wahl zwischen Tod und Unsterblichkeit 31. 10. 1979, OR 79/45
1. Wir müssen heute noch einmal auf die Bedeutung der Ureinsamkeit des Menschen zu sprechen kommen, welche sich vor allem aus der Analyse des sogenannten jahwistischen Textes im 2. Kapitel der Genesis ergibt. Wie wir bereits bei den vorangegangenen Betrachtungen festgestellt haben, erlaubt uns der biblische Text nicht nur die Betonung des menschlichen Körperbewusstseins (der Mensch ist in der sichtbaren Welt als »Körper unter Körpern« geschaffen), sondern auch des Wissens um die Bedeutung dieses Körpers.
Trägt man der großen Genauigkeit des biblischen Textes Rechnung, darf man diese Verwobenheit freilich nicht übertreiben. Es ist jedoch sicher, dass wir hier das zentrale Problem der Anthropologie berühren. Das Körperbewusstsein scheint in diesem Fall identisch zu sein mit der Entdeckung der Vielschichtigkeit der eigenen Struktur, die nach der philosophischen Anthropologie letztlich in der Beziehung zwischen Seele und Leib besteht. Der jahwistische Schöpfungsbericht drückt das in seiner Sprache (d. h. in seiner Terminologie) folgendermaßen aus: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).<ref>Die biblische Anthropologie unterscheidet im Menschen nicht so sehr »den Leib« und »die Seele« als vielmehr »Körper« und »Leben«.
Der biblische Verfasser stellt hier das Schenken des Lebens durch den »Lebensatem« dar, der weiterhin Eigentum Gottes bleibt: wenn Gott ihn wegnimmt, kehrt der Mensch zurück zum Staub der Erde, aus dem er gemacht ist (vgl. Ijob 34, 14-15; PS 104, 29 f.).</ref> Und eben dieser Mensch, dieses Lebewesen, unterscheidet sich dauernd von allen anderen Lebewesen der sichtbaren Welt. Voraussetzung für diese Eigenart des Menschen ist die Tatsache, dass er allein imstande ist, »den Ackerboden zu bestellen« (vgl. Gen 2, 5) und sich »die Erde zu unterwerfen« (vgl. Gen 1, 28). Man kann sagen, dass das Wissen um die Überlegenheit des Menschen, das zur Bestimmung des Menschseins gehört, von Anfang an aufgrund eines typisch menschlichen Verhaltens entsteht. Dieses Bewusstsein bringt eine besondere Erkenntnis der Bedeutung des eigenen Körpers mit sich, die sich aus der Tatsache ergibt, dass es dem Menschen obliegt, »den Ackerboden zu bestellen und sich zu unterwerfen«. Das alles wäre unmöglich ohne ein typisch menschliches Wissen um den eigenen Körper.
2. Es scheint daher angebracht, eher über diesen Aspekt zu sprechen als über das Problem der anthropologischen Komplexität im metaphysischen Sinn. Wenn die ursprüngliche Beschreibung des menschlichen Bewusstseins, wie sie vom jahwistischen Text wiedergegeben wird, in den Gesamtbericht auch den Körper miteinschließt, wenn er sozusagen das erste Zeugnis von der Entdeckung der eigenen Körperlichkeit enthält (und sogar, wie gesagt, das Wissen um die Bedeutung des eigenen Körpers), so enthüllt sich das alles nicht aufgrund irgendeiner vorgängigen metaphysischen Analyse, sondern aufgrund einer konkreten, ziemlich klaren Subjektivität des Menschen. Der Mensch ist nicht nur durch sein Selbstbewusstsein und seine Selbstbestimmung Subjekt, sondern auch aufgrund des ihm eigenen Körpers. Der Aufbau dieses Körpers ist solcher Art, dass sie ihm ein echt menschliches Handeln ermöglicht. In diesem Tun bringt der Leib die Person zum Ausdruck. Er ist also in seiner ganzen gleichsam durchlässigen und transparenten Stofflichkeit (»Gott formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden«) in der Lage, zu verdeutlichen, wer der Mensch dank der Struktur seines Bewusstseins und seiner Selbstbestimmung ist (und wer er sein sollte). Darauf stützt sich die grundlegende Wahrnehmung der Bedeutung des eigenen Körpers, die man durch die Analyse der Ureinsamkeit des Menschen entdekken muß.
3. Und mit diesem grundlegenden Erfassen des Sinnes seines Körpers wird der Mensch als Subjekt des alten Bundes mit dem Schöpfer nun vor das Geheimnis des Baumes der Erkenntnis gestellt. »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben« (Gen 2, 16-17). Die ursprüngliche Bedeutung der Einsamkeit des Menschen stützt sich auf die Erfahrung der vom Schöpfer empfangenen Existenz. Diese menschliche Existenz ist eben durch die Subjektivität gekennzeichnet, die auch die Bedeutung des Körpers einschließt. Aber hätte der Mensch, der in seinem ursprünglichen Bewusstsein einzig und allein die Erfahrung des Seins und somit des Lebens kennengelernt hat, überhaupt verstehen können, was das Wort »Du wirst sterben« bedeutet? Wäre er fähig, durch die komplexe Struktur des Lebens, das ihm geschenkt worden war, als »Gott der Herr . . . den Lebensatem in seine Nase blies«, den Sinn dieses Wortes zu verstehen? Man muß zugeben, dass dieses völlig neue Wort am Bewusstseinshorizont des Menschen aufgetaucht ist, ohne dass er dessen Realität je erfahren hätte, und dass dieses Wort ihm zugleich als radikaler Gegensatz zu all dem erschien, mit dem er ausgestattet war. Der Mensch hörte das Wort »Du wirst sterben« zum ersten Mal, ohne dass es ihm aus seiner bisherigen Erfahrung irgendwie vertraut gewesen wäre; anderseits konnte er den Sinn des Todes nicht mit jener Dimension des Lebens in Verbindung bringen, die er bis dahin erfahren hatte. Die Worte, die Gott-Jahwe an den Menschen richtete, waren die Bestätigung für eine Abhängigkeit im Sein, die ihn zu einem begrenzten, seiner Natur nach zur Nichtexistenz fähigen Wesen macht.
Diese Worte drücken das Problem des Todes in Form einer Bedingung aus: »Wenn du davon ißt, wirst du sterben.« Der Mensch, der diese Worte gehört hatte, mußte ihre Wahrheit an der inneren Struktur seiner Einsamkeit ablesen. Schließlich hing es von ihm, von seiner Entscheidung und freien Wahl ab, ob er mit seiner Einsamkeit in den Kreis der ihm vom Schöpfer zugleich mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse geoffenbarten Antithese eintreten und so die Erfahrung des Sterbens und des Todes machen wollte. Als der Mensch die Worte Gott-Jahwes hörte, hätte er begreifen müssen, dass der Baum der Erkenntnis nicht bloß »im Garten Eden«, sondern auch in seinem Menschsein Wurzel gefaßt hatte. Außerdem hätte er begreifen müssen, dass jener geheimnisvolle Baum eine ihm bis dahin unbekannte Dimension der Einsamkeit in sich barg, mit der der Schöpfer ihn inmitten der Welt der Lebewesen ausgestattet hatte, denen er, der Mensch - vor demselben Schöpfer - »Namen gegeben« hatte, um zu erkennen, dass keines dieser Lebewesen ihm ähnlich war.
4. Nachdem also der grundlegende Sinn seines Körpers durch die Unterscheidung von allen übrigen Geschöpfen bereits festgelegt und es dadurch offenkundig geworden war, dass der Mensch mehr vom »Unsichtbaren« als vom »Sichtbaren« bestimmt wird, stellte sich ihm nun die Wahl, die von Gott-Jahwe in engste und unmittelbare Verbindung mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gebracht wird. Die Wahl zwischen Sterben und Unsterblichkeit, die sich aus Gen 2, 17 ergibt, reicht über die wesentliche Bedeutung des menschlichen Körpers insofern hinaus, als sie die eschatologische Bedeutung nicht nur des Körpers, sondern des Menschseins selbst aufgreift, das sich von allen Lebewesen, von den »Körpern«, unterscheidet. In ganz besonderer Weise jedoch betrifft diese Wahl den »aus der Erde vom Ackerboden« geschaffenen Körper.
Um diese Analyse nicht zu lang werden zu lassen, beschränken wir uns auf die Feststellung, dass die Wahl zwischen Sterben und Unsterblichkeit »von Anfang an« zur Definition des Menschen und zum Sinn seiner Einsamkeit vor Gott gehört. Dieser ursprüngliche Sinn der Einsamkeit, von der Entscheidung zwischen Sterben und Unsterblichkeit durchdrungen, ist auch für die gesamte Theologie des Leibes von fundamentaler Bedeutung. Mit dieser Feststellung beschließen wir für heute unsere Betrachtungen über den Sinn der Ureinsamkeit des Menschen. Eine solche Feststellung, die sich klar und deutlich aus den Texten des Buches Genesis ergibt, regt auch zum Nachdenken über die Texte und den Menschen an, der sich der Wahrheit, die ihn selbst betrifft und bereits in den ersten Kapiteln der Bibel aufscheint, vielleicht allzu wenig bewusst ist.
Von Anfang an »Mann und Frau« 7. 11. 1979, OR 79/46
1. Die Worte aus der Genesis, »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe« (2, 18), sind gleichsam eine Einleitung zu dem Bericht über die Erschaffung der Frau. Zusammen mit diesem Bericht beginnt der Sinn der ursprünglichen Einsamkeit teilzuhaben an dem der ursprünglichen Einheit, als deren entscheidender Punkt eben die Worte aus Genesis 2, 24 erscheinen, auf die sich Christus in seinem Gespräch mit den Pharisäern beruft: »Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein« (Mt 19, 5). Wenn Christus unter Bezugnahme auf den »Anfang« diese Worte zitiert, ist es angemessen, den Sinn jener ursprünglichen Einheit, die ihre Wurzeln in der Tatsache der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau hat, näher zu erläutern.
Der Bericht des ersten Kapitels der Genesis kennt das Problem der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen nicht: der Mensch ist von Anfang an »Mann und Frau«. Der jahwistische Text des zweiten Kapitels hingegen gestattet uns in bestimmter Weise, zunächst nur an den Menschen zu denken, insofern er durch den Leib der sichtbaren Welt angehört, über die er freilich hinausragt; erst dann lässt er uns an denselben Menschen in seiner doppelten Geschlechtlichkeit denken. Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit sind nicht völlig identisch. Auch wenn der menschliche Leib in seiner normalen Beschaffenheit die Geschlechtsmerkmale an sich trägt und seiner Natur nach männlich oder weiblich ist, so gehört doch die Tatsache, dass der Mensch »Leib« ist, tiefergehend zur Struktur des Subjekts als Person denn die Tatsache, dass er in seiner leiblichen Beschaffenheit auch männlich oder weiblich ist. Deshalb geht der Sinn der ursprünglichen Einsamkeit, die schlechthin auf den »Menschen« bezogen werden kann, seinem Wesen nach dem Sinn der ursprünglichen Einheit voraus, letztere gründet sich ja auf die Tatsache des Mannseins und des Frauseins, also gleichsam auf zwei verschiedene Verleiblichungen, das heißt auf zwei Weisen des »leiblichen Seins« ein und desselben »nach dem Abbild Gottes« geschaffenen menschlichen Wesens (Gen 1, 27).
2. Wenn wir dem jahwistischen Text folgen, in dem die Erschaffung der Frau eigens beschrieben wird (Gen 2, 21-22), müssen wir zugleich jenes »Abbild Gottes« aus dem ersten Schöpfungsbericht vor Augen haben. Der zweite Bericht bewahrt in Sprache und Stil alle Merkmale des jahwistischen Textes. Die Erzählweise stimmt mit der Denkund Ausdrucksweise der Zeit überein, aus welcher der Text stammt. Der modernen Religionsund Sprachphilosophie zufolge kann man sagen, es handle sich um eine mythische Sprache. Der Begriff Mythos bezeichnet in diesem Fall jedoch nicht eine Sage, sondern ist lediglich die archaische Ausdrucksform eines tieferen Gehalts. So entdecken wir ohne jede Schwierigkeit unter der Schicht der antiken Erzählung jenen Inhalt, der, was die Qualität und die Dichte der darin enthaltenen Wahrheit anbelangt, wirklich bewunderungswürdig ist. Fügen wir hinzu, dass der zweite Schöpfungsbericht bis zu einem gewissen Grad eine Form des Dialogs zwischen dem Menschen und dem Schöpfergott bewahrt; dies wird vor allem in jenem Abschnitt offenkundig, in dem der Mensch ('adam) endgültig als Mann und Frau ('is - 'issah) geschaffen wird.<ref>Das hebräische Wort 'adam drückt den Kollektivbegriff »Mensch« aus, also den Menschen als Vertreter der Menschheit; (den Einzelmenschen bezeichnet die Bibel durch Gebrauch des Ausdrucks: »Menschensohn«, ben-'adam). Die Gegenüberstellung: 'is - 'issah unterstreicht den Geschlechtsunterschied (wie im Griechischen 'aner - gyne).
Nach der Erschaffung der Frau nennt der biblische Text den ersten Menschen weiterhin 'adam (mit dem bestimmten Artikel), womit er seine korporative Persönlichkeit zum Ausdruck bringt, ist doch dieser erste Mensch zum »Vater der Menschheit«, zu ihrem Stammvater und Repräsentanten geworden, wie später Abraham als »Vater der Gläubigen« anerkannt und Jakob mit Israel, dem auserwählten Volk, gleichgesetzt wurde.</ref> Die Erschaffung vollzieht sich fast gleichzeitig in zwei Dimensionen; die Haltung Gott-Jahwes, der den Menschen erschafft, entfaltet sich in Wechselbeziehung zur Entwicklung des menschlichen Bewusstseins.
3. So sagt denn Gott-Jahwe: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Und gleichzeitig bestätigt der Mensch seine eigene Einsamkeit (Gen 2, 20). Danach lesen wir: »Da ließ Gott, der Herr, eine Ohnmacht auf den Menschen fallen, so dass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2, 21-22). Zieht man die besondere Eigenart der Sprache in Betracht, so muß man vor allem anerkennen, dass uns jene »Ohnmacht« zu denken gibt, in die der Mensch durch Gott-Jahwe in Vorbereitung auf den neuen Schöpfungsakt versinkt. Auf dem Hintergrund des modernen Denkens, das - durch die Tiefenpsychologie - die Welt des Schlafs gewöhnlich mit sexuellen Inhalten in Verbindung bringt, mag jener Schlaf besondere Assoziationen hervorrufen.<ref>Der Schlaf, in den Adam versinkt (hebr.: tardemah), ist ein tiefer Schlaf (latein.: sopor; englisch: sleep), in den der Mensch ohne Bewusstsein oder Träume versinkt (für Traum verwendet die Bibel ein anderes Wort: halom); vgl. Gen 15, 12; 1 Sam 26, 12. Freud hingegen hat den Inhalt der Träume (latein.: somnium; engl.: dream) untersucht, die nach ihm - da es sich um ins »Unterbewusstsein« verdrängte psychische Elemente handelt - die Deutung ihres unbewussten Inhalts erlauben, der letzten Endes immer sexueller Natur sei.
Dieser Gedanke ist dem biblischen Verfasser natürlich fremd.
In der Theologie des jahwistischen Autors unterstreicht der Schlaf, in den Gott den ersten Menschen versinken lässt, die Ausschließlichkeit göttlichen Wirkens bei der Schöpfung der Frau; der Mensch nahm in keiner Weise bewusst daran teil. Gott bedient sich seiner »Rippe« nur deshalb, um die gemeinsame Natur von Mann und Frau hervorzuheben.</ref> Dennoch scheint der biblische Bericht über die Dimension des menschlichen Unterbewussten hinauszugehen. Wenn man sodann eine vielsagende sprachliche Mehrdeutigkeit gelten lässt, kann man zu dem Schluss kommen, dass der Mensch ('adam) in jene »Ohnmacht« versinkt, um als »Mann« und »Frau« danach zu erwachen. Und in der Tat, in Gen 2, 23 stoßen wir zum ersten Mal auf die Unterscheidung 'is - 'issah. Deshalb deutet das Bild vom Schlaf hier vielleicht nicht so sehr auf einen Übergang vom Bewusstsein ins Unbewusstsein als auf eine Art Rückkehr ins Nichtsein (in gewisser Weise löscht der Schlaf die bewusste Existenz des Menschen aus) bzw. in den Zustand vor der Erschaffung, aus dem durch die schöpferische Initiative Gottes der »einsame« Mensch in seiner Zweiheit als Mann und Frau hervorgehen soll.<ref>Das hier verwendete hebr. Wort taucht in der Heiligen Schrift dann auf, wenn im Schlaf oder unmittelbar darauf sich Außergewöhnliches ereignet (vgl. Gen 15, 12; 1 Sam 26, 12; Jes 29, 10; Ijob 4, 13; 33, 15). Die Septuaginta übersetzt tardemah mit ekstasis (Ekstase).
Im Pentateuch erscheint tardemah noch einmal in einem geheimnisvollen Zusammenhang; Abraham hat auf Befehl Gottes ein Tieropfer vorbereitet, von dem er die Raubvögel verscheuchte. »Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram eine Ohnmacht, große, unheimliche Angst überfiel ihn . . .« (Gen 15, 12). Da beginnt Gott zu sprechen und schließt mit ihm einen Bund, der den Höhepunkt der an Abram ergangenen Offenbarung darstellt. Diese Szene gleicht in gewisser Weise jener im Garten Getsemani: Jesus »ergriff Furcht und Angst. . .« (Mk 14, 33), und er fand die Jünger »schlafend, denn sie waren vor Kummer erschöpft« (Lk 22, 45).
Der biblische Verfasser gibt dem ersten Menschen ein gewisses Gefühl der Entbehrung und Einsamkeit (»es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei«; »eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht«), wenn nicht der Angst. Vielleicht ruft dieser Zustand »einen vom Kummer verursachten Schlaf« hervor oder, wie bei Abraham, einen Schlaf, verursacht »von einer unheimlichen Angst« vor dem Nicht-Sein; ähnlich wie an der Schwelle der Schöpfung: »Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut« (Gen 1,2).
In beiden Texten, wo der Pentateuch oder vielmehr das Buch Genesis vom Tiefschlaf (tardemah) spricht, findet jedenfalls eine besondere göttliche Handlung statt, nämlich ein »Bund«, der für die ganze Heilsgeschichte Folgen hat: mit Adam beginnt das Menschengeschlecht, mit Abraham das auserwählte Volk.</ref> Im Licht des Zusammenhangs von Gen 2, 18-20 besteht jedenfalls kein Zweifel, dass der Mensch in jene »Ohnmacht« mit dem Wunsch versinkt, ein ihm ähnliches Wesen zu finden. Wenn wir hier aufgrund der sachlichen Ähnlichkeit zum Schlaf auch von einem Traum sprechen können, müssen wir sagen, dass jener biblische Urtyp uns erlaubt, als Inhalt jenes Traumes ein »zweites Ich« anzunehmen; dieses hat ebenso personalen Charakter und ist in gleicher Weise auf die ursprüngliche Einsamkeit bezogen, das heißt auf den ganzen Prozess des Werdens der menschlichen Identität gegenüber allen anderen Lebewesen; es ist dies ein Prozess der »Differenzierung« des Menschen von seiner Umwelt. So bricht der Kreis der einsamen menschlichen Person auf, weil der erste Mensch aus seinem Schlaf als Mann und Frau erwacht.
4. Die Frau wird »aus der Rippe« geformt, die GottJahwe aus dem Mann genommen hatte. Wenn wir die altertümliche und bildhafte Ausdrucksweise berücksichtigen, können wir feststellen, dass es sich hier um die volle Wesensgleichheit der beiden handelt; diese Gleichheit bezieht sich vor allem auf den Körper, auf die Struktur ihres Leibes, und wird auch von den ersten Worten des Mannes an die eben erschaffene Frau bestätigt: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (Gen 2,23).<ref>Interessant mag der Hinweis sein, dass bei den alten Sumerern das Schriftzeichen für das Wort »Rippe« mit jenem identisch war, das für »Leben« verwendet wurde. Was den jahwistischen Bericht angeht, so bedeckt Gott nach einer bestimmten Auslegung von Gen 2, 21 die Rippe wieder mit Fleisch (statt ihre Stelle wieder mit Fleisch zu verschließen) und »formt« auf diese Weise die Frau, die dem »Fleisch und Gebein« des ersten Menschen (des Mannes) entspringt.
In der Sprache der Bibel ist das eine Definition der Blutsverwandtschaft bzw. der Zugehörigkeit zur selben Abstammung (vgl. z. B. Gen 29, 14): die Frau gehört zur selben Gattung Mensch, indem sie sich von den übrigen vorher geschaffenen Lebewesen unterscheidet.
In der biblischen Anthropologie bringt »Gebein« eine wichtige Komponente des Körpers zum Ausdruck; da es bei den Juden keine genaue Unterscheidung zwischen »Körper« und »Seele« gab (der Körper wurde als äußeres Zeichen der Persönlichkeit angesehen), bezeichneten die »Gebeine« im Sprachgebrauch einfach das menschliche Wesen oder Sein (vgl. z.B. PS 139, 15: »Meine Glieder waren dir nicht verborgen«). Man kann daher »Gebein von meinem Gebein« in relationalem Sinn als »Sein von meinem Sein« verstehen; »Fleisch von meinem Fleisch« heißt, dass die Frau, auch wenn sie andere körperliche Merkmale hat, dieselbe Persönlichkeit besitzt wie der Mann. Im »Hochzeitsgesang« des ersten Menschen ist der Ausdruck »Gebein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch« ein Superlativ, der zudem noch von der dreimaligen Wiederholung unterstrichen wird.</ref> Diese Worte gelten ebenso für die menschliche Natur des Mannes. Sie müssen auch im Rahmen der Aussagen gelesen werden, die vor der Erschaffung der Frau gemacht wurden und in denen sie, noch ehe die »Fleischwerdung« des Mannes abgeschlossen ist, als »Hilfe, die ihm entspricht«, bezeichnet wird (vgl. Gen 2, 18 und 2, 20).<ref>Eine genaue Übersetzung des hebräischen Ausdrucks ezer kenegd6 ist schwierig; in den europäischen Sprachen wird er sehr verschieden übersetzt, z. B. auf lateinisch: »adiutorium ei conveniens sicut oportebat iuxta eum«; deutsch: »eine Hilfe . . ., die ihm entspricht«; französisch: »egal vis-à-vis de lui«; italienisch: »un aiuto che gli sia simile«; spanisch: »como él que le ayude«; englisch: »a helper fit for him«; polnisch: »odopowicdnia alla niego pomoc.«
Während das Wort »Hilfe« den Gedanken der »Komplementarität« oder besser der »genauen Entsprechung« nahezulegen scheint, verbinden sich die Wörter »simile«, »egal« eher mit dem Wort »Ähnlichkeit«, aber in anderem Sinn als dem der Ähnlichkeit des Menschen mit Gott.</ref> So wird also die Frau gewissermaßen mit der gleichen menschlichen Natur geschaffen. Die Gleichheit des Leibes ist trotz der durch den Geschlechtsunterschied bedingten Verschiedenartigkeit so offensichtlich, dass der Mann, der aus dem schöpferischen Schlaf erwacht, diese sogleich zum Ausdruck bringt, indem er sagt: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch! Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen« (Gen 2, 23). So bekundet der Mann zum ersten Mal überschwengliche Freude, zu der er bisher keinen Grund hatte, weil ihm ein ihm gleiches Wesen fehlte. Die Freude über das andere menschliche Wesen, das zweite »Ich«, beherrscht die Worte, die der Mann beim Anblick der Frau ausspricht. Alles das hilft, die volle Bedeutung der grundlegenden Einheit zu verstehen. Es sind nur wenige Worte, aber jedes hat großes Gewicht. Wir müssen also die Tatsache berücksichtigen - und wir werden es auch später tun -, dass jene erste Frau, »geformt aus der Rippe, die vom Mann genommen wurde«, sogleich als eine ihm entsprechende Hilfe angesehen wird.
Auf dieses Thema, nämlich den Sinn der grundlegenden Einheit von Mann und Frau in ihrer menschlichen Natur, werden wir nächste Woche wieder zurückkommen.
In der Einheit Ebenbild Gottes (1) 14. 11. 1979, OR 79/47
1. Der Erzählung im Buch Genesis folgend, haben wir festgestellt, dass die »Endschöpfung« des Menschen in der Erschaffung der Einheit zweier Wesen besteht. Ihre Einheit bezeichnet vor allem die Identität der menschlichen Natur; die Zweiheit hingegen bringt das zum Ausdruck, was auf der Basis dieser Identität die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit des erschaffenen Menschen ausmacht. Diese ontologische Dimension der Einheit und der Zweiheit hat zugleich eine axiologische Bedeutung. Aus Genesis 2, 23 und aus dem ganzen Zusammenhang geht klar hervor, dass der Mensch vor Gott einen besonderen Wert hat (»Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war«, Gen 1, 31), dass er aber auch vor sich selbst besonders wertvoll ist: erstens, weil er Mensch ist; zweitens, weil die Frau für den Mann und, umgekehrt, der Mann für die Frau da ist. Während das erste Kapitel der Genesis diesen Wert in rein theologischer und indirekter metaphysischer Form zum Ausdruck bringt, enthüllt das zweite Kapitel sozusagen den ersten Kreis menschlicher Werterfahrung. Diese Erfahrung ist bereits im Sinn der ursprünglichen Einsamkeit und dann im ganzen Bericht von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau enthalten. Der knappe Text von Gen 2, 23, der die Worte des ersten Menschen angesichts der erschaffenen »aus ihm genommenen« Frau umfaßt, kann als biblischer Prototyp des Hohenliedes angesehen werden. Und wenn es möglich ist, Eindrücke und Gefühlsregungen aus so weit zurückliegenden Worten herauszulesen, könnte man es auch wagen zu sagen, dass die Tiefe und Kraft dieser ersten, »ursprünglichen« Gemütsbewegung des Mannes als Mensch angesichts der Frau als Mensch und zugleich angesichts der Weiblichkeit dieses anderen menschlichen Wesens als etwas Einmaliges und Unwiederholbares erscheint.
2. So kommt die Bedeutung der ursprünglichen Einheit des Menschen gerade in der Männlichkeit und Weiblichkeit als Überwindung der Einsamkeit zum Ausdruck und äußert sich zugleich als Bestätigung all dessen, was in der Einsamkeit den Menschen ausmacht. In dem biblischen Bericht ist die Einsamkeit der Weg, der zu jener Einheit führt, die wir, dem Zweiten Vatikanum entsprechend, als Communio personarum, als »personale Gemeinschaft«, bezeichnen können.<ref>»Aber Gott hat den Menschen nicht allein geschaffen: denn von Anfang an hat er ihn >als Mann und Frau geschaffen< (Gen 1, 27); ihre Verbindung schafft die erste Form personaler Gemeinschaft« (Gaudium et spes, Nr. 12).</ref> Wie wir bereits bei einer früheren Betrachtung festgestellt haben, erwirbt der Mensch in seiner ursprünglichen Einsamkeit ein persönliches Bewusstsein, indem er lernt, sich von allen anderen Lebewesen zu unterscheiden und sich zugleich in dieser Einsamkeit einem ihm ähnlichen Wesen zu öffnen, das die Genesis (2, 18.20) als »Hilfe, die ihm entspricht«, bezeichnet. Dieses »Sich-Öffnen« bestimmt den Menschen als Person nicht weniger, ja wahrscheinlich noch mehr als das »Sich-Unterscheiden«. Die Einsamkeit der Menschen im jahwistischen Bericht stellt sich uns nicht nur als die erste Entdeckung der für die Person charakteristischen Transzendenz, sondern auch als Entdeckung einer entsprechenden Beziehung zur Person dar und somit als Öffnung und als Erwartung einer personalen Gemeinschaft. Man könnte hier auch den Ausdruck communitas verwenden, wenn er nicht zu allgemein wäre und nicht so unzählige Bedeutungen hätte. Communio besagt mit größerer Genauigkeit mehr, weil es genau auf jene »Hilfe« hinweist, die in gewissem Sinne eben aus der Tatsache der Existenz des Menschen als Person »neben« einer Person herstammt. In der biblischen Erzählung wird diese Tatsache eo ipso zur Existenz der Person »für« die Person, da sich der Mensch in seiner ursprünglichen Einsamkeit gewissermaßen bereits in dieser Beziehung befand. Das wird in negativem Sinn ja gerade von seiner Einsamkeit bestätigt. Zudem konnte sich die personale Gemeinschaft nur auf Grund einer »beiderseitigen Einsamkeit« des Mannes und der Frau herausbilden, das heißt als Begegnung in ihrer »Verschiedenheit« von der Welt aller übrigen Lebewesen (animalia), die beiden die Möglichkeit zu einem Dasein und zu einer Existenz in besonderer Gegenseitigkeit gab. Der Begriff der »Hilfe« bringt auch eine Gegenseitigkeit in der Existenz zum Ausdruck, wie sie kein anderes Lebewesen gewährleisten könnte. Unerläßlich für diese Gegenseitigkeit war alles, was wesentlich beider Einsamkeit begründete und daher auch die Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, das heißt die Subjektivität und das Bewusstsein vom Sinn des eigenen Körpers.
3. Der Bericht von der Erschaffung des Menschen im ersten Kapitel behauptet von Anfang an und direkt, dass der Mensch als Abbild Gottes, als Mann und Frau, geschaffen wurde. Der Bericht des zweiten Kapitels hingegen spricht nicht vom »Abbild Gottes«; aber er offenbart in der ihm eigenen Weise, dass die vollständige und endgültige Erschaffung des Menschen (der zuerst der Erfahrung der Ureinsamkeit ausgesetzt war) darin zum Ausdruck kommt, dass jene personale Gemeinschaft ins Leben gerufen wird, die Mann und Frau bilden. So steht der jahwistische Bericht mit dem Inhalt des ersten Berichtes im Einklang. Wenn wir umgekehrt auch aus der Erzählung des jahwistischen Textes den Begriff des »Abbildes Gottes« entnehmen, können wir folgern, dass der Mensch nicht nur durch sein Menschsein als solches, sondern auch durch die personale Gemeinschaft, die Mann und Frau von Anfang an bilden, zum »Abbild und Ebenbild« Gottes geworden ist. Aufgabe des Abbildes ist es, das Vorbild widerzuspiegeln, das eigene Urbild wiederzugeben. Der Mensch wird nicht so sehr im Augenblick seiner Einsamkeit als vielmehr im Augenblick der Gemeinschaft zum Abbild Gottes. Denn er ist »von Anfang an« nicht nur Abbild, in dem sich die Einsamkeit einer Person, die die Welt beherrscht, widerspiegelt, sondern auch und ganz wesentlich Abbild einer unergründlichen göttlichen Gemeinschaft von Personen.
Auf diese Weise könnte der zweite Bericht auch auf das Verständnis des trinitarischen Begriffes der »Gottebenbildlichkeit« vorbereiten, auch wenn diese nur im ersten Bericht aufscheint. Das ist natürlich auch für die Theologie des Leibes von Bedeutung und stellt vielleicht sogar den tiefsten theologischen Aspekt von allem dar, was sich über den Menschen sagen lässt. Im Geheimnis der Schöpfung - auf der Basis der wesenhaften »Ureinsamkeit« seines Daseins wurde der Mensch mit einer tiefen Einheit begabt: der Einheit, als Mann Mensch und Körper und als Frau Mensch und Körper zu sein. Auf das alles fiel von Anfang an der Segen der Fruchtbarkeit, verbunden mit der menschlichen Zeugung (vgl. Gen 1, 28).
4. So befinden wir uns gleichsam im innersten Kern anthropologischer Wirklichkeit, die da »Körper« heißt. Die Worte aus Genesis 2, 23 sprechen es unmittelbar und zum ersten Mal so aus: »Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«. Der Mann spricht diese Worte, als ob er sich nur angesichts einer Frau identifizieren könnte und er nur beim Namen nennen möchte, was sie in sichtbarer Weise einander ähnlich macht und was zugleich das ist, worin sich das Menschsein kundtut. Im Licht der vorangegangenen Analyse aller Lebewesen, mit denen der Mensch in Berührung gekommen ist und denen er Namen gegeben hat, gewinnt der Ausdruck »Fleisch von meinem Fleisch« folgende Bedeutung: der Körper offenbart den Menschen. Diese knappe Formel enthält bereits alles, was die menschliche Wissenschaft je über die Struktur des Körpers als Organismus, über seine Vitalität, über seine besondere Geschlechtsphysiologie usw. sagen kann. In dieser ersten Äußerung des Mannes, »Fleisch von meinem Fleisch«, ist auch ein Bezug auf das enthalten, wodurch jener Körper wahrhaft menschlich ist; auf das, was den Menschen als Person, als Wesen bestimmt, das auch in seiner gesamten Leiblichkeit Gott »ähnlich« ist.<ref>In den ältesten biblischen Büchern gibt es die dualistische Gegenüberstellung »Seele Leib« nicht. Wie bereits früher hervorgehoben (vgl. Anmerkung Nr. 1 zur Generalaudienz vom 31. Oktober), kann man vielmehr von einer ergänzenden Verbindung »Leib-Leben« sprechen. Der Leib ist Ausdruck der Persönlichkeit des Menschen, und wenn dieser Begriff nicht erschöpfend genug ist, muß man ihn in der Sprache der Bibel als pars pro toto (Teil für das Ganze) verstehen; vgl. z. B.: »denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16, 17), das heißt: nicht der Mensch hat dir das offenbart.</ref>
5. Wir befinden uns also gleichsam im Zentrum der anthropologischen Wirklichkeit, die »Körper«, menschlicher Körper, heißt. Doch ist leicht zu erkennen, dass dieser Kern nicht nur anthropologischen, sondern auch ganz wesentlich theologischen Charakter hat. Die Theologie des Leibes, die von Anfang an mit der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes verbunden ist, wird damit gewissermaßen auch zur Theologie der Geschlechtlichkeit oder besser, zur Theologie der Männlichkeit und der Weiblichkeit, die hier im Buch Genesis ihren Ausgangspunkt hat. Die ursprüngliche Bedeutung der durch Genesis z, 24 bezeugten Einheit sollte in der Offenbarung Gottes eine umfassende und weitreichende Auswirkung haben. Diese Einheit im Leib (»und die beiden werden ein Fleisch sein«) hat eine vielfältige Dimension: eine ethische Dimension, wie sie von der Antwort Christi an die Pharisäer in Mt 19 (Mk 10) bestätigt wird; und auch eine sakramentale, streng theologische Dimension, wie sie von den Worten des hl. Paulus an die Epheser<ref>»Keiner hat noch seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Deshalb wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die beiden werden ein Fleisch. Dies ist ein tiefes Geheimnis. Ich sage es im Hinblick auf Christus und die Kirche« (Eph 5, 29-32). Das wird Gegenstand unserer Betrachtungen im Kapitel über das Sakrament sein.</ref> dargelegt wird, die sich zugleich auf die prophetische Tradition beziehen (Hosea, Jesaja, Ezechiel). Und das deshalb, weil jene Einheit, die sich durch den Leib verwirklicht, von Anfang an nicht nur den Leib meint, sondern auch die »fleischgewordene« Gemeinschaft der Personen Communio personarum und diese Gemeinschaft von Anfang an verlangt. Männlichkeit und Weiblichkeit bringen den doppelten Aspekt der körperlichen Verfassung des Menschen zum Ausdruck (»Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«) und verweisen nach den gleichen Worten von Genesis 2, 23 außerdem auf das neue Bewusstsein vom Sinn des eigenen Leibes: einem Sinn, der, so könnte man sagen, in der gegenseitigen Bereicherung besteht. Dieses Bewusstsein, durch das die Menschheit sich aufs neue als Gemeinschaft von Personen erfährt, scheint jene Ebene zu bilden, die im Bericht von der Erschaffung des Menschen (und in der darin enthaltenen Offenbarung über den Leib) tiefer reicht als die körperliche Struktur des Menschen als Mann und Frau. Jedenfalls wird diese Struktur von Anfang an mit einem tiefen Bewusstsein für die menschliche Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit dargestellt, und das ergibt eine unveränderliche Richtschnur für das Verständnis des Menschen in der Theologie.
In der Einheit Ebenbild Gottes (2) 21. 11. 1979, OR 79/48
1. Erinnern wir uns, dass Christus, als man ihn über die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe befragte, sich auf das berief, was »am Anfang« war. Er zitierte die in den ersten Kapiteln der Genesis geschriebenen Worte. Laßt uns daher versuchen, im Lauf dieser Betrachtungen den eigentlichen Sinn dieser Worte und dieser Kapitel zu ergründen.
Die Bedeutung der ursprünglichen Einheit des Menschen, den Gott als »Mann und Frau« geschaffen hat, erhält man, wenn man (besonders im Licht von Gen 2. 23) den Menschen in seinem ganzen Wesen erkennt, also in dem ganzen Reichtum jenes Schöpfungsgeheimnisses, auf das die theologische Anthropologie sich stützt. Diese Erkenntnis, das heißt die Suche nach der menschlichen Identität dessen, der am Anfang »allein« ist, muß immer durch die Zweiheit, die »Vereinigung« hindurchgehen. Erinnern wir uns an den Abschnitt Gen 2, 23: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, vom Mann ist sie genommen.« Im Lichte dieses Textes begreifen wir, dass die Erkenntnis des Menschen von seiner Männlichkeit und seiner Weiblichkeit bestimmt wird. Sie sind wie zwei »Inkarnationen« derselben metaphysischen Einsamkeit gegenüber Gott und der Welt - zwei sich ergänzende Arten, Leib und Mensch zu sein, zwei sich ergänzende Dimensionen des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung und gleichzeitig zwei sich ergänzende Formen des Körperbewusstseins. So wie bereits Gen 2, 23 beweist, entdeckt die Frau in gewissem Sinne sich selbst angesichts des Mannes, während der Mann durch die Frau seine Bestätigung erfährt. Gerade die Funktion des Geschlechts, das ja in gewisser Hinsicht ein »konstitutiver Bestandteil der Person« (nicht nur ein »Attribut«) ist, macht deutlich, wie tief der Mensch mit seiner ganzen geistigen Einsamkeit, mit der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit seiner Person vom Körper als »er« bzw. »sie« geprägt wird. Das Vorhandensein des weiblichen Elementes neben und zusammen mit dem männlichen bedeutet eine Bereicherung für den Menschen in jeder Phase seiner Geschichte, einschließlich der Heilsgeschichte. Diese ganze Lehre über die Einheit hat bereits in Gen 2, 23 ihren ursprünglichen Ausdruck gefunden.
2. Die Einheit, von der Gen 2, 24 spricht (»sie werden ein Fleisch sein«), ist ohne Zweifel jene Einheit, die sich in der ehelichen Vereinigung vollzieht und in ihr Ausdruck findet. Die äußerst knappe und einfache biblische Formulierung weist das Geschlecht weiblich und männlich - als jenes charakteristische Merkmal des Menschen Mann und Frau aus, das ihnen ermöglicht, wenn sie »ein Fleisch werden«, zugleich ihr ganzes Menschsein dem Segen der Fruchtbarkeit unterzuordnen. Doch der Gesamtzusammenhang der lapidaren Formulierung gestattet uns nicht, die menschliche Geschlechtlichkeit oberflächlich zu betrachten, Körper und Geschlecht außerhalb der Gesamtdimension des Menschen und der »Gemeinschaft der Personen« zu behandeln, sondern er verpflichtet uns, von »Anfang« an die Fülle und Tiefe dieser Einheit hervorzuheben, die Mann und Frau im Lichte der Offenbarung des Leibes bilden sollen.
Es ist also vor allem die Voraussage: »Der Mann wird sich an seine Frau binden«, und zwar so eng, dass »die beiden ein Fleisch sein werden«, die uns immer veranlaßt, uns auf das zu beziehen, was der biblische Text unmittelbar vorher über die Einheit im Menschsein sagt, die Frau und Mann im Geheimnis der Schöpfung verbindet. Die Worte von Gen 2, 23, die wir bereits analysiert haben, erläutern diesen Begriff in besonderer Weise. Mann und Frau, die sich (im ehelichen Akt) so innig miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch werden«, entdecken sozusagen jedes Mal aufs neue und in besonderer Weise das Geheimnis der Schöpfung und kehren so zu jener Einheit im Menschsein (»Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch«) zurück, die ihnen ermöglicht, sich gegenseitig zu erkennen und wie beim ersten Mal beim Namen zu nennen. Das bedeutet in gewissem Sinne, den ursprünglichen personalen Wert des Menschen wieder zu beleben, der sich aus dem Geheimnis seiner Einsamkeit gegenüber Gott und inmitten der Welt ergibt. Die Tatsache, dass sie »ein Fleisch« werden, ist ein vom Schöpfer festgelegtes mächtiges Band, durch welches sie ihr eigenes Menschsein sowohl in seiner ursprünglichen Einheit wie auch in der Zweiheit einer geheimnisvollen wechselseitigen Anziehungskraft entdecken. Das Geschlecht ist jedoch mehr als die geheimnisvolle Kraft der menschlichen Leibhaftigkeit, die gleichsam instinktmäßig handelt. Auf der Ebene des Menschen und in der wechselseitigen Beziehung der Personen ist das Geschlecht Ausdruck einer immer neuen Überwindung der Grenze der Einsamkeit des Menschen, die seiner körperlichen Verfassung innewohnt und seine ursprüngliche Bedeutung ausmacht. Diese verlangt immer, die Einsamkeit des Leibes des anderen »Ich« sowie die des eigenen »Ich« anzunehmen.
3. Sie ist daher an eine Entscheidung gebunden. Die Formulierung von Gen 2, 24 selber weist nicht nur darauf hin, dass die als Mann und Frau geschaffenen Menschen für die Einheit geschaffen sind, sondern auch darauf, dass eben diese Einheit, durch welche sie »ein Fleisch« werden, von Anfang an den Charakter einer Verbindung hat, die auf einer Entscheidung gründet. So lesen wir: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau.« Wenn der Mensch »der Natur« nach, aufgrund der Zeugung, Vater und Mutter angehört, so »bindet er sich« durch seine Entscheidung an die Frau (bzw. die Frau an den Mann). Der Text von Gen 2, 24 definiert diesen Charakter des Ehebundes in Bezug auf den ersten Mann und die erste Frau, zugleich aber auch im Hinblick auf die gesamte irdische Zukunft des Menschen. Deshalb wird Christus sich zu seiner Zeit auf jenen Text berufen, der für seine Zeit eben die gleiche Aktualität besaß. Nach dem Abbild Gottes geschaffen, sollen der erste Mann und die erste Frau, auch insofern sie eine echte Personengemeinschaft bilden, Anfang und Beispiel für alle Männer und Frauen darstellen, die sich - wann auch immer - so innig miteinander vereinen werden, dass sie »ein Fleisch« sind. Der Körper, der durch die Tatsache seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit von Anfang an beiden hilft (»eine Hilfe, die ihm entspricht«), einander in personenhafter Gemeinschaft zu begegnen, wird in besonderer Weise zum konstitutiven Element ihrer Verbindung, wenn sie Mann und Frau werden. Das aber erfolgt nach gegenseitigem Einverständnis. Dieses Einverständnis begründet den Ehebund zwischen zwei Personen,<ref>»Die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt, wird durch den Ehebund, d. h. durch ein unwiderrufliches personales Einverständnis, gestiftet« (Gaudium et spes, Nr. 48).</ref> die nur aufgrund dieser Entscheidung »ein Fleisch« werden.
4. Dies entspricht der Struktur der Einsamkeit des Menschen, konkret der zweifachen Einsamkeit. Die Wahl, die Entscheidung als Ausdruck der Selbstbestimmung stützt sich auf jene Struktur, das heißt auf das Selbstbewusstsein. Nur aufgrund der ihm eigenen Struktur ist der Mensch »Körper« und durch den Körper auch Mann und Frau. Wenn beide sich so innig miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch« werden, setzt diese eheliche Verbindung ein reifes Körperbewusstsein voraus. Ja, sie bringt ein besonderes Bewusstsein der Bedeutung des je eigenen Körpers beim persönlichen Sich-Schenken mit sich. Auch in diesem Sinne ist Gen 2, 24 ein weit vorausblickender Text. Denn er zeigt auf, dass in jeder ehelichen Vereinigung von Mann und Frau aufs neue eben dieses ursprüngliche Bewusstsein der verbindenden Bedeutung des Körpers in seiner männlichen und weiblichen Ausprägung entdeckt wird. Damit zeigt der biblische Text gleichzeitig an, dass sich bei jeder solchen Vereinigung gewissermaßen das Schöpfungsgeheimnis in seiner ganzen ursprünglichen Tiefe und Lebenskraft erneuert. »Genommen vom Mann« als »Fleisch von seinem Fleisch«, wird die Frau dann als »Ehefrau« und durch ihre Mutterschaft zur »Mutter der Lebendigen« (Gen 3, 20), denn ihre Mutterschaft hat auch im Mann ihren eigentlichen Ursprung. Die Zeugung des Lebens wurzelt in der Erschaffung und erneuert in einem bestimmten Sinn jedes Mal das Schöpfungsgeheimnis.
r. Diesem Thema soll eine eigene Betrachtung gewidmet werden: »Erkenntnis und Zeugung«. Dabei werden wir noch auf andere Elemente des biblischen Textes eingehen müssen. Die bisher durchgeführte Analyse der Bedeutung der ursprünglichen Einheit macht deutlich, wie »von Anfang an« jene Einheit von Mann und Frau, die dem Geheimnis der Schöpfung innewohnt, auch als Verpflichtung für alle kommenden Zeiten gilt.
»Aber sie schämten sich nicht voreinander« 12. 12. 1979, OR 79/51-52
1. Man kann sagen, dass uns die Analyse der ersten Kapitel der Genesis in gewissem Sinne nötigt, die grundlegenden Elemente der ursprünglichen Erfahrung des Menschen herauszuarbeiten. In diesem Sinne stellt der jahwistische Text aufgrund seiner Besonderheit eine Quelle von eigener Art dar. Wenn wir von den ursprünglichen menschlichen Erfahrungen sprechen, denken wir nicht so sehr an die lange Zeit, die sie zurückliegen, als vielmehr an ihre grundlegende Bedeutung. Das Bedeutsame ist also nicht, dass diese Erfahrungen der Vorgeschichte des Menschen angehören (seiner »theologischen Vorgeschichte«), sondern dass sie an der Wurzel jeder menschlichen Erfahrung zu finden sind. Dies ist tatsächlich der Fall, auch wenn man solchen wesentlichen Erfahrungen bei der Entfaltung der gewöhnlichen menschlichen Existenz nicht viel Beachtung schenkt. Sie sind nämlich derart mit den gewöhnlichen Dingen des Lebens verflochten, dass wir das Besondere an ihnen im allgemeinen gar nicht wahrnehmen. Aufgrund der bisher vorgenommenen Analysen konnten wir uns bereits darüber klarwerden, dass das, was wir zu Beginn als »Offenbarung des Leibes« bezeichnet haben, uns irgendwie helfen kann, das Außerordentliche im Gewöhnlichen zu entdecken. Das ist deshalb möglich, weil die Offenbarung (jene ursprüngliche Offenbarung, die zunächst im jahwistischen Bericht, Gen 2-3, und dann in Gen 1 sich findet) gerade derartige Ursprungserfahrungen in Betracht zieht, in denen fast vollkommen die absolute Ursprünglichkeit dessen sichtbar wird, was das Wesen des Menschen als Mann und Frau ist: das heißt, weil er auch dem Körper gemäß Mensch ist. Die Erfahrung des Körpers, die der Mensch macht und die wir in den genannten Bibeltexten entdecken, liegt gewiß der gesamten folgenden »historischen« Erfahrung zugrunde. Sie scheint jedoch auch auf einer solchen ontologischen Tiefe zu beruhen, dass der Mensch sie in seinem täglichen Leben nicht wahrnimmt, auch wenn er sie gleichzeitig irgendwie voraussetzt und sie als Teil der Formung seines eigenen Bildes fordert.
2. Ohne eine solche einleitende Überlegung ließe sich die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit nicht genau bestimmen, und es wäre nicht möglich, eine gute Analyse von Gen 2, 25 vorzunehmen, wo es heißt: »Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Auf den ersten Blick mag die Einführung dieser scheinbar nebensächlichen Einzelheit im jahwistischen Schöpfungsbericht als etwas unpassend und verwirrend erscheinen. Man möchte glauben, der zitierte Abschnitt vermöge nicht den Vergleich mit dem auszuhalten, wovon die vorhergehenden Verse handeln und was in gewissem Sinne den Zusammenhang übersteigt. Doch ein solches Urteil hält einer vertieften Analyse nicht stand. Tatsächlich stellt nämlich Gen 2, 25 eines der Schlüsselelemente der ursprünglichen Offenbarung dar, das ebenso bedeutsam ist wie die anderen Texte der Genesis (2, 20 und 2, 23), die uns bereits eine genauere Bestimmung der Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit und der ursprünglichen Einheit des Menschen ermöglicht haben. Zu ihnen tritt als drittes Element die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit hinzu, die in dem Textzusammenhang klar hervortritt; das aber ist in dem ersten Entwurf einer Anthropologie in der Bibel durchaus nichts Zufälliges. Im Gegenteil, es ist der Schlüssel zu seinem vollen und ganzen Verständnis.
3. Es ist einleuchtend, dass gerade dieses Element des alten Bibeltextes zur Theologie des Leibes einen besonderen Beitrag bietet, auf den wir absolut nicht verzichten können. Das werden unsere weiteren Analysen bestätigen. Aber ehe ich sie vornehme, erlaube ich mir noch die Bemerkung, dass gerade der Text von Gen 2,25 ausdrücklich eine Verbindung zwischen den Überlegungen zur Theologie des Leibes und der Dimension der persönlichen Subjektivität des Menschen fordert; das Bewusstsein von der Bedeutung des Leibes entwickelt sich tatsächlich in diesem Zusammenhang. Gen 2, 25 spricht davon auf eine viel direktere Art als andere Abschnitte desselben jahwistischen Textes, die wir bereits als eine erste Schilderung des menschlichen Bewusstseins bezeichnet haben. Der Satz, nach dem die ersten menschlichen Wesen, Mann und Frau, »nackt waren«, sich jedoch »nicht voreinander schämten«, beschreibt zweifellos ihren Bewusstseinszustand, ja ihre gegenseitige Körpererfahrung, das heißt seitens des Mannes die Erfahrung der Weiblichkeit, die sich in der Nacktheit des Körpers enthüllt, und umgekehrt von Seiten der Frau die analoge Erfahrung der Männlichkeit. Mit der Feststellung, dass sie »sich voreinander nicht schämten«, versucht der Verfasser diese gegenseitige Erfahrung des Körpers mit der größten ihm möglichen Genauigkeit zu beschreiben. Man kann sagen, dass diese Art von Genauigkeit eine Grunderfahrung des Menschen im alltäglichen, vorwissenschaftlichen Sinn widerspiegelt, aber sie entspricht auch den Forderungen der Anthropologie und besonders der modernen Anthropologie, die gerne auf sogenannte Grunderfahrungen, wie die Erfahrung des Schamgefühls, zurückgreift.<ref>Vgl. z. B.: Max Scheler, Über Scham und Schamgefühl, Halle, 1914; Fr. Sawicki, Fenomenologia wstydliwosci (Phänomenologie der Scham), Krakau, 1949; und auch K. Wojtyla, Milosc i odpowiedzialnosc, Krakau, 1962, S. 165-185 (deutsche Ausgabe: Liebe und Verantwortung, München 1979, S. 150-167).</ref>
4. Wenn wir hier auf die Genauigkeit der Schilderung anspielen, die dem Verfasser des jahwistischen Textes möglich war, sehen wir uns veranlaßt, die Erfahrungsstufen des tatsächlichen, mit der Erbsünde belasteten Menschen zu betrachten, die jedoch methodisch eben vom Zustand der ursprünglichen Unschuld ausgehen. Wir haben bereits früher festgestellt, dass Christus mit seiner Bezugnahme auf den »Anfang« (den wir hier unseren wiederholten Textanalysen zugrundegelegt haben) indirekt den Gedanken der Kontinuität und der Verbindung zwischen jenen beiden Zuständen betont, womit er uns gestattet, von der Schwelle der tatsächlichen Sündhaftigkeit des Menschen bis zu seiner ursprünglichen Unschuld vorzustoßen. Gen z, 25 fordert geradezu eine Überschreitung jener Schwelle. Es ist leicht erkennbar, dass sich dieser Vers mit seiner Sinngebung der ursprünglichen Nacktheit in den Gesamtzusammenhang der jahwistischen Erzählung einfügt. Schreibt doch einige Verse später derselbe Verfasser: »Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz« (Gen 3, 7). Das Wort »da« weist auf eine neue Situation hin, die auf den Bruch des ersten Bundes folgte; es ist eine Situation, die sich daraus ergibt, dass die Prüfung vor dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht bestanden wurde; sie war zugleich die erste Prüfung des Gehorsams, das heißt des vollen Hinhörens auf das Wort Gottes und des Eingehens auf seine Liebe als volle Erfüllung seines schöpferischen Willens. Diese neue Situation bringt auch eine neue Körpererfahrung mit sich, so dass man nun nicht mehr sagen kann: »Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Die Scham ist also hier nicht nur eine Erfahrung des ursprünglichen Zustandes, sondern eine »Grenzerfahrung«.
5. Der Unterschied der Formulierungen in Gen 2, 25 und 3, 7 ist daher bedeutsam. Im ersten Fall »waren sie nackt, schämten sich aber nicht voreinander«; im zweiten Fall »erkannten sie, dass sie nackt waren«. Soll damit etwa gesagt werden, sie hätten zunächst »nicht erkannt, dass sie nackt waren«? Dass sie beiderseits die Nacktheit ihrer Körper nicht kannten und nicht sahen? Die bedeutsame Veränderung, die hier vom biblischen Text in Bezug auf das Schamgefühl (von der die Genesis noch an anderer Stelle, besonders 3, 10-12, spricht) bezeugt wird, erfolgt auf einer Ebene, die tiefer liegt als die des bloßen Sehens. Der Vergleich zwischen Gen 2, 25 und Gen 3 zwingt zu dem Schluss, dass es hier nicht um den Übergang vom »Nicht-Erkennen« zum »Erkennen« geht, sondern um einen totalen Bedeutungswandel der ursprünglichen Nacktheit der Frau gegenüber dem Mann und des Mannes gegenüber der Frau. Dieser ergibt sich aus ihrem Wissen, das dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse entsprang: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?« (Gen 3, 11). Dieser Wandel zieht unmittelbar eine neue Erfahrung des eigenen Körpers gegenüber dem Schöpfer und den anderen Geschöpfen nach sich. Das wird im folgenden von den Worten des Mannes bestätigt: »Ich habe dich im Garten kommen hören; da bekam ich Angst, weil ich nackt bin, und ich habe mich versteckt« (Gen 3, 10). Vor allem aber betrifft dieser Wandel, den der jahwistische Text so eindringlich und dramatisch beschreibt, direkt, ja vielleicht so direkt wie möglich, die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen.
6. Diesen Wandel werden wir in unseren weiteren Darlegungen noch eingehender erklären müssen. Nun, da wir an der Grenze angelangt sind, wo der Bereich des »Anfangs«, auf welchen sich Christus bezieht, überschritten wird, müßten wir uns fragen, ob es irgendwie möglich wäre, die ursprüngliche Bedeutung der Nacktheit wiederzufinden, die im Buch Genesis den unmittelbaren Rahmen der Lehre von der Einheit des menschlichen Wesens als Mann und Frau bildet. Das scheint möglich, wenn wir als Bezugspunkt die Erfahrung des Schamgefühls nehmen, die in dem alten biblischen Text klar als »Grenzerfahrung« dargestellt wird.
Einen Versuch zu einer solchen Wiederfindung wollen wir in unseren nächsten Betrachtungen unternehmen.
Verlust der ursprünglichen Fülle 19. 12. 1979, OR 80/1
1. Was ist die Scham, und wie lässt sich ihr Fehlen im Zustand der ursprünglichen Schuldlosigkeit, in der ganzen Tiefe des Geheimnisses von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau erklären? Aus den heutigen Analysen der Scham - und im besonderen des sexuellen Schamgefühls - ergibt sich, wie komplex diese Grunderfahrung ist, in welcher sich der Mensch gemäß der ihm eigenen Wesensstruktur als Person ausdrückt. Im Erlebnis der Scham erfährt der Mensch die Scheu gegenüber dem anderen Ich (so zum Beispiel die Frau gegenüber dem Mann), und sie ist wesentlich Furcht für das eigene Ich. Mit der Scham bekundet der Mensch gleichsam instinktiv die Notwendigkeit der Bestätigung und Annahme dieses Ichs entsprechend seinem wahren Wert. Das erfährt er zugleich sowohl in sich selber als auch nach außen hin gegenüber dem anderen. Man kann also sagen, dass die Scham auch in dem Sinn eine komplexe Erfahrung ist, dass sie zwar einen Menschen gewissermaßen vom anderen (die Frau vom Mann) fernhält, zugleich aber ihre persönliche Annäherung sucht und dafür eine geeignete Grundlage schafft.
Aus demselben Grund kommt ihr bei der Ausbildung des Ethos im menschlichen Zusammenleben, besonders im Verhältnis von Mann und Frau eine fundamentale Bedeutung zu. Die Analyse der Scham macht deutlich, wie tief sie gerade in den gegenseitigen Beziehungen verwurzelt ist, wie klar sie die für eine Gemeinschaft von Personen wesentlichen Normen zum Ausdruck bringt und wie tief sie zugleich mit der Dimension der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen verbunden ist. Das Auftreten der Scham in der biblischen Erzählung von Gen 3 hat eine mehrfache Bedeutung, und wir wollen gelegentlich darauf zurückkommen.
Was bedeutet jedoch ihr ursprüngliches Fehlen in Gen 2, 25: »Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander«?
2. Vor allem ist festzustellen, dass die Scham wirklich nicht vorhanden war und nicht etwa fehlte oder sich noch nicht voll entwickelt hatte. Wir können hier in keiner Weise eine primitive Auffassung von Scham annehmen. Der Text von Gen 2, 25 schließt also nicht nur ganz entschieden die Möglichkeit aus, an einen Mangel an Scham bzw. an Schamlosigkeit zu denken, sondern mehr noch, dass man sie in Analogie zu anderen positiven menschlichen Erfahrungen erklärt, wie z. B. denen des Kindesalters oder im Leben der sogenannten primitiven Völker. Solche Analogien sind nicht nur unzureichend, sie können geradezu irreführend sein. Die Worte von Gen 2,25: »Sie schämten sich nicht«, drücken nicht einen Mangel aus, sie weisen vielmehr auf eine besondere Fülle an Bewusstsein und Erfahrung hin, vor allem auf das volle Verständnis für die Bedeutung des Körpers, das eng mit der Tatsache ihrer Nacktheit verbunden war. Dass der angeführte Text so zu verstehen und zu interpretieren ist, beweist die Fortsetzung des jahwistischen Berichts, in dem das Auftreten der Scham und besonders des sexuellen Schamgefühls mit dem Verlust jener ursprünglichen Fülle verbunden wird. Wenn wir also die Erfahrung der Scham als Grenzerfahrung voraussetzen, müssen wir uns fragen, welcher Bewusstseinsund Erfahrungsfülle und besonders welcher Fülle an Verständnis für die Bedeutung des Körpers die ursprüngliche Nacktheit entspricht, von der in Gen 2, 25 die Rede ist.
3. Zur Antwort auf diese Frage müssen wir die bisher vorgenommene Analyse bedenken, die sich auf den ganzen jahwistischen Text stützt. In diesem Zusammenhang stellt sich die ursprüngliche Einsamkeit des Menschen als Nicht-Identifizierung des Menschseins mit der Welt der übrigen Lebewesen (animalia), dar. Infolge der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau weicht diese Nicht-Identifizierung der beglükkenden Entdeckung des eigenen Menschseins mit Hilfe des anderen menschlichen Wesens; so erkennt und findet der Mensch sein Menschsein mit Hilfe der Frau (Gen 2, 25). Dieser Vorgang führt zugleich zu einer Welterfahrung, die unmittelbar durch den Körper gewonnen wird (»Fleisch von meinem Fleisch«). Er ist die unmittelbare und sichtbare Quelle der Erfahrung ihrer Einheit im Menschsein. Man versteht also unschwer, dass die Nacktheit jener Bewusstseinsfülle von der Bedeutung des Körpers entspricht, die gerade aus der Sinneserfahrung herrührt. Man kann an diese Fülle in den Kategorien des Seins oder der Wirklichkeit denken, und man kann sagen: Mann und Frau waren ursprünglich einander geschenkt aufgrund der Tatsache, dass sie »nackt« waren. Bei der Analyse des Sinnes der ursprünglichen Nacktheit darf man diese Dimension keineswegs übersehen. Diese Beteiligung an der Wahrnehmung der Welt in ihrem äußeren Aspekt ist etwas Unmittelbares und gleichsam Spontanes, das noch vor jeder kritischen Komplizierung der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung liegt; es ist aber eng verbunden mit der Erfahrung der Bedeutung des menschlichen Körpers. Schon so könnte man die ursprüngliche Unschuld der Erkenntnis erfassen.
4. Man kann jedoch die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit nicht bestimmen, wenn man lediglich die Beteiligung des Menschen an der äußeren Wahrnehmung der Welt ins Auge faßt; man kann sie nicht bestimmen, wenn man nicht ins Innere des Menschen vordringt. Gen 2, 25 führt uns gerade in diesen Bereich ein und will, dass wir hier die ursprüngliche Unschuld des Erkennens suchen. Wir müssen in der Tat aus der menschlichen Innerlichkeit heraus jene besondere Fülle der Kommunikation zwischen Personen erklären und bemessen, dank welcher Mann und Frau »nackt waren, aber sich nicht voreinander schämten«. Der Begriff »Kommunikation« hat in unserem herkömmlichen Sprachgebrauch seine tiefste, ursprünglichste Wortbedeutung fast verloren. Das Wort wird heute vor allem mit dem Bereich der Medien verbunden, das heißt größtenteils mit den Einrichtungen, die der Verständigung, dem Austausch und der Annäherung dienen. Man darf jedoch vermuten, dass Kommunikation in ihrer ursprünglichen und tiefsten Bedeutung unmittelbar mit Personen zu tun hatte und hat, die gerade aufgrund ihrer Verbundenheit sich einander mitteilen, um eine Wirklichkeit zu erfassen und auszudrücken, die nur in den besonderen Bereich der Personen gehört. Auf diese Weise erhält der menschliche Körper eine völlig neue Bedeutung, die nicht auf die Ebene der bleibenden äußeren Wahrnehmung der Welt verwiesen werden kann. Er ist Ausdruck der Person in ihrer seinsmäßigen und existentiellen Konkretheit, die mehr ist als das Individuum und daher Ausdruck des menschlich-personalen Ichs, das von innen her seine äußere Wahrnehmung der Welt begründet.
5. Die gesamte biblische Erzählung und vor allem der jahwistische Text zeigt, dass der Körper durch seine Sichtbarkeit den Menschen offenbart und so zum Vermittler dafür wird, dass Mann und Frau von Anfang an sich einander mitteilen aufgrund jener Gemeinschaft der Personen, die der Schöpfer gerade für sie gewollt hat. Nur diese Dimension erlaubt uns wohl, die Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit richtig zu verstehen. Daher ist jede naturalistische Deutung zum Scheitern verurteilt, während die personalistische Deutung uns eine große Hilfe sein kann. Gen 2, 25 spricht ganz klar von etwas Außerordentlichem; es reicht weit über alles hinaus, was uns die menschliche Erfahrung über die Scham zu sagen weiß. Es entscheidet zugleich über die besondere Fülle der zwischenpersönlichen Kommunikation, die im Herzen jener Gemeinschaft gründet, welche sich so offenbart und entfaltet. Dann können die Worte »sie schämten sich nicht« auch eine ursprüngliche Tiefe beinhalten, wenn sie nämlich das aussagen, was der Person zugehört, was sichtbar weiblich und männlich ist, und die persönliche Intimität der gegenseitigen Mitteilung in ihrer ganzen tiefen Schlichtheit und Reinheit möglich macht. Dieser Fülle der äußeren Wahrnehmung, die durch die körperliche Nacktheit zum Ausdruck kommt, entspricht die innere Fülle des Menschen, wie Gott ihn sieht,<ref>Nach den Worten der Heiligen Schrift durchdringt Gott das Geschöpf, das vor ihm völlig »nackt« ist: »Kein Geschöpf bleibt verborgen vor ihm, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden« (Hebr 4, 13). Dieses Kennzeichen gehört im besonderen zur göttlichen Weisheit: »Denn die Weisheit . . . durchdringt und erfüllt in ihrer Reinheit alles« (Weish 7, 24).</ref> nämlich als »Bild Gottes« (vgl. Gen 1, 17). Nach diesem Bild ist der Mensch wirklich nackt (»sie waren nackt«, Gen z, 25), noch ehe er sich dessen bewusst wurde (vgl. Gen 3,7-10).
Wir werden die Analyse dieses so wichtigen Textes in den nächsten Betrachtungen noch weiterführen müssen.
Die »bräutliche« Gemeinschaft als Geschenk des Schöpfers 2. 1. 1980, OR 80/2
1. Kommen wir nochmals zurück auf die Auslegung des Buches Genesis (2, 25), mit der wir vor einigen Wochen begonnen haben.
Nach diesem Abschnitt sehen sich Mann und Frau gleichsam im Geheimnis der Schöpfung. Sie sehen sich so, noch bevor sie erkennen, dass sie nackt sind. Dieses gegenseitige Sich-Sehen ist nicht nur eine Teilnahme am äußeren Erfassen der Welt, sondern auch eine innere Teilhabe an der Schau des Schöpfers selbst. An jener Schau, von der der Bericht des ersten Kapitels mehrmals spricht: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Die Nacktheit bezeichnet das ursprüngliche Gut der Anschauung Gottes. Sie bedeutet die ganze Einfachheit und Fülle jener Anschauung, durch die sich der reine Wert des Menschen als Mann und Frau kundtut, der reine Wert des Körpers und der Geschlechtlichkeit. Die in so deutlicher und zugleich einprägsamer Weise angedeutete Situation der ursprünglichen Offenbarung des Körpers, wie sie insbesondere aus Gen 2, 25 hervorgeht, weist keinen inneren Bruch und keine Gegensätzlichkeit zwischen Spirituellem und Sinnlichem auf. Ebensowenig kennt sie Bruch und Gegensätzlichkeit zwischen dem, was vom Menschen her die Person ausmacht, und dem, was im Menschen vom Geschlecht her bestimmt ist: nämlich Mann und Frau zu sein.
Indem sie sich gegenseitig gleichsam im Geheimnis der Schöpfung sehen, erblicken sich Mann und Frau noch vollständiger und klarer als durch den bloßen Gesichtssinn, d. h. durch die Augen des Körpers. Tatsächlich sehen und erkennen sie sich im vollen Frieden des inneren Blickes, der gerade die Fülle der Innerlichkeit von Personen ausmacht.
Wenn die Scham eine bestimmte Begrenzung des Sehens mit den leiblichen Augen mit sich bringt, so vor allem deshalb, weil die persönliche Innerlichkeit gleichsam gestört und fast »bedroht« ist. Nach Genesis 2, 25 schämten sich Mann und Frau nicht: indem sie sich selbst in voller Ruhe und Ausgeglichenheit des inneren Blickes sehen und erkennen, teilen Sie sich einander in der Fülle der Menschlichkeit mit, die sich in ihnen gerade deswegen als gegenseitige Ergänzung ausdrückt, weil sie Mann und Frau sind. Zugleich teilen sie sich gegenseitig aufgrund jener Personengemeinschaft mit, in der sie durch ihr Mannund FrauSein zum Geschenk des einen an den anderen werden. Auf diese Weise erreichen sie in der Gegenseitigkeit ein besonderes Verständnis der Bedeutung des eigenen Leibes. Die ursprüngliche Bedeutung der Nacktheit entspricht jener Einfachheit und Fülle der Schau, in der das Verständnis für die Bedeutung des Körpers sozusagen aus dem Herzen ihrer Gemeinschaft und Mitteilung erwächst. Wir wollen sie »bräutlich« nennen. In Genesis 2, 23-25 erscheinen Mann und Frau gerade »am Anfang« in diesem Bewusstsein der Bedeutung des eigenen Leibes. Dies verdient eine eingehendere Untersuchung.
2. Wenn der Bericht über die Erschaffung des Menschen in den beiden Versionen - der des ersten Kapitels und der des Jahwisten im zweiten Kapitel es uns erlaubt, die ursprüngliche Bedeutung der Einsamkeit, der Einheit und der Nacktheit zu bestimmen, so können wir eben deswegen auch eine angemessene Anthropologie vorfinden, die bemüht ist, den Menschen in dem zu verstehen und zu deuten, was wesentlich menschlich ist.<ref>Der Begriff der »angemessenen Anthropologie« ist im Text selbst als »Begreifen und Erklärung des Menschen in dem, was wesentlich menschlich ist«, erläutert worden. Dieser Begriff bestimmt den Grundsatz der Einschränkung selbst, der der Philosophie des Menschen zu eigen ist, deutet die Grenze dieses Grundsatzes an und schließt indirekt aus, dass man diese Grenze überschreitet. Die »angemessene Anthropologie« beruht auf der wesentlich »menschlichen« Erfahrung und widersetzt sich dem Reduktionismus der naturalistischen Art, der oft zugleich mit der evolutionistischen Lehre über die Ursprünge des Menschen einhergeht.</ref> Die biblischen Texte enthalten die wesentlichen Elemente einer solchen Anthropologie, welche sich im theologischen Kontext des Abbildes Gottes kundtun. Dieser Begriff birgt die eigentliche Wurzel der Wahrheit unter den Menschen, die durch jenen Anfang sichtbar wurde, auf den sich Christus in seinem Gespräch mit den Pharisäern beruft (vgl. Mt 19, 3-9), wenn er von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau spricht. Erinnern wir uns daran, dass alle Erwägungen, die wir hier anstellen, sich zumindest indirekt auf diese Worte zurückführen lassen. Der Mensch, den Gott als Mann und Frau erschaffen hat, trägt von Anfang an das Bild Gottes in seinem Leib eingeprägt; Mann und Frau stellen gleichsam zwei verschiedene Arten des menschlichen Leibseins in der Einheit jenes Bildes dar.
Nun wollen wir uns von neuem den fundamentalen Worten zuwenden, deren Christus sich bedient hat: »Er schuf« und »Schöpfer«. Dabei gewinnen die bisher angestellten Überlegungen ein neues Kriterium für das Verständnis und die Auslegung, die wir eine »Hermeneutik des Schenkens« nennen wollen. Die Hermeneutik des Schenkens ist für die wesentliche Wahrheit und Bedeutungstiefe der ursprünglichen »Einsamkeit - Einheit - Nacktheit« entscheidend. Sie findet sich auch im eigentlichen Herzen des Schöpfungsgeheimnisses, das es uns ermöglicht, eine Theologie des Leibes »von Anfang an« aufzubauen; gleichzeitig fordert sie aber, dass wir sie auf diese Weise aufbauen.
3. Das Wort »Er schuf« enthält im Munde Christi die gleiche Wahrheit, die wir im Buch Genesis finden. Der erste Schöpfungsbericht enthält mehrmals dieses Wort, angefangen von Genesis 1, 1 (»Im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen«) bis zu Genesis 1, 27 (»Gott schuf den Menschen als sein Abbild«).<ref>Das hebräische Wort »bara« - er hat erschaffen - erscheint in dem ausschließlichen Sinne der Bestimmung des Wirkens Gottes nur in Vers 1 (Erschaffung des Himmels und der Erde), in Vers 21 (Erschaffung der Tiere) sowie in Vers 27 (Erschaffung des Menschen); hier jedoch taucht er gleich dreimal auf. Dies bedeutet Fülle und Vollkommenheit des Aktes, der die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau ist. Diese Wiederholung besagt, dass das Werk der Schöpfung hier seinen Höhepunkt erreicht hat.</ref> Gott offenbart sich selber vor allem als Schöpfer. Christus beruft sich auf diese grundlegende Offenbarung, wie sie im Buch Genesis enthalten ist. Der Schöpfungsbegriff hat hier nicht nur seine ganze metaphysische, sondern auch seine volle theologische Tiefe. Schöpfer ist derjenige, der »aus dem Nichts ins Dasein ruft«, der die Welt und in ihr den Menschen erschafft, weil er die Liebe ist (1 Joh 4, 8). Offen gesagt finden wir dieses Wort Liebe (»Gott ist Liebe«) im Schöpfungsbericht nicht; dennoch wiederholt dieser Bericht oft: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war.« Durch diese Worte werden wir angeleitet, das Motiv Gottes für die Schöpfung in der Liebe zu erblicken, die gleichsam die Quelle ist, aus der die Schöpfung entspringt: »Nur die Liebe setzt Gutes ins Werk und erfreut sich daran« (vgl. 1 Kor 13). Deshalb bedeutet die Schöpfung als Werk Gottes nicht nur ein Herausrufen aus dem Nichts ins Dasein, die Erschaffung der Welt und des Menschen in der Welt, sondern nach dem ersten Bericht »beresit bara« auch Geschenk; ein fundamentales und radikales Geschenk, das heißt ein Schenken, bei dem das Geschenk aus dem Nichts hervorgeht.
4. Die Lektüre der ersten Kapitel des Buches Genesis führt uns in das Schöpfungsgeheimnis ein, d. h. in den Anfang der Welt aus dem Wollen Gottes, das Allmacht und Liebe ist. Infolgedessen trägt jedes Geschöpf in sich das Zeichen des ursprünglichen und fundamentalen Geschenks. Dennoch kann sich dabei der Begriff des Schenkens nicht auf ein Nichts beziehen. Er bezeichnet den, der schenkt, und den, der das Geschenk empfängt, sowie die Beziehung, die zwischen beiden entsteht. Diese Beziehung ergibt sich nun aus dem Schöpfungsbericht in dem Augenblick, da der Mensch erschaffen wird. Sie zeigt sich vor allem in der Formulierung: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn« (Gen 1,27). Im Bericht über die Erschaffung der sichtbaren Welt hat das Schenken nur im Hinblick auf den Menschen Sinn. Innerhalb des ganzen Schöpfungswerkes kann man nur von ihm sagen, dass er mit einem Geschenk ausgestattet ist: die sichtbare Welt ist für ihn geschaffen. Der biblische Schöpfungsbericht bietet uns genügend Gründe für ein solches Verständnis und eine solche Deutung: die Schöpfung ist ein Geschenk, weil in ihr der Mensch auftaucht, der als Bild Gottes fähig ist, den Sinn des Geschenkes zu begreifen, das im Ruf aus dem Nichts ins Da-Sein besteht. Er ist fähig, dieses Verstehen dem Schöpfer gegenüber auszudrücken. Wenn wir so den Schöpfungsbericht deuten, können wir daraus schließen, dass die Schöpfung das fundamentale und ursprüngliche Geschenk darstellt: der Mensch erscheint in der Schöpfung als derjenige, der die Welt zum Geschenk erhalten hat; umgekehrt kann man auch sagen, dass die Welt den Menschen zum Geschenk erhalten hat.
Hier müssen wir unsere Ausführungen unterbrechen. Was wir bisher gesagt haben, steht in engster Beziehung zur gesamten anthropologischen Problematik des »Anfangs«. Der Mensch erscheint hier als Geschöpf, d. h. als derjenige, der inmitten der Welt einen anderen Menschen zum Geschenk erhalten hat. Gerade diese Dimension des Geschenkes werden wir später eingehender erwägen müssen, um auch die Bedeutung des menschlichen Leibes in ihrem richtigen Ausmaß zu verstehen. Dies wird der Gegenstand unserer nächsten Betrachtungen sein.
Der bräutliche Sinn des Leibes 9. 1. 1980, OR 80/3
1. Wenn wir den zweiten Schöpfungsbericht, d. h. den jahwistischen Text, erneut lesen und auslegen, müssen wir uns fragen, ob der erste »Mensch« ('adam) in seiner ursprünglichen Einsamkeit die Welt tatsächlich als Geschenk »erlebt« hat, in der Haltung, die der Lage eines Menschen entspricht, der beschenkt wurde, wie es sich aus dem Bericht des ersten Kapitels ergibt. Der zweite Bericht zeigt uns ja den Menschen im Garten Eden (vgl. Gen 2, 8), aber wir müssen feststellen, dass auch in diesem Zustand ursprünglicher Beseligung der Schöpfer selbst (Gott Jahwe) und dann der Mensch, anstatt die Erfahrung der Welt als persönlich beglückendes, für den Menschen geschaffenes Geschenk (vgl. den ersten Bericht und besonders Gen 1, 26-29) zu betonen, darauf hinweisen, dass der Mensch »allein« ist. Die Bedeutung der ursprünglichen Einsamkeit haben wir bereits ausgelegt; jetzt müssen wir jedoch feststellen, dass erstmals klar ein gewisser Mangel an Gutem sichtbar wird: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe« - sagt Gott Jahwe -, »ich will ihm eine Hilfe machen . . .« (Gen 2, 18). Dasselbe stellt der Mensch fest; nachdem er sich seiner Einsamkeit unter allen Lebewesen auf Erden zutiefst bewusst geworden ist, erwartet auch er eine »Hilfe, die ihm entspricht« (vgl. Gen 2, 20). Denn keines dieser Lebewesen - animalia - bietet dem Menschen die Grundbedingungen, die eine Existenz in der Beziehung gegenseitigen Sich-Schenkens ermöglichen.
2. Diese beiden Ausdrücke, nämlich das Adjektiv »allein« und das Substantiv »Hilfe«, scheinen somit tatsächlich der Schlüssel zum Begreifen des eigentlichen Wesens des Geschenks auf menschlicher Ebene zu sein, das den entscheidenden Inhalt der Gottesebenbildlichkeit ausmacht. Denn das Sich-Schenken bringt sozusagen ein besonderes Kennzeichen der personalen Existenz, ja des eigentlichen Wesens der Person zum Ausdruck. Wenn Gott Jahwe sagt, es sei »nicht gut, dass der Mensch allein bleibe« (Gen 2, 18), bestätigt er, dass der Mensch »allein« dieses Wesen nicht vollständig verwirklicht. Er verwirklicht es nur, wenn er »mit irgend jemandem« lebt, und noch tiefer und vollkommener, wenn er »für irgend jemanden« da ist. Dieses Gesetz für die Existenz der Person wird im Buch Genesis als Merkmal der Schöpfung herausgestellt eben durch die Bedeutung dieser beiden Worte »allein« und »Hilfe«. Gerade sie weisen darauf hin, wie grundlegend und maßgeblich für den Menschen die Beziehung und die Gemeinschaft der Personen ist. Gemeinschaft der Personen heißt, in einem gegenseitigen Füreinander, in einer Beziehung gegenseitigen Sich-Schenkens zu leben. Und diese Beziehung ist genau die positive Aufhebung der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen.
3. Diese Aufhebung ist ursprünglich beseligend. Sie gehört zweifellos zur ursprünglichen Beseligung des Menschen, sie verkörpert jene Glückseligkeit, die zum Geheimnis der Schöpfung gehört, welche aus Liebe geschaffen ist, das heißt zum Wesen des schöpferischen Schenkens. In dem Augenblick, in dem der männliche Mensch, der Mann, aus dem Schlaf, von dem die Genesis spricht, erwacht und die aus ihm gebildete Frau erblickt, sagt er: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (Gen 2, 23); diese Worte drücken in einem bestimmten Sinn den subjektiv beglückenden Beginn der menschlichen Existenz in der Welt aus. Soweit dies sich im »Anfang« vollzog, bestätigt es den Individualisierungsprozess des Menschen in der Welt und entsteht es sozusagen aus der Tiefe seiner menschlichen Einsamkeit, die er als Person gegenüber allen anderen Geschöpfen und allen Lebewesen (animalia) erlebt. Auch dieser »Anfang« gehört also zu einer angemessenen Anthropologie und lässt sich stets an ihr überprüfen. Diese rein anthropologische Überprüfung führt uns gleichzeitig zum Thema »Person« und zum The- ma »Leib - Geschlecht«.
Diese Gleichzeitigkeit ist wesentlich. Denn wenn wir über die Geschlechtlichkeit ohne die Person sprechen würden, wäre die gesamte Harmonie der Anthropologie, wie wir sie im Buch Genesis vorfinden, zerstört. Und für unsere theologische Untersuchung wäre dann das entscheidende Licht der Offenbarung über den Körper verdunkelt, das in diesen ersten Feststellungen so deutlich sichtbar wird.
4. Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Geheimnis der Schöpfung als Geschenk, das der göttlichen Liebe entspringt, und jenem beseligenden Anfang der menschlichen Existenz als Mann und Frau in der ganzen Wahrhaftigkeit ihres Leibes und ihres Geschlechtes, die ganz einfach die Wahrhaftigkeit der Gemeinschaft zwischen den Personen ist. Wenn der erste Mann beim Anblick der Frau ausruft: »Das ist Fleisch von meinem Fleisch und Gebein von meinem Gebein« (Gen 2, 23), bekräftigt er nur die menschliche Identität beider. Damit scheint er zu sagen: Siehe, ein Leib, der die Person darstellt! Einem vorhergehenden Abschnitt des jahwistischen Textes folgend kann man auch sagen: dieser Leib macht die lebendige Seele offenbar, zu welcher der Mensch wurde, als Gott Jahwe ihm das Leben einhauchte (vgl. Gen 2, 7), womit seine Einsamkeit gegenüber allen anderen Geschöpfen begann. Aus dieser Tiefe jener ursprünglichen Einsamkeit steigt der Mensch nun auf zur Dimension des gegenseitigen Sich-Schenkens, dessen Ausdruck - und daher auch dessen Ausdruck als Person - der menschliche Leib in der ganzen ursprünglichen Wahrheit seiner Männlichkeit und Weiblichkeit ist. Der Leib, der die Weiblichkeit für die Männlichkeit und umgekehrt die Männlichkeit für die Weiblichkeit zum Ausdruck bringt, bekundet die Gegenseitigkeit und Gemeinschaft der Personen. Er bringt sie durch das SichSchenken als das grundlegende Merkmal der personalen Existenz zum Ausdruck. Der Leib ist also Zeuge der Schöpfung als eines grundlegenden Geschenks und somit Zeuge der göttlichen Liebe als Quelle, aus welcher dieses Geschenk entspringt. Männlichkeit und Weiblichkeit - also die Geschlechtlichkeit - sind das ursprüngliche Zeichen des schöpferischen Geschenkes und der Tatsache, dass der Mensch als Mann und Frau sich dieses Geschenkes bewusst wird, das er sozusagen ganz ursprünglich erlebt. Das ist die Bedeutung, mit welcher die Geschlechtlichkeit in die Theologie des Leibes eintritt.
5. Mit jenem beseligenden Anfang von Sein und Leben des Menschen als Mann und Frau wird der Sinn des Leibes offenbart und entdeckt, den man als »bräutlich« bezeichnen muss. Wenn wir von offenbaren und entdecken sprechen, tun wir das unter besonderer Berücksichtigung des jahwistischen Textes, in der der theologische rote Faden auch ein anthropologischer ist, zumal er als eine bestimmte, vom Menschen bewusst erlebte Wirklichkeit erscheint. Wir sagten bereits, dass den Worten, welche die erste Freude über das Auftreten des Menschen als Mann und Frau ausdrücken (Gen 2, 23), der Vers folgt, der ihre eheliche Einheit feststellt (Gen 2, 24); und dann folgt jener, der die Nacktheit der beiden, frei von gegenseitiger Scham (Gen 2, 25), bezeugt. Gerade dieser wichtige Vergleich erlaubt uns, vom Offenbaren und Entdecken des bräutlichen Sinnes des Leibes mitten im Geheimnis der Schöpfung zu sprechen. Dieser Sinn (soweit er geoffenbart und auch vom Menschen bewusst gelebt wird) bestätigt zutiefst, dass das schöpferische Sich-Schenken aus Seiner Liebe das ursprüngliche Bewusstsein des Menschen erreicht hat und so zur Erfahrung gegenseitiger Hingabe wurde, wie bereits dem älteren Text zu entnehmen war. Das scheint wohl ganz besonders die Nacktheit der beiden Stammeltern bezeugen zu wollen, die frei ist von jeder Scham.
6. Genesis 2, 24 spricht von der Finalität der Männlichkeit und Weiblichkeit im Leben der Eheleute bzw. Eltern. Da sie sich so eng miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch« werden, stellen sie gewissermaßen ihr Menschsein unter den Segen der Fruchtbarkeit der - »Zeugung« -, wovon der erste Bericht spricht (vgl. Gen 1, 28). Der Mensch tritt ein »in das Dasein« mit dem Bewusstsein dieser Finalität der eigenen Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, das heißt seiner Geschlechtlichkeit. Gleichzeitig fügen die Worte von Genesis 2, 25: »Beide waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« zu dieser grundlegenden Wahrheit von der Bedeutung des menschlichen Leibes als Mann und Frau noch eine weitere, nicht weniger wesentliche und grundlegende Wahrheit hinzu: Der Mensch, der sich der Zeugungskraft seines Leibes und des eigenen Geschlechtes bewusst ist, ist zugleich von körperlichen und sexuellen Zwängen frei. Diese ursprüngliche Nacktheit beider, die nicht von der Scham belastet war, drückt diese innere Freiheit des Menschen aus. Heißt das: Freiheit vom »Geschlechtstrieb«? Der Begriff »Trieb« besagt ja bereits einen inneren Zwang, dem Trieb vergleichbar, wie er für die Fruchtbarkeit und Zeugung in der gesamten Welt der Lebewesen (animalia) gilt. Es scheint jedoch, dass beide Genesis-Texte von der Erschaffung des Menschen den Aspekt der Fortpflanzung im Zusammenhang mit der Existenz des Menschen als Person sehen. Demzufolge wird auch die Analogie des menschlichen Leibes und der menschlichen Sexualität in Bezug auf die Welt der anderen Lebewesen - die wir auch als »Analogie der Natur« bezeichnen können - in beiden Berichten (wenn auch unterschiedlich) auf die Ebene der »Gottebenbildlichkeit« und auf die Ebene der Person und der Gemeinschaft zwischen den Personen erhoben.
Auf dieses wichtige Problem werden wir noch zurückkommen müssen. Der Mensch - auch der moderne Mensch - muss sich bewusst sein, dass sich in jenen biblischen Texten, die vom Anfang des Menschen sprechen, die Offenbarung des »bräutlichen Sinnes des Leibes« findet. Wichtiger noch ist festzustellen, was dieser Sinn besagen will.
Die Personengemeinschaft als Geschenk 16. 1. 1980, OR 80/4
1. Wir setzen heute die Erklärung der Texte des Buches Genesis fort, die wir im Licht der Lehre Christi begonnen haben. Erinnern wir uns, dass Christus in seinem Gespräch über die Ehe auf den »Anfang« Bezug nahm.
Die Offenbarung und gleichzeitig Entdeckung der ursprünglichen »bräutlichen« Bedeutung des Leibes besteht darin, dass der Mensch, als Mann und Frau, in der ganzen Wirklichkeit und Wahrheit seines Leibes und Geschlechts (»sie waren nackt«) und zugleich im totalen Freisein von jeglichem körperlichen und sexuellen Zwang dargestellt wird. Das scheint die Nacktheit der Stammeltern zu bezeugen, die völlig frei von Scham waren. Man darf sagen, dass die beiden - aus der göttlichen Liebe erschaffen, das heißt in ihrem Sein mit Männlichkeit bzw. Weiblichkeit ausgestattet - »nackt« sind, weil sie selbst frei sind in der Freiheit des Sich-Schenkens. Diese Freiheit liegt ja gerade der bräutlichen Bedeutung des Leibes zugrunde. Der menschliche Körper mit seiner Geschlechtlichkeit, seiner Männlichkeit und Weiblichkeit, ist, vom Geheimnis der Schöpfung her gesehen, nicht nur Quelle der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung wie in der gesamten Naturordnung, sondern umfaßt von »Anfang« an auch die Eigenschaft des »Bräutlichen«, d. h. die Fähigkeit, der Liebe, Ausdruck zu geben: jener Liebe in welcher der Mensch als Person Geschenk wird und - durch dieses Geschenk - den eigentlichen Sinn seines Seins und seiner Existenz verwirklicht. Wir erinnern hier an den Text des letzten Konzils, in dem es heißt, dass der Mensch in der sichtbaren Welt das einzige von Gott »um seiner selbst willen gewollte« Geschöpf ist und wo hinzugefügt wird, dass dieser Mensch »sich nur durch die aufrichtige Selbsthingabe wirklich finden kann«.<ref>»Ja, wenn der Herr Jesus zum Vater betet ..., >dass alle eins seien . . . wie auch wir eins sind< (Joh 17, 20-22), und damit Horizonte aufreißt, die der menschlichen Vernunft unerreichbar sind, legt er eine gewisse Ähnlichkeit nahe zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe. Dieser Vergleich macht offenbar, dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann« (Gaudium et spes, Nr. 24). Die streng theologische Analyse des Buches der Genesis, besonders von Gen 2, 23-25, erlaubt uns die Bezugnahme auf diesen Text. Das stellt einen weiteren Schritt zwischen einer entsprechenden Anthropologie und der Theologie des Leibes dar, die aufs engste mit der Entdeckung der wesentlichen Merkmale der personalen Existenz in der theologischen Vorgeschichte des Menschen verbunden ist. Wenn das auch auf Widerstand seitens des evolutionistischen Denkens (auch unter den Theologen) stoßen mag, kann man doch kaum darüber hinwegsehen, dass der betrachtete Text aus der Genesis, besonders 2, 23-25, nicht nur die ursprüngliche, sondern auch die exemplarische Dimension der Existenz des Menschen, besonders des Menschen als Mann und Frau, aufzeigt.</ref>
2. Die Wurzel dieser ursprünglichen, von Scham freien Nacktheit, von der Genesis 2, 25 spricht, ist eben in dieser vollen Wahrheit über den Menschen zu suchen. Mann und Frau verfügen aufgrund ihres beseligenden »Anfangs« frei über diese Freiheit des SichSchenkens. Denn um in der Beziehung der »aufrichtigen Hingabe ihrer selbst« bleiben zu können und um durch ihr ganzes Menschsein, das als Weiblichkeit und Männlichkeit geschaffen wurde (auch in jener Perspektive, von welcher Genesis 2,24 spricht), füreinander zu einer solchen Gabe zu werden, müssen sie gerade in diesem Sinn frei sein. Wir verstehen hier die Freiheit vor allem als Herrschaft über sich selbst (Selbstbeherrschung). In dieser Hinsicht ist sie unerläßlich, damit der Mensch »sich selbst hingeben« kann, damit er zum Geschenk werden kann, damit er (nach den Worten des Konzils) »sich selbst wirklich finden« kann durch »die aufrichtige Hingabe seiner selbst«. Man kann und muss also die Worte »sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« als Offenbarung - und zugleich Wiederentdeckung - der Freiheit verstehen, die den »bräutlichen« Sinn des Leibes ermöglicht und kennzeichnet.
3. Genesis 2, 25 sagt jedoch noch mehr. Dieser Vers verweist in der Tat auf die Möglichkeit und die Besonderheit einer solchen gegenseitigen »Erfahrung des Leibes«. Außerdem erlaubt er uns, jene bräutliche Bedeutung des Leibes in actu festzustellen. Wenn wir lesen, dass »sie nackt waren, aber sich nicht voreinander schämten«, berühren wir damit gewissermaßen indirekt die Wurzel und direkt bereits die Früchte. Völlig frei von dem Zwang des eigenen Körpers und ihres Geschlechts, frei verfügend über die Freiheit der Hingabe, konnten Mann und Frau die ganze Wahrheit, die ganze menschliche Wirklichkeit genießen, so wie Gott Jahwe sie ihnen im Geheimnis der Schöpfung offenbart hatte. Diese Wahrheit über den Menschen, die der Konzilstext mit den oben angeführten Worten erläutert, hat zwei Hauptakzente. Der erste besagt, dass der Mensch das einzige von Gott »um seiner selbst willen« gewollte Geschöpf in der Welt ist; der zweite besteht in der Aussage, dass dieser Mensch, der von »Anfang« an vom Schöpfer so gewollt wurde, sich selbst nur durch eigene uneigennützige Hingabe finden kann. Diese Wahrheit über den Menschen, die auf besondere Weise den ursprünglichen Zustand in Verbindung mit dem »Anfang« des Menschen im Geheimnis der Schöpfung zu treffen scheint, kann - aufgrund des Konzilstextes - in beiden Richtungen neu gelesen werden. Ein solches neues Lesen hilft uns zu einem noch besseren Verständnis der bräutlichen Bedeutung des Leibes, die offenbar zu dem ursprünglichen Zustand des Mannes und der Frau (nach Genesis 2, 23-25) und insbesondere zur Bedeutung ihrer ursprünglichen Nacktheit gehört.
Wenn - wie wir festgestellt haben - an der Wurzel der Nacktheit die volle Freiheit der Hingabe - der uneigennützigen Selbsthingabe - sich befindet, dann erlaubt gerade jene Hingabe beiden, Mann und Frau, sich gegenseitig zu finden, insofern der Schöpfer einen jeden von ihnen »um seiner selbst willen« gewollt hat (vgl. Gaudium et spes, Nr. 24). So findet der Mann in der ersten beseligenden Begegnung die Frau, und sie findet ihn. Auf diese Weise nimmt er sie innerlich an; er nimmt sie an, wie sie vom Schöpfer »um ihrer selbst willen« gewollt wurde, wie sie im Geheimnis der Gottesebenbildlichkeit durch ihre Weiblichkeit geformt worden ist; und umgekehrt nimmt sie ihn in gleicher Weise an, wie er vom Schöpfer »um seiner selbst willen« gewollt wurde und wie er von Ihm durch seine Männlichkeit geformt worden ist. Darin besteht die Offenbarung und Entdeckung der »bräutlichen« Bedeutung des Leibes. Die jahwistische Erzählung, besonders Gen 2, 25, erlaubt uns den Schluss, dass der Mensch, als Mann und Frau, eben mit diesem Bewusstsein von der Bedeutung des eigenen Körpers, seiner Männlichkeit und Weiblichkeit, in die Welt eintritt.
4. Der menschliche Körper, der von innen her auf die »aufrichtige Hingabe« der Person hingeordnet ist, offenbart nicht nur seine Männlichkeit oder Weiblichkeit im physischen Bereich, sondern er offenbart auch einen solchen Wert und eine solche Schönheit, die über die rein physische Dimension der »Geschlechtlichkeit« hinausgehen.<ref>In der biblischen Tradition findet die körperliche Vollkommenheit des ersten Menschen einen späteren Widerhall. Der Prophet Ezechiel vergleicht den König von Tyrus mit Adam im Garten Eden: »Du warst ein vollendet gestaltetes Siegel voll Weisheit und unübertrefflicher Schönheit. Im Garten der Götter, in Eden, bist du gewesen . . .« (Ez 28, 12-13).</ref> Auf diese Weise wird gewissermaßen das Bewusstsein vom bräutlichen Sinn des Leibes ergänzt, der mit dem Mann- bzw. Frausein des Menschen gegeben ist. Einerseits verweist dieser Sinn auf die besondere Fähigkeit zur Liebe, in welcher der Mensch zum Geschenk wird; andererseits will dieser Sinn eine »Bestätigung der Person« ausdrücken, das heißt die Fähigkeit zur Erfahrung, dass der andere - die Frau für den Mann und der Mann für die Frau - wegen seines Leibes jemand ist, der vom Schöpfer »um seiner selbst willen« gewollt ist - also einzigartig und unwiederholbar, erwählt von der ewigen Liebe. Die »Bestätigung der Person« ist nichts anderes als die Annahme des gegenseitigen Schenkens, die darin die Personengemeinschaft herstellt; diese wächst aus dem Innern, umfaßt aber auch das ganze Äußere des Menschen, das heißt alles, was zur körperlichen Existenz von Mann und Frau in ihrer reinen und einfachen Nacktheit gehört. Damals - so lesen wir in Genesis 2, 25 - schämten sich der Mann und die Frau nicht voreinander. Der biblische Ausdruck »sie zeigten keine Scham voreinander« weist unmittelbar auf die »Erfahrung« als subjektive Dimension hin.
5. Gerade in dieser subjektiven Dimension als zwei von ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit bestimmte »Ich« erscheinen beide, Mann und Frau, im Geheimnis ihres glückseligen »Anfangs«. (Es geht hier um den Zustand der ursprünglichen Unschuld und zugleich der ursprünglichen Glückseligkeit des Menschen.) Das taucht nur kurz in einigen Versen der Genesis auf, hat aber einen überraschenden theologischen und auch anthropologischen Gehalt. Die Offenbarung und Entdeckung des bräutlichen Sinnes des Leibes erklären die ursprüngliche Glückseligkeit des Menschen und eröffnen zugleich den Ausblick auf seine irdische Geschichte, in der er sich niemals dieser seiner eigenen Existenz untrennbar verbundenen Thematik entziehen kann.
Die folgenden Verse im 3. Kapitel der Genesis weisen im jahwistischen Text tatsächlich darauf hin, dass diese »historische« Perspektive sich nach dem Sündenfall anders gestalten wird als der glückselige »Anfang«. Um so notwendiger ist es daher, auf die geheimnisvolle theologische wie anthropologische Struktur dieses »Anfangs« gründlich einzugehen. Denn im Verlauf seiner »Geschichte« wird der Mensch nicht umhin können, dem eigenen Körper einen bräutlichen Sinn zu geben. Auch wenn dieser Sinn vielfache Entstellungen erfährt und erfahren wird, bleibt er doch immer der letzte Grund und muss in seiner ganzen Einfachheit und Reinheit dargelegt und in seiner ganzen Wahrheit als Zeichen des »Abbildes Gottes« offenkundig gemacht werden. Von hier aus führt auch der Weg vom Geheimnis der Schöpfung zur »Erlösung des Leibes« (vgl. Röm 8).
An der Schwelle zur historischen Entwicklung sind wir uns aufgrund von Genesis 2, 23-25 nunmehr deutlich des Zusammenhangs bewusst, der zwischen der Offenbarung und Entdeckung des bräutlichen Sinnes des Leibes und der ursprünglichen Glückseligkeit des Menschen besteht. Ein solch bräutlicher Sinn ist auch beseligend und offenbart als solcher schließlich die ganze Wirklichkeit jener Hingabe, jenes Sich-Schenkens, von dem die ersten Seiten der Genesis reden. Bei ihrer Lektüre kommen wir zu folgender Überzeugung: Das Bewusstsein vom Sinn des Leibes, das sich im besonderen von seiner bräutlichen Bedeutung her ergibt, ist eine grundlegende Komponente menschlicher Existenz in der Welt.
Dieser bräutliche Sinn des menschlichen Leibes lässt sich nur im Zusammenhang mit der Person verstehen. Der Leib hat einen bräutlichen Sinn, weil, wie das Konzil sagt, der Mensch als Person eine Kreatur ist, die Gott um ihrer selbst willen gewollt hat und die daher nur durch die Hingabe ihrer selbst ganz sich selbst findet.
Wenn Christus Mann und Frau über die Berufung zur Ehe hinaus eine weitere Berufung - nämlich die des Verzichts auf die Ehe um des Himmelreiches willen - offenbart hat, hat er mit dieser Berufung dieselbe Wahrheit über die menschliche Person hervorgehoben. Wenn ein Mann oder eine Frau imstande ist, sich an das Himmelreich hinzugeben, beweist das nur um so stärker, dass es im Bereich der körperlichen Existenz die Freiheit des Schenkens, der Hingabe gibt. Das heißt, dass diesem Körper ein voller bräutlicher Sinn zukommt.
Von der ursprünglichen Unschuld 30. 1. 1980, OR 80/6
1. Die Wirklichkeit des Geschenkes und des Aktes des Sich-Schenkens, wie sie in den ersten Kapiteln der Genesis als grundlegender Inhalt des Schöpfungsgeheimnisses umrissen wird, bestätigt, dass die Ausstrahlung der Liebe wesentlicher Bestandteil eben dieses Geheimnisses ist. Einzig die Liebe schafft das Gute, und allein dieses lässt sich schließlich in allen seinen Dimensionen und Erscheinungsweisen in den geschaffenen Dingen und vor allem im Menschen wahrnehmen. Seine Gegenwart ist gewissermaßen das Endergebnis jener Hermeneutik des Geschenkes, die wir hier behandeln. Die ursprüngliche Glückseligkeit, der beseligende »Anfang« des Menschen, den Gott als »Mann und Frau« erschaffen hat (Gen 1, 27), die bräutliche Bedeutung des Leibes in seiner ursprünglichen Nacktheit: all das ist Ausdruck des Verwurzeltseins in der Liebe.
Dieses konsequente Sich-Schenken, das bis in die tiefsten Wurzeln des Unterbewusstseins, bis in die letzten Schichten der subjektiven Existenz beider, des Mannes und der Frau, hinabreicht und sich in ihrer gegenseitigen Leiberfahrung widerspiegelt, ist Zeugnis für die Verwurzelung in der Liebe. Die ersten Verse der Bibel sprechen soviel davon, dass jeder Zweifel beseitigt wird. Sie sprechen nicht nur von der Erschaffung der Welt und des Menschen in der Welt, sondern auch von der Gnade, das heißt von der Mitteilung der Heiligkeit, von der Ausstrahlung des Geistes, der in jenem Menschen, der ja tatsächlich der erste war, einen ganz eigenen Zustand der Vergeistigung bewirkte. In der Sprache der Bibel, also in der Sprache der Offenbarung, bedeutet die Bezeichnung »der erste« nichts anderes als »von Gott«: »Adam, Sohn Gottes« (vgl. Lk 3,38).
2. Die Glückseligkeit bedeutet Verwurzelung in der Liebe. Die ursprüngliche Glückseligkeit spricht vom »Anfang« des Menschen, der aus der Liebe entstanden ist und mit dem die Liebe begonnen hat. Das ist ein unwiderrufliches Ereignis, und daran ändern auch der nachfolgende Sündenfall und der Tod nichts. Zu seiner Zeit wird Christus Zeuge dieser nicht mehr rückgängig zu machenden Liebe des Schöpfers und Vaters sein, die bereits im Geheimnis der Schöpfung und in der Gnade der ursprünglichen Unschuld zum Ausdruck gekommen ist. Deshalb kennt auch der gemeinsame »Anfang« des Mannes und der Frau, also die ursprüngliche Wahrheit ihres Leibes in seinem Mannund Frausein, auf die Genesis 2, 25 unsere Aufmerksamkeit lenkt, die Scham nicht. Dieser »Anfang« lässt sich auch als ursprüngliches und beglückendes Freisein von der Scham aufgrund der Liebe beschreiben.
3. Dieses Freisein führt uns zum Geheimnis der ursprünglichen Unschuld des Menschen. Sie ist ein Geheimnis seiner Existenz und geht der Erkenntnis des Guten und des Bösen voraus, ja besteht gleichsam »außerhalb« ihrer. Die Tatsache, dass der Mensch vor dem Bruch des ersten Bundes mit seinem Schöpfer auf diese Weise lebt, gehört zum vollen Verständnis des Schöpfungsgeheimnisses. Wenn, wie wir bereits gesagt haben, die Schöpfung ein Geschenk ist, das dem Menschen zuteil wurde, dann wird ihre Fülle und tiefste Dimension von der Gnade, das heißt von der Teilhabe am inneren Leben Gottes selbst, an seiner Heiligkeit, bestimmt. Diese ist im Menschen auch inneres Fundament und Quelle seiner ursprünglichen Unschuld. Mit diesem Begriff - noch genauer mit dem Begriff der »ursprünglichen Gerechtigkeit« - bezeichnet die Theologie den Zustand des Menschen vor der Ursünde. In unserer gegenwärtigen Erklärung des »Anfangs«, die uns die notwendigen Wege zum Verständnis der Theologie des Leibes ebnet, müssen wir beim Geheimnis des ursprünglichen Zustands des Menschen verweilen. In der Tat, gerade jenes LeibBewusstsein - ja, das Bewusstsein vom Sinn -, das wir durch die Analyse des »Anfangs« an den Tag zu bringen suchen, ist es, was die Besonderheit der ursprünglichen Unschuld offenbart.
Das, was sich vielleicht in Genesis 2, 25 vorwiegend und unmittelbar kundtut, ist eben das Geheimnis dieser Unschuld, die sowohl Mann wie Frau dem Ursprung nach, jeder einzeln in sich tragen. Gewissermaßen ein »Augenzeuge« dieser ihrer wesentlichen Eigenschaft ist ihr eigener Leib. Es ist bezeichnend, dass die in Genesis 2, 25 enthaltene Aussage über ihre Nacktheit, die frei war von Scham, eine in ihrer Art einmalige Aussage in der ganzen Bibel darstellt, die später niemals mehr wiederholt worden ist. Im Gegenteil, wir können viele Texte anführen, wo Nacktheit mit Scham oder, noch schärfer, geradezu mit »Schande« in Verbindung gebracht wird.<ref>Die »Nacktheit« im Sinn der »Unbekleidetheit« bezeichnete im antiken Orient den Zustand der Verworfenheit der Menschen, die der Freiheit beraubt waren; also der Sklaven, Kriegsgefangenen oder Verurteilten, jener, die das Gesetz nicht schützte. Die Nacktheit der Frauen wurde als Entehrung empfunden (vgl. z. B. die Drohungen der Propheten: Hosea 1, 2 und Ezechiel 23, 26.29).
Der freie, auf seine Würde bedachte Mensch sollte sich prächtig kleiden: je längere Schleppen das Gewand hatte, um so höher war die Würde (vgl. z. B. das Gewand Josephs, das den Neid seiner Brüder hervorrief; oder der Pharisäer, die die Fransen ihrer Kleider verlängerten).
Die zweite Bedeutung der Nacktheit im euphemistischen Sinn bezog sich auf den Geschlechtsakt. Das hebräische Wort cerwat bezeichnet einen leeren Raum (z. B. im Gelände), die Unbekleidetheit, das Entblößtsein, hatte aber nichts Beschämendes an sich.</ref> Aus diesem weiten Zusammenhang heraus sind die Gründe der Tatsache um so offensichtlicher, die uns in Genesis 2, 25 eine besondere Spur des Geheimnisses der ursprünglichen Unschuld und eine besondere Art ihrer Ausstrahlung im einzelnen Menschen erkennen lassen. Diese Unschuld gehört zu der im Schöpfungsgeheimnis enthaltenen Dimension der Gnade, das heißt zu jenem geheimnisvollen Geschenk, das dem Innersten des Menschen - dem menschlichen Herzen - zuteil wurde und beiden, Mann und Frau, im »Anfang« ein Sein in der gegenseitigen Beziehung selbstloser Hingabe an den anderen gestattet. Darin ist die Offenbarung und zugleich die Entdeckung des »bräutlichen« Sinnes des Leibes in seinem Mannund Frausein enthalten. Man versteht, warum wir in diesem Fall von Offenbarung und von Entdeckung zugleich sprechen. Vom Standpunkt unserer Erklärung aus ist es wesentlich, dass die Entdeckung der bräutlichen Bedeutung des Leibes, von der wir in der Genesis lesen, sich durch die ursprüngliche Unschuld vergegenwärtigt; ja, diese Entdeckung ist es, die die letztere überhaupt enthüllt und offenkundig macht.
4. Die ursprüngliche Unschuld gehört zum Geheimnis vom »Anfang« des Menschen, von dem sich der »geschichtliche« Mensch dann durch die Ursünde getrennt hat. Das heißt aber nicht, dass er nicht imstande wäre, mit Hilfe der theologischen Erkenntnis sich jenem Geheimnis zu nähern. Der »geschichtliche« Mensch versucht das Geheimnis der ursprünglichen Unschuld gleichsam in einem Gegensatz zu erfassen, indem er nämlich auch auf die Erfahrung der eigenen Schuld und der eigenen Sündhaftigkeit zurückgreift.<ref>»Wir wissen, dass das Gesetz zum Geist gehört; ich aber gehöre zum Fleisch und bin an die Sünde verkauft. Denn ich begreife mein Handeln nicht: ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse ... Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich weiß, dass in mir, d. h. in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt: das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich erkenne also das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will. Denn in meinem Inneren freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden. Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem Todesleib erretten?« (Röm 7, 14-15.17-24; vgl. Ovid: »Ich sehe das Bessere und stimme ihm zu, dem Schlechteren aber folge ich«; Metamorphosen VII, 20).</ref>
Er versucht, die ursprüngliche Unschuld als wesentliches Merkmal der Theologie des Leibes zu verstehen, wobei er von der Erfahrung des Schamgefühls ausgeht; darauf weist ihn der Bibeltext selbst hin. Die ursprüngliche Unschuld ist also das, was radikal, d. h. von Grund auf, das Schamgefühl des Leibes in der Beziehung zwischen Mann und Frau ausschließt und es im Menschen, in seinem Herzen, d. h. in seinem Bewusstsein, überflüssig macht. Zwar spricht die ursprüngliche Unschuld vor allem von dem Geschenk des Schöpfers, von der Gnade, die es dem Menschen ermöglichte, den Sinn des vorrangigen Geschenkes in dieser Welt und besonders den Sinn des Sich-einander-Schenkens durch das Mannund Frausein zu erleben; doch scheint sich diese Unschuld vor allem auf den inneren Zustand des menschlichen Herzens, des menschlichen Willens zu beziehen. Zumindest indirekt schließt sie die Offenbarung und Entdeckung des sittlichen Bewusstseins des Menschen ein, die Offenbarung und Entdeckung der gesamten Dimension des Gewissens - natürlich vor der Erkenntnis von Gut und Böse. Sie soll also gewissermaßen als ursprüngliche Rechtschaffenheit verstanden werden.
5. Im Licht unserer historischen Rückschau versuchen wir also irgendwie, die Besonderheit der ursprünglichen Unschuld zu rekonstruieren, die als Inhalt der gegenseitigen Erfahrung des Leibes, der Erfahrung seiner bräutlichen Bedeutung (nach dem Zeugnis von Genesis 2, 23-25) verstanden wird. Da das Glück und die Unschuld zum Bild von der Gemeinschaft der Personen gehören, ganz wie zwei zusammenlaufende Fäden der menschlichen Existenz im Schöpfungsgeheimnis selbst, ist das beseligende Wissen um die Bedeutung des Leibes, das heißt um die Männlichkeit und Weiblichkeit, durch die ursprüngliche Unschuld bedingt. Es scheint durchaus berechtigt, dass hier diese ursprüngliche Unschuld als besondere Reinheit des Herzens aufgefaßt wird, die, der bräutlichen Bedeutung des Leibes entsprechend, eine innere Treue an das Geschenk bewahrt. Die so verstandene ursprüngliche Unschuld erweist sich infolgedessen als sicheres Zeugnis des Bewusstseins, das (in diesem Fall) jeder Erfahrung von Gut und Böse vorangeht; dennoch ist dieses ungetrübte Zeugnis des Bewusstseins um so beglückender. Ja, man kann sagen, das Bewusstsein von der bräutlichen Bedeutung des Leibes in seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit wird nur durch dieses Zeugnis menschlich beglückend.
Diesem Thema, nämlich dem Zusammenhang, der sich in der Analyse des »Anfangs« des Menschen zwischen seiner Unschuld (der Reinheit des Herzens) und seinem Glück abzeichnet, werden wir unsere nächste Betrachtung widmen.
Der andere Mensch als Geschenk (1) 6. 2. 1980, OR 80/7
1. Wir setzen heute unsere Überlegungen zu jenem »Anfang« fort, auf den sich Jesus in seinem Streitgespräch mit den Pharisäern über die Ehe bezogen hat. Diese Betrachtung verlangt von uns, dass wir über die Geschichte des Menschen hinaus auf den Zustand der ursprünglichen Unschuld zurückgreifen. Um die Bedeutung dieser Unschuld zu ermessen, stützen wir uns gewissermaßen auf die Erfahrung des geschichtlichen Menschen, auf das Zeugnis seines Herzens und Gewissens.
2. Der Linie des geschichtlichen »a posteriori« folgend, versuchen wir den besonderen Charakter der ursprünglichen Unschuld zu rekonstruieren, wie er nach dem Zeugnis von Genesis 2, 23-25 in der gegenseitigen Erfahrung des Leibes und seiner bräutlichen Bedeutung enthalten ist. Die hier beschriebene Situation macht die beseligende Erfahrung der Bedeutung des Leibes offenbar, zu welcher im Bereich des Schöpfungsgeheimnisses der Mensch sozusagen im gegenseitigen Sich-Ergänzen dessen gelangt, was an ihm männlich bzw. weiblich ist. Doch an den Wurzeln dieser Erfahrung muss die innere Freiheit des Sich-Schenkens vor allem in Verbindung mit der Unschuld stehen; der menschliche Wille ist ursprünglich unschuldig, und auf diese Weise wird die Gegenseitigkeit und der Austausch der Gabe des Leibes, seinem Mannoder Frausein entsprechend, als Sich-Schenken der Person erleichtert. Infolgedessen kann man die in Genesis 2, 25 bezeugte Unschuld als Unschuld der gegenseitigen Erfahrung des Leibes bestimmen. Der Satz »Beide, der Mann und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander« drückt eben diese Unschuld in der gegenseitigen Leiberfahrung aus, eine Unschuld, die den inneren Austausch des Geschenkes der Person beseelt, der in der gegenseitigen Beziehung ganz konkret die bräutliche Bedeutung des Mannbzw. Frauseins verwirklicht. Um also die Unschuld der gegenseitigen Erfahrung des Leibes zu verstehen, müssen wir zu klären versuchen, worin die innere Unschuld im Austausch beim Sich-Schenken der Person besteht. Dieser Austausch stellt ja die eigentliche Quelle der Erfahrung der Unschuld dar.
3. Wir können sagen, dass die innere Unschuld - das heißt die Reinheit der Absicht - im Austausch des Geschenkes in einer gegenseitigen Annahme des anderen besteht, so dass diese dem Wesen des Geschenkes entspricht. Auf diese Weise bewirkt die gegenseitige Hingabe die Gemeinschaft der Personen. Es geht also darum, den anderen aufzunehmen und anzunehmen, eben weil in dieser gegenseitigen Beziehung, von der Genesis 2, 23-25 spricht, Mann und Frau einander zum Geschenk werden in der ganzen Wahrheit und Klarheit ihres eigenen männlichen bzw. weiblichen Körpers. Es handelt sich also um eine Annahme oder Aufnahme, die in der beiderseitigen Nacktheit die Bedeutung des Geschenks ausdrücken und unterstützen und daher die gegenseitige Würde dieses Sich-Schenkens vertiefen soll. Diese Würde entspricht zutiefst der Tatsache, dass der Schöpfer den Menschen, Mann und Frau, um seiner selbst willen gewollt hat (und noch immer will). Die Unschuld des Herzens und als Folge davon die Unschuld der Erfahrung bedeutet eine moralische Teilhabe an dem ewigen und fortdauernden Willensakt Gottes.
Das Gegenteil solcher Aufnahme oder Annahme des anderen Menschen als Geschenk wäre ein Entzug des Geschenks selbst und somit eine Verfälschung und geradezu Erniedrigung des anderen zum Objekt für mich selbst (einem Objekt der Begierde, der unrechtmäßigen Besitzergreifung usw.).
Wir wollen jetzt nicht im einzelnen dieses vielgestaltige, mögliche Gegenteil des Sich-Schenkens behandeln. Es gilt jedoch, bereits hier im Zusammenhang von Genesis 2, 23-25 festzustellen, dass eben ein solches Erzwingen des Sich-Schenkens vom anderen Menschen (von der Frau seitens des Mannes und umgekehrt) und seine innere Verkürzung zu einem bloßen »Objekt für mich« das Entstehen der Scham bezeichnen müßte. Denn das Schamgefühl entspricht ja in der Tat einer Bedrohung, die dem Geschenk in seiner personalen Intimität zugefügt wird, und bezeugt den Zusammenbruch der Unschuld in der gegenseitigen Erfahrung.
4. Nach Genesis 2, 25 »schämten sich Mann und Frau nicht voreinander«. Das lässt für uns den Schluss zu, dass der Austausch des Geschenks, an dem ihr ganzes Menschsein, Seele und Leib, in seiner weiblichen und männlichen Ausprägung beteiligt ist, sich dadurch verwirklicht, dass das innere Wesensmerkmal (also die Unschuld) des Sich-Schenkens und der Annahme des anderen als Geschenk gewahrt wird. Diese beiden Funktionen des gegenseitigen Austauschs sind im ganzen Vorgang des Sich-Schenkens aufs tiefste miteinander verbunden: das Sich-Schenken und das Annehmen des Geschenks durchdringen einander so, dass das Schenken zum Annehmen und das Annehmen zum Schenken wird.
5. Genesis 2, 23-25 erlaubt uns den Schluss, dass die Frau, die der Schöpfer im Schöpfungsgeheimnis dem Mann gibt, dank der ursprünglichen Unschuld von ihm als Geschenk aufgenommen bzw. angenommen wird. In diesem Punkt ist der biblische Text überaus klar und eindeutig. Zugleich wird die Annahme der Frau von Seiten des Mannes und die Weise ihrer Annahme gleichsam zu einem ersten Sich-Schenken. Vom ersten Augenblick, in dem sie der Schöpfer dem Mann gibt, entdeckt die Frau, indem sie sich schenkt, zugleich sich selbst dank dem Umstand, dass sie angenommen und aufgenommen, und dank der Weise, in der sie vom Mann angenommen wird. In ihrer eigenen Selbsthingabe (»durch die aufrichtige Hingabe ihrer selbst«, Gaudium et spes, Nr. 24) findet sie sich also selbst, wenn sie in ihrem Menschund Frausein so angenommen wird, wie es der Schöpfer gewollt hat, nämlich »um ihrer selbst willen«. Sie gelangt zur innersten Tiefe ihrer Person und zum Vollbesitz ihrer selbst, wenn in dieser Annahme die ganze Würde des Geschenks durch das Angebot und die Hingabe dessen gewahrt bleibt, was sie in der ganzen Wahrheit ihres Menschseins und in der ganzen Wirklichkeit ihres Körpers und Geschlechts, also ihres Frauseins, ist. Wir fügen hinzu, dass diese Selbstfindung durch die eigene Hingabe Quelle einer neuen Selbsthingabe wird, die ebenso kraft der inneren Bereitschaft zum Austausch im Geschenk wie in dem Maße zunimmt, in dem sie einer solchen tieferen Aufnahme und Annahme begegnet als Frucht eines wachsenden Bewusstseins des Geschenks.
6. Der zweite Schöpfungsbericht hat, wie es scheint, dem Mann »von Anfang an« die Funktion dessen zugeschrieben, der in erster Linie das Geschenk empfängt (vgl. besonders Genesis 2, 23). Die Frau wird »von Anfang an« seinen Augen, seinem Bewusstsein, seinem Empfinden und Fühlen, seinem Herzen anvertraut; er hingegen muss in gewissem Sinne den Austausch selber sicherstellen, das gegenseitige Durchdringen von Geben und Empfangen im Sich-Schenken, das eben durch ihre Gegenseitigkeit eine echte persönliche Gemeinschaft entstehen lässt. Wenn im Schöpfungsbericht die Frau diejenige ist, die dem Mann »gegeben« worden ist, so bereichert sie dieser dadurch, dass er sie als Geschenk in der ganzen Wahrheit ihrer Person und ihrer Fraulichkeit empfängt; zugleich wird auch er in dieser gegenseitigen Beziehung bereichert. Der Mann wird nicht nur durch sie, die sich ihm als Person und Frau schenkt, bereichert, sondern auch durch seine eigene Selbsthingabe. Das Sich-Schenken von Seiten des Mannes als Antwort auf die Hingabe der Frau ist für ihn selbst eine Bereicherung; denn hierin äußert und bekundet sich gleichsam das spezifische Wesen seiner Männlichkeit, das durch die Wirklichkeit des Leibes und des Geschlechts die innerste Tiefe des »Besitzes seiner selbst« erreicht, dank der er sowohl zur Selbsthingabe als auch zum Empfang der Hingabe des anderen fähig ist. Der Mann nimmt also nicht nur das Geschenk an, sondern wird zugleich von der Frau als Geschenk aufgenommen, wobei das innere geistige Wesen seiner Männlichkeit zusammen mit der ganzen Wahrheit seines Körpers und Geschlechts offenbar wird. Durch diese Annahme und Aufnahme des Geschenks seiner eigenen Männlichkeit bereichert er sich selbst. In der Folge wird diese Annahme, in welcher der Mann sich durch die »aufrichtige Hingabe seiner selbst« wiederfindet, in ihm zur Quelle einer neuen und noch tieferen Bereicherung der Frau durch ihn. Der Austausch ist wechselseitig, und darin offenbaren sich und wachsen die wechselseitigen Wirkungen der aufrichtigen Hingabe und der Selbstfindung. So können wir also, indem wir den Spuren des geschichtlichen »a posteriori« - und vor allem den Spuren des menschlichen Herzens - folgen, jenen wechselseitigen Austausch persönlicher Hingabe, der in dem alten, so reichen und tiefen Text des Buches Genesis beschrieben wurde, darstellen und gleichsam rekonstruieren.
Der andere Mensch als Geschenk ( 2 ) 13. 2. 1980, OR 80/8
1. Die heutige Betrachtung setzt all das voraus, was bei den bisherigen Analysen bereits erarbeitet wurde. Diese sind von der Antwort Jesu an seine Gesprächspartner (Mt 19, 3-9 und Mk 1, 1-12) ausgegangen, die ihm eine Frage über die Ehe, ihre Unauflöslichkeit und Einheit vorgelegt hatten. Der Meister hatte ihnen empfohlen, aufmerksam das zu bedenken, was »am Anfang« war. Und deshalb haben wir im Laufe unserer Überlegungen bis heute versucht, irgendwie die Tatsache der Verbundenheit oder besser der Gemeinschaft der Personen darzustellen, wie sie Mann und Frau »am Anfang« erlebten. In der Folge versuchten wir, den Inhalt des knappen Verses Genesis 2, 25 zu ergründen: »Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Diese Worte beziehen sich auf die Gabe der Urunschuld, deren Wesen sie sozusagen auf synthetische Weise offenbar machen. Auf dieser Grundlage hat die Theologie das Gesamtbild von der Urunschuld und Gerechtigkeit des Menschen vor der Erbsünde aufgebaut, wobei sie die für die Metaphysik und metaphysische Anthropologie typische Methode der Objektivierung oder Objektivation anwandte. In der heutigen Betrachtung versuchen wir hingegen, den Aspekt der menschlichen Subjektivität ins Auge zu fassen; diese scheint übrigens den Urtexten, besonders dem zweiten Schöpfungsbericht - also dem jahwistischen Text - näher zu stehen.
2. Unabhängig von einer gewissen Verschiedenheit in der Auslegung scheint hinreichend klar, dass die Erfahrung des Leibes, die wir den archaischen Texten von Genesis 2, 23 und noch deutlicher von Genesis 2, 25 entnehmen können, auf einen Grad der Vergeistigung des Menschen hindeutet, der sich von jenem unterscheidet, von dem derselbe Text nach der Erbsünde (Gen 3) spricht und den wir aus der Erfahrung des historischen Menschen kennen. Es ist dies ein anderer Grad von Vergeistigung, verbunden mit einem anderen Zusammenwirken der inneren Kräfte des Menschen, sozusagen einer anderen Leib-Seele-Beziehung, mit anderen inneren Proportionen zwischen Empfindungsvermögen, Geistigkeit und Affektivität, also einem anderen Grad innerer Empfindsamkeit für die Gaben des Heiligen Geistes. All das bedingt gleichzeitig den Zustand der Urunschuld des Menschen und ermöglicht es uns auch, den Bericht der Genesis zu verstehen. Theologie und Lehramt der Kirche haben diesen Grundwahrheiten eine eigene Gestalt gegeben.<ref>»Wer nicht bekennt: Nachdem Adam, der erste Mensch, das Gebot Gottes im Paradies übertreten hatte, verlor er sogleich die Heiligkeit und Gerechtigkeit, in die er eingesetzt war ..., der sei ausgeschlossen« (Conc. Trident., Sess. V, can. 1, 2; D. B. 788, 789).
»Die Ureltern befanden sich im Zustand der Heiligkeit und Gerechtigkeit . . . Der ihnen gegebene Zustand ursprünglicher Gerechtigkeit war ungeschuldet und wahrhaft übernatürlich . . . Die Ureltern befanden sich im Zustand der unverletzten reinen Natur, das heißt, sie waren gefeit gegen Begierde, Unwissenheit, Schmerz und Tod . . . und erfreuten sich einzigartiger Glückseligkeit . . . Die ihnen übertragenen Gaben der Unversehrtheit waren ungeschuldet und außernatürlich« (A. Tanquerey, Synopsis Theologiae Dogmaticae, Paris 194324, SS. 534-549).</ref>
3. Wenn wir die Analyse des »Anfangs«, der Theologie des Leibes entsprechend, aufnehmen, stützen wir uns dabei auf die Worte Christi, mit denen er selbst sich auf jenen »Anfang« bezogen hat. Als er sagte: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat?« (Mt 19, 4), hat er uns geboten und gebietet er uns noch immer, zur Tiefe des Schöpfungsgeheimnisses zurückzukehren. Wir tun das und sind uns dabei der Gabe der dem Menschen vor der Erbsünde eigenen Urunschuld voll bewusst. Obwohl uns eine unüberwindliche Schranke von dem trennt, was der Mensch als Mann und Frau einst durch die Gabe der mit dem Schöpfungsgeheimnis verbundenen Gnade war, von dem, was beide als gegenseitiges Geschenk füreinander gewesen sind, versuchen wir dennoch, den Zustand der Urunschuld im Zusammenhang mit dem historischen Zustand des Menschen nach der Erbsünde zu begreifen: mit dem Zustand der gefallenen und zugleich erlösten Natur.
Mittels des historischen »a posteriori« versuchen wir, die ursprüngliche Bedeutung des Leibes zu erfassen und den Zusammenhang zu begreifen, der zwischen ihr und dem Wesen der Urunschuld in der Erfahrung des Leibes besteht, welche im Bericht der Genesis auf so bezeichnende Weise hervorgehoben wird. Wir gelangen zu dem Schluss, dass es wichtig und wesentlich ist, diesen Zusammenhang genau festzulegen, nicht nur der theologischen Vorgeschichte des Menschen gegenüber - wo das Zusammenleben von Mann und Frau nahezu vollständig von der Gnade der Urunschuld durchdrungen war -, sondern auch in Bezug auf ihre Fähigkeit, uns die bleibenden Wurzeln des menschlichen und vor allem theologischen Aspekts des Ethos des Leibes zu enthüllen.
4. Der Mensch tritt in die Welt und damit gleichsam in das innerste Netzwerk seiner Zukunft und seiner Geschichte in dem Bewusstsein der bräutlichen Bedeutung des eigenen Körpers, seines Mannoder Frauseins. Die Urunschuld besagt, dass diese Bedeutung sittlich bedingt ist und außerdem die Zukunft des menschlichen Ethos darstellt. Das ist für die Theologie des Leibes höchst bedeutsam, denn aus diesem Grund müssen wir, genau der Weisung der Worte Christi folgend, diese Theologie »vom Anfang her« aufbauen.
Im Schöpfungsgeheimnis wurden Mann und Frau vom Schöpfer einander in besonderer Weise als Geschenk gegeben, und das nicht nur, soweit es jenes erste Menschenpaar und jene erste Gemeinschaft von Personen betrifft, sondern für das ganze Menschengeschlecht und die Menschheitsfamilie. Grundlegend für diese Existenz des Menschen in jeder Phase seiner Geschichte ist die Tatsache, dass Gott »sie als Mann und Frau geschaffen hat«, denn immer schafft er sie auf diese Weise, und immer sind sie dies. Das Verständnis der im Geheimnis der Schöpfung selbst enthaltenen grundlegenden Elemente wie der bräutliche Sinn des Leibes (und der Grundvoraussetzungen für diesen Sinn) ist wichtig und unerläßlich, um zu erkennen, wer der Mensch ist, wer er sein soll und wie er daher auch sein Tun gestalten müßte. Das ist wesentlich und bedeutsam für die Zukunft des menschlichen Ethos.
5. Genesis 2, 24 stellt fest, dass beide, Mann und Frau, für die Ehe geschaffen wurden: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Damit eröffnet sich ein großartiger Aspekt des Schöpferischen: der Aspekt der Existenz des Menschen, die sich durch die Fortpflanzung (man könnte sagen durch »Reproduktion des eigenen Selbst«) ununterbrochen erneuert. Dieser Aspekt ist zutiefst im Bewusstsein der Menschheit (vgl. Gen 2, 23) und in dem besonderen Bewusstsein vom bräutlichen Sinn des Leibes (Gen 2, 25) verwurzelt. Bevor Mann und Frau zu Eheleuten werden (darüber wird in der Folge konkret in Genesis 4, 1 gesprochen), gehen sie aus dem Schöpfungsgeheimnis zunächst als Bruder und Schwester im Menschsein hervor. Das Verständnis vom bräutlichen Sinn des Leibes in seinem Mannbzw. Frausein enthüllt das Innerste ihrer Freiheit, die eine Freiheit des Schenkens ist. Hier beginnt jene Personengemeinschaft, in der beide sich begegnen und in der Fülle ihrer Subjektivität einander schenken. So wachsen beide als Personen, als Subjekte, und reifen einer für den anderen auch durch ihren Körper und durch jene Nacktheit, die frei von Scham ist. In dieser personalen Gemeinschaft ist die ganze Tiefe der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen (der des ersten und der aller Menschen) vollkommen gewahrt und wird zugleich auf wunderbare Weise durch die Hingabe des anderen durchdrungen und bereichert. Wenn Mann und Frau sich nicht mehr einander selbstlos schenken, wie sie dies im Schöpfungsgeheimnis konnten, dann erkennen sie, dass sie »nackt sind« (vgl. Gen 3). Dann entsteht in ihren Herzen wegen dieser Nacktheit, die sie im Zustand ihrer Urunschuld nicht bemerkt hatten, das Schamgefühl. Die Urunschuld ist Äußerung und zugleich Darstellung des vollkommenen Ethos des Schenkens. Wir werden noch auf dieses Thema zurückkommen.
Gleichsam das erste Fest der Menschheit 20. 2. 1980, OR 80/9
1. Das Buch Genesis macht offenbar, dass Mann und Frau für die Ehe geschaffen sind: ». . . Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen z, 24). Auf diese Weise öffnet sich die großartige schöpferische Perspektive des menschlichen Daseins, das sich durch Fortpflanzung selbst erneuert. Diese Perspektive ist im Bewusstsein der Menschheit und auch in dem besonderen Verständnis von der bräutlichen Bestimmung des Leibes in seinem Mannbzw. Frausein verwurzelt. Mann und Frau werden sich im Geheimnis der Schöpfung gegenseitig zum Geschenk. Die ursprüngliche Unschuld offenbart und bestimmt zugleich das vollkommene Ethos des Schenkens. Davon haben wir bei unserer vorigen Begegnung gesprochen. Durch das Ethos des Schenkens wird zum Teil das Problem der Subjektivität des Menschen umrissen, der ein nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenes Wesen ist. Im Schöpfungsbericht (besonders in Gen 2, 23-25) ist die Frau natürlich nicht Objekt für den Mann, auch wenn sie einander gegenüber die ganze Fülle ihrer Geschöpflichkeit bewahren als »Gebein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch«, als Mann und Frau, beide nackt. Nur die Nacktheit, die die Frau zum Objekt für den Mann macht und umgekehrt, ist die Quelle der Scham. Die Tatsache, dass sie »sich nicht voreinander schämten«, will besagen, dass weder die Frau für den Mann noch er für sie Objekt war. Die innere Unschuld als Reinheit des Herzens machte es gewissermaßen unmöglich, dass der eine vom anderen irgendwie auf das Niveau eines bloßen Objekts herabgesetzt wurde. Wenn sie sich voreinander nicht schämten, dann heißt das, dass das Bewusstsein der Hingabe, des Schenkens sie vereinte, dass sie sich gegenseitig der bräutlichen Bedeutung ihres Leibes bewusst waren, in welcher die Freiheit des Schenkens zum Ausdruck kommt und sich der ganze innere Reichtum der Person kundtut. Diese gegenseitige Durchdringung des Ichs der menschlichen Personen, des Mannes und der Frau, scheint subjektiv jede Verengung auf ein Objekt auszuschließen. Es offenbart sich darin der subjektive Charakter jener Liebe, von der man darüber hinaus sagen kann, dass sie bis auf den Grund objektiv ist, weil sie sich aus der Gegenseitigkeit des Schenkens nährt.
2. Mann und Frau verlieren nach dem Sündenfall die Gnade der ursprünglichen Unschuld. Die Entdeckung der bräutlichen Bestimmung des Leibes ist für sie nicht länger eine einfache Offenbarungsund Gnadenwirklichkeit. Dennoch bleibt diese Bestimmung als dem Menschen vom Ethos des Schenkens aufgetragene Verpflichtung bestehen, sie ist sozusagen als fernes Echo der ursprünglichen Unschuld in die Tiefe des Menschenherzens eingeschrieben. Von jener bräutlichen Bestimmung her entwickelt sich die menschliche Liebe in ihrer ganzen Wahrheit und echten Subjektivität. Der Mensch entdeckt hier - wenn auch durch den Schleier der Scham - fortwährend sich selbst als Hüter der Freiheit des Schenkens, um dieses Geheimnis gegen jede Verengung zum bloßen Gegenstand zu verteidigen.
3. An dieser Stelle befinden wir uns an der Schwelle der irdischen Geschichte des Menschen. Mann und Frau haben sie noch nicht auf die Erkenntnis von Gut und Böse hin überschritten. Sie sind versunken in das Schöpfungsgeheimnis, und die Tiefe dieses in ihrem Herzen verborgenen Geheimnisses heißt Unschuld, Gnade, Liebe und Gerechtigkeit: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Der Mensch erscheint in der sichtbaren Welt als der höchste Ausdruck des göttlichen Geschenks, weil er das ganze Ausmaß dieses Geschenks in sich trägt. Und damit bringt er seine besondere Ähnlichkeit mit Gott in die Welt, durch die er auch seine Sichtbarkeit in der Welt, seine Leiblichkeit, sein Mannbzw. Frausein und seine Nacktheit transzendiert und beherrscht. Diese Ähnlichkeit spiegelt sich auch in dem ursprünglichen Bewusstsein von der bräutlichen Bestimmung des Leibes wider, die von dem Geheimnis der ursprünglichen Unschuld durchdrungen ist.
4. So stellt sich in dieser Dimension ein erstes, sozusagen ein Ursakrament dar, das als Zeichen das unsichtbare, von Ewigkeit in Gott verborgene Geheimnis in wirksamer Weise der sichtbaren Welt übermitteln will. Und dieses Geheimnis ist das Geheimnis der Wahrheit und der Liebe, das Geheimnis des göttlichen Lebens, an dem der Mensch wirklich teilnimmt. In der Geschichte des Menschen beginnt diese Teilnahme mit der ursprünglichen Unschuld, die auch Quelle der ursprünglichen Glückseligkeit ist. Das Sakrament als sichtbares Zeichen wird durch den Leib des Menschen, mittels seines sichtbaren Mannbzw. Frauseins begründet. Der Leib, und nur er, kann das Unsichtbare sichtbar machen: das Geistliche und Göttliche. Er wurde geschaffen, das von Ewigkeit her in Gott verborgene Geheimnis in die sichtbare Wirklichkeit der Welt zu übertragen und so Zeichen dieses Geheimnisses zu sein.
5. In dem nach dem Bilde Gottes erschaffenen Menschen wurde also in gewissem Sinne der sakramentale Charakter der Schöpfung, der sakramentale Charakter der Welt geoffenbart. Denn durch seine Leiblichkeit, durch sein Mannbzw. Frausein, wird der Mensch sichtbares Zeichen des Heilsplanes der Wahrheit und der Liebe, der seinen Ursprung in Gott selbst hat und bereits im Schöpfungsgeheimnis offenbar wurde. Vor diesem weiten Horizont begreifen wir nun ganz die für das Ehesakrament grundlegenden Worte in Genesis 2, 24: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Vor diesem weiten Horizont verstehen wir außerdem, dass die Worte von Genesis 2, 25 (»beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander«) durch die ganze Tiefe ihrer anthropologischen Bedeutung zum Ausdruck bringen, dass mit dem Menschen die Heiligkeit in die für ihn geschaffene sichtbare Welt gekommen ist. Das Sakrament der Welt und des Menschen in der Welt stammt aus der göttlichen Quelle der Heiligkeit und ist gleichzeitig für die Heiligkeit eingesetzt. Die mit der Erfahrung des bräutlichen Sinnes des Leibes verbundene ursprüngliche Unschuld ist dieselbe Heiligkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sich mit seinem Körper, und zwar eben durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst, zutiefst auszudrücken. Das Bewusstsein des Schenkens bedingt in diesem Fall das »Sakrament des Leibes«: Der Mensch fühlt sich in seiner Leiblichkeit als Mann bzw. Frau als Subjekt der Heiligkeit.
6. Mit diesem Bewusstsein vom Sinn des eigenen Leibes treten Mann und Frau in die Welt als Subjekt der Wahrheit und der Liebe ein. Man kann sagen, dass Genesis 2, 23-25 gleichsam das erste Fest der Menschheit in der ganzen ursprünglichen Fülle der Erfahrung des bräutlichen Sinnes des Leibes schildert: ein Fest der Menschheit, das, von den göttlichen Quellen der Wahrheit und der Liebe herkommend, im Geheimnis der Schöpfung seinen Ursprung hat. Auch wenn sich sehr bald über dieses Urfest der Schatten von Sünde und Tod breitet (Gen 3), erfahren wir doch mit dem Schöpfungsgeheimnis eine erste Hoffnung: die Hoffnung nämlich, dass die Frucht des göttlichen Heilsplanes der Wahrheit und der Liebe, der am Anfang offenbart wurde, nicht der Tod, sondern das Leben sein soll, nicht die Zerstörung des Leibes des nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen, sondern die »Berufung zur Herrlichkeit« (vgl. Röm 8, 30).
Das tiefste Wesen ehelichen Zusammenlebens 5. 3. 1980, OR 80/11
1. Unseren Betrachtungen, die insgesamt dem biblischen Anfang gewidmet waren, möchten wir noch einen kurzen Abschnitt aus dem 4. Kapitel des Buches Genesis hinzufügen. Dazu müssen wir jedoch noch einmal auf die Worte Jesu Christi in seinem Streitgespräch mit den Pharisäern (vgl. Mt 19 und Mk 10) zurückgreifen,<ref>Man muss berücksichtigen, dass Christus in seinem Streitgespräch mit den Pharisäern (Mt 19, 7-9; Mk 10, 4-6) zur Praxis des mosaischen Gesetzes über die sogenannte »Scheidungsurkunde« Stellung bezieht. Die Worte Christi: »Nur weil ihr so hartherzig seid . . .« spiegeln nicht nur die Geschichte der Herzen wider, sondern auch das positive Gesetz des Alten Testaments insgesamt, das in diesem so heiklen Bereich stets den menschlichen Kompromiss suchte.</ref> die unseren Überlegungen zugrundeliegen; sie betreffen das Gesamtbild der menschlichen Existenz, nach dem der Tod und die mit ihm einhergehende Zerstörung des Körpers (dafür steht jenes: »zum Staub musst du zurück«, Gen 3, 19) zum gemeinsamen Schicksal der Menschen geworden sind. Christus nimmt Bezug auf den Anfang, auf die ursprüngliche Sicht des Schöpfungsgeheimnisses, zu einem Zeitpunkt, als diese Dimension bereits von mysterium iniquitatis, also der Sünde, und im Zusammenhang damit auch vom Tod, dem mysterium mortis, zerstört war. Sünde und Tod sind in die Geschichte des Menschen gewissermaßen durch das Herz jener Einheit eingetreten, wie sie von Anfang an Mann und Frau bildeten, die erschaffen und berufen worden waren, »ein Fleisch zu werden« (vgl. Gen 2, 24). Bereits zu Beginn unserer Betrachtungen haben wir festgestellt, dass Christus, wenn er sich auf den Anfang beruft, uns in gewissem Sinne hinter die Grenze der ererbten Sündigkeit des Menschen bis zu seiner ursprünglichen Unschuld zurückführt; er ermöglicht uns so, die Kontinuität und innere Verbindung zwischen diesen beiden Situationen zu sehen, durch die das Drama des Anfangs, aber auch die Offenbarung des Geheimnisses des Menschen an den Menschen der Geschichte in Gang kamen.
Das gestattet uns sozusagen, nach den Analysen des Zustande« der ursprünglichen Unschuld zur letzten dieser Betrachtungen überzugehen, nämlich zur Analyse von Erkennen und Zeugen. Thematisch ist sie eng mit dem Segen der Fruchtbarkeit im ersten Bericht von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau verbunden (vgl. Gen 1, 27-28). Historisch dagegen liegt sie bereits im Horizont von Sünde und Tod, der nach Genesis 3 auf der Erkenntnis der Bedeutung des menschlichen Leibes lastete, zusammen mit dem Zerbrechen des ersten Bundes mit dem Schöpfer.
2. In Genesis 4, also noch im jahwistischen Text, lesen wir: »Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder« (Gen 4, 1-2). Wenn wir mit diesem Erkennen jene erstmalige Geburt eines Menschen auf Erden verbinden, dann tun wir es aufgrund der wörtlichen Übersetzung des Textes, nach dem die eheliche Vereinigung als Erkennen bezeichnet wird. Tatsächlich meint die angeführte Übersetzung: »Adam vereinigte sich mit Eva, seiner Frau«, während man wörtlich »er erkannte seine Frau« übersetzen müßte, was dem semitischen Ausdruck jadac angemessener zu sein scheint.<ref>»Erkennen« (jadac) bedeutet in der Sprache der Bibel nicht nur eine rein intellektuelle Erkenntnis, sondern auch eine konkrete Erfahrung, wie z. B. die Erfahrung des Leidens (vgl. Jes 53, 3), der Sünde (Weish 3, 13), des Krieges und des Friedens (Ri 3, 1; Jes 59, 8). Aus dieser Erfahrung wächst auch das moralische Urteil: »Erkenntnis von Gut und Böse« (Gen 2, 9-17). Das Erkennen tritt in den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen ein, wenn es die Solidarität der Familie (Dtn 33, 9) und besonders die ehelichen Beziehungen berührt. Gerade in Bezug auf den ehelichen Akt unterstreicht der Begriff die Vaterschaft berühmter Personen und den Ursprung ihrer Nachkommenschaft (vgl. Gen 4, 1.25; 4, 17; 1 Sam 1, 19) als gültige Daten für die Ahnenreihe, welcher die Überlieferung der Priester (das Priesteramt war in Israel erblich) große Bedeutung beimaß. Das »Erkennen« bezeichnete jedoch auch alle anderen sexuellen Beziehungen bis hin zu jenen, die unerlaubt waren (vgl. Num 31, 17; Gen 19, 5; Ri 19,22).
In der Verneinungsform drückt das Wort das Fehlen sexueller Beziehungen aus, besonders wenn es sich um Jungfrauen handelt (vgl. z. B. 1 Kön 2, 4; Ri 11, 39). Hier verwendet das Neue Testament zwei Hebraismen, wenn es von Josef (Mt 1, 25) und von Maria (Lk 1, 34) spricht.
Eine besondere Bedeutung erlangt der Aspekt der existentiellen Beziehung im Erkennen, wenn ihr Subjekt oder Objekt Gott selbst ist (z.B. PS 139; Jer 31,34; Hos 2,22; und auch Joh 14, 7-9; 17, 3).</ref> Man darf darin ein Zeichen für die Armut der archaischen Sprache sehen, der es an unterschiedlichen Ausdrücken fehlte, um unterschiedliche Vorgänge zu bezeichnen. Dennoch ist bedeutsam, dass das Geschehen, in dem Mann und Frau sich so eng miteinander vereinigen, dass sie »ein Fleisch« werden, als Erkennen bezeichnet wird. Auf diese Weise scheint gerade an der Armut der Sprache eine besondere Bedeutungstiefe aufzuleuchten, wie sich auch aus allen bisherigen Analysen ergibt.
3. Das ist offensichtlich auch wichtig für die Grundform unseres Denkens über den leiblichen Menschen in seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, also im Hinblick auf sein Geschlecht. So wurde durch den Begriff »Erkennen«, wie er in Gen 4, 1-2 und oft in der Bibel verwandt wird, die eheliche Beziehung von Mann und Frau, das heißt die Tatsache, dass sie durch die Zweiheit des Geschlechts »ein Fleisch« werden, in die spezifische Sphäre des Personseins erhoben und eingeführt. Genesis 4, 1-2 spricht nur vom »Erkennen« der Frau durch den Mann, gewissermaßen um vor allem die Aktivität des letzteren zu unterstreichen. Man kann jedoch auch von einer Gegenseitigkeit dieses Erkennens sprechen, an dem Mann und Frau durch ihren Körper und ihr Geschlecht teilhaben. Fügen wir hinzu, dass eine Reihe nachfolgender biblischer Texte wie schon das gleiche Kapitel der Genesis (vgl. z. B. Gen 4, 17; 4, 25) denselben Sprachgebrauch aufweisen. Und das bis hin zu den Worten Maria von Nazaret bei der Verkündigung: »Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?« (Lk 1, 34).
4. So befinden wir uns mit jenem biblischen »er erkannte«, das zum ersten Mal in Genesis 4, 1-2 erscheint, einerseits vor dem unmittelbaren Ausdruck der menschlichen Intentionalität (die ja der Erkenntnis eigen ist) und anderseits vor der ganzen Wirklichkeit des Zusammenlebens und der ehelichen Vereinigung, in welcher Mann und Frau »ein Fleisch« werden.
Wenn die Bibel hier, sei es auch wegen der Armut der Sprache, von »Erkennen« spricht, weist sie damit auf das tiefste Wesen der Wirklichkeit ehelichen Zusammenlebens hin. Dieses Wesen erscheint als Bestandteil und zugleich Ergebnis jener Bedeutungen, deren Spuren wir seit Beginn unserer Betrachtungen zu verfolgen versuchen; es gehört zum Bewusstsein von der Bedeutung des eigenen Leibes. In Genesis 4, 1 erfahren der Mann und die Frau, die »ein Fleisch« werden, in besonderer Weise die Bedeutung des eigenen Leibes. Sie werden so gleichsam zu einem einzigen Subjekt jenes Aktes und jener Erfahrung und bleiben doch gleichzeitig in dieser Einheit zwei voneinander real verschiedene Geschöpfe. Das berechtigt uns gewissermaßen zu der Behauptung, dass der Mann die Frau erkennt oder dass beide sich gegenseitig erkennen. Sie offenbaren sich einander mit jener spezifischen Tiefe des eigenen menschlichen Ichs, das gerade durch ihr Geschlecht, ihr Mannbzw. Frausein, offenbar wird. So wird also in einzigartiger Weise in der Form des Erkennens die Frau dem Mann gegeben und er ihr.
5. Wenn wir auf der Linie der vorangegangenen Untersuchungen fortfahren sollen (besonders der letzten, die den Menschen in der Dimension des Schenkens erläuterten), gilt es, zu bemerken, dass im Buch Genesis »datum« und »donum« dieselbe Bedeutung haben. Doch hebt Genesis 4, 1-2 vor allem das »datum« hervor. Im ehelichen Erkennen wird die Frau dem Mann und er ihr gegeben, da Leib und Geschlecht direkt in die Struktur dieser Erkenntnis eintreten. Somit schließt also die Tatsache der ehelichen Vereinigung, in welcher Mann und Frau ein Fleisch werden, in sich eine neue und in gewisser Hinsicht die endgültige Entdeckung des menschlichen Leibes in seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit ein. Aber ist es richtig, angesichts dieser Entdeckung lediglich von Geschlechtsgemeinschaft zu sprechen? Es ist doch zu beachten, dass beide, Mann und Frau, nicht bloß ein passiver Gegenstand sind, von Leib und Geschlecht bestimmt und auf diese Weise von der Natur her festgelegt. Im Gegenteil, gerade weil sie Mann und Frau sind, wird jeder von ihnen dem anderen als einmaliges und unwiederholbares Menschenwesen, als Ich, als Person zum Geschenk gegeben. Das Geschlecht bestimmt nicht nur die körperliche Eigenart des einzelnen Menschen, sondern drückt gleichzeitig auch seine persönliche, konkrete Identität aus. In ebendieser persönlichen, konkreten Identität, als unwiederholbares männliches bzw. weibliches Ich, wird der Mensch »erkannt«, wenn sich die Worte von Genesis 2, 24 erfüllen: »Der Mann . . . bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Das »Erkennen«, von dem Genesis 4, 1-2 und alle folgenden biblischen Texte sprechen, reicht bis zu den tiefsten Wurzeln dieser konkreten Identität, die Mann und Frau ihrem Geschlecht verdanken. Diese Konkretheit bedeutet sowohl die Einmaligkeit als auch die Unwiederholbarkeit der Person. Es war also der Mühe wert, über die Aussagekraft des angeführten Bibeltextes und des Ausdrucks »er erkannte« nachzudenken; trotz des anscheinenden Mangels an begrifflicher Präzision erlaubt uns dieser Ausdruck, bei der Tiefe und Dimension eines Begriffes zu verweilen, welche uns die moderne Sprache, auch wenn sie sehr präzise ist, nur allzuoft vorenthält.
»Erkennen«, Zeugung und Fruchtbarkeit (1) 12. 3. 1980, OR 80/12
1. Bei unserer vorigen Betrachtung haben wir den Satz Genesis 4, 1 und besonders den Ausdruck »er erkannte« analysiert, der im Urtext zur Bezeichnung der ehelichen Vereinigung gebraucht wird. Wir haben auch hervorgehoben, dass dieses biblische »Erkennen« eine Art personalen Archetyps<ref>Die Archetypen definiert C. G. Jung als »a priori«-Gestalten der verschiedenen Funktionen der Seele: Wahrnehmung von Beziehungen, schöpferische Phantasie. Die Gestalten füllen sich inhaltlich mit Erfahrungsmaterial. Sie sind nicht untätig, entbehren aber des Gefühls und des Strebens (siehe vor allem: »Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus«, Eranos 6, 1938, S. 405-409).
Nach dieser Auffassung kann man in der gegenseitigen Beziehung von Mann und Frau einen Archetypus antreffen, eine Beziehung, die auf der paarweisen und komplementären Verwirklichung des in zwei Geschlechtern existierenden menschlichen Wesens beruht. Der Archetypus füllt sich inhaltlich durch die persönliche und gemeinsame Erfahrung und vermag die schöpferische Phantasie der Bilder in Bewegung zu setzen. Dabei ist klarzustellen, dass der Archetypus: a) sich nicht auf die körperliche Beziehung beschränkt noch an ihr wächst, wohl aber die Beziehung des Erkennens einschließt; b) Träger von Neigungen ist: Sehnsucht, Furcht, Hingabe, Besitz; c) dass der Archetypus als Urbild Bilder hervorbringt.
Der dritte Aspekt erlaubt uns den Übergang zur Hermeneutik, nämlich jener der Texte der Schrift und der Überlieferung. Die religiöse Sprache ist primär symbolisch (vgl. W. Stählin, Symbolon, 1958; I. Macquarrie, God Talk, 1968; T. Fawcett, The symbolic Language of Religion, 1970). Sie bevorzugt einige ursprüngliche oder exemplarische Symbole, die wir als Archetypen bezeichnen können. Von diesen verwendet die Bibel das Symbol der ehelichen Beziehung als Erkennen.
Eines der frühesten poetischen Texte der Bibel, der den Archetypus der Ehe auf die Beziehungen Gottes zu seinem Volk anwendet, findet seinen Höhepunkt in dem kommentierten Wort: »Dann wirst du den Herrn erkennen« (Hos 2, 22: weyadacta 'et Yhwh; abgeschwächt in: »Dann wirst du erkennen, dass ich der Herr bin« = wydct ky 'ny Yhwh: Jes 49, 23; 60, 16; Ez 16, 62, das sind die drei »Hochzeitslieder«). Von hier geht eine literarische Tradition aus, die in der paulinischen Anwendung auf Christus und seine Kirche in Eph 5 ihren Höhepunkt findet; das geht dann weiter in der Tradition der Kirchenväter und der großen Mystiker (z. B. »Llama de amor viva« des hl. Johannes vom Kreuz).
In dem Buch »Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft«, Bd. I, München 1976, 4. Ausgabe, S. 462, werden die Archetypen folgendermaßen definiert: »Archaische Bilder und Motive, die nach Jung den Inhalt des allen Menschen gemeinsamen kollektiven Unbewussten bilden; sie vertreten Symbole, die in allen Zeiten und bei allen Völkern in bildhafter Weise das verlebendigen, was an Ideen, Vorstellungen und Instinkten für die Menschheit entscheidend ist.«
Freud gebraucht bekanntlich nicht den Begriff des Archetypus. Er setzt eine entsprechende Symbolik bzw. einen Kodex für die offenkundigen Bilder und verborgenen Gedanken fest. Der Sinn der Symbole liegt fest, auch wenn er nicht einheitlich ist; sie können auf einen letzten, seinerseits unverkürzbaren Gedanken zurückgeführt werden, der gewöhnlich irgendeine Kindheitserfahrung ist. Sie sind primär und tragen sexuellen Charakter (doch er nennt sie nicht Archetypen). Siehe T. Todorov, Theories du symbol, Paris, 1977, S. 317 f.; J. Jacoby, Komplex, Archetyp, Symbol in der Psychologie C. G. Jungs, Zürich, 1957.</ref> der Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen darstellt. Das scheint absolut grundlegend für das Verständnis des Menschen zu sein, der von Anfang an auf der Suche nach der Bedeutung des eigenen Körpers ist. Diese Bedeutung liegt eben der Theologie des Leibes zugrunde. Der Ausdruck »er erkannte« - »er vereinigte sich« (Gen 4, 1-2) faßt die ganze Dichte des bisher analysierten biblischen Textes zusammen. Der Mann, der nach Genesis 4, 1 zum ersten Mal die Frau, seine Ehefrau, im ehelichen Akt »erkennt«, ist derselbe, der dadurch, dass er alles benannte, also auch durch Erkennen, sich von der gesamten Welt der Lebewesen oder animalia unterschieden hat, wodurch er sich selbst als Person und Subjekt bestätigte. Das Erkennen, von dem Genesis 4, 1 spricht, entfernt ihn nicht und kann ihn nicht entfernen von der Ebene jenes ursprünglichen und grundlegenden Selbstbewusstseins. Was also auch immer eine einseitig naturalistische Auffassung hier behauptet haben mag, es kann sich in Genesis 4, 1 nicht um eine passive Hinnähme der eigenen Bestimmung durch den Körper und die Geschlechtlichkeit handeln, eben weil es sich um ein Erkennen handelt! Dagegen ist es eine weitere Einsicht in die Bedeutung des eigenen Körpers, eine gemeinsame und gegenseitige Einsicht, so wie die Existenz des Menschen, den »Gott als Mann und Frau geschaffen hat«, von Anfang an gemeinsam und gegenseitig ist. Die Erkenntnis, die der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen zugrunde lag, bildet nun die Grundlage für diese Einheit von Mann und Frau, deren Ausmaß vom Schöpfer klar in das Geheimnis der Schöpfung selbst eingeschlossen worden ist (Gen 1, 27; 2, 23). In diesem Erkennen bestätigt der Mann die Bedeutung des Namens Eva, der seiner Frau gegeben wurde, »weil sie die Mutter aller Lebendigen war« (Gen 3, 20).
2. Nach Genesis 4, 1 ist der, der erkennt, der Mann, und die, die erkannt wird, die Frau und Gattin, so als würde die spezifische Bestimmung der Frau durch ihren Körper und ihr Geschlecht das verbergen, was die eigentliche Tiefe ihrer Weiblichkeit darstellt. Dagegen ist der Mann derjenige, der - nach dem Sündenfall - als erster Scham über seine Nacktheit empfunden und als erster gesagt hat: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin und habe mich versteckt« (Gen 3, 10). Es wird nötig sein, noch einmal eigens auf die Geistesverfassung der beiden nach dem Verlust der ursprünglichen Unschuld einzugehen. Schon jetzt aber muss man festhalten, dass in dem Erkennen, von dem Genesis 4, 1 spricht, das Geheimnis der Weiblichkeit sich durch die Mutterschaft bis auf den Grund enthüllt und offenbart, wie es im Text heißt: »Sie wurde schwanger und gebar.« Die Frau steht als Mutter vor dem Mann, als Trägerin des neuen Menschenlebens, das in ihr empfangen wird und sich entwickelt und von ihr zur Welt gebracht wird. So offenbart sich auch bis auf den Grund das Geheimnis der Männlichkeit des Mannes, das heißt die auf Zeugung und Vaterschaft ausgerichtete Bedeutung seines Körpers.<ref>Die Vaterschaft ist eine der wichtigsten Aspekte des Menschseins in der Heiligen Schrift.
Der Text Gen 5,3: »Adam . . . zeugte einen Sohn in seiner Gestalt, wie sein Abbild« steht ausdrücklich mit der Erzählung von der Erschaffung des ersten Menschen (Gen 1, 27; 5, 1) in Zusammenhang und scheint dem irdischen Vater die Beteiligung an dem göttlichen Werk der Weitergabe des Lebens und wohl auch an jener Freude beizumessen, die in der Feststellung zum Ausdruck kommt: »er sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31).</ref>
3. Die im Buch Genesis enthaltene Theologie des Leibes ist knapp und wortkarg. Zugleich finden hier Grundinhalte ihren Ausdruck, die gewissermaßen erstrangig und endgültig sind. Sie alle finden sich auf ihre Weise in jenem biblischen Erkennen. Die Konstitution der Frau unterscheidet sich von jener des Mannes; ja wir wissen heute, dass diese Verschiedenheit bis hin zu den tiefgreifendsten biophysiologischen Determinanten reicht. Äußerlich zeigt sie sich nur in begrenzter Weise im Bau und in der Form ihres Körpers. Die Mutterschaft macht diese Konstitution von innen her offenbar als besondere Fähigkeit des weiblichen Organismus, der mit seiner schöpferischen Eigenart unter Mitwirkung des Mannes der Empfängnis und Geburt des Menschenwesens dient. Das Erkennen bedingt Geburt.
Die Zeugung ist eine Ausrichtung, die Mann und Frau in ihr gegenseitiges Erkennen einschließen. Sie überschreitet daher die Subjekt-Objekt-Grenzen, welche Mann und Frau füreinander zu bilden scheinen, da das Erkennen einerseits auf den hinweist, der erkennt, und anderseits auf die, die erkannt wird (oder umgekehrt). Dieses Erkennen umfaßt auch den Vollzug der Ehe, das spezifische consummatum; so wird einerseits die Objektbezogenheit des Körpers, die in den leiblichen Fähigkeiten des Mannes und der Frau verborgen ist, verwirklicht und gleichzeitig die Objektbezogenheit des Menschen, der dieser Körper ist. Durch den Körper ist die menschliche Person Gatte und Gattin; gleichzeitig scheint in diesem besonderen Akt des Erkennens, wie er von dem personalen Fraubzw. Mannsein vermittelt wird, auch die Entdeckung der reinen Subjektivität der schenkenden Hingabe enthalten zu sein: das heißt, die gegenseitige Selbstverwirklichung im Sich-Schenken.
4. Die Fortpflanzung bewirkt, dass Mann und Frau (seine Ehefrau) sich in dem Dritten, das von ihnen beiden stammt, gegenseitig erkennen. Dieses Erkennen wird deshalb zu einer Entdeckung, in gewissem Sinne zu einer Offenbarung des neuen Menschen, in dem beide, Mann und Frau, noch einmal sich selbst, ihr Menschsein, ihr lebendiges Abbild erkennen. Allem, was von den beiden durch ihren Körper und ihr Geschlecht bestimmt wird, gibt das Erkennen einen lebendigen, realen Inhalt. Das Erkennen im biblischen Sinne bedeutet somit, dass die biologische Bestimmung des Menschen durch seinen Körper und sein Geschlecht nicht mehr nur etwas Passives ist, sondern eine Ebene und einen Gehalt erreicht, die den sich ihrer selbst bewussten und sich selbst bestimmenden Personen zu eigen sind; sie schließt also ein besonderes Bewusstsein von der Bedeutung des menschlichen Körpers ein, das an die Vaterbzw. Mutterschaft gebunden ist.
5. Die ganze äußere Konstitution des Leibes der Frau, sein spezifisches Aussehen, die Eigenschaften, die mit ihrer ewigen Anziehungskraft am Beginn des Erkennens stehen, von welcher Genesis 4, 1-2 spricht (»Der Mensch erkannte Eva, seine Frau«), sind mit der Mutterschaft verbunden. Die Bibel (und in der Folge die Liturgie) lobt und preist mit der ihr eigenen Schlichtheit seit Jahrhunderten den »Leib, der dich getragen, und die Brust, die dich genährt hat« (Lk 11, 27). Diese Worte sind ein Lob auf die Mutterschaft, auf die Weiblichkeit, auf den Leib der Frau in seinem typischen Ausdruck der schöpferischen Liebe. Sie beziehen sich im Evangelium auf die Mutter Christi, Maria, die zweite Eva. Die erste Frau aber sagte in dem Augenblick, als sich ihr zum ersten Mal die mütterliche Reife ihres Leibes enthüllte, als sie empfing und gebar: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4, 1).
6. Diese Worte drücken die ganze theologische Tiefe der Funktion der Fortpflanzung und Zeugung aus. Der Leib der Frau wird zum Ort der Empfängnis des neuen Menschen.<ref>Nach dem Text von Gen 1, 26 ist die »Berufung« zur Existenz zugleich Weitergabe des göttlichen Bildes und Gleichnisses. Der Mensch muss dieses Abbild immer weitergeben, womit er das Werk Gottes fortsetzt. Die Erzählung von der Zeugung des Set unterstreicht diesen Aspekt: »Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn in seiner Gestalt, wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gen 5, 3).
Da Adam und Eva Abbilder Gottes waren, erbte Set von den Eltern diese Ähnlichkeit, um sie an die anderen weiterzugeben.
In der Heiligen Schrift ist jedoch jede Berufung an eine Sendung gebunden; somit ist die Berufung zum Dasein bereits Vorherbestimmung zum Werk Gottes: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« Jer 1, 5; vgl. auch Jes 44, 1; 49, 1.5).
Gott beruft nicht nur zum Dasein, er trägt und entwickelt auch vom ersten Augenblick der Empfängnis an das Leben: »Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott« (Ps 22, 10.1; vgl. PS139, 13-15).
Die Aufmerksamkeit des biblischen Autors konzentriert sich gerade auf die Tatsache, dass das Leben Geschenk ist. Das Interesse für die Art, in der das geschieht, ist eher zweitrangig und taucht erst in den späteren Büchern auf (vgl. Ijob 10, 8.11; 2 Makk 7, 22-23; Weish 7, 1-3).</ref> In ihrem Schoß nimmt der empfangene Mensch sein spezifisches menschliches Aussehen an, noch ehe er zur Welt gebracht wird. Die gleiche Abstammung des Leibes von Mann und Frau, die in den Worten: »Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (Gen 2, 23) zum ersten Mal ihren Ausdruck gefunden hat, wird nun von der ersten Frau und Mutter bestätigt: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben!« Die erste Frau, die gebiert, ist sich des Schöpfungsgeheimnisses voll bewusst, das sich in der menschlichen Fortpflanzung erneuert. Sie weiß auch um die schöpferische Anteilnahme Gottes an der menschlichen Fortpflanzung, die ihr und ihres Gatten Werk ist, denn sie sagt: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben.« Es darf hier keine Verwirrung zwischen den Wirkungsbereichen der Ursachen entstehen. Die Ureltern geben auch nach dem Sündenfall gemeinsam mit der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse und damit gleichsam an der Schwelle aller geschichtlichen Erfahrungen an alle Eltern die fundamentale Wahrheit von der Geburt des Menschen als Abbild Gottes nach den Naturgesetzen weiter. Jeder neue Mensch, von der Frau durch die Zeugungskraft des Mannes geboren, wiederholt dasselbe Abbild Gottes, jenes Gottes, der die Menschheit des ersten Menschen geschaffen hat: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild . . . Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1, 27).
7. Obgleich es tiefgreifende Unterschiede zwischen dem Zustand der ursprünglichen Unschuld und dem Zustand der erblichen Sündhaftigkeit des Menschen gibt, ist jenes Abbild Gottes eine Grundlage der Kontinuität und Einheit. Das Erkennen, von dem Genesis 4, 1 spricht, ist der Akt, in dem das Sein seinen Ursprung hat, das heißt, der in Gemeinschaft mit dem Schöpfer einem neuen Menschen seine Existenz gibt. Der erste Mensch in seiner transzendentalen Einsamkeit hat von der für ihn geschaffenen sichtbaren Welt Besitz ergriffen, indem er alle Lebewesen (animalia) erkannte und ihnen Namen gab. Derselbe Mensch als Mann und Frau begründet die Menschheit durch das gegenseitige Sich-Erkennen in dieser spezifischen Gemeinschaft und Verbundenheit von Personen, in welcher Mann und Frau sich so eng miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch« werden, das heißt, er bestätigt und erneuert die Existenz des Menschen als Abbild Gottes. Jedesmal übernehmen beide, Mann und Frau, sozusagen dieses Abbild aus dem Schöpfungsgeheimnis und geben es mit Hilfe von Gott-Jahwe weiter.
Die Worte des Buches Genesis, die ein Zeugnis für die erste Geburt des Menschen auf Erden sind, enthalten gleichzeitig all das, was man von der Würde der menschlichen Fortpflanzung sagen kann und muss.
»Erkennen«, Zeugung und Fruchtbarkeit (z) 26. 3. 1980, OR 80/14-15
1. Die Reihe der Betrachtungen, mit denen wir den Anruf Christi bei Matthäus (19, 3-9) und Markus (10, 1-2) aufzugreifen versuchten, geht zu Ende: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein?« (Mt 19, 4-5). Die eheliche Vereinigung wird im Buch Genesis als »Erkennen« bezeichnet: »Der Mensch erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4, 1). Schon bei unseren vorangegangenen Überlegungen haben wir versucht, den Gehalt dieses biblischen Erkennens zu deuten. Mit diesem Erkennen schenkt der Mensch als Mann und Frau nicht nur seinen Namen, wie er die anderen Lebewesen, animalia, benannt und damit in Besitz genommen hat; er erkennt vielmehr im Sinne von Genesis 4, 1 (und anderer Bibelstellen), das heißt, er verwirklicht das, was der Name »Mensch« ausdrückt: er verwirklicht im neu gezeugten Menschen das Menschsein. Er verwirklicht also in gewissem Sinne sich selbst, das heißt den Menschen als Person.
2. So schließt sich der biblische Kreislauf von Erkennen und Zeugung. Dieser Kreislauf des Erkennens ist grundgelegt in der Einheit der personalen Liebe, wodurch sie sich so innig miteinander vereinigen können, dass sie ein Fleisch werden. Das Buch Genesis offenbart uns die volle Wahrheit über diesen Zyklus. Der Mensch, Mann und Frau, der durch den Akt des Erkennens, von dem die Bibel spricht, ein neues Wesen zeugt und hervorbringt, das ihm gleicht und dem er den Namen »Mensch« geben kann (»ich habe einen Mann erworben«), ergreift sozusagen Besitz vom selben Menschsein, oder besser, er macht es sich erneut zu eigen. Doch dieses In-Besitznehmen geschieht anders als das Besitzergreifen aller anderen Lebewesen (animalia), denen er Namen gegeben hatte. Denn damals war er ihr Herr geworden, er hatte begonnen, den Inhalt des Schöpferauftrages zu verwirklichen: »Unterwerft euch die Erde und herrscht über sie« (vgl. Gen 1, 28).
3. Jedoch der erste Teil dieses Auftrags: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde!« (Gen 1 , 2 8 ) verbirgt einen weiteren Inhalt und weist eine neue Komponente auf. Mann und Frau werden in dieser Erkenntnis, durch die sie ein menschliches Wesen hervorbringen, das ihnen gleicht und von dem sie sagen können, dass es »Fleisch von meinem Fleisch und Gebein von meinem Gebein« (Gen 2, 23) ist, sozusagen beide gemeinsam von dem Menschsein ergriffen, dem sie in ihrer Vereinigung und im gegenseitigen Erkennen aufs neue Ausdruck geben. Sie wollen von ihm erneut Besitz ergreifen, indem sie es aus sich selbst, aus ihrem eigenen Menschsein, aus ihrer wunderbaren körperlichen Reife als Mann und Frau heraus und schließlich - durch die ganze Kette menschlicher Zeugung und Fortpflanzung seit Anbeginn - aus dem Schöpfungsgeheimnis selbst gewinnen.
4. In diesem Sinne lässt sich das biblische Erkennen im Sinn von Besitz verstehen. Kann man in ihr eine biblische Entsprechung zum Eros sehen? Es handelt sich hier um zwei Begriffsbereiche, um zwei Ausdrucksweisen: die biblische und die platonische; nur mit großer Vorsicht kann man eine im Licht der anderen deuten.<ref>Nach Plato ist der Eros die nach dem überirdischen Schönen begehrende Liebe und drückt die nach ihrem ewigen Ziel strebende Unersättlichkeit aus; er richtet also stets das, was menschlich ist, auf das Göttliche, das allein die Sehnsucht der in der Materie gefangenen Seele zu stillen vermag; er ist eine Liebe, die auch vor der größten Anstrengung nicht zurückweicht, um zur Ekstase der Vereinigung zu gelangen; es handelt sich also um eine egozentrische, ichbezogene Liebe, um ein begehrliches Verlangen, auch wenn es auf höchste Werte ausgerichtet ist (vgl. A. Nygren, Eros et Agape, Paris, 1951, Bd. II, S. 9-10). Im Laufe der Jahrhunderte wurde durch viele Veränderungen die Bedeutung des Eros auf die rein sexuellen Merkmale verkürzt. Typisch ist da der Text von P. Chauchard, der dem Eros sogar die Merkmale der menschlichen Liebe abzusprechen scheint: »Die intellektuelle Bewältigung der Sexualität besteht nicht in den unangenehmen technischen Kunstgriffen, sondern in der vollen Erkenntnis ihrer Spiritualität, weil der Eros nur dann menschlich ist, wenn er von der Agape beseelt ist, und weil die Agape im Eros Fleisch werden will«. (P. Chauchard, Vices des vertus, vertus des vices, Paris, 1963, S. 147). Der Vergleich des biblischen Erkennens mit dem platonischen Eros offenbart die Unvereinbarkeit dieser beiden Vorstellungen deutlich. Die platonische Vorstellung beruht auf der Sehnsucht nach dem überirdischen Schönen und auf der Flucht aus der Materie; die biblische Vorstellung hingegen ist auf die konkrete Wirklichkeit ausgerichtet, und der Dualismus von Geist und Materie ist ihr ebenso fremd wie jede spezifische Feindseligkeit gegenüber der Materie (»Gott sah, dass . . . es gut war«, Gen 1,10.12.18.21.25).
Während der platonische Begriff des Eros die biblische Bedeutung des menschlichen Erkennens übersteigt, erscheint sein heutiger Begriff allzu eng gefaßt. Das biblische Erkennen beschränkt sich nicht auf die Befriedigung des Instinkts oder auf die Lust, sondern ist ein im Vollsinn menschlicher Akt, bewusst auf die Zeugung ausgerichtet; sie ist auch der Ausdruck der interpersonalen Liebe (vgl. Gen 29, 20; 1 Sam 1, 8; 2 Sam 12, 24).</ref> Es scheint jedoch, dass in der ursprünglichen Offenbarung der Gedanke der Inbesitznahme der Frau durch den Mann oder umgekehrt, als wäre der Partner ein Gegenstand, nicht vorhanden ist. Andererseits weiß man freilich, dass Mann und Frau aufgrund der Sündhaftigkeit, die nach dem Sündenfall ihr Schicksal wurde, jeweils mühsam den Sinn des selbstlosen Einander-Schenkens zurückgewinnen müssen. Das wird der Inhalt unserer weiteren Überlegungen sein.
5. Die Offenbarung des Leibes, die im Buch Genesis, besonders im 3. Kapitel, sich findet, zeigt mit eindrucksvoller Klarheit, dass der Kreislauf von Erkennen und Zeugung, der so tief in den Körperkräften des Menschen verwurzelt ist, nach dem Sündenfall dem Gesetz von Leiden und Tod unterworfen wurde. Gott-Jahwe sagt zur Frau: »Viel Mühsal bereite ich dir, oft wirst du schwanger sein, unter Schmerzen gebierst du Kinder« (Gen 3, 16). Zugleich mit der Offenbarung der Bedeutung des Körpers für die Zeugung eröffnet sich vor dem Menschen im Akt des gegenseitigen Erkennens der Eheleute der Horizont des Todes. Und eben deshalb nennt der erste Mann seine Frau Eva, »denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen« (Gen 3, 20), nachdem er bereits das Urteil vernommen hatte, das den ganzen Ausblick menschlichen Daseins innerhalb der Erkenntnis von Gut und Böse festlegte. Dieser Ausblick findet seine Bestätigung in den Worten: ». . . bis zu zurückkehrst zum Ackerboden. Von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück« (Gen 3, 19). Der radikale Charakter dieses Urteils wird eindeutig durch die Erfahrungen der gesamten irdischen Geschichte des Menschen bestätigt. Der Horizont des Todes erstreckt sich auf den Gesamtausblick des menschlichen Erdenlebens, jenes Lebens, das in den ursprünglichen biblischen Kreislauf von Erkennen und Zeugung eingefügt wurde. Der Mensch, der den Bund mit seinem Schöpfer gebrochen hat, indem er die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse pflückte, wird von Gott-Jahwe vom Baum des Lebens getrennt: »Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon ißt und ewig lebt!« (Gen 3, 22). Dadurch wurde dem Menschen das Leben, das ihm im Schöpfungsgeheimnis geschenkt worden war, nicht genommen, sondern auf die Grenzen von Zeugung, Geburt und Tod begrenzt und zudem belastet mit der Erbsünde, und doch wird es ihm gewissermaßen im immer wiederkehrenden Kreislauf als Aufgabe und Auftrag stets neu geschenkt. Der Satz: »Der Mensch erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar« (Gen 4, 1) gleicht einem Siegel, das der ursprünglichen Offenbarung des Leibes am Anfang der Geschichte des Menschen auf Erden aufgeprägt wurde. Diese Geschichte entsteht in ihrer grundlegendsten Dimension gleichsam von Anfang an immer wieder neu durch eben dieses Erkennen und diese Zeugung, von der das Buch Genesis spricht.
6. Und so trägt jeder Mensch das Geheimnis seines Anfangs in sich, das eng mit dem Wissen um den schöpferischen Sinn des Leibes verbunden ist. Genesis 4, 1-2 scheint über die Frage der Beziehung zu schweigen, die zwischen der schöpferischen und der bräutlichen Bedeutung des Leibes besteht. Vielleicht ist hier weder die Zeit noch der Ort für die Aufhellung dieser Beziehung, selbst wenn das bei der weiteren Erklärung unerläßlich erscheint. Man wird dann erneut die Fragen nach dem Zusammenhang mit dem Auftreten der Scham beim Menschen aufwerfen müssen, des Schamgefühls über sein Mannbzw. Frausein, ein Gefühl, das er zunächst nicht gekannt hatte. Für den Augenblick ist das jedoch eine zweitrangige Frage. An erster Stelle steht hingegen die Tatsache, dass Adam sich mit Eva, seiner Frau, vereinigte (»sie erkannte«), dass sie empfing und gebar. Das ist eben die Schwelle der Geschichte des Menschen. Es ist sein Anfang auf Erden. An dieser Schwelle steht der Mensch, als Mann und Frau, mit dem Wissen um den schöpferischen Sinn seines Leibes: die Männlichkeit ist ausgerichtet auf Vaterschaft, die Weiblichkeit auf Mutterschaft. Um dieses Sinnes willen wird Christus eines Tages auf die Frage der Pharisäer die kategorische Antwort geben (Mt 19; Mk 10). Wir hingegen versuchen, auf den einfachen Inhalt dieser Antwort einzugehen und gleichzeitig den Kontext jenes Anfangs zu klären, auf den Christus sich bezieht. In ihm hat die Theologie des Leibes ihre Wurzeln.
7. Das Wissen um den Sinn des Leibes und seine schöpferische Bedeutung begegnet im Menschen dem Wissen um den Tod, der sozusagen als sein unvermeidlicher Horizont auftaucht. Dennoch kehrt in der Geschichte des Menschen immer der Kreislauf Erkennen - Zeugung wieder, in dem das Leben immer aufs neue mit dem unerbittlichen Ausblick auf den Tod kämpft, aber stets siegreich bleibt. Es ist, als ob der Grund für diese Unüberwindlichkeit des Lebens, die sich in der Zeugung offenbart, immer wieder dasselbe Erkennen ist, in dem der Mensch die Einsamkeit seiner eigenen Existenz überschreitet und aufs neue beschließt, diese Existenz in einem anderen Menschenwesen zu bejahen. Und beide, Mann und Frau, bejahen sie in dem neu gezeugten Menschen. In dieser Bejahung scheint das biblische Erkennen eine noch größere Dimension zu erhalten. Das heißt, es scheint sich in jenes Sehen Gottes selbst einzufügen, mit dem der erste Bericht über die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau »nach dem Abbild Gottes« endet: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1,31). Trotz aller Erfahrung seines Lebens, trotz der Leiden, der Enttäuschungen über sich selbst, trotz seiner Sündhaftigkeit und schließlich trotz des unvermeidlichen Ausblicks auf den Tod stellt der Mensch doch immer wieder das Erkennen an den Anfang der Zeugung. Es scheint, dass der Mensch so an jenem ersten Sehen Gottes teilnimmt: Gott, der Schöpfer, »sah . . . und alles war sehr gut«. Die Wahrheit dieser Worte bekräftigt er immer aufs neue.
Der »Anfang« im Heute 2. 4. 1980, OR 80/16
1. Das Matthäus- und das Markusevangelium berichten uns die Antwort Christi an die Pharisäer, als diese ihn über die Unauflöslichkeit der Ehe befragten. Sie beriefen sich dabei auf das Gesetz des Mose, das in bestimmten Fällen die Ausstellung einer sogenannten Scheidungsurkunde zuließ. Im Anschluss an die ersten Kapitel des Buches Genesis antwortete Christus: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.« Ihre Frage zum Gesetz des Mose aufgreifend, fügte Christus noch hinzu: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so« (Mt 19, 3 ff.; Mk 12, 2 ff.). In seiner Antwort nahm Christus zweimal Bezug auf den »Anfang«, und deshalb haben auch wir im Laufe unserer Überlegungen versucht, in möglichst tiefreichender Weise die Bedeutung dieses »Anfangs« zu klären. Er ist ja das grundlegende Erbe jedes Menschen, Mann und Frau, in dieser Welt, zugleich die erste Bestätigung seiner Identität als Mensch gemäß der Offenbarung, der Urgrund für die Gewißheit seiner Berufung als Person, die nach dem Abbild Gottes selbst geschaffen ist.
'2. Die Antwort Christi hat historische, aber nicht nur historische Bedeutung. Menschen aller Zeiten stellen die gleiche Frage, unsere Zeitgenossen, die sich freilich bei ihrem Fragen nicht auf das Gesetz des Mose, das den Scheidungsbrief zuließ, sondern auf andere Verhältnisse und andere Gesetze berufen. Mit ihren Fragen sind viele Probleme verbunden, die den damaligen Gesprächspartnern Christi unbekannt waren. Wir wissen, welche Fragen zu Ehe und Familie dem letzten Konzil, aber auch Papst Paul VI. vorgelegt wurden. In der nachkonziliaren Zeit werden sie weiter Tag für Tag unter den verschiedensten Umständen formuliert. Sie werden gestellt von Einzelpersonen, Eheleuten, Verlobten, Jugendlichen, aber auch von Schriftstellern, Publizisten, Politikern, Wirtschaftsfachleuten, Demographen, kurz von der heutigen Kultur und Zivilisation.
Ich glaube, dass sich unter den Antworten, die Christus den Menschen unserer Zeit auf ihre oft recht ungeduldigen Fragen geben würde, immer noch jene wesentlich wäre, die er den Pharisäern gab. Christus würde sich vor allem auf den »Anfang« berufen. Er würde das wohl um so entschiedener und nachdrücklicher tun, als sich die innere und zugleich die kulturelle Situation des heutigen Menschen von jenem »Anfang« zu entfernen und Formen wie Dimensionen anzunehmen scheint, die von dem biblischen Bild des »Anfangs« offensichtlich immer mehr abweichen.
Christus wäre jedoch von keiner dieser Situationen »überrascht«, und ich vermute, dass er weiter vor allem auf den »Anfang« hinweisen würde.
3. Deshalb erforderte die Antwort Christi eine besonders gründliche Untersuchung. Denn in dieser Antwort sind elementare Grundwahrheiten über den Menschen als Mann und Frau angesprochen. Sie gibt uns Einblick in die Struktur der Identität des Menschen innerhalb des Schöpfungsgeheimnisses und zugleich im Geheimnis der Erlösung. Ohne diese kann man keine Theologie des Menschen und damit eine Theologie des Leibes entwickeln, und von daher müßte sich auch die echt christliche Sicht der Ehe und Familie ergeben. Das hat auch Paul VI. klargestellt, als er in seiner Enzyklika über die Probleme der im menschlichen und christlichen Sinn verantworteten Ehe und Fortpflanzung sich auf die »ganzheitliche Sicht vom Menschen« berief (Humanae vitae, Nr. 7). Man darf sagen, dass Christus in seiner Antwort an die Pharisäer seinen Gesprächspannern ebenfalls diese ganzheitliche Sicht vom Menschen dargelegt hat, ohne die es überhaupt keine entsprechende Antwort auf die Fragen um Ehe und Fortpflanzung geben kann. Gerade diese ganzheitliche Sicht vom Menschen muss aber vom »Anfang« her entwickelt werden. Das gilt für die heutige Denkweise ebenso, wenn auch in anderer Form, wie für die Gesprächspartner Christi. Wir sind Kinder einer Zeit, wo angesichts der Entwicklung verschiedener Wissenszweige diese ganzheitliche Sicht vom Menschen leicht zurückgedrängt und durch alle möglichen Teilsichten und -auffassungen ersetzt werden kann. Diese greifen den einen oder den anderen Teilaspekt des menschlichen Ganzen heraus, ohne diesem Ganzen selber gerecht zu werden, oder sie klammern es überhaupt aus ihrem Blickwinkel aus. Dazu kommen dann verschiedene kulturelle Strömungen, die aufgrund dieser Teilwahrheiten ihre Vorschläge und praktischen Hinweise über das menschliche Verhalten und noch häufiger über den Umgang mit dem Menschen formulieren. Der Mensch wird dann mehr zum Objekt bestimmter Techniken als zum Subjekt, das für sein persönliches Handeln verantwortlich ist. Die Antwort Christi an die Pharisäer will auch klarmachen, dass der Mensch als Mann und Frau in diesem Sinne Subjekt ist, das heißt eine Person, die über sich selbst entscheiden soll, denn hier stehen wir vor einer Urwahrheit, dem Fundament aller wahrhaft menschlichen Erfahrungen. Dies ist die Wahrheit, nach der Christus uns im »Anfang« suchen lässt. Damit stehen wir dann bei den ersten Kapiteln des Buches Genesis.
4. Das Studium dieser Kapitel macht uns wohl mehr als andere Teile der Schrift die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer Theologie des Leibes klar. Der »Anfang« sagt uns verhältnismäßig wenig über den Leib des Menschen im heutigen naturwissenschaftlichen Verständnis des Wortes. Von diesem Gesichtspunkt aus bewegen wir uns bei der gegenwärtigen Untersuchung auf einer ganz und gar vorwissenschaftlichen Ebene. Wir erfahren nahezu nichts über die inneren Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die im menschlichen Organismus herrschen. Doch gleichzeitig kommt vielleicht, gerade weil unser Text so alt ist, die für eine ganzheitliche Sicht des Menschen bedeutsame Wahrheit einfacher und voller zum Ausdruck. Diese Wahrheit betrifft die Bedeutung des menschlichen Leibes in der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen. Dann ermöglicht uns das Nachdenken über jene alten Texte, diese Bedeutung auf den Gesamtbereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, besonders auf das immer gültige Verhältnis von Mann und Frau, auszuweiten. Dadurch gewinnen wir für dieses Verhältnis eine Sichtweise, die wir notwendig der ganzen modernen Wissenschaft über die menschliche Geschlechtlichkeit im biologisch-physiologischen Sinn zugrunde legen müssen. Das bedeutet nicht, wir müßten auf diese Wissenschaft bzw. auf ihre Ergebnisse verzichten. Im Gegenteil: wenn diese Ergebnisse uns etwas über die Formung des Menschen in seinem Mannund Frausein sowie über Ehe und Elternschaft sagen sollen, gilt es, mit Hilfe aller Einzelelemente der modernen Wissenschaft immer das herauszustellen, was beim einzelnen Menschen, also bei Mann und Frau, sowie in ihrem gegenseitigen Verhältnis das Grundlegende und Wesentliche ist, nämlich das Personsein.
Gerade hier erweist sich die Reflexion über den alten Text der Genesis als unersetzlich. Er stellt wirklich den »Anfang« der Theologie des Leibes dar. Die Tatsache, dass die Theologie auch den Leib miteinbezieht, darf niemand, der um das Geheimnis und die Wirklichkeit der Inkarnation weiß, verwundern oder überraschen. Dadurch, dass das Wort Gottes Fleisch wurde, ist der Leib, ich möchte sagen, wie durch das Hauptportal in die Theologie eingetreten, also in die Wissenschaft von den göttlichen Dingen. Die Menschwerdung - und die daraus folgende Erlösung - ist auch zum entscheidenden Grund für den sakramentalen Charakter der Ehe geworden, worüber wir bei Gelegenheit noch ausführlicher sprechen wollen.
5. Die Fragen des heutigen Menschen sind auch die Fragen der Christen: derjenigen, die bereits in der Ehe leben, die das Sakrament der Kirche ist. Es geht dabei nicht nur um Fragen der Wissenschaften, sondern noch viel mehr um Fragen des menschlichen Lebens.
Viele Menschen und viele Christen suchen in der Ehe die Erfüllung ihrer Berufung. Viele wollen in ihr den Weg zum Heil und zur Heiligkeit finden. Für sie ist die Antwort Christi an die Pharisäer, die Eiferer im Alten Testament, von besonderer Bedeutung. Alle, die in der Ehe die Erfüllung ihrer eigenen menschlichen und christlichen Berufung anstreben, sind vor allem dazu aufgerufen, diese Theologie des Leibes, deren Anfang wir in den ersten Kapiteln des Buches Genesis finden, zum Inhalt ihres Lebens und ihres Verhaltens zu machen. In der Tat, wie unerläßlich ist auf dem Weg dieser Berufung das tiefe Bewusstsein von der Bedeutung des Leibes in seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit! Wie notwendig ist ein klares Bewusstsein von der bräutlichen Bedeutung des Leibes, seiner Bedeutung für die Weckung neuen Lebens, soll doch alles, was den Inhalt des Lebens der Ehepartner ausmacht, in ihrem Zusammenleben, in ihrem Verhalten und Empfinden unaufhörlich sein volles personales Gewicht finden! Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund einer Zivilisation, die unter dem Druck eines materialistischen und utilitaristischen Denkens und Wertens steht. Die moderne Biologie und Physiologie mögen viele genaue Informationen über die Geschlechtlichkeit des Menschen anbieten. Doch das Wissen um die personale Würde des menschlichen Körpers und seiner Geschlechtlichkeit ist auch noch aus anderen Quellen zu schöpfen. Eine ganz besondere Quelle ist das Wort Gottes selbst, das jene auf den »Anfang« zurückführende Offenbarung des Leibes enthält.
Wie bezeichnend ist es doch, dass Christus in der Antwort auf alle diese Fragen dem Menschen gebietet, gewissermaßen an die Schwelle seiner theologischen Geschichte zurückzukehren! Er gebietet ihm, sich auf die Scheitellinie zwischen dem glückhaften Zustand der ursprünglichen Unschuld und dem Erbe des Sündenfalls zu versetzen. Will er ihm damit nicht vielleicht sagen, dass der Weg, auf dem er den Menschen, als Mann und Frau, im Sakrament der Ehe führt, also der Weg der »Erlösung des Leibes«, in der Rückgewinnung jener Würde bestehen muss, in welcher sich zugleich der wahre Sinn des menschlichen Körpers, seine personale und »gemeinschaftliche« Bedeutung erfüllt?
6. Schließen wir damit den ersten Teil unserer Betrachtungen über dieses so wichtige Thema ab. Wenn wir auf unsere bisweilen bangen Fragen zur Ehe oder genauer: zur Bedeutung des Leibes erschöpfender antworten wollen, dürfen wir natürlich nicht bei dem stehenbleiben, was Christus den Pharisäern zur Antwort gab, indem er sich auf den »Anfang« bezog (vgl. Mt 19, 3 ff.; Mk 10, 2 ff.). Wir müssen auch alle seine weiteren Aussagen heranziehen, unter denen besonders zwei sich ergänzende hervorragen: einmal seine Aussage in der Bergpredigt über die Möglichkeiten des menschlichen Herzens im Bereich der Begierde des Leibes (vgl. Mt 5, 8), dann die Stelle, wo Jesus auf die künftige Auferstehung hinweist (vgl. Mt 22, 24-30; Mk 12, 18-27; Lk 20, 27-36). Über diese beiden Aussagen wollen wir bei unseren weiteren Betrachtungen nachdenken.
II. DER MENSCH DER GESCHICHTE (Mt 5, 27 f.)
A. Die Begierde als Entfremdung durch den Sündenfall
Appell an das Herz des Menschen 16. 4. 1980, OR 80/17
1. Bei unseren Mittwochsbegegnungen möchte ich als Thema der Betrachtungen in nächster Zeit das folgende Wort Christi aus der Bergpredigt behandeln: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Es scheint, dass dieser Abschnitt für die Theologie des Leibes eine Schlüsselbedeutung hat, ähnlich jenem anderen, in dem sich Christus auf den Anfang bezog und den wir unseren vorausgehenden Erwägungen zugrunde gelegt haben. Wir konnten uns darüber klar werden, wie umfassend ein einziger Satz, ja ein einziges Wort Christi sein kann. Es ging dabei nicht nur um die unmittelbare Aussage, wie sie sich aus dem Verlauf des Gesprächs mit den Pharisäern ergibt, sondern um die Gesamtaussage, die wir nicht ergründen können, ohne auf die ersten Kapitel des Buches Genesis zurückzugreifen (wobei das, was sich dort auf die anderen Bücher des Alten Testamentes bezieht, unberücksichtigt bleibt). Die bisherigen Erwägungen haben gezeigt, wie umfassend der Inhalt des Wortes »Anfang« ist, auf den sich Christus bezieht.
Die Aussage, auf die wir jetzt eingehen, d. h. Mt 5, 27-28, wird uns mit Sicherheit - über ihren unmittelbaren Zusammenhang hinaus - den weiteren Zusammenhang erschließen, so dass uns schrittweise die Schlüsselbedeutung der Theologie des Leibes klar wird. Diese Aussage gehört zur Bergpredigt, in der Jesus eine grundlegende Neuordnung der Art und Weise, das Moralgesetz des Alten Bundes zu verstehen und zu erfüllen, einleitet. Es geht der Reihe nach um folgende der Zehn Gebote: um das fünfte: »Du sollst nicht töten!« (vgl. Mt 5, 21-26), um das sechste: »Du sollst nicht die Ehe brechen!« (vgl. Mt 5, 27-32) - bezeichnenderweise taucht am Ende dieses Abschnittes auch die Frage der »Scheidungsurkunde« auf (vgl. Mt 5, 31-32), von der schon im voraufgehenden Abschnitt die Rede war - und um das achte Gebot nach dem Text des Buches Exodus (vgl. Ex 20, 7): »Du sollst keinen Meineid schwören, sondern du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast!« (vgl. Mt 5, 33-37).
Bezeichnend sind vor allem die Worte, welche diesen Abschnitten in der Bergpredigt vorausgehen und folgen. Ich meine die Worte, mit denen Jesus erklärt: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5, 17). In den Worten, die folgen, erklärt Jesus den Sinn einer solchen Gegenüberstellung und die Notwendigkeit der Erfüllung des Gesetzes, um so das Reich Gottes zu verwirklichen: »Wer . . . (diese Gebote) hält und halten lehn, der wird groß sein im Himmelreich« (Mt 5, 19). »Himmelreich« bedeutet hier das Reich Gottes in seiner endzeitlichen Fülle. Die Erfüllung des Gesetzes ist grundlegende Bedingung für dieses Reich in der zeitlichen Form der menschlichen Existenz. Es geht allerdings um eine Erfüllung, die voll und ganz dem Sinn des Gesetzes, der Zehn Gebote und jedes einzelnen davon entspricht. Nur eine solche Erfüllung entspricht der Gerechtigkeit, die Gott als Gesetzgeber gewollt hat. Christus spricht als Meister die Mahnung aus, dem ganzen Gesetz und den einzelnen Geboten, die es enthält, eine solche menschliche Auslegung zu geben, dass sie der von Gott, dem Gesetzgeber, gewollten Gerechtigkeit entsprechen: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen« (Mt 5, 20).
2. In diesem Zusammenhang steht auch die Aussage Christi nach Mt 5, 27-28, die wir unseren jetzigen Erwägungen zugrunde legen wollen. Wir betrachten sie zusammen mit der anderen Aussage von Mt 19, 3-9 (und Mk 10) als Schlüssel für die Theologie des Leibes. Diese Aussage hat ebenso wie die andere ausgesprochen normativen Charakter. Sie bekräftigt den Grundsatz der menschlichen Moral, wie er im Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen!« enthalten ist und bietet zugleich eine geeignete und volle Erklärung dieses Grundsatzes; also eine Erklärung der Grundlage und zugleich der Voraussetzung für ihre angemessene Erfüllung. Dies wird gerade im Licht der Worte von Mt 5, 17-20 verdeutlicht, die vorausgehen und auf die wir schon hingewiesen haben. Es geht hier einerseits um die Bejahung der Bedeutung, die Gott als Gesetzgeber dem Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen!« gegeben hat, und anderseits um die Erfüllung jener Gerechtigkeit durch den Menschen, die in ihm selber »überfließen«, das heißt in ihm zur eigentlichen Fülle gelangen soll. Dies sind sozusagen die beiden Aspekte der Erfüllung im Sinn des Evangeliums.
3.' Wir befinden uns damit im Herzen des Ethos, man kann auch von der inneren Form, gleichsam von der Seele der menschlichen Moral sprechen. Zeitgenössische Denker, wie z. B. Scheler, sehen in der Bergpredigt eine große Wende gerade auf dem Gebiet des Ethos.<ref>»Ich kenne kein grandioseres Zeugnis für eine solche Neuerschließung eines ganzen Wertbereiches, die das ältere Ethos relativiert, als die Bergpredigt, die auch in ihrer Form als Zeugnis solcher Neuerschließung und Relativierung der älteren >Gesetzes<-werte sich Überall kundgibt: >Ich aber sage euch<« (Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle a. d. Saale, Verlag M. Niemeyer, 1921, S .316, Nr. 1).</ref> Eine im existentiellen Sinn lebendige Moral kommt nicht nur durch die Normen in Form von Geboten, Vorschriften und Verboten zustande wie im Fall des »Du sollst nicht die Ehe brechen!«. Eine Moral, in der sich der eigentliche Sinn des Menschseins verwirklicht - und die zugleich Erfüllung des Gesetzes durch das »Überfließen« der Gerechtigkeit im subjektiven Lebensvollzug ist -, fußt auf dem inneren Erfassen der Werte; daraus ergibt sich die Verpflichtung als Ausdruck des Gewissens, als Antwort des eigenen, persönlichen Ich. Das Ethos lässt uns zugleich in die Tiefe der Norm selber eindringen, lässt uns hinabsteigen ins Innere des Menschen als Subjekt der Moral. Der moralische Wert ist verbunden mit dem dynamischen Leben im Inneren des Menschen. Um ihn zu erreichen, darf man nicht an der »Oberfläche« des menschlichen Tuns stehenbleiben; es gilt, gerade bis ins Innere vorzustoßen.
4. Über das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen!« hinaus sagt der Dekalog auch »Du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen!«.<ref>Vgl. Ex 20, 17; Dtn 5, 21.</ref> In der Bergpredigt verbindet Christus in einem bestimmten Sinn beide Gebote miteinander: »Wer eine Frau lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.« Es geht aber nicht so sehr darum, die Tragweite dieser beiden Gebote des Dekalogs abzuwägen, als vielmehr darum, die Dimension des inneren Vorgangs aufzuzeigen, auf den sich auch die Worte beziehen: »Du sollst nicht die Ehe brechen!« Dieser Vorgang findet seinen sichtbaren Ausdruck in einem körperlichen Akt, den Mann und Frau gegen das Gesetz, das ihn ausschließlich der Ehe vorbehält, vollziehen. Die Kasuistik der Bücher des Alten Testamentes, die zunächst festlegte, was nach äußeren Kriterien diesen körperlichen Akt kennzeichnete, und zugleich den Ehebruch unterbinden wollte, ermöglichte diesem verschiedene gesetzliche »Ausflüchte«.<ref>Vgl. dazu die Fortsetzung dieser Betrachtungen.</ref> Dadurch wurde aber aufgrund der vielen Kompromisse, »weil ihr so hartherzig seid« (Mt 19, 8), der vom Gesetzgeber gewollte Sinn des Gebotes entstellt. Man gab sich mit einer legalistischen Befolgung der Formel zufrieden, die aber nicht »überfloß« in der inneren Gerechtigkeit der Herzen. Christus verlegt den Kern des Problems in einen anderen Bereich, wenn er sagt: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«. (Altere Übersetzungen sagen: »der hat sie in seinem Herzen schon zur Ehebrecherin gemacht«, und diese Übersetzung scheint exakter zu sein).<ref>Der Vulgatatext bietet eine getreue Übersetzung des Originals:»lam moechatus est eam in corde suo.« Das griechische Wort »moicheúo« hat nämlich transitive Bedeutung. In den modernen europäischen Sprachen hingegen hat »einen Ehebruch begehen« intransitive Bedeutung; daher die Übersetzung: »... hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift im Auftrag der Bischöfe des deutschen Sprachbereiches, 1979).</ref> Christus appelliert also an den inneren Menschen. Er tut es wiederholt und bei verschiedenen Gelegenheiten. In unserem Fall wirkt das besonders deutlich und eindrucksvoll nicht nur für den Entwurf eines Ethos des Evangeliums, sondern auch für das Bild, das man sich vom Menschen machen muss. Daher legen uns nicht nur ethische, sondern auch anthropologische Gründe nahe, länger beim Text Mt 5, 27-28 zu verweilen, der die Worte Christi in der Bergpredigt wiedergibt.
Begierlichkeit zerbricht die Einheit der Ehe 23. 4. 1980, OR 80/18
1. Erinnern wir uns an die Worte der Bergpredigt, auf die wir im jetzigen Zyklus unserer Mittwochsbetrachtungen eingehen wollen: »Ihr habt gehört - so der Herr -, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28).
Der Mensch, auf den sich Jesus hier bezieht, ist der geschichtliche Mensch, dessen Anfang und theologische Vorgeschichte wir in der vorangegangenen Betrachtungsreihe aufgezeigt haben. Es ist unmittelbar der Mensch, der mit eigenen Ohren die Bergpredigt hört. Zugleich aber ist auch jeder andere Mensch gemeint, der im schier endlosen Zeitraum der Vergangenheit oder im ebenfalls unabsehbaren Zeitraum der Zukunft mit diesem Augenblick der Geschichte sich auseinandersetzen muss. Zu dieser Zukunft gehört im Hinblick auf die Bergpredigt auch unsere Gegenwart, die heutige Zeit. Dieser Mensch ist gewissermaßen jeder Mensch, ein jeder von uns. Der Mensch der Vergangenheit kann ebenso wie der Mensch der Zukunft das positive Gebot »Du sollst nicht Ehe brechen« als »Inhalt des Gesetzes« (vgl. Rom 2, 22-23) kennen, es kann aber auch jener Mensch sein, dem, wie es im Römerbrief heißt, dieses Gebot nur »ins Herz geschrieben ist« (Röm 2, 15).<ref>Auf diese Weise würde sich der Inhalt unserer Betrachtungen gewissermaßen auf das Gebiet des Naturrechts verschieben. Die angeführten Worte aus dem Römerbrief (2, 15) wurden in der Offenbarung immer als Bestätigung des Naturrechts betrachtet. So erhält der Begriff des Naturrechts auch theologische Bedeutung. Vgl. u. a. D. Composta, Theologia del diritto naturale, Status quaestionis, Brescia, 1972, Ed. Civiltà, S. 7-22, 41-53; J. Fuchs SJ, Lex naturae. Zur Theologie des Naturrechts, Düsseldorf, 1955, S. 22-30; E. Hammel SJ, Loi naturelle et loi du Christ, Bruges-Paris, 1964, Desclée de Brouwer, S. 18; A. Sacchi, »La legge naturale nella Bibbia«, in: La legge naturale. Le relazioni del Convegno dei teologi moralisti dell'Italia settentrionale (11.-13. September 1969), Bologna, 1970, Ed. Dehoniane, S. 53; F. Böckle, »La legge naturale e la legge cristiana«, ebd., S. 214-215; A. Feuillet, »Le fondement de la morale ancienne et chretienne d'apres l'Epltre aux Romains«, in: Revue Thomiste 78, 1970, S. 357-386; Th. Herr, Naturrecht aus der kritischen Sicht des Neuen Testaments, München, 1976, Schöningh, S. 155-164.</ref> Im Licht unserer bisherigen Überlegungen handelt es sich um den Menschen, der von Anfang an, noch ehe er die Schwelle seiner geschichtlichen Erfahrungen überschritten hat, bereits vom Schöpfungsgeheimnis her einen klaren Sinn für die Bedeutung des Leibes erworben hat, wurde er doch »als Mann und Frau« geschaffen (vgl. Gen 1, 27). Es ist der geschichtliche Mensch, der im Anfang seines Erdenschicksals in seinem Innern die Erkenntnis von Gut und Böse vorfand, als er den Bund mit seinem Schöpfer brach. Es ist der Mann, der »seine Frau erkannte«, sie mehrmals »erkannte«, so dass sie »schwanger wurde und gebar« (vgl. Gen 4, 1-2), wie es dem Plan des Schöpfers entsprach, der bis in den Zustand der ursprünglichen Unschuld hinein zurückreichte (vgl. Gen 1, 28; 2, 24).
2. An diesen Menschen wendet sich Christus in der Bergpredigt besonders mit den Worten von Mt 5, 27-28. Er wendet sich an den Menschen eines bestimmten geschichtlichen Augenblicks und zugleich an alle Menschen, die zur selben Menschheitsgeschichte gehören. Er wendet sich, wie wir bereits festgestellt haben, an den inneren Menschen. Die Worte Christi haben einen klaren anthropologischen Inhalt; sie berühren jene ewiggültigen Werte, die Bestandteil einer angemessenen Anthropologie sind. Durch ihren ethischen Inhalt begründen diese Worte gleichzeitig eine solche Anthropologie und fordern sozusagen, dass der Mensch voll seinem eigenen Bild entspricht. Der Mensch, der Fleisch ist und als Mann durch seinen Körper und sein Geschlecht mit der Frau verbunden bleibt (darauf weist ja der Ausdruck »Du sollst nicht die Ehe brechen« hin), soll sich im Lichte dieser Worte Christi in seinem Innern, in seinem Herzen selbst wieder finden.<ref>»Der typisch hebräische Sprachgebrauch im Neuen Testament schließt ein Verständnis vom Menschen als einer Einheit von Denken, Wollen und Fühlen ein (...) Es stellt den Menschen als ein von seiner Absicht her gesehenes Ganzes dar; das Herz als Mitte des Menschen wird für die Quelle des Willens, des Gemüts, der Gedanken und Gefühle gehalten. Diese traditionelle jüdische Auffassung wird von Paulus mit den hellenistischen Begriffen, wie >Verstand<, >Haltung<, >Gedanken< und >Wünschen<, in Beziehung gebracht. Diese Koordinierung der jüdischen und hellenistischen Begriffe findet sich in Phil 1, 7; 4, 7; Röm 1, 21.24, wo das Herz als der Mittelpunkt gedacht wird, dem alles entströmt« (R. Jewett, Paul's Anthropological Terms. A Study of their Use in Conflict Settings, Leiden, 1971, Brill, S. 448).
»Das Herz ... ist die verborgene, inwendige Mitte und Wurzel des Menschen und damit seiner Welt.. ., der unergründliche Grund und die lebendige Kraft aller Daseinserfahrung und -entscheidung« (H. Schlier, »Das Menschenherz nach dem Apostel Paulus«, in: Lebendiges Zeugnis, 1965, S. 123). Vgl. auch F. Baumgärtel/J. Behm, »Kardia«, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, II, Stuttgart, 1933, Kohlhammer, S. 609-616.</ref> Das Herz ist jene Dimension des Menschseins, mit der der Sinn für die Bedeutung des menschlichen Leibes und die Ordnung dieses Sinnes direkt verbunden sind. Es handelt sich hier sowohl um jene Bedeutung, die wir in den vorausgegangenen Betrachtungen »bräutlich« genannt haben, als auch um jene, die wir als »zeugungsbezogen« bezeichnet haben. Um welche Ordnung geht es?
3. Auf diese Frage soll dieser Abschnitt unserer Überlegungen Antwort geben - eine Antwort, die nicht nur die ethischen Erfordernisse, sondern auch jene anthropologischer Art einholt. Sie stehen ja in Wechselbeziehung zueinander. Einleitend gilt es, zunächst die Bedeutung des Textes Mt 5, 27-28 festzustellen, die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke und ihr gegenseitiges Verhältnis. Der Ehebruch, auf den sich das angeführte Gebot direkt bezieht, bedeutet das Zerbrechen der Einheit, durch welche Mann und Frau nur als Ehegatten sich so eng miteinander verbinden dürfen, dass sie »ein Fleisch werden« (Gen 2, 24). Der Mann bricht die Ehe, wenn er sich auf diese Weise mit einer Frau vereinigt, die nicht seine Ehegattin ist. Und auch die Frau bricht die Ehe, wenn sie sich so mit einem Mann vereinigt, der nicht ihr Ehegatte ist. Man muss daraus schließen, dass der »Ehebruch im Herzen«, der vom Mann begangen wird, wenn er »eine Frau lüstern ansieht«, einen klar umschriebenen inneren Akt bedeutet. Es handelt sich um ein Verlangen des Mannes, das sich in diesem Fall vom Mann auf eine Frau richtet, die nicht seine Ehefrau ist, um sich mit ihr zu vereinigen, als wäre sie seine Gattin, das heißt - um nochmals die Worte von Gen 2, 24 zu gebrauchen - so, dass »die beiden ein Fleisch werden«.
Dieses Verlangen als innerer Akt findet seinen Ausdruck im Sehen, das heißt im begehrlichen Blick, wie im Fall von David und Batseba, um ein Beispiel aus der Bibel anzuführen (vgl. 2 Sam 11,2).<ref>Das ist wohl das bekannteste Beispiel, doch lassen sich in der Bibel noch weitere aufzeigen (vgl. Gen 34, 2; Ri 14, 1; 16, 1).</ref> Die Verbindung zwischen heimlichem Begehren und Sehen wird in den Worten Christi besonders klar.
4. Diese Worte sagen nicht klar, ob die Frau, die so angesehen wird, einfach eine Frau oder die Ehefrau eines anderen Mannes ist; sie kann also die Frau eines anderen oder aber auch unverheiratet sein. Wir müssen vielmehr begreifen, indem wir uns vor allem auf das Wort stützen, dass Ehebruch eben etwas ist, was der Mann »in seinem Herzen« mit dem begehrlichen Blick begangen hat. Daraus lässt sich folgerichtig schließen, dass ein solcher Blick des Begehrens auf die eigene Frau keinen Ehebruch »im Herzen« darstellt, eben weil der entsprechende innere Akt des Mannes der eigenen Frau gilt, der gegenüber er nicht Ehebruch begehen kann. Wenn der eheliche Akt als äußerer Akt, in dem »die beiden sich verbinden, so dass sie ein Fleisch werden«, in der Beziehung des Mannes zur eigenen Frau gestattet ist, dann ist bei dieser Beziehung auch der innere Akt sittlich.
5. Jenes Verlangen, das mit dem Satz »Jeder, der eine Frau lüstern ansieht« umschrieben wird, hat freilich auch eine eigene biblische und theologische Dimension, die wir hier klarstellen können. Auch wenn diese Dimension in diesem einen konkreten Ausdruck von Mt 5, 27-28 nicht unmittelbar aufscheint, ist sie doch tief in dem Gesamtzusammenhang verwurzelt, der sich auf die Offenbarung des Leibes bezieht. Auf diesen Zusammenhang müssen wir zurückgehen, damit der Hinweis Christi auf das Herz, auf den inneren Menschen, die ganze Fülle seiner Wahrheit offenbare. Die angeführte Verkündigung der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) hat einen grundlegenden Weisungscharakter. Dass Christus sich direkt an den Mann als den wendet, der »eine Frau lüstern ansieht«, soll nicht heißen, dass seine Worte in ihrer ethischen Bedeutung nicht ebenso der Frau gelten. Christus drückt sich so aus, um mit einem konkreten Beispiel zu erklären, wie die »Erfüllung des Gesetzes«, das ihm Gott gegeben hat, zu verstehen ist und darüber hinaus wie das »überreiche Maß der Gerechtigkeit« gegenüber dem Menschen gemeint ist, der das sechste Gebot beobachtet. Christus bezweckt mit seiner Redeweise, dass wir nicht bei dem Beispiel als solchem stehenbleiben, sondern auch in den vollen ethischen und anthropologischen Sinn des Gesagten eindringen. Wenn das Weisungscharakter hat, so heißt das, dass wir auf seinen Spuren zur Erfassung der allgemeinen Wahrheit über den geschichtlichen Menschen gelangen können, die auch für die Theologie des Leibes Gültigkeit besitzt. Ziel unserer weiteren Überlegungen wird es sein, dieser Wahrheit näherzukommen.
Die »Welt« als Quelle und Ort der Begierde 30. 4. 1980, OR 80/19
1. Bei unserer letzten Betrachtung haben wir gesagt, dass die Worte Christi in der Bergpredigt in direktem Bezug zu dem »Begehren« stehen, das sich unmittelbar im Menschenherzen regt; indirekt führen uns diese Worte jedoch zum Verständnis einer Wahrheit über den Menschen, die von universaler Bedeutung ist. Diese Wahrheit über den geschichtlichen Menschen, die von universaler Bedeutung ist und auf die uns die Worte Christi in Mt 5, 27-28 hinweisen, scheint in der biblischen Lehre über die dreifache Begierde ausgedrückt zu sein. Wir beziehen uns hier auf die prägnante Aussage des ersten Briefes des hl. Johannes, 2, 16-17: »Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Die Welt und ihre Begierde vergeht; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit«. Um diese Worte zu verstehen, muss man natürlich gewissenhaft auf den Zusammenhang achten, in dem sie stehen, das heißt auf den Zusammenhang der ganzen »Johanneischen Theologie«, über die soviel geschrieben worden ist.<ref>Vgl. z. B.: J. Bonsirven, Epitres de Saint Jean, Paris, 19542, Beauchesne, S. 113-119; E. Brooke, Critical and Exegetical Commentary on the Johannine Epistles (International Critical Commentary), Edingburgh, 1912 (Clark), S. 47-49; P. De Ambroggi, Le Epistole Cattoliche, Turin, 1947 (Marietti), S. 216-217; C. H. Dodd, The Johannine Epistles (Moffatt New Testament Commentary), London, 1946, S. 41-42; J. Houlden, A Commentary on the Johannine Epistles, London, 1973 (Black), S. 73-74; B. Prete, Lettere di Giovanni, Roma, 1970 (Ed. Paoline), S. 61; R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe, Freiburg, 1953 (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament), S. 112-115; J. R. W. Scott, Epistles of John (Tyndale New Testament Commentaries), London, 19693, S. 99-101. Zum Thema der Theologie des Johannes vgl. besonders A. Feuillet, Le mystère de l'amour divin dans la théologie johannique, Paris, 1972 (Gabalda).</ref> Doch gleichzeitig stehen diese Worte im Zusammenhang der ganzen Bibel: sie gehören zur gesamten Wahrheit, die über den Menschen geoffenbart wurde, und sind bedeutsam für die Theologie des Leibes. Sie erläutern nicht die Begierde selbst in ihrer dreifachen Form, da sie vorauszusetzen scheinen, dass »die Fleischeslust, die Augenlust und die Hoffahrt des Lebens« gewissermaßen klare und bekannte Begriffe sind. Sie erläutern hingegen das Entstehen der dreifachen Begierde und weisen darauf hin, dass diese nicht »vom Vater«, sondern »von der Welt« herkommt.
2. Die Fleischeslust und zugleich die Augenlust und die Hoffahrt des Lebens sind »in der Welt« und kommen gleichzeitig »von der Welt«, aber nicht als Frucht des Schöpfungsgeheimnisses, sondern als Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse (vgl. Gen 2, 17) im Herzen des Menschen. Was in der dreifachen Begierde sich auswirkt, ist nicht die »Welt«, wie Gott sie für den Menschen geschaffen hat und von deren grundsätzlichem »Gutsein« wir in Gen 1 des öfteren lesen können: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war.« In der dreifachen Begierde hingegen wirkt sich der Bruch des ersten Bundes mit dem Schöpfer, mit Gott Elohim, mit Gott Jahwe aus. Dieser Bund wurde im Herzen des Menschen gebrochen. Hier müßte man eine genaue Analyse der in Gen 3, 1-6 beschriebenen Dinge vornehmen. Wir gehen jedoch nur im allgemeinen auf das Geheimnis der Sünde und auf die Anfänge der Menschheitsgeschichte ein. Denn nur infolge der Sünde, weil der Bund mit Gott im Menschenherzen gebrochen wurde - im Inneren des Menschen - ist die »Welt« des Buches Genesis zur »Welt« geworden, wie sie uns in den Worten des Johannes ( 1 J o h 2,15-16) entgegentritt: Ort und Quelle der Begierde.
So scheint uns also die Aussage, nach der die Begierde »nicht vom Vater kommt, sondern von der Welt«, ein weiteres Mal auf den biblischen »Anfang« zu verweisen. Der Ursprung der dreifachen Begierde, wie sie von Johannes beschrieben wird, findet in diesem Anfang ihre erste, grundlegende Erklärung, eine Erklärung, die für die Theologie des Leibes wesentlich ist. Will man die Worte Christi in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) und die darin enthaltene Wahrheit über den geschichtlichen Menschen, die von universaler Bedeutung ist, verstehen, so muss man noch einmal auf das Buch Genesis zurückgreifen, noch einmal »an der Schwelle« der Offenbarung über den geschichtlichen Menschen verweilen. Das ist um so notwendiger, als sich diese Schwelle der Heilsgeschichte zugleich als Schwelle echter menschlicher Erfahrung erweist, wie wir in späteren Betrachtungen noch feststellen werden. Dort werden dieselben grundlegenden Bedeutungen aufscheinen, die wir in den vorangegangenen Betrachtungen als bestimmende Elemente einer seinsgerechten Anthropologie und tiefen Grundlegung der Theologie des Leibes aufgezeigt haben.
3. Es könnte hier jemand fragen, ob man die typischen Inhalte der »Johanneischen Theologie«, des ganzen ersten Briefes (besonders 2, 15-16), auf die Ebene der Bergpredigt nach Matthäus, d. h. auf den Satz Christi bei Mt 5, 27-28 (»Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«) übertragen darf. Wir werden auf dieses Thema noch öfter zu sprechen kommen: dennoch beziehen wir uns jetzt auf den allgemeinen biblischen Zusammenhang, auf die Gesamtheit der Wahrheit über den Menschen, wie sie dort geoffenbart und dargelegt worden ist. Gerade im Namen dieser Wahrheit versuchen wir, den Menschen, auf den Christus im Text von Mt 5, 27-28 hinweist, bis in seiner Tiefe zu verstehen; also den Mann, der die Frau »lüstern ansieht«. Lässt sich ein solcher Blick letzten Endes nicht etwa mit der Tatsache erklären, dass es sich bei jenem Mann eben um einen »Mann der Begierde« im Sinne des 1. Johannesbriefes handelt, ja dass beide, der Mann, der die Frau lüstern ansieht, und die Frau als Blickobjekt, von der dreifachen Begierde erfaßt sind, die »nicht vom Vater kommt, sondern von der Welt« ? Man muss also erfassen, was jene Begierde oder vielmehr wer jener biblische »Mensch der Begierde« eigentlich ist, um die Tiefe der Worte Christi nach Mt 5, 27-28 zu verstehen und zu erklären, was ihr für die Theologie des Leibes so wichtiger Bezug auf das »Herz« des Menschen bedeutet.
4. Kommen wir neuerlich auf den jahwistischen Schöpfungsbericht zurück, in dem derselbe Mensch, als Mann und Frau, anfangs als der Mensch in seiner ursprünglichen Unschuld - also vor dem Sündenfall - und dann als der erscheint, der durch den Bruch des ursprünglichen Bundes mit seinem Schöpfer diese Unschuld verloren hat. Wir wollen hier keine vollständige Analyse über Versuchung und Sünde nach dem Text von Gen 3, 1-5 und der diesbezüglichen Lehre der Kirche und Theologie vornehmen. Es muss nur beachtet werden, dass die biblische Beschreibung den entscheidenden Augenblick besonders zu betonen scheint, in dem im Herzen des Menschen das Geschenk Gottes an den Menschen angezweifelt wird. Der Mensch, der die Frucht vom »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« pflückt, trifft damit zugleich eine grundsätzliche Entscheidung gegen den Willen des Schöpfers, Gott-Jahwe, indem er auf die ihm vom Versucher zugeflüsterte Begründung eingeht: »Nein, ihr werdet nicht sterben! Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse«; nach alten Übersetzungen: »ihr werdet sein wie die Götter, die um Gut und Böse wissen«.<ref>Der hebräische Text kann beide Bedeutungen haben, denn er lautet: »Elohim weiß, dass an dem Tag, an dem ihr davon (von der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse) eßt, euch die Augen aufgehen werden und dass ihr wie Elohim Gut und Böse erkennen werdet.« Der Begriff elohim ist der Plural von eloah (Pluralis excellentiae). In Bezug auf Jahwe hat er die Bedeutung eines Singulars; er kann jedoch auch die Vielzahl anderer himmlischer Wesen oder heidnischer Gottheiten bezeichnen (z. B. PS 8, 6; Ex 12,12; Ri 10,16; Hos 1, 1 und andere). Einige Formulierungen in anderen Sprachen, z. B. auf italienisch: »diverreste come Dio, conoscendo il bene e il male« - »wie Gott« - (Pont. Istit. Biblico, 1961); französisch: ». . . vous serez comme des dieux, qui connaissant le bien et le mal« - »wie die Götter« - (Bible de Jerusalem, 1973); englisch: »you will be like God, knowing good and evil« - »wie Gott« - (Revised Standard Version, 1966); spanisch: »seréis como dioses, conocedores del bien y del mal« - »wie Götter« - (S. Ausejo, Barcelona, 1964); »seréis como Dios en el conocimiento del bien y del mal« - »wie Gott« - (A. Alonso-Schökel, Madrid, 1970).</ref> In dieser Begründung ist mit aller Deutlichkeit der Zweifel an dem Geschenk der Liebe enthalten, in dem die Schöpfung als schenkende Hingabe Gottes ihren Ursprung hat. Der Mensch erhält als Geschenk die Welt und zugleich die Ebenbildlichkeit Gottes, also das Menschsein in der ganzen Fülle seiner zweifachen Ausprägung als Mann und Frau. Es genügt, den Abschnitt Gen 3, 1-5 genau zu lesen, um das Geheimnis des Menschen zu entdekken, der dem Vater den Rücken zukehrt (auch wenn wir in dem Bericht diesen Namen Gottes nicht finden). Indem er in seinem Herzen den tiefsten Sinn des Sich-Schenkens, also der Liebe als eigentlichen Grund der Schöpfung und des ursprünglichen Bundes (vgl. besonders Gen 3, 5), bezweifelt, kehrt der Mensch Gott, der die Liebe ist, dem Vater, den Rücken zu. Er verweist ihn gewissermaßen aus seinem Herzen.
Gleichzeitig löst er und trennt fast sein Herz los von dem, was »vom Vater kommt«: so bleibt in ihm das, was »von der Welt kommt«.
5. »Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz« (Gen 3, 7). Das ist der erste Satz des jahwistischen Schöpfungsberichtes, der sich auf die Situation des Menschen nach dem Sündenfall bezieht und den neuen Zustand der Menschennatur herausstellt. Deutet dieser Satz nicht vielleicht auch den Anfang der Begierde im Herzen des Menschen an? Um auf diese Frage eine erschöpfende Antwort zu geben, dürfen wir uns nicht bei diesem ersten Satz aufhalten, sondern müssen den ganzen Text noch einmal lesen. Es lohnt sich aber, an das zu erinnern, was in unseren ersten Betrachtungen über das Thema der Scham als Grenzerfahrung gesagt wurde.<ref>Vgl. Generalaudienz vom 12. Dezember 1979 (O. R. dt. vom 21. 12. 1979).</ref> Das Buch Genesis bezieht sich auf diese Erfahrung, um die Grenze aufzuzeigen, die zwischen dem Zustand der ursprünglichen Unschuld (vgl. besonders den Vers 25 in Gen 2, mit dem wir uns in den früheren Betrachtungen eingehend befaßt haben) und dem der Sündhaftigkeit des Menschen am Anfang verläuft. Während Gen 2, 25 betont, dass sie »nackt waren, aber sich nicht voreinander schämten«, spricht Gen 3, 6 ausdrücklich vom Aufkommen der Scham im Zusammenhang mit der Sünde. Diese Scham ist gleichsam das erste Anzeichen, an dem im Menschen - im Mann und in der Frau - etwas offenbar wird, was »nicht vom Vater kommt; sondern von der Welt«.
Radikale Entfremdung durch den Sündenfall 14. 5. 1980, OR 80/21
1. Wir haben bereits über die Scham gesprochen, die im Herzen des ersten Menschen, des Mannes und der Frau, im Zusammenhang mit der Sünde entstand. Der erste Satz hierzu im biblischen Bericht lautet: »Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz« (Gen 3, 7). Dieser Abschnitt, der von der gegenseitigen Scham des Mannes und der Frau als Kennzeichen der gefallenen Natur - »Status naturae lapsae« - spricht, muss in seinem Zusammenhang betrachtet werden. Die Schani erreicht in diesem Augenblick den höchsten Grad, sie scheint die Grundfesten ihrer Existenz zu erschüttern. »Als sie Gott den Herrn im Garten gegen den Westwind einherschreiten hörten, versteckten sich der Mensch und seine Frau vor Gott dem Herrn unter den Bäumen des Gartens« (Gen 3, 8). Der innere Zwang, sich zu verstecken, weist darauf hin, dass in der Tiefe der voreinander empfundenen Scham als unmittelbarer Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse ein Gefühl der Furcht vor Gott entstanden ist: eine bis dahin unbekannte Furcht. »Gott der Herr rief nach dem Menschen und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da bekam ich Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt« (Gen 3, 9-10). Eine gewisse Angst gehört immer zum Wesen der Schani: die Ur-Scham macht ihren Charakter dennoch in besonderer Weise offenbar: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin.« Es wird uns klar, dass hier etwas Tieferes im Spiele ist als das körperliche Schamgefühl im Zusammenhang mit dem plötzlichen Bewusstwerden der eigenen Nacktheit. Der Mensch sucht mit der Scham vor seiner eigenen Nacktheit den eigentlichen Ursprung der Angst zu verdecken, indem er, statt ihre Ursache beim Namen zu nennen, vielmehr die Wirkung aufzeigt. Gott Jahwe ist es, der an seiner Statt die Ursache nennt: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?« (Gen 3, 11).
2.' Erschütternd ist die Genauigkeit dieses Gespräches, erschütternd die Bestimmtheit des ganzen Berichtes. Er zeigt die äußeren Gefühlsregungen des Menschen beim Erleben des Geschehens auf, und lässt zugleich die Tiefe offenbar werden. In all dem hat die Nacktheit keineswegs nur buchstäbliche Bedeutung. Sie bezieht sich nicht nur auf den Leib, sie ist nicht Ursprung eines nur auf den Körper bezogenen Schamgefühls. In Wirklichkeit zeigt sich durch die Nacktheit der Mensch, welcher der Teilnahme am göttlichen Geschenk beraubt ist, der Mensch, der sich jener Liebe entfremdet hat, die Quelle des ursprünglichen Geschenkes, Quelle der Fülle des dem Geschöpf bestimmten Guten gewesen war. Dieser Mensch war, nach den Formulierungen der theologischen Lehre der Kirche,<ref>Das kirchliche Lehramt hat sich mit diesen Problemen in drei Epochen, wie es eben die Zeitumstände erforderten, näher beschäftigt.
Die Lehräußerungen in der Zeit der Auseinandersetzungen mit den Pelagianern (im 5. und 6. Jh.) sagen, dass der erste Mensch kraft der göttlichen Gnade naturalem possibilitatem et innocentiam, »eine natürliche Fähigkeit und Unschuld« (DS 239), besaß, die auch »Freiheit« genannt wurde (libertas, libertas arbitrii, DS 371, 242, 383, 622). Er befand sich in einem Zustand, den die Synode von Orange (529) als integritas, »Unversehrtheit«, bezeichnete.
Natura humana, etiamsi in illa integritate, in qua condita est, permaneret, nullo modo se ipsam, Creatore suo non adiuvante, servaret. . . (DS 389). »Auch wenn die menschliche Natur in jener Unversehrtheit geblieben wäre, in der sie erschaffen wurde, hätte sie diese niemals ohne Hilfe ihres Schöpfers bewahren können.« Die Begriffe integritas, »Unversehrtheit«, und besonders libertas, »Freiheit«, setzen das Freisein von der Begierde voraus, auch wenn die kirchlichen Dokumente dieser Zeit das nicht ausdrücklich erwähnen.
Der erste Mensch war zudem frei von der Notwendigkeit, sterben zu müssen (DS 222, 372, 1511).
Das Konzil von Trient bezeichnet den Zustand des ersten Menschen vor dem Sündenfall als »Heiligkeit und Gerechtigkeit« (sanctitas et iustitia - DS 1511, 1512) oder als »Unschuld« (innocentia - DS 1521).
Weitere Erklärungen zu diesem Gegenstand verteidigen gegen die Behauptungen der Jansenisten, dass die Urgnade in keiner Weise geschuldet war. Die integritas primae creationis, die »Unversehrtheit der ersten Schöpfung«, war eine ungeschuldete Erhöhung der menschlichen Natur (indebita humanae naturae exaltatio) und nicht der »Zustand, der ihr von Natur aus geschuldet war« (naturalis eius conditio - DS 1926). Gott hätte also den Menschen ohne diese Gnadengabe erschaffen können (DS 1955); das hätte die menschliche Natur nicht in ihrem Wesen verletzt und sie nicht ihrer grundlegenden Privilegien beraubt (DS 1903-1907, 1909, 1921, 1923, 1924, 1926, 1915, 2434, 2437, 2616, 2617).
Ähnlich wie die anti-pelagianischen Synoden behandelte das Konzil von Trient vor allem das Dogma von der Erbsünde und nimmt in seine Lehre die früheren Aussagen zu diesem Gegenstand auf. Hier wurde freilich eine genaue Präzisierung vorgenommen, die den Inhalt des Begriffs liberum arbitrium (»freie Entscheidung«) teilweise veränderte. In den anti-pelagianischen Dokumenten bezeichnete die »Freiheit« oder »Willensfreiheit« nicht die mit der menschlichen Natur verbundene, also bleibende Möglichkeit der Entscheidung, sondern bezieht sich lediglich auf die Möglichkeit, verdienstvolle Handlungen auszuführen, also auf die Freiheit, die aus der Gnade fließt und die der Mensch verlieren kann.
Durch die Sünde hat Adam also verloren, was nicht zur menschlichen Natur im strengen Sinne des Wortes gehörte, das heißt die integritas, sanctitas, innocentia, iustitia: die »Unversehrtheit«, die »Heiligkeit«, die »Unschuld«, die »Gerechtigkeit«. Die Willensfreiheit (liberum arbitrium) wurde nicht aufgehoben, wohl aber geschwächt: . . . liberum arbitrium minime exstinctum ... viribus licet attenuatum et inclinatum . . . (». . . die Willensfreiheit wurde keineswegs ausgelöscht ..., freilich wurden ihre Kräfte schwächer und ließen nach . . .« - DS 1521 Trid. Sess. VI, Decr. de Justificatione, C. 1).
Zugleich mit der Sünde tritt die Begierde und die Unvermeidlichkeit des Todes auf den Plan: . . . primum hominem . . . cum mandatum Dei. . . fuisset transgressus statim sanctitatem et iustitiarn, in qua costitutus fuerat, amisisse incurrisseque per offensam praevaricationis huiusmodi iram et indignationem Dei atque ideo mortem . . . et cum morte captivitatem sub eius potestate, qui »mortis« deinde »habuit imperium« . . . totumque Adam per illam praevaricationis offensam secundum corpus et animam in deterius commutatum fuisse . . . (DS 1511, Trid. Sess. V, Decr. de pecc. Orig. 1): » . . . dass der erste Mensch . . ., nachdem er Gottes Gebot übertreten hatte, sogleich die Heiligkeit und Gerechtigkeit, mit der er ausgestattet gewesen war, verloren und sich durch die Beleidigung des Ungehorsams den Zorn und Unwillen Gottes und somit den Tod zugezogen habe . . . und mit dem Tod die Gefangenschaft unter dessen Macht, der fortan >die Macht über den Tod hatte< ..., und dass der ganze Adam durch die Beleidigung des Ungehorsams in seinem Leib und seiner Seele eine Veränderung zum Schlechteren erfahren habe . . .« (Vgl. Mysterium Salutis, II, Einsiedeln-Zürich-Köln 1967, S. 827-828: W. Seibel, »Der Mensch als Gottes übernatürliches Ebenbild und der Urständ des Menschen«.)</ref> der übernatürlichen und außernatürlichen Gaben beraubt, die vor der Sünde zu seiner »Ausstattung« gehört hatten; darüber hinaus nahm auch seine Natur, sein Menschsein, an der ursprünglichen Fülle der Gottebenbildlichkeit Schaden. Die dreifache Begierde entspricht nicht der Fülle jenes Ebenbildes, sondern eben den Schädigungen, den Unzulänglichkeiten, den Grenzen, die mit der Sünde hervortreten. Die Begierde erklärt sich als Mangel, der jedoch in der ursprünglichen Tiefe des menschlichen Geistes seine Wurzeln hat. Wenn wir dieses Phänomen in seinen Anfangsgründen, also an der Schwelle der Erfahrungen des geschichtlichen Menschen studieren wollen, müssen wir sämtliche Worte bedenken, die Gott-Jahwe an die Frau (Gen 3, 16) und an den Mann (Gen 3, 17-19) richtete. Außerdem müssen wir den Gewissenszustand der beiden untersuchen; der jahwistische Text erleichtert uns das ausdrücklich. Wir haben bereits früher auf den spezifischen literarischen Charakter dieses Textes in diesem Zusammenhang hingewiesen.
3. Welcher Bewusstseinszustand tut sich in den Worten kund: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt«? Welcher inneren Wahrheit entsprechen sie? Von welcher Bedeutung des Körpers zeugen sie? Dieser neue Zustand unterscheidet sich zweifellos von dem ursprünglichen Zustand. Die Worte in Gen 3, 10 beweisen unmittelbar eine radikale Veränderung in der Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit. Im Zustand der ursprünglichen Unschuld war, wie wir früher festgestellt haben, die Nacktheit kein Ausdruck des Mangels, sondern die volle Bejahung des Leibes in seiner ganzen menschlichen und damit persönlichen Wirklichkeit. Der Körper als Ausdruck der Person war das erste Zeichen für die Anwesenheit des Menschen in der sichtbaren Welt. In dieser Welt war der Mensch von Anfang an in der Lage, sich selbst von den anderen Lebewesen zu unterscheiden, d. h. sich als Person zu bestätigen, auch durch seinen Leib. Denn dieser Leib war sozusagen der sichtbare Faktor der Transzendenz, durch die der Mensch als Person über die sichtbare Welt der Lebewesen (animalia) hinausragt. In diesem Sinne war der Leib des Menschen von Anfang an ein treuer Zeuge und ein sichtbarer Ausdruck der ursprünglichen Einsamkeit des Menschen in der Welt; gleichzeitig war er durch seine Männlichkeit und Weiblichkeit ein deutliches Element der gegenseitigen Hingabe der Personen. So trug der menschliche Körper im Geheimnis der Schöpfung ein unzweifelhaftes Zeichen der Ebenbildlichkeit Gottes an sich und bildete auch die eigentliche Quelle für die Gewißheit der Ebenbildlichkeit, die in jedem Menschenwesen vorhanden ist. Die ursprüngliche Bejahung des Leibes bildete gewissermaßen die Grundlage für die Bejahung der ganzen sichtbaren Welt. Und sie gab dem Menschen die Garantie für seine Herrschaft über die Welt, über die Erde, die er sich Untertan machen sollte (vgl. Gen 1, 28).
4. Die Worte »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt« (Gen 3, 10) beweisen eine radikale Änderung dieser Beziehung. Der Mensch verliert sozusagen die ursprüngliche Gewißheit von seiner Gottebenbildlichkeit, die in seinem Leib zum Ausdruck kommt. Er verliert gewissermaßen auch das Bewusstsein, dass er das Recht hat, die Welt wahrzunehmen, an der er sich im Geheimnis der Schöpfung erfreut hatte. Die Grundlage dieses Rechts lag im Innern des Menschen, darin, dass er an der göttlichen Schau der Welt und seines Menschseins teilnahm; das gab ihm tiefen Frieden und Freude am Erleben der Wirklichkeit und des Wertes seines Leibes in ganzer, ihm vom Schöpfer verliehener Unbefangenheit: »Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war« (Gen 1, 31). Die Worte in Gen 3, 10: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt«, bestätigen den Zusammenbruch der ursprünglichen Bejahung des Leibes, des Zeichens der Person in der sichtbaren Welt. Gleichzeitig scheint auch die Bejahung der materiellen Welt in ihrer Bejahung zum Menschen ins Schwanken zu geraten. Die Worte Gott-Jahwes künden gewissermaßen die Feindseligkeit der Welt an, den Widerstand der Natur gegen den Menschen und seine Aufgaben, sie künden die Mühsal an, die der Leib des Menschen fortan im Umgang mit der von ihm unterworfenen Erde erfahren würde: »Verflucht ist der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln läßt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Mit Schweiß im Gesicht wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden. Von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück« (Gen 3, 17-19). Am Ende dieser Mühsal, dieses Kampfes des Menschen mit der Erde, steht der Tod: »Staub bist du, zum Staub musst du zurück« (Gen 3, 19).
In diesem Zusammenhang, oder besser: in dieser Perspektive scheinen die Worte Adams in Gen 3, 10: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt«, das Gefühl der Schutzlosigkeit sowie der Unsicherheit seines Körpers gegenüber den Naturvorgängen zum Ausdruck zu bringen, die unvermeidbar wirksam sind. In dieser erschütternden Aussage ist eine Art »kosmischer Scham« enthalten, in der sich das nach dem Ebenbild Gottes geschaffene und zur Unterwerfung und Beherrschung der Erde berufene Wesen (vgl. Gen 1, 28) kundgibt: dieses Wesen, das nun zu Beginn seiner geschichtlichen Erfahrungen in solch eindeutiger Weise der Erde unterworfen wird, besonders in dem Teil seiner transzendenten Befindlichkeit, die eben im Körper ihren Ausdruck findet. Wir müssen hier unsere Betrachtungen über die Bedeutung der ursprünglichen Scham im Buch Genesis unterbrechen. Wir werden sie kommende Woche wieder aufnehmen.
Der Bruch im Herzen des Menschen 28. 5. 1980, OR 80/23
1. Wir sind dabei, die ersten Kapitel des Buches Genesis erneut zu lesen, um zu verstehen, wie - mit der Erbsünde - der »Mensch der Begierde« an die Stelle des »Menschen der ursprünglichen Unschuld« getreten ist. Die Worte von Genesis 3, 10: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt«, die wir vor zwei Wochen betrachtet haben, zeigen die erste Erfahrung der Scham des Menschen gegenüber seinem Schöpfer: eine Scham, die man auch als »kosmisch« bezeichnen könnte.
Doch diese »kosmische Scham« - wenn es möglich ist,
ihre Züge innerhalb der Gesamtsituation des Menschen nach dem Sündenfall zu erkennen - macht im biblischen Text einer anderen Form der Scham Platz. Es ist die Scham, die im Menschsein selber gegeben ist, die also von der inneren Verwirrung dessen verursacht wurde, wodurch der Mensch im Schöpfungsgeheimnis (sowohl in seinem personalen Ich als auch in der zwischenmenschlichen Beziehung durch die ursprüngliche Personengemeinschaft, die zwischen Mann und Frau bestand) »Abbild Gottes« war. Diese Scham, deren Ursache sich im Menschsein selbst vorfindet, ist immanent und relativ zugleich: sie äußert sich in der Innerlichkeit des Menschen und bezieht sich gleichzeitig auf den »anderen«. Es ist die Scham der Frau dem Mann und die des Mannes der Frau gegenüber: eine gegenseitige Scham, die sie nötigt, die eigene Nacktheit zu bedecken und den Körper zu verhüllen, dem Blick des Mannes zu entziehen, was das sichtbare Zeichen der Fraulichkeit ausmacht, und dem Blick der Frau das zu entziehen, was das sichtbare Zeichen der Männlichkeit ist. In diese Richtung hat sich die Scham beider nach dem Sündenfall ausgeprägt, als sie erkannten, »dass sie nackt waren«, wie es in Genesis 3, 7 heißt. Der jahwistische Text scheint ausdrücklich auf den sexuellen Charakter dieser Scham hinzuweisen: »Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.« Doch können wir uns fragen, ob der sexuelle Aspekt nur einen relativen Charakter besitzt, mit anderen Worten: ob es sich um eine Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit nur gegenüber der Person des anderen Geschlechtes handelt.
2. Obgleich im Lichte des entscheidenden Satzes von Genesis 3, 7 die Antwort auf die Frage vor allem den Bezugscharakter der Ur-Scham zu stützen scheint, erlaubt uns dennoch das Nachdenken über den unmittelbaren Gesamtzusammenhang ihren mehr immanenten Hintergrund aufzudecken. Jene Scham, die sich zweifellos im sexuellen Bereich äußert, enthüllt eine spezifische Schwierigkeit, das menschliche Wesen des eigenen Körpers wahrzunehmen: eine Schwierigkeit, die der Mensch im Zustand der ursprünglichen Unschuld nicht hatte. So lassen sich in der Tat die Worte verstehen: »Ich bekam Angst, weil ich nackt bin«, die die Folgen der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im Innern des Menschen sichtbar machen. Durch diese Worte wird ein gewisser grundlegender Bruch in der menschlichen Persönlichkeit aufgedeckt, sozusagen ein Riß in der ursprünglichen geistig-körperlichen Einheit des Menschen. Dieser wird sich zum ersten Mal bewusst, dass sein Körper aufgehört hat, aus der Kraft des Geistes zu schöpfen, der ihn auf die Ebene der Gottebenbildlichkeit erhob. Seine Ur-Scham trägt die Zeichen einer spezifischen Demütigung durch den Körper an sich. Es verbirgt sich in ihr der Keim jenes Widerspruchs, der den geschichtlichen Menschen auf seinem gesamten Erdenweg begleiten wird, wie der hl. Paulus schreibt: »Denn in meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt« (Röm 7, 22-23).
3. So gesehen ist diese Scham also immanent. Sie enthält eine derartige Erkenntnisschärfe, dass sie bis in die Existenztiefe des Menschen Unruhe erzeugt, nicht nur angesichts des Todes, sondern auch im Hinblick auf das, wovon Wert und Würde der Person in ihrer ethischen Bedeutung abhängen. In diesem Sinne ist die Ur-Scham vor dem Leib (»ich bin nackt«) bereits Angst (»ich bekam Angst«) und kündigt die Unruhe des Gewissens an, die mit der bösen Begierlichkeit zusammenhängt. Der Körper, der nicht mehr wie im Zustand der Ur-Unschuld dem Geist unterworfen ist, nährt in sich einen ständigen Herd des Widerstandes gegen den Geist und bedroht gewissermaßen die Einheit vom Menschen als Person, das heißt die Einheit sittlicher Natur, die im eigentlichen Gefüge der Person fest verwurzelt ist. Die Begierlichkeit und im besonderen die Begierde des Leibes stellt eine deutliche Bedrohung für die Struktur des Selbstbesitzes und der Selbstbestimmung dar, durch die sich die Person des Menschen formt. Sie stellt für sie zugleich eine Herausforderung besonderer Art dar. In jedem Fall beherrscht der Mensch der Begierlichkeit seinen Körper nicht in demselben Maße und mit der gleichen Einfachheit und Natürlichkeit, wie das der Mensch im Zustand der ursprünglichen Unschuld vermochte. Die Struktur der für die menschliche Person wesentlichen Selbstbestimmung wird in ihm gewissermaßen in den Grundfesten erschüttert; er identifiziert sich erneut mit ihr, insofern er ständig bereit ist, sie zurückzugewinnen.
4. Mit diesem inneren Ungleichgewicht ist die immanente Scham verbunden. Sie hat sexuellen Charakter, weil gerade der Bereich der menschlichen Geschlechtlichkeit jene Störung des Gleichgewichts besonders deutlich sichtbar macht, die der Begierlichkeit und besonders der leiblichen Begierde entspringt. So gesehen, ist jener erste Anstoß, von dem Genesis 3, 7 spricht (»da erkannten sie, dass sie nackt waren; sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz«), äußerst bedeutsam; es ist, als erlebte der Mensch der Begierlichkeit (Mann und Frau »im Akt der Erkenntnis von Gut und Böse«), dass er einfach aufgehört hat, auch seinem Körper und seinem Geschlecht nach über der Welt der anderen Lebewesen oder animalia zu stehen. Es ist, als ob er einen bestimmten Bruch der personalen Integrität seines Körpers erlebte, besonders in dem, was seine Geschlechtlichkeit ausmacht und was in direktem Zusammenhang mit der Berufung zu jener Einheit steht, in der Mann und Frau »ein Fleisch sein werden« (Gen 2, 24). Deshalb hat jene immanente und zugleich geschlechtliche Scham zumindest indirekt immer einen relativen Charakter in Bezug auf den anderen. Es ist die Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit gegenüber dem anderen Menschen. So zeigt sich die Scham im Bericht von Genesis 3, durch den wir gewissermaßen Zeugen des Entstehens der menschlichen Begierlichkeit werden. Damit ist auch die Begründung hinreichend klar, dass wir von den Worten Christi über den Mann, der »eine Frau lüstern ansieht« (Mt 5, 27 f.), zu jenem ersten Augenblick zurückgehen müssen, wo Scham sich durch Begierlichkeit erklärt und Begierlichkeit durch Scham. So verstehen wir besser, weshalb - und in welchem Sinn - Christus das begehrliche Verlangen »Ehebruch« nennt, der im Herzen begangen wird, weil er das Herz des Menschen gewinnen will.
5. Das menschliche Herz birgt in sich gleichzeitig Verlangen und Scham. Das Entstehen der Scham verweist uns auf jenen Augenblick, in dem der innere Mensch, das Herz, sich dem verschließt, was vom Vater kommt, und sich dem öffnet, was von der Welt kommt. Das Entstehen der Scham im Herzen des Menschen geht Hand in Hand mit dem Aufbrechen der Begehrlichkeit - der dreifachen Begierde in der johanneischen Theologie (vgl. 1 Joh 2, 16), besonders der leiblichen Begierde. Aufgrund der Begierlichkeit schämt sich der Mensch seines Körpers. Ja, er schämt sich nicht so sehr des Körpers als vielmehr der Begierlichkeit: er schämt sich des Körpers wegen seiner Begierlichkeit. Er schämt sich des Körpers wegen jenes Zustandes seines Geistes, den Theologie und Psychologie mit dem gleichen Begriff bezeichnen: Begehren oder Begierde, auch wenn die Bedeutung nicht ganz die gleiche ist. Die biblische und theologische Bedeutung der Begierlichkeit unterscheidet sich von der in der Psychologie gebrauchten. Für letztere rührt das Begehren von dem Mangel oder der Notwendigkeit her, die der begehrte Wert stillen soll. Die biblische Begierlichkeit dagegen bezeichnet, wie wir aus 1 Joh 2, 16 ableiten können, den Zustand des menschlichen Geistes, der sich von der ursprünglichen Einfachheit und Fülle der Werte entfernt hat, die Mensch und Welt in den Dimensionen Gottes besitzen. Gerade diese Einfachheit und Wertfülle des menschlichen Körpers in der ersten Erfahrung seiner Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, von welcher Genesis 2,23-25 spricht, hat in der Folge in den Dimensionen der Welt eine radikale Umwandlung erfahren. Nun entstand zugleich mit der Begierlichkeit des Körpers die Scham.
6. Die Scham hat eine zweifache Bedeutung: sie verweist auf die Bedrohung des Wertes, und zugleich bewahrt sie diesen Wert innerlich.<ref>Karol Wojtyla, Liebe und Verantwortung: »Metaphysik der Scham«, Kösel Verlag, München, 1979, S. 150-167.</ref> Die Tatsache, dass im menschlichen Herzen von dem Augenblick an, da die Begierde des Körpers wach wurde, auch die Scham entstand, weist darauf hin, dass man an dieses Herz appellieren kann und muss, wenn es jene Werte sicherzustellen gilt, denen die Begierde ihre ursprüngliche und volle Dimension nimmt. Wenn wir das beachten, können wir besser erfassen, warum Christus, wenn er von der Begierlichkeit spricht, an das menschliche Herz appelliert.
Die Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaft der Personen 4. 6. 1980, OR 80/24
1. Bei unseren Betrachtungen über das Entstehen der Begierde im Menschen anhand der Genesis haben wir die ursprüngliche Bedeutung der Scham analysiert, die mit dem Sündenfall sichtbar wurde. Die Analyse der Scham im Lichte des biblischen Berichtes erlaubt uns, noch tiefer zu erfassen, welche Bedeutung sie für alle zwischenmenschlichen Beziehungen von Mann und Frau hat. Das dritte Kapitel der Genesis zeigt ohne jeden Zweifel, dass jene Scham im Verhältnis von Mann und Frau zueinander auftrat und dass eben wegen der Scham dieses Verhältnis sich radikal wandelte. Und da die Scham in ihren Herzen zugleich mit der leiblicben Begierde entstand, erlaubt uns die Analyse der ursprünglichen Scham gleichzeitig zu prüfen, in welchem Verhältnis diese Begierde zur Gemeinschaft zweier Personen steht, die dem Mann und der Frau von Anfang an gewährt und als Aufgabe übertragen wurde, weil sie als »Abbild Gottes« erschaffen wurden. Daher ist der nächste Schritt bei der Untersuchung der Begierde, die nach Genesis 3 »am Anfang« in der Scham des Mannes und der Frau sichtbar wurde, die Analyse des unersättlichen Dranges nach Vereinigung, d. h. der Gemeinschaft der Personen, die entsprechend ihrer je besonderen Ausprägung als Mann oder Frau auch von ihrem Körper zum Ausdruck gebracht werden musste.
2. Vor allem also diese Scham, die nach der biblischen Erzählung Mann und Frau veranlaßt, ihre Körper und im besonderen das, was sie geschlechtlich unterscheidet, voreinander zu verbergen, beweist, dass die ursprüngliche Fähigkeit zur Gemeinschaft miteinander, von der Genesis 2, 25 spricht, zerstört wurde. Die radikale Änderung der Bedeutung der ursprünglichen Nacktheit lässt uns negative Veränderungen im gesamten personalen Verhältnis zwischen Mann und Frau vermuten. Diese gegenseitige Gemeinschaft im Menschsein selbst durch den Leib und durch seine männliche und weibliche Ausprägung, welche im vorangehenden Abschnitt der jahwistischen Erzählung (vgl. Gen 2, 23-25) so deutlich betont worden war, wird in diesem Augenblick erschüttert: es ist, als ob der Leib nicht mehr länger das »unverfälschte« Mittel der Gemeinschaft zwischen Personen bilden, als ob seine ursprüngliche Funktion im Bewusstsein des Mannes und der Frau angezweifelt würde. Schlichtheit und Reinheit der ursprünglichen Erfahrung, die eine einzigartige tiefe Verbindung miteinander ermöglichen, gehen verloren. Natürlich teilten sich die Stammeltern auch weiterhin durch ihren Körper, seine Bewegungen, Gesten und Ausdrucksweise einander mit; aber ihre einfache und unmittelbare Gemeinschaft, die aus der ursprünglichen Erfahrung der gegenseitigen Nacktheit kam, ging verloren. Gleichsam plötzlich erhob sich in ihrem Bewusstsein eine unüberwindliche Schwelle, die die ursprüngliche Selbsthingabe an den anderen aufhebt, die im vollen Vertrauen auf alles, was die eigene Identität und zugleich Verschiedenheit als Mann und als Frau ausmacht, geschah. Der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht wurde jäh empfunden und als Gegensatz der Personen verstanden. Das bezeugen die knappe Formulierung in Genesis 3, 7: »Sie erkannten, dass sie nackt waren«, und der unmittelbare Kontext. Das alles gehört auch zur Analyse des ersten Auftretens der Scham. Die Genesis beschreibt nicht nur den Ursprung der Scham im Wesen des Menschen, sie läßt uns auch ihre Abstufungen im Mann und in der Frau erkennen.
3. Den Verlust der Fähigkeit zu voller gegenseitiger Gemeinschaft, der sich in der sexuellen Scham äußert, lässt uns besser den ursprünglichen Wert der Bedeutung des Körpers als einigendes Element begreifen. Man kann den Verlust dieser Fähigkeit, d. h. die Scham, nur von der Bedeutung her verstehen, die der Körper in seiner Weiblichkeit und Männlichkeit zuvor für den Menschen im Zustand der Urunschuld hatte. Diese einigende Bedeutung gilt nicht für die Einheit, die Mann und Frau als Eheleute darstellen, indem sie durch den ehelichen Akt »ein Fleisch« werden (Gen 2, 24), sondern gilt auch für die Gemeinschaft der Personen selbst, die im Schöpfungsgeheimnis eine Dimension war, die der Existenz des Mannes und der Frau eigen ist. Der Körper in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit bildete das besondere Mittel dieser personalen Gemeinschaft. Die sexuelle Scham, von der Genesis 3, 7 spricht, bezeugt den Verlust der ursprünglichen Gewißheit, dass der menschliche Körper durch seine Männlichkeit und Weiblichkeit Ausprägung jenes Mittels ist, das die Gemeinschaft der Personen unmittelbar zum Ausdruck bringt; er dient auch ihrer Verwirklichung (und damit der Vervollkommnung des »Ebenbildes Gottes« in der sichtbaren Welt). Das Bewusstsein der beiden wird im weiteren Kontext von Genesis 3, mit dem wir uns noch beschäftigen werden, erschüttert. Wenn der Mensch nach dem Sündenfall sozusagen das Empfinden für seine Gottebenbildlichkeit verloren hatte, so äußerte sich das im körperlichen Schamgefühl (vgl. besonders Gen 3, 10-11). Die Scham, die das gesamte Verhältnis zwischen Mann und Frau erfaßte, zeigte sich im Verlust des ursprünglichen Sinnes der leiblichen Einheit, das heißt des Körpers als besonderem Mittel der Gemeinschaft der Personen. Es ist, als wäre die personale Ausprägung der Männlichkeit und der Weiblichkeit, die vorher die Bedeutung des Körpers für eine volle Gemeinschaft der Personen unterstrich, dem sexuellen Empfinden gegenüber dem andersgeschlechtlichen Menschen gewichen; als würde die Geschlechtlichkeit zum Hindernis der personalen Beziehung des Mannes zur Frau. Während sie nach Genesis 3, 7 ihre Geschlechtlichkeit voreinander verbergen, bringen sie sie gleichsam instinktmäßig zum Ausdruck.
4. Das ist zugleich die zweite Entdeckung des Geschlechts, die sich im biblischen Bericht grundlegend von der ersten unterscheidet. Der ganze Zusammenhang des Berichts bezeugt, dass diese neue Entdekkung den geschichtlichen Menschen der Begierde (und zwar der dreifachen Begierde) vom Menschen der ursprünglichen Unschuld unterscheidet. In welcher Beziehung steht die Begierde, besonders die fleischliche Begierde, zu der vom Leib, von seiner Männlichkeit und Weiblichkeit vermittelten Gemeinschaft der Personen, das heißt zu der Gemeinschaft, die dem Menschen im Anfang vom Schöpfer mitgegeben wurde? Das ist die Frage, die man sich gerade in Bezug auf die Worte »am Anfang« über die Erfahrung der Scham stellen muss, von der der biblische Bericht spricht. Wie wir bereits festgestellt haben, ist die Scham in der Erzählung von Genesis 3 das Symptom für die Trennung des Menschen von der Liebe, an der er im Schöpfungsgeheimnis Anteil hatte, wie es bei Johannes heißt: der Liebe, die »vom Vater kommt«. »Jene Liebe, die von der Welt ist«, also die Begierde, trägt in sich die gewissermaßen grundlegende Schwierigkeit, die Bedeutung des eigenen Körpers zu verstehen; und das nicht nur für den eigenen subjektiven Bereich, sondern noch mehr für den subjektiven Bereich des anderen Menschen: der Frau gegenüber dem Mann, des Mannes gegenüber der Frau.
5. Daher stammt das Bedürfnis, vor dem anderen das zu verbergen, was körperlich die Weiblichkeit oder Männlichkeit ausmacht. Dieses Bedürfnis beweist das wesentliche Fehlen des Vertrauens, was die Erschütterung der ursprünglichen Gemeinschaft anzeigt. Gerade die Beziehung zur Subjektivität des anderen und zugleich zur eigenen Subjektivität hat in dieser neuen Situation, nämlich im Zusammenhang mit der Begierde, das Bedürfnis, sich zu verbergen, entstehen lassen, von dem Genesis 3, 7 spricht.
Und genau hier, so scheint uns, entdecken wir die tiefere Bedeutung der sexuellen Scham und auch die volle Bedeutung des Phänomens, auf das der biblische Text hinweist, um die Grenze zwischen dem Menschen der ursprünglichen Unschuld und dem geschichtlichen Menschen der Begierde zu offenbaren. Der vollständige Text des 3. Kapitels der Genesis liefert uns Elemente, um die Tiefendimension der Scham zu bestimmen; doch das erfordert eine eigene Analyse. Mit ihr wollen wir bei unserer nächsten Untersuchung beginnen.
Die Begierde entstellt die personale Einheit des Paares 18. 6. 1980, OR 80/26
1. Im 3. Kapitel der Genesis wird überraschend exakt das Phänomen der Scham beschrieben, die beim ersten Menschen zugleich mit der Erbsünde auftrat. Eine aufmerksame Betrachtung dieses Textes erlaubt uns, den Schluss zu ziehen, dass die Scham, die an die Stelle des absoluten Vertrauens getreten ist, das mit dem anfänglichen Zustand der Unschuld bei der Beziehung zwischen Mann und Frau verbunden war, eine tiefere Dimension hat. Dazu muss man das dritte Kapitel der Genesis bis zu Ende lesen und darf sich nicht auf Vers 7 und die Verse 10-11 beschränken, die das Zeugnis über die erste Erfahrung der Scham enthalten. Denn nach diesem Bericht bricht der Dialog Gott-Jahwes mit dem Mann und der Frau ab; es beginnt ein Monolog. Jahwe wendet sich an die Frau und spricht zunächst von den Geburtswehen, die sie von nun an begleiten werden: »Viel Mühsal bereite ich dir, oft wirst du schwanger sein, unter Schmerzen gebierst du Kinder . . .« (Gen 3, 16). Dem fügt er den Satz hinzu, der künftig das gegensei tige Verhältnis von Mann und Frau kennzeichnet: »Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen« (Gen 3, 16).
2. Diese Worte besitzen, ähnlich denen von Genesis 2, 24, zukunftweisenden Charakter. Die einschneidende Formulierung von 3, 16 scheint die Gesamtheit der Tatsachen zu betreffen, die gewissermaßen schon bei der ersten Erfahrung der Scham auftauchen und die sich dann in der ganzen inneren Erfahrung des geschichtlichen Menschen äußern sollten. Die Geschichte des menschlichen Gewissens und Herzens wird die Worte von Genesis 3, 16 immer wieder bestätigen. Die anfangs zitierten Worte scheinen auf eine besondere Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann Bezug zu nehmen. Aber das ist kein Grund, sie als eine soziale Unterordnung oder Ungleichheit zu verstehen. Vielmehr weist der unmittelbar anschließende Satz: »Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen« auf eine andere Form der Ungleichheit hin, welche die Frau als Fehlen der vollen Einheit im weiteren Sinn der Einheit mit dem Mann empfinden wird, zu der beide nach Genesis 2, 24 berufen wind.
3. Die Worte Gott-Jahwes: »Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen« (Gen 3, 16) betreffen nicht ausschließlich den Vorgang der Vereinigung von Mann und Frau, wenn beide sich so aneinander binden, dass sie ein Fleisch werden (vgl. Gen 2, 24); sie beziehen sich vielmehr auf den ganzen Zusammenhang auch der indirekten Beziehung der ehelichen Verbindung. Zum ersten Mal wird der Mann hier als Ehemann bezeichnet. Im Kontext des jahwistischen Berichtes sind diese Worte vor allem als Übertretung, als grundlegender Verlust der ursprünglichen personalen Gemeinschaft und Verbundenheit zu verstehen. Diese hätte Mann und Frau gegenseitig glücklich machen sollen durch das Bemühen um eine einfache und reine Verbindung im Menschsein, durch die gegenseitige Selbsthingabe, das heißt die Erfahrung der Hingabe der Person, die mit Seele und Leib, mit Männlichkeit und Weiblichkeit (»Fleisch von meinem Fleisch«, Gen 2, 23) zum Ausdruck kommt, und schließlich durch die Unterordnung dieser Vereinigung unter den Segen einer Fruchtbarkeit durch »Nachkommenschaft«.
4. Es hat also den Anschein, dass in den Worten GottJahwes an die Frau eine tiefere Resonanz der Scham zu finden ist, die beide nach dem Bruch des ursprünglichen Bundes mit Gott zu erfahren begannen. Außerdem finden wir hier eine vollständigere Begründung der Scham. Sehr diskret und dennoch gut entschlüsselbar und ausdrucksstark bezeugt Genesis 3, 16, dass die ursprünglich beglückende personale eheliche Vereinigung im Herzen des Menschen durch die Begierde entstellt wird. Diese Worte sind direkt an die Frau gerichtet, sie beziehen sich aber auch auf den Mann oder vielmehr auf beide gemeinsam.
5. Schon die Analyse von Genesis 3, 7, die wir bei einer früheren Audienz angestellt haben, hat gezeigt, dass Mann und Frau in der neuen Lage, nach dem Bruch des anfänglichen Bundes mit Gott, statt durch ihre Männlichkeit bzw. Weiblichkeit miteinander vereint voneinander getrennt oder geradezu einander zu Rivalen wurden. Der biblische Bericht, der den instinktiven Impuls beider, ihren Körper zu bedecken, hervorhebt, beschreibt zugleich die Situation, in welcher sich der Mensch als Mann oder Frau - vorher war er eher Mann und Frau - dem Körper als Quelle ursprünglicher Verbundenheit im Menschsein (»Fleisch von meinem Fleisch«) in hohem Maße entfremdet fühlt und dem ändern gerade aufgrund von Körper und Geschlecht stärker entgegengesetzt. Dieser Gegensatz zerstört keineswegs die vom Schöpfer gewollte eheliche Verbindung (vgl. Gen 2, 24) noch ihre Auswirkungen auf Zeugung und Fortpflanzung; doch gibt er der Verwirklichung dieser Verbindung eine andere Richtung, wie sie eben dem Menschen der Begierde eigen sein wird. Davon spricht Genesis 3, 16.
Die Frau, die es »nach dem Mann verlangt« (vgl. Gen 3, 16), und der Mann, der dieses Verlangen erwidert - wir lesen: »er wird über dich herrschen« -, bilden zweifellos dasselbe menschliche Ehepaar, von dem in Genesis 2, 24 die Rede ist, ja dieselbe personale Gemeinschaft: und doch sind sie nun irgendwie verschieden. Sie sind nicht nur zur Verbundenheit und Einheit berufen, sondern werden von einer Unersättlichkeit nach jener Verbundenheit und Einheit geradezu bedroht, die nicht aufhört, Mann und Frau gegenseitig anzuziehen, eben weil sie Personen sind, die von Ewigkeit her zur Existenz in Gemeinschaft berufen sind. Im Lichte des biblischen Schöpfungsberichtes hat die geschlechtliche Scham ihre tiefe Bedeutung, die eben in Zusammenhang steht mit dem unbefriedigten Verlangen, im ehelichen Akt (vgl. Gen 2, 24) die personale Gemeinschaft miteinander zu verwirklichen.
6. Das alles scheint unter verschiedenen Aspekten zu bestätigen, dass der Scham, die der Mensch in seiner Geschichte erfuhr, die dreifache Begierde zugrunde liegt, von der im ersten Johannesbrief die Rede ist: nicht nur die Begierde des Fleisches, sondern auch »die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz« ( 1 Jo h 2, 16). Weist etwa die Äußerung über Herrschaft (»er wird dich beherrschen«), von welcher wir in Genesis 3,16 hören, nicht auf diese letzte Form der Begierde hin? Verändert nicht die Herrschaft über den ändern - des Mannes über die Frau - wesenhaft die Gemeinschaftsstruktur in der zwischenmenschlichen Beziehung? Überträgt sie nicht in die Dimension dieser Struktur etwas, was das menschliche Wesen in gewisser Hinsicht zu einem begehrlichen Gegenstand für das Auge macht?
Das sind die Fragen, die sich aus der Überlegung zu den Worten Jahwes nach Genesis 3, 16 ergeben. Jene Worte, die an der Schwelle der Menschheitsgeschichte nach dem Sündenfall ausgesprochen wurden, enthüllen uns nicht nur die äußere Lage des Mannes und der Frau; sie erlauben uns auch, in die tiefen Geheimnisse ihres Herzens vorzudringen.
Die Begierde verzerrt den bräutlichen Sinn des Leibes 25. 6. 1980, OR 80/27
1. Die Analyse, die wir bei unserer vorigen Betrachtung angestellt haben, galt den Worten aus Gen 3, 16, die Gott-Jahwe nach dem Sündenfall an die erste Frau richtete: »Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen« (Gen 3, 16). Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Worte eine angemessene Klärung und eine tiefe Deutung der anfänglichen Scham enthalten (vgl. Gen 3, 7), die ebenso wie die Begierde zum Mann und zur Frau gehören. Die Erklärung für diese Scham ist nicht im Leib selbst zu suchen, im körperlichen Geschlecht; sie geht vielmehr zurück auf die tiefgreifende Wandlungen, die der menschliche Geist erfahren hat. Dieser Geist ist sich in besonderer Weise dessen bewusst, wie unersättlich er nach der gegenseitigen Vereinigung von Mann und Frau strebt. Dieses Bewusstsein aber macht sozusagen den Leib dafür verantwortlich, es nimmt ihm die Schlichtheit und Reinheit des mit der anfänglichen Unschuld des menschlichen Seins verbundenen Sinnes. In Bezug auf dieses Bewusstsein ist die Scham nur eine abgeleitete Erfahrung: wenn sie einerseits das Moment der Begierde enthüllt, so kann sie zugleich vor den Folgen der dreifachen Begierde schützen. Man kann sogar sagen, durch die Scham bleiben der Mann und die Frau gleichsam im Stand der anfänglichen Unschuld. Denn sie machen sich ständig den bräutlichen Sinn des Leibes bewusst und möchten ihn sozusagen vor der Begierde schützen, so wie sie versuchen, den Wert der Gemeinschaft, das heißt der Verbundenheit ihrer Personen in der »Einheit des Leibes«, aufrechtzuerhalten.
2. Gen 2, 24 spricht diskret, aber auch ganz klar von der »Vereinigung der Leiber« im Sinne einer echten Verbindung von Personen: »Der Mann . . . bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass diese Verbindung von einer Entscheidung her stammt, weil der Mann Vater und Mutter verläßt, um sich an seine Frau zu binden. Eine solche Verbindung der Personen führt dahin, dass sie »ein Fleisch werden«. Von diesem »sakramentalen« Ausdruck ausgehend, der der Gemeinschaft der Personen - des Mannes und der Frau - in ihrer ursprünglichen Berufung zur ehelichen Verbindung entspricht, können wir die eigentliche Botschaft von Gen 3, 16 besser verstehen; das heißt, wir können feststellen und gleichsam rekonstruieren, worin näherhin das Missverhältnis, ja die besondere Entartung der anfänglichen zwischenmenschlichen Beziehung besteht, auf welche die »sakramentalen« Worte von Gen z, 24 anspielen.
3. Man kann also - bei vertiefter Betrachtung von Gen 3, 16 - sagen: während einerseits der Leib, der mit der Person eine Einheit bildet, nicht aufhört, das Verlangen nach personaler Vereinigung zu äußern eben aufgrund seiner Männlichkeit und Weiblichkeit (»dennoch verlangt dich nach dem Mann«), so lenkt anderseits und gleichzeitig die Begehrlichkeit dieses Verlangen in ihre Richtung; das wird von dem Satz »Er wird über dich herrschen« bestätigt. Die fleischliche Begierde lenkt dieses Verlangen jedoch auf die leibliche Befriedigung, oft auf Kosten einer echten und vollen Gemeinschaft der Personen. Hier müßte man auf die besondere Weise achten, wie in den Versen von Gen 3 die semantischen Akzente verteilt sind; denn wenn sie sich auch an verschiedenen Stellen finden, gehören sie doch innerlich zusammen. Der Mann scheint die Scham vor dem eigenen Körper besonders intensiv zu erfahren: »Da bekam ich Angst, weil ich nackt bin, und habe mich versteckt« (Gen 3, 10); diese Worte betonen den wahrhaft metaphysischen Charakter der Scham. Zugleich wird für den Mann die Scham, verbunden mit der Begierde, zum Antrieb, über die Frau »zu herrschen« (»er wird über dich herrschen«). In der Folge zeigt sich die Erfahrung dieser Beherrschung unmittelbar als das unersättliche Verlangen nach einer Verbindung anderer Art. Von dem Augenblick an, da der Mann über sie »herrscht«, wandelt sich die aus voller geistiger Einheit der beiden sich einander schenkenden Wesen entstandene Gemeinschaft der Personen in eine gegenseitige Beziehung anderer Art: Gegenstand des Verlangens wird der Besitz des anderen. Wenn beim Mann dieser Impuls vorherrscht, können die Gefühle, welche die Frau ihm entgegenbringt, nach Gen 3, 16 eine ähnliche Form annehmen, und sie tun es auch. Und manchmal kommen sie vielleicht dem »Verlangen« des Mannes zuvor, suchen es zu wecken oder zu steigern.
4. Der Text von Gen 3, 16 scheint vor allem den Mann als jenen zu bezeichnen, der Verlangen hat, ähnlich wie im Text von Mt 5, 27-28, der den Ausgangspunkt unserer derzeitigen Betrachtungen bildet; in jedem Fall sind Mann und Frau zu einem Menschenwesen geworden, das der Begierde unterworfen ist. Deshalb überfällt beide die Scham, die sich im Innersten der Persönlichkeit des Mannes und der Frau, wenn auch in verschiedener Weise, auswirkt. Aus Gen 3 allein können wir kaum diese Duplizität nachzeichnen, aber schon die Andeutungen sind recht vielsagend. Wir fügen hinzu, dass dieser doch so alte Text so überraschend ausdrucksstark und scharfsinnig ist.
5. Eine angemessene Analyse von Gen 3 führt also zu dem Schluss, dass die dreifache Begierde, eingeschlossen jene des Körpers, eine Einschränkung des bräutlichen Sinnes des Leibes mit sich bringt, an dem Mann und Frau im Zustand der anfänglichen Unschuld teilhatten. Wenn wir vom Sinn des Leibes sprechen, meinen wir vor allem das volle Bewusstsein, Mensch zu sein. Wir schließen aber auch jede tatsächliche Erfahrung des Leibes in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit ein, jedenfalls die ständige Empfänglichkeit für diese Erfahrung. Der Sinn des Leibes ist nicht nur etwas Begriffliches. Darauf haben wir bei den vorangegangenen Betrachtungen schon ausführlich hingewiesen. Der Sinn des Leibes bestimmt zugleich das Verhalten: er ist die Weise, wie man den Leib erfährt. Er ist das Maß, das der innere Mensch, also das »Herz«, auf das sich Christus in der Bergpredigt bezieht, auf den menschlichen Leib in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit (also in seiner Geschlechtlichkeit) anwendet.
Dieser Sinn verändert nicht die Wirklichkeit in sich, also das, was der menschliche Leib in seiner Geschlechtlichkeit, unabhängig von unserem Bewusstsein und unseren Erfahrungen, ist und bleibt. Doch dieser rein objektive Sinn von Leib und Geschlecht, abgesehen von der Gesamtheit der tatsächlichen, konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen von Mann und Frau, ist gewissermaßen a-historisch. Wir hingegen tragen in unserer jetzigen Analyse - in Übereinstimmung mit den biblischen Quellen - stets der Geschichtlichkeit des Menschen Rechnung (auch deshalb, weil wir von seiner theologischen Vorgeschichte ausgehen). Es geht hier offensichtlich um eine innere Dimension, die sich den äußeren Kriterien der Geschichtlichkeit entzieht, die wir aber dennoch als historisch bezeichnen dürfen. Sie liegt sogar allem zugrunde, was die Geschichte des Menschen - auch die Geschichte der Sünde und des Heils - ausmacht und damit die Tiefe und eigentliche Wurzel seiner Geschichtlichkeit enthüllt.
6. Wenn wir in diesem großen Zusammenhang von der Begehrlichkeit als Einschränkung, Verletzung oder sogar Verzerrung des bräutlichen Sinnes des Leibes sprechen, beziehen wir uns vor allem auf unsere früheren Analysen über den Stand der anfänglichen Unschuld, also die theologische Vorgeschichte des Menschen. Zugleich erwägen wir das Maß, das der geschichtliche Mensch mit seinem »Herzen« auf den eigenen Körper und seine Geschlechtlichkeit anwendet. Dieses Maß ist nicht nur etwas Begriffliches: es bestimmt das Verhalten und entscheidet grundsätzlich über die Art und Weise, den Körper zu erfahren. Darauf bezieht sich Christus zweifellos in der Bergpredigt. Wir versuchen hier, die Worte von Mt 5, 27-28 näher an den Beginn der theologischen Geschichte des Menschen heranzurücken, indem wir sie schon im Zusammenhang von Gen 3 betrachten. Die Begierde als Einschränkung, Verletzung oder gar Verzerrung des bräutlichen Sinnes des Leibes lässt sich (trotz der Knappheit des biblischen Berichts) besonders klar an den beiden Stammeltern Adam und Eva erkennen; an ihnen vermochten wir den bräutlichen Sinn des Leibes zu entdecken bzw. wiederzufinden, worin er als Maß für das menschliche »Herz« besteht, nämlich die anfängliche Form zwischenmenschlicher Gemeinschaft. Wenn in der persönlichen Erfahrung der Menschen (was sich aus dem biblischen Text folgern läßt) jene anfängliche Form verwirrt und verzerrt wurde - wie wir anhand der Untersuchung der Scham zu zeigen versuchten -, musste auch der bräutliche Sinn des Leibes, der im Zustand der anfänglichen Unschuld das Maß für die Herzen beider, des Mannes und der Frau, bildete, verzerrt werden. Wenn es uns gelingt herauszuarbeiten, worin diese Verzerrung besteht, gewinnen wir zugleich eine Antwort auf unsere Fragen, worin die Begehrlichkeit des Fleisches besteht und was ihre theologische und zugleich anthropologische Besonderheit ausmacht. Es scheint, dass eine theologisch und anthropologisch angemessene Antwort, die wichtig ist für den Sinn der Worte Christi in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28), sich bereits aus dem Zusammenhang von Gen 3 und dem gesamten jahwistischen Schöpfungsbericht erheben lässt, der uns schon früher die Klärung des bräutlichen Sinnes des menschlichen Leibes ermöglicht hat.
Das Herz: Kampfplatz zwischen Liebe und Begehrlichkeit 23.6. 1980, OR 80/31
1. Wie wir aus unseren Überlegungen zu Genesis 2, 23-25 wissen, ist der menschliche Körper in seiner ursprünglichen Männlichkeit und Weiblichkeit nach dem Mysterium der Schöpfung nicht nur Quelle der Fruchtbarkeit, das heißt der Zeugung, sondern hat »von Anbeginn« ehelichen Charakter: Er (der Körper) kann also die Liebe ausdrücken, durch die der Mensch als Person zum Geschenk wird und so den tiefen Sinn des eigenen Seins und der eigenen Existenz erfüllt. In dieser seiner Besonderheit ist der Körper Ausdruck des Geistes und dazu aufgerufen, gerade im Mysterium der Schöpfung in der Gemeinschaft der Menschen »das Ebenbild Gottes« zu sein. Nun beschränkt und beeinträchtigt die Begehrlichkeit, »die von der Welt ausgeht« - hier handelt es sich direkt um die sinnliche Begehrlichkeit -, diese objektive Art und Weise des Körpers zu existieren, an der der Mensch teilhat. Das Herz des Menschen erfährt den Grad dieser Beschränkung und Beeinträchtigung, dies gilt besonders im Bereich der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Eben in der Erfahrung des Herzens scheinen die Weiblichkeit und die Männlichkeit in ihren gegenseitigen Beziehungen nicht mehr Ausdruck des Geistes zu sein, der auf personale Gemeinschaft zielt, sondern bleiben nur Objekt der Anziehung, wie dies in gewisser Weise in der Welt der Lebewesen geschieht, die wie der Mensch die Segnung der Fruchtbarkeit erhalten haben (vgl. Gen 1).
2.' Diese Ähnlichkeit ist sicherlich im Werk der Schöpfung enthalten; das bestätigt auch Genesis 2, besonders Vers 24. Die natürliche Grundlage - die körperliche und sexuelle - dieser Anziehung, drückte schon im Schöpfungsgeheimnis voll die Aufforderung von Mann und Frau zu personaler Gemeinschaft aus; stattdessen hat sich nach dem Sündenfall - in der neuen Situation wie in Genesis 3 beschrieben - dieser Ausdruck abgeschwächt und getrübt: als ob die gegenseitigen Beziehungen sich schwächer abzeichnen oder auf eine andere Ebene verschoben würden. Die natürliche und körperliche Grundlage der menschlichen Sexualität offenbarte sich in einer fast ursprünglichen Kraft, die von einem gewissen körperlichen Zwang gezeichnet war; diese Kraft wirkte nach eigenen Gesetzen und beschränkt den Ausdruck des Geistes und die Erfahrung, den anderen Menschen als Geschenk anzunehmen. Die Worte aus Genesis 3, 16, die an die erste Frau gerichtet sind, scheinen dies recht klar auszudrücken (»Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.«)
3. Der menschliche Körper in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit hat fast die Fähigkeit verloren, diese Liebe auszudrücken, in der der Mensch als Person zum Geschenk in Übereinstimmung mit der tiefgreifendsten Struktur und dem äußersten Ziel seiner persönlichen Existenz wird, wie wir dies schon in unseren vorhergehenden Betrachtungen festgestellt haben. Wenn wir hier unser Urteil nicht ganz klar und eindeutig formulieren, sondern das Adverb »fast« einfügen, so geschieht dies, weil die Dimension des Geschenks - nämlich die Fähigkeit, die Liebe auszudrükken, mit der der Mensch durch seine Männlichkeit oder Weiblichkeit zum Geschenk für den anderen wird - in gewisser Weise noch immer die Liebe im menschlichen Herzen durchdringt und formt. Die Bedeutung des Körpers in der Ehe ist diesem Herzen nicht ganz fremd geworden: Sie ist dort noch nicht ganz von der Begehrlichkeit erstickt worden, sondern ist gewöhnlich nur bedroht.
Das Herz ist zum Kampfplatz geworden zwischen Liebe und Begehrlichkeit. Je mehr die Begehrlichkeit das Herz beherrscht, desto weniger erfährt dieses die eheliche Bedeutung des Körpers und desto weniger wird es fähig, das Geschenk der Person anzunehmen. Gewiß gibt es jenes Begehren, von dem Christus in Matthäus 5, 27-28 spricht, im menschlichen Körper in vielfältiger Form: Es ist nicht immer klar und offensichtlich, manchmal ist es versteckt und nennt sich Liebe, obwohl es seine wahre Gestalt verändert und die Klarheit der Hingabe in den Beziehungen der Menschen untereinander trübt. Soll das vielleicht heißen, dass wir die Pflicht haben, dem menschlichen Herzen zu misstrauen? Nein! Das soll nur heißen, dass wir die Beherrschung darüber behalten müssen.
4. Das Bild der sinnlichen Begehrlichkeit, das sich aus unserer Untersuchung ergibt, hat einen klaren Bezug zum Menschenbild, auf das wir unsere früheren Betrachtungen zum Thema der ehelichen Bedeutung des Körpers bezogen haben. Tatsächlich ist der Mensch das »einzige Geschöpf auf Erden, das Gott um seiner selbst willen gewollt hat« und zugleich kann er »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden«.<ref>Ja, wenn der Herr Jesus zum Vater betet, »dass alle eins seien . . . wie auch wir eins sind« (Jo 17, 20-22), und damit Horizonte aufreißt, die der menschlichen Vernunft unerreichbar sind, legt er eine gewisse Ähnlichkeit nahe zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe. Dieser Vergleich macht offenbar, dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann (Gaudium et spes, Nr. 24).</ref> Die Begehrlichkeit im allgemeinen - und die sinnliche Begehrlichkeit im besonderen - beeinträchtigt gerade diese aufrichtige Hingabe: Man könnte sagen, dass sie dem Menschen die Würde der Hingabe entzieht, die sich in seinem Körper durch die Weiblichkeit und die Männlichkeit ausdrückt und in gewisser Weise den Menschen entpersönlicht, indem er ihn zum Objekt für den anderen macht. Anstatt mit dem anderen als Subjekt in der Einheit, mehr noch, in der sakramentalen Einheit des Körpers zusammen zu sein, wird der Mensch für den Menschen zum Objekt: - die Frau für den Mann und umgekehrt. Die Worte aus Genesis 3, 16 und davor Genesis 3, 7 bezeugen dies in der ganzen Klarheit der Gegenüberstellung zu Genesis 2, 23-25.
5. Mit der Zerstörung der Dimension der gegenseitigen Hingabe von Mann und Frau regen sich durch die Begehrlichkeit auch Zweifel an der Tatsache, dass jeder Mensch vom Schöpfer »um seiner selbst willen« gewollt ist. In gewisser Hinsicht unterliegt die Subjektivität des Menschen der Objektivität des Körpers. Aufgrund des Körpers wird der Mensch zum Objekt des Menschen die Frau für den Mann und umgekehrt. Die Begehrlichkeit bedeutet sozusagen, dass die persönlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau in einseitiger und einschränkender Weise an den Körper und an das Sexuelle gebunden sind. Das heißt, dass solche Beziehungen nahezu unfähig sind, gegenseitige persönliche Hingabe anzunehmen. In dieser Art von Beziehungen ist das weibliche und das männliche Element nicht in seiner ganzen persönlichen Subjektivität enthalten, sie drücken nicht die Gemeinschaft aus, sondern sind einseitig vom Sexuellen bestimmt.
6. Durch die Begehrlichkeit verliert der Mensch die innere Freiheit der Hingabe. Die eheliche Bedeutung des Körpers ist aber gerade an diese Freiheit gebunden. Der Mensch kann zum Geschenk werden - anders ausgedrückt, die Beziehung zwischen Mann und Frau kann in gegenseitiger Hingabe ihrer selbst bestehen - wenn jeder von ihnen sich selbst beherrscht. Die Begehrlichkeit, die sich als besondere Art des körperlichen Zwangs äußert, begrenzt die innere Selbstbeherrschung und setzt sie herab, somit macht sie sozusagen die innere Freiheit der Hingabe unmöglich. Dadurch wird auch die Schönheit getrübt, die dem menschlichen Körper in seinem männlichen und weiblichen Aspekt innewohnt und die Ausdruck des Geistes ist. So bleibt der Körper Objekt sinnlicher Begehrlichkeit und Gegenstand der Besitzergreifung durch den anderen Menschen. Die Begehrlichkeit als solche ist nicht in der Lage, die Vereinigung als personale Gemeinschaft zu fördern. Begehrlichkeit allein vereint nicht, sondern ergreift Besitz. Das Element der Hingabe wird zu einem Element der Besitzergreifung.
An diesem Punkt wollen wir unsere heutigen Überlegungen unterbrechen. Das zuletzt untersuchte Problem ist im Hinblick auf den Unterschied zwischen wahrer Liebe (also der personalen Gemeinschaft) und Begehrlichkeit so wichtig und außerdem so subtil, dass wir bei unserer nächsten Begegnung darauf zurückkommen sollten.
Das Wort »mein« in der Sprache der Liebe 30. 6. 1980, OR 80/32-33
1. Die Gedanken, die wir im laufenden Zyklus entwikkeln, hängen mit den Worten Christi in der Bergpredigt über das Begehren des Mannes nach der Frau zusammen. Beim Versuch einer gründlichen Prüfung dessen, was den Menschen der Begehrlichkeit charakterisiert, sind wir wieder beim Buch Genesis angekommen. Hier ist die Situation, die sich bei der Schöpfung für das gegenseitige Verhältnis von Mann und Frau ergibt, mit feinen Linien gezeichnet. Die Aussagen von Gen 3 sind sehr beredsam. Die Worte, die GottJahwe in Gen 3, 16 an die Frau richtet: »Dich verlangt nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen«, scheinen bei einer gründlichen Analyse zu enthüllen, in welcher Weise sich das Verhältnis gegenseitiger Hingabe, das zwischen ihnen im Stand der anfänglichen Unschuld bestand, sich nach der Ursünde in ein Verhältnis gegenseitiger Aneignung gewandelt hat. Wenn der Mann die Frau nur noch als Gegenstand der Aneignung betrachtet und nicht als Geschenk, verurteilt er sich gleichzeitig dazu, selber nur noch Gegenstand der Aneignung und nicht mehr Geschenk an die Frau zu sein. Es ist so, als würde in Gen 3,16 einfach gesagt: »Er wird über dich herrschen.« Darüber hinaus verschwindet bei der einseitigen Aneignung (die indirekt dann eine beiderseitige ist) die Struktur der Gemeinschaft unter Personen; beide menschliche Wesen werden unfähig, das innere Maß des Herzens zu erreichen, zu dem die Freiheit der Hingabe und die bräutliche, ihm eigentümliche Bedeutung des Leibes gehört. Die Worte Gen 3, 16 scheinen zu suggerieren, dass das meistens auf Kosten der Frau geschieht, und dass sie das jedenfalls mehr empfindet als der Mann.
2. Zumindest diesem Umstand müssen wir jetzt unsere Aufmerksamkeit schenken. Die Worte Gott-Jahwes in Gen 3, 16: »Dich verlangt nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen« und die Worte Christi bei Mt 5, 27-28: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht . . .« ergeben einen gewissen Parallelismus. Vielleicht geht es hier nicht um den Umstand, dass vor allem die Frau Gegenstand des Begehrens von Seiten des Mannes ist, sondern vielmehr darum, dass - wie wir schon früher herausgestellt haben - der Mann »von Anfang an« Wächter der Wechselseitigkeit der Hingabe und ihres echten Gleichgewichts sein sollte. Die Analyse der Anfangssituation (Gen 2, 23-25) zeigt die Verantwortung des Mannes, als ihm die Frau geschenkt wurde, er muss sie in einen wechselseitigen, beiderseitigen Austausch verwandeln. In offenem Widerspruch dazu steht der Verzicht der Frau auf ihre Hingabe durch die Begehrlichkeit. Wenn auch die Wahrung des Gleichgewichts in der Hingabe immer beiden anvertraut ist, kommt dennoch dem Mann eine besondere Verantwortung zu, weil es zur Hauptsache von ihm abhängt, dass das Gleichgewicht ungebrochen bleibt oder - wenn es gebrochen wurde - schließlich wiederhergestellt wird. Gewiß, die Rollenverteilung in den biblischen Aussagen, auf die wir uns als Schlüsselstellen berufen, war auch von der Randstellung der Frau in der damaligen Gesellschaft bedingt (wofür das Alte und das Neue Testament genug Beispiele bieten), nichtsdestoweniger schließt sie eine Wahrheit ein, deren Gewicht unabhängig von den spezifischen Bräuchen dieser bestimmten geschichtlichen Situation ist.
3. Die Begehrlichkeit macht den Leib zum »Terrain« der Aneignung durch eine andere Person. Verständlicherweise bringt das den Verlust der bräutlichen Bedeutung des Leibes mit sich. Und damit bekommt auch die gegenseitige Zugehörigkeit der Personen, die sich vereinigen, um »ein Fleisch« zu werden (Gen 2, 24), eine andere Bedeutung. Sie sollten dadurch einander zugehören. Die besondere Dimension der personalen Gemeinschaft von Mann und Frau durch die Liebe drückt sich in den Worten »mein, meine« aus. Diese Fürwörter, die seit jeher zur Sprache der menschlichen Liebe gehören, finden sich häufig in den Strophen des Hohen Lieds und in anderen biblischen Texten.<ref>Vgl. Hld 1,9.13.14.15.16; 2, 2.3.8.9.10.13.14.16.17; 3, 2.4.5; 4, 1.20; 5, 1.2.4; 6, 2.3.4.9; 7, 11; 8, 12.14. Vgl. auch Ez 16, 8; Hos 2, 18; Tob 8, 7.</ref> Es sind Fürwörter, die in ihrer »stofflichen« Bedeutung ein Besitzverhältnis ausdrücken, aber in unserem Fall zeigen sie die personale Analogie dieses Verhältnisses an. Die wechselseitige Zugehörigkeit von Mann und Frau, vor allem wenn sie sich als Eheleute in der Einheit des Leibes gehören, bildet sich nach dieser personalen Analogie. Die Analogie zeigt bekanntlich gleichzeitig die Ähnlichkeit und das Fehlen der Identität an (also eine wesentliche Ungleichheit). Wir können von wechselseitiger Zugehörigkeit der Personen nur sprechen, wenn wir eine solche Analogie berücksichtigen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung setzt die Zugehörigkeit nämlich die Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt voraus: ein Besitzund Eigentumsverhältnis. Es ist kein rein gegenständliches Verhältnis, sondern vor allem ein »stoffliches«: die Zugehörigkeit einer Sache, also eines Objekts zu einer Person.
4. Die Begriffe »mein, meine« in der ewigen Sprache der Liebe haben sicher nicht diese Bedeutung. Sie drücken die Wechselseitigkeit der Hingabe, die Gleichwertigkeit des Geschenks aus - vor allem das -, in dieser Gleichwertigkeit beruht die Gemeinschaft der Personen. Und wenn diese durch das Geschenk, die wechselseitige Hingabe von Mann und Frau entsteht, wahrt sie in sich auch die bräutliche Bedeutung des Leibes. Die Worte »mein, meine« in der Sprache der Liebe scheinen in Wahrheit eine radikale Verneinung der Zugehörigkeit in dem Sinn zu sein, dass ein stoffliches Objekt, eine Sache, einem persönlichen Subjekt gehört. Die Analogie bewahrt ihre Funktion, solange sie ihren Sinn behält. Die dreifache Begehrlichkeit, und vor allem die Begehrlichkeit des Fleisches, nimmt der wechselseitigen Zugehörigkeit von Mann und Frau die Dimension, die der personalen Analogie eigen ist, in der die Begriffe »mein, meine« ihre wesentliche Bedeutung behalten. Diese wesentliche Bedeutung hat nichts mit dem »Gesetz des Eigentums«, mit dem »Besitzobjekt« zu tun, auf das die Begehrlichkeit hinzielt. Vom Besitz geht der nächste Schritt zum »Genuß«. Der Gegenstand, den ich besitze, gewinnt für mich insofern Bedeutung, als ich über ihn verfüge, mich seiner bediene, ihn benutze. Es ist klar, dass die personale Analogie der Zugehörigkeit dieser Bedeutung entschieden widerspricht. Und dieser Widerspruch ist ein Zeichen dafür, dass das, was in der gegenseitigen Beziehung von Mann und Frau »vom Vater kommt«, seinen Wert und seine Beständigkeit gegenüber dem bewahrt, was »von der Welt« kommt. Trotzdem treibt die Begehrlichkeit als solche den Menschen zum Besitz des anderen als Gegenstand, treibt ihn zum »Genuß«, der die Verneinung der bräutlichen Bedeutung des Leibes nach sich zieht. Ihrem Wesen nach schließt sich die selbstlose Hingabe beim egoistischen »Genuß« aus. Davon sprechen die Worte Jahwes an die Frau in Gen 3, 16.
5. Nach 1 Joh 2, 16 zeigt vor allem die Begierde den Zustand des menschlichen Geistes. Auch die Begehrlichkeit des Fleisches zeigt an erster Stelle den Zustand des menschlichen Geistes. Diesem Problem müssen wir eine weitere Analyse widmen. Wenn wir die Theologie der Johannesbriefe auf die Erfahrungen in Gen 3 und die Worte Christi in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) anwenden, finden wir sozusagen eine konkrete Dimension jenes Widerspruchs, der mit der Sünde im Menschenherzen zwischen Geist und Leib entsteht. Seine Konsequenzen machen sich im Verhältnis der Personen zueinander bemerkbar, deren menschliche Einheit von Anfang an durch den Umstand bestimmt wird, dass sie Mann und Frau sind. Seitdem der Mensch ein anderes Gesetz in sich sieht, »das mit dem Gesetz der Vernunft im Streit liegt« (Röm 7, 23), besteht die ständige Gefahr, so zu sehen, zu werten, zu lieben, dass die »Begierde des Leibes« sich mächtiger erweist als die »Begierde des Geistes«. Und eben diese Wahrheit vom Menschen, diese anthropologische Komponente müssen wir uns immer gegenwärtig halten, wenn wir den Appell Christi an das menschliche Herz in der Bergpredigt bis in den Grund begreifen wollen.
Die Kategorie des Herzens 6. 8. 1980, OR 80/32-33
1. In Fortsetzung unseres Zyklus greifen wir heute auf die Bergpredigt zurück und zwar auf die Aussage: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28). Jesus appelliert hier an das Herz. In seinem Gespräch mit den Pharisäern bezieht sich Jesus auf den »Anfang« (vgl. die voraufgehenden Analysen) und äußert sich mit folgenden Worten zum Scheidebrief: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so« (Mt 19, 8). Dieser Satz enthält zweifellos eine Anklage. »Hartherzigkeit«<ref>Das griechische Wort sklerokardia wurde von der Septuaginta gebildet, um das hebräische Wort wiederzugeben, das »Unbeschnittenheit des Herzens« bedeutet (vgl. z. B. Dtn 10, 16; Jer 4, 4; Sir 3, 26 f.) und das im Neuen Testament wörtlich nur einmal erscheint (Apg 7, 51). »Unbeschnittenheit« bedeutet »Heidentum«, »Unreinheit«, »Abkehr vom Bund mit Gott«; »Unbeschnittenheit des Herzens« drückte den trotzigen Widerstand gegen Gott aus. Das bestätigen die Sätze des Diakons Stephanus: »Ihr Halsstarrigen, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt (buchstäblich übersetzt: mit unbeschnittenem Herzen) - wie eure Väter, so auch ihr« (Apg 7, 51). Die »Herzenshärte« ist also in diesem philologischen Kontext zu verstehen.</ref> bezeichnet das, was nach der Ethik des alttestamentlichen Volkes die Situation begründet hatte, die dem ursprünglichen Plan Gott-Jahwes nach Gen 2, 24 widerspricht. Und hier ist der Schlüssel zur Erklärung der israelischen Ehegesetzgebung zu suchen und, in weiterem Sinn, der ganzen Beziehung von Mann und Frau. Wenn Christus von Hartherzigkeit spricht, klagt er sozusagen den ganzen »inneren Menschen« an, der verantwortlich für die Verfälschung des Gesetzes ist. In der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) spricht er auch vom Herzen, aber hier scheinen seine Worte nicht nur Anklage zu sein.
2. Wir müssen noch einmal darüber nachdenken, indem wir diese Worte, so gut das möglich ist, in ihre geschichtliche Dimension einordnen. In unserer bisherigen Analyse ging es uns um den »Menschen der Begehrlichkeit« in seinem genetischen Moment, also um den Anfangspunkt seiner Geschichte in der Theologie. Es war eine umfassende, vor allem anthropologische Einführung in die Arbeit, die noch zu tun bleibt. Die folgende Etappe unserer Analyse wird ethischen Charakter tragen müssen. Die Bergpredigt, vor allem der Abschnitt, den wir in den Mittelpunkt unserer Analyse gestellt haben, ist Teil der Verkündigung der neuen Ethik: der Ethik des Evangeliums. In der Lehre Christi ist sie tief verbunden mit dem Wissen vom »Anfang«, also mit dem Geheimnis der Schöpfung in seiner anfänglichen Schlichtheit und Fülle. Gleichzeitig ist die Ethik, die Christus in der Bergpredigt verkündet, realistisch auf den »geschichtlichen Menschen« ausgerichtet, der zum »Menschen der Begehrlichkeit« geworden ist. In der Tat ist die dreifache Begehrlichkeit Erbe der ganzen Menschheit, und das menschliche Herz nimmt wirklich daran teil. Christus, der weiß, »was im Menschen ist« (Joh 2, 25),<ref>Vgl. Off 2, 23: «... Der Herz und Nieren prüft. . .« und Apg 1, 24: »Herr, du kennst die Herzen aller« (griechisch: kardiognostes).</ref> kann nicht anders sprechen als aus diesem Wissen heraus. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Worte Mt 5, 27-28 keine Anklage, sondern ein Urteil: ein realistisches Urteil über das menschliche Herz, ein Urteil, das einerseits eine anthropologische Grundlage, anderseits einen direkt ethischen Charakter hat. Für die Ethik des Evangeliums ist es ein grundlegendes Urteil.
3. In der Bergpredigt wendet sich Jesus direkt an den Menschen, der zu einer fest umschriebenen Gesellschaft gehört. Auch der Meister gehört zu dieser Gesellschaft, diesem Volk. Deshalb muss in den Worten Christi eine Bezugnahme auf Tatsachen, Situationen, Institutionen gesucht werden, die ihm alltäglich vertraut waren. Wir müssen diese Bezugnahmen wenigstens summarisch analysieren, damit die ethische Bedeutung von Mt 5, 27-28 deutlicher wird. Überhaupt wendet sich Christus mit diesen Worten an jeden »geschichtlichen« Menschen (dieses Adjektiv vor allem im theologischen Sinn gebraucht). Und eben dieser Mensch ist der »Mensch der Begehrlichkeit«, dessen Geheimnis und dessen Herz Christus kennt (»denn er wußte, was im Menschen ist« Joh 2, 25). Die Worte der Bergpredigt dürfen wir zur inneren Erfahrung des Menschen aller Längen- und Breitengrade, aller Epochen, der verschiedensten sozialen und kulturellen Verhältnisse in Beziehung setzen. Der Mensch unserer Zeit fühlt sich von dieser Aussage Christi nicht weniger angesprochen als der Mensch von »damals«, den der Meister direkt ansprach.
4. Darauf beruht die Universalität des Evangeliums, die durchaus keine Verallgemeinerung ist. Vielleicht zeigt sich das gerade mit besonderer Klarheit in der Aussage, die wir analysieren. Kraft dieser Aussage weiß sich der Mensch aller Zeiten und Orte in entsprechender, konkreter, unwiederholbarer Weise berufen; denn Christus wendet sich an das menschliche Herz, das sich nicht verallgemeinern läßt. Mit der Kategorie des Herzens, das den einzelnen noch mehr zum Individuum macht als der Name, wird der Mensch in dem getroffen, was ihn einmalig und unwiederholbar macht, was seine Menschlichkeit »von innen her« bestimmt.
5. Das Bild vom »Menschen der Begehrlichkeit« spricht vor allem vom Innern des Menschen.<ref>»Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht . . .« (Mt 15, 19-20).</ref> Die Geschichte des menschlichen Herzens nach der Ursünde ist unter dem Druck der dreifachen Begehrlichkeit geschrieben, aber auch das tiefste Bild der Ethik in ihren verschiedenen geschichtlichen Dokumenten ist danach gekennzeichnet. Trotzdem ist dieses Innerste auch die Kraft, die über das äußere Verhalten des Menschen entscheidet, auch über die Form der vielfältigen Strukturen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens. Wenn wir von diesen Strukturen und Institutionen die Inhalte der Ethik in ihren verschiedenen geschichtlichen Formulierungen ableiten, begegnen wir immer diesem innersten Aspekt, eben dem inneren Bild des Menschen. Das ist in der Tat die wesentlichste Komponente. Die Worte Christi in der Bergpredigt, speziell Mt 5, 27-28, zeigen das in unmissverständlicher Weise. Kein Studium der menschlichen Ethik kann daran gleichgültig vorbeigehen. Deshalb werden wir in den kommenden Audienzen versuchen, die Aussage Christi detaillierter zu untersuchen: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Um diesen Text besser zu verstehen, werden wir zunächst seine einzelnen Teile analysieren, um so zu einem tieferen Globalverständnis zu kommen. Wir werden nicht nur die Menschen ins Auge fassen, die damals mit ihren eigenen Ohren die Bergpredigt hörten, sondern soweit möglich auch die Zeitgenossen, die Menschen unserer Zeit.
Der Hintergrund des Alten Testaments: Abfall von der Einehe 13. 8. 1980, OR 80/34-35
1. Die Analyse der Aussage Christi in der Bergpredigt, wo er vom Ehebruch spricht und von der Lüsternheit, die er »im Herzen begangenen Ehebruch« nennt, muss von den ersten Worten dieser Aussage ausgehen. Christus sagt: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen . . .« (Mt 5, 27). Er hat das Gebot Gottes im Sinn, jenes, das auf der Tafel der 10 Gebote an sechster Stelle steht. Es gehört zur sogenannten zweiten Tafel des Gesetzes, das Mose von Gott-Jahwe empfangen hatte. Versuchen wir, uns zunächst in die unmittelbaren Hörer der Bergpredigt hineinzuversetzen, die also die Worte Christi selber gehört haben. Sie sind Söhne und Töchter des auserwählten Volkes, und dieses Volk hatte von Gott-Jahwe selber das Gesetz und auch die Propheten erhalten, die wiederholt im Verlauf der Jahrhunderte gerade das Verhalten diesem Gesetz gegenüber, nämlich seine zahlreichen Übertretungen, getadelt hatten. Auch Christus spricht von ähnlichen Übertretungen. Noch mehr freilich spricht er von einer Auslegung des Gesetzes durch Menschen, bei der die richtige Bedeutung von Gut und Böse, wie sie der göttliche Gesetzgeber ausdrücklich gewollt hat, aufgehoben wird und verschwindet. Das Gesetz ist nämlich vor allem ein Mittel -ein unerläßliches Mittel -, damit die »Gerechtigkeit überfließe« (so übersetzte man früher die Worte von Mt 5, 20). Christus will, dass diese Gerechtigkeit »größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer«. Er lehnt jene Deutung ab, die sie im Verlauf der Jahrhunderte dem eigentlichen Inhalt des Gesetzes gegeben hatten, als sie diesen Inhalt, d. h. den Plan und den Willen des Gesetzgebers, teilweise den vielfältigen Schwächen und Grenzen des menschlichen Willens unterwarfen, die von der dreifachen Begierlichkeit herstammen. Heraus kam eine kasuistische Deutung, und sie hatte sich an die Stelle der ursprünglichen Sicht von Gut und Böse gesetzt, wie sie mit dem Gesetz des Dekalogs verbunden war. Wenn Christus das Ethos umwandeln will, dann will er vor allem die grundlegende Klarheit der Auslegung zurückgewinnen: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5, 17). Vorbedingung für das Erfüllen ist das richtige Verständnis. Das gilt nun u. a. auch für das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen«.
2. Wer auf den Seiten des Alten Testaments die Geschichte des auserwählten Volkes von der Zeit Abrahams an verfolgt, wird auf sehr viele Tatsachen stoßen, die erweisen, wie dieses Gebot praktisch gehandhabt wurde und wie im Gefolge dieser Praxis die kasuisitische Deutung des Gesetzes entstand. Vor allem ist bekannt, dass die Geschichte des Alten Testaments ein Schauplatz für den systematischen Abfall von der Einehe ist, was für das Verständnis des Verbotes: »Du sollst nicht die Ehe brechen« fundamentale Bedeutung haben musste. Der Verzicht auf die Einehe war vor allem zur Zeit der Patriarchen von dem Wunsch nach Kindern, nach zahlreichen Kindern bestimmt. Dieses Verlangen reichte derart tief, und die Zeugung von Nachkommenschaft galt so offensichtlich als das wesentliche Ziel der Ehe, dass die Frauen, die ihre Männer liebten, ihnen aber keine Kinder schenken konnten, aus eigenem Antrieb diese Männer, von denen sie geliebt wurden, baten, »auf ihren Knien« das von einer anderen Frau geborene Kind entgegennehmen zu dürfen, z. B. das einer Dienerin, einer Sklavin. So tat es Sarai bei Abram<ref>Vgl. Gen 16, 2. </ref> und Kachel bei Jakob.<ref>Vgl. Gen 30, 3. 5</ref> Diese beiden Erzählungen verdeutlichen das moralische Klima, in dem die 10 Gebote praktiziert wurden. Sie zeigen auf, wie das israelitische Ethos für die Annahme des Gebotes: »Du sollst nicht die Ehe brechen« vorbereitet war und wie dieses Gebot in der ältesten Überlieferung des Volkes angewandt wurde. Tatsächlich besaßen die Patriarchen in Isarel höchste Autorität, und diese hatte religiösen Charakter. Sie stand in enger Verbindung mit dem Bund und mit der Verheißung.
3. Das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« änderte diese Überlieferung nicht. Alles weist darauf hin, dass seine weitere Entwicklung sich nicht auf die eher ungewöhnlichen Motive beschränkte, die dem Verhalten von Abram und Sarai oder von Jakob und Kachel zugrundelagen. Wenn wir z. B. die bedeutendsten Vertreter Israels nach Mose, nämlich die Könige David und Salomo, betrachten, so bezeugt die Darstellung ihres Lebens, dass sich die tatsächliche Polygamie durchgesetzt hatte - und die Gründe dafür lagen zweifellos in der Begierlichkeit. In der Geschichte Davids, der ebenfalls mehrere Frauen hatte, muss nicht nur die Tatsache überraschen, dass er sich die Frau eines Untergebenen nahm, sondern auch, dass er sich klar bewusst war, einen Ehebruch begangen zu haben. Diese Tatsache wie auch die Reue des Königs werden ausführlich und eindrucksvoll geschildert. <ref>Vgl.2 Sam 11,2-27.</ref> Unter Ehebruch versteht man nur die Inbesitznahme der Frau eines anderen, während der Besitz weiterer Frauen neben der ersten nicht als Ehebruch gilt. Die ganze Tradition des Alten Bundes zeigt, dass dem Gewissen der aufeinanderfolgenden Generationen des auserwählten Volkes und ihrem Ethos die tatsächliche Notwendigkeit der Einehe, und zwar als wesentliche und unverzichtbare Folgerung aus dem Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen«, nicht klar war.
4. Auf diesem Hintergrund sind auch alle Bemühungen zu sehen, den spezifischen Inhalt des Gebotes »Du sollst nicht die Ehe brechen« in die öffentliche Gesetzgebung einzufügen. Das bezeugen die Bücher der Bibel, in denen die gesamte alttestamentliche Gesetzgebung ausführlich dargestellt wird. Betrachtet man diese Gesetzgebung dem Buchstaben nach, so ergibt sich, dass sie entschieden und ohne Ansehen der Person den Ehebruch bekämpft und dafür radikale Mittel einsetzt, eingeschlossen die Todesstrafe.<ref>Vgl. Lev 20, 10; Dtn 22, 22. 240.</ref> Sie tut das jedoch unter praktischer Beibehaltung der Polygamie, ja sie legalisiert diese vollständig, wenigstens indirekt. So wird also der Ehebruch lediglich in bestimmten Grenzen und im Rahmen der entscheidenden Voraussetzungen bekämpft, welche die wesentliche Form des alttestamentlichen Ethos ausmachen. Unter Ehebruch versteht man hier vor allem (und vielleicht ausschließlich) die Verletzung des Eigentumsrechts eines Mannes auf jede Frau, die vor dem Gesetz als seine Frau gilt (gewöhnlich ist es eine unter mehreren). Man versteht den Ehebruch dagegen nicht vom Standpunkt der Einehe aus, wie sie der Schöpfer eingesetzt hat. Wir wissen bereits, dass Christus sich auf den »Anfang« bezieht, zumal wenn es um dieses Argument geht (vgl. Mt 19, 8).
5. Sehr bezeichnend ist ferner die Situation, in der Christus sich der beim Ehebruch ertappten Frau annimmt und sie vor der Steinigung rettet. Er sagt den Anklägern: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie« (Joh 8, 7). Und als sie die Steine fallen lassen und sich entfernen, sagt er zu der Frau: »Geh und sündige von jetzt an nicht mehr« (Joh 8, 11). Christus identifiziert also klar den Ehebruch mit der Sünde. Als er sich aber an jene wendet, die die Frau steinigen wollen, bezieht er sich nicht auf die Vorschriften des israelitischen Gesetzes, sondern spricht ausschließlich das Gewissen an. Die Unterscheidung von Gut und Böse, wie sie dem Gewissen des Menschen eingeschrieben ist, kann sich als tiefer und richtiger erweisen als der Inhalt einer gesetzlichen Norm.
Wie wir gesehen haben, entfaltete sich die Geschichte des Volkes Gottes im Alten Bund - wir haben sie nur an einigen Beispielen zu erläutern versucht - in erheblichem Umfang jenseits des normgebenden Inhalts des Gebotes Gottes »Du sollst nicht die Ehe brechen«. Sie ging sozusagen daran vorbei. Christus will nun diese Verfälschungen berichtigen. Daher seine Worte in der Bergpredigt.
Die Ehe im Alten Testament 20. 8. 1980, OR 80/34-35
1. Wenn Christus in der Bergpredigt sagt: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen« (Mt 5, 27), dann bezieht er sich auf etwas, was jeder seiner Zuhörer sehr wohl wußte und wozu er sich kraft des Gebotes Gott Jahwes auch verpflichtet fühlte. Dennoch zeigt die Geschichte des Alten Testamentes, dass man sich sowohl im Leben des Volkes, das durch einen besonderen Bund Gott Jahwe verbunden war, wie auch im Leben der einzelnen oft von diesem Gebot entfernte. Das zeigt auch ein summarischer Blick auf die Gesetzgebung, die in den Büchern des Alten Testamentes reich dokumentiert ist. Die Vorschriften des alttestamentarischen Gesetzes waren sehr streng. Sie gingen auch ins einzelne und erfaßten die kleinsten konkreten Details im Leben.<ref>Vgl. Dtn 21, 10-13; Num 30, 7-16; Dtn 24, 1-4; 22, 13-21; Lev 20, 10-21 und andere. </ref> Man kann davon ausgehen, dass, je mehr sich die Legalisierung einer effektiven Polygamie in dieser Gesetzgebung durchsetzte, es um so notwendiger wurde, seine juridischen Dimensionen festzulegen und seine gesetzlichen Grenzen zu sichern. Daher die große Zahl von Vorschriften und auch die Strenge der vom Gesetzgeber vorgesehenen Strafen für eine Verletzung dieser Normen. Aus den Untersuchungen, die wir bereits dem Hinweis Christi auf den »Anfang« gewidmet haben - Christus spricht dort von der Möglichkeit, die Ehe aufzulösen und vom »Scheidebrief« -, wird klar, dass er deutlich den fundamentalen Widerspruch sieht, den das Eherecht des Alten Testamentes in sich barg, wenn es effektiv die Polygamie billigte, d. h. Konkubinen neben den rechtmäßigen Frauen, oder auch das Recht, mit einer Sklavin zusammenzuleben.<ref>Auch wenn das Buch Genesis die Einehe Adams, Sechs und Noes als nachahmenswerte Beispiele darstellt und die Bigamie zu verurteilen scheint, die nur bei den Nachkommen Kains auftaucht (vgl. Gen 4, 19), so bietet doch das Leben der Patriarchen andere gegenteilige Beispiele. Abraham hielt sich an die Vorschriften der Gesetzgebung des Hammurabi, die eine zweite Frau erlaubte, wenn die erste unfruchtbar blieb. Jakob aber hatte zwei Frauen und zwei Nebenfrauen (vgl. Gen 30, 1-19). Das Buch Deuteronomium gibt die legale Existenz der Bigamie zu (vgl. Dtn 21, 15-17), sogar der Polygamie. Es ermahnt den König lediglich, nicht zu viele Frauen zu haben (vgl. Dtn 17, 17); das Buch bestätigt auch, dass weibliche Kriegsgefangene zu Nebenfrauen gemacht werden durften (vgl. Dtn 21, 10-14), ebenso Sklavinnen (vgl. Ex 21, 7-11). (Vgl. R. de Vaux, Ancient Israel, Its Life and Institutions, London, 1976, 3. Auflage, Darton, Longman, Todd; S. 24-25. 83.
Im ganzen Alten Testament findet sich keine ausdrückliche Erwähnung der Verpflichtung zur Einehe, wenn auch das von den späteren Büchern gebotene Bild zeigt, dass sie in der sozialen Praxis vorherrschte (vgl. z. B. die Weisheitsbücher, abgesehen von Sir 37, 11 Tob).</ref> Man kann sagen, dass ein solches Recht, während es die Sünde bekämpfte, zugleich die sozialen Strukturen der Sünde umfaßte und sogar schützte bzw. legalisierte. Unter diesen Umständen erfuhr der wesentliche ethische Sinn des Gebotes »Du sollst nicht die Ehe brechen« notwendig eine grundlegende Umwertung. In der Bergpredigt stellt Christus erneut den eigentlichen Sinn heraus und überschreitet damit die überlieferten gesetzlichen Einschränkungen.
2. Vielleicht lohnt es sich hinzuzufügen, dass in der alttestamentarischen Deutung einerseits das Nein zum Ehebruch sozusagen vom Kompromiss mit dem leiblichen Begehren aufgefangen wird, anderseits aber die Haltung gegenüber sexuellen Entgleisungen um so klarer festlegt. Das bekräftigt die entsprechenden Vorschriften, welche die Todesstrafe für Homosexualität oder Sodomie vorsehen. Was das Verhalten Onans betrifft, der ein Sohn Judas war (und von dem sich der moderne Ausdruck »Onanie« herleitet), sagt die Heilige Schrift, dass er »dem Herrn missfiel und er auch ihn sterben ließ« (Gen 38, 10). Das Eherecht des Alten Testamentes setzt in seinem ganzen Zusammenhang die Zeugung der Nachkommenschaft in der Ehe an den ersten Platz, es sucht in einigen Fällen sogar eine vor dem Gesetz gleiche Behandlung von Mann und Frau deutlich zu machen, z. B. heißt es bei der Strafe für Ehebruch ausdrücklich: »Ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, muss sterben, der Ehebrecher mit der Ehebrecherin« (Lev 20, 10) - aber im ganzen benachteiligt und behandelt es die Frau strenger.
3. Man sollte vielleicht die Sprechweise dieser Gesetzgebung herausstellen, die wie immer in solchen Fällen die sexuellen Vorstellungen jener Zeit objektiviert. Es ist eine Sprache, die auch für den Gesamtumfang der Überlegungen zur Theologie des Leibes wichtig ist. Wir treffen dort auf eine ausdrückliche Bestätigung des Charakters der Scham, die das umgrenzt, was beim Menschen zum Geschlecht gehört. Ja, das Sexuelle wird sogar in gewissem Sinne als »unrein« angesehen, zumal wenn es sich um physiologische Äußerungen der menschlichen Sexualität handelt. Das Aufdekken der Scham (vgl. Lev 20, 11.17-21) gilt als unerlaubtes sexuelles Tun. Schon die Ausdrucksweise ist hier genügend aufschlussreich. Zweifellos versucht der Gesetzgeber, jene Terminologie zu verwenden, die dem Bewusstsein und den Gewohnheiten der zeitgenössischen Gesellschaft entsprach. So muss uns also die Sprechweise der alttestamentarischen Gesetzgebung in der Überzeugung bestärken, dass nicht nur die Physiologie des Geschlechtlichen und die leiblichen Äußerungen des Sexuallebens dem Gesetzgeber und der Gesellschaft bekannt sind, sondern dass sie auch eindeutig bewertet werden. Nur schwer kann man sich dem Eindruck entziehen, dass diese Bewertung negativen Charakter hat. Das hebt gewiß nicht die Wahrheit auf, die wir aus dem Buch Genesis kennen. Man kann auch nicht das Alte Testament und darin zumal die Bücher der Gesetzgebung als Vorläufer des Manichäismus brandmarken. Die hier über den Körper und das Geschlecht ausgesprochene Beurteilung ist weder negativ noch streng, sondern wird vielmehr durch einen Objektivismus ergänzt, dem die Absicht zugrundeliegt, diesen Bereich des menschlichen Lebens zu ordnen. Es geht nicht direkt um die Ordnung des »Herzens«, sondern um die Ordnung des ganzen sozialen Lebens, in dessen Mittelpunkt schon immer Ehe und Familie stehen.
4. Betrachtet man die sexuelle Problematik in ihrer Gesamtheit, so ist es vielleicht hilfreich, noch einmal kurz einen anderen Aspekt zu beachten, nämlich den Zusammenhang zwischen Moral, Gesetz und Medizin, wie sie in den betreffenden Büchern des Alten Testaments dargestellt wird. Diese enthalten nicht wenige praktische Vorschriften für den Bereich der Hygiene oder der Medizin, wobei mehr die Erfahrung als die Wissenschaft den Ton angibt, je nach dem damals schon erreichten Stand.<ref>Vgl. Lev 12, 1-6; 15, 1-28; Dtn 21, 12-13.</ref> Im übrigen ist auch heute noch die Verbindung von Erfahrung und Wissenschaft aktuell. In diesem umfangreichen Problemkreis begleitet die Medizin immer aus der Nähe die Ethik, und die Ethik sucht wie auch die Theologie ihre Mitarbeit.
5. Wenn Christus in der Bergpredigt sagt: »Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht die Ehe brechen«, und wenn er unmittelbar hinzufügt: »Ich aber sage euch . . .«, dann will er eindeutig im Bewusstsein seiner Zuhörer die besondere ethische Bedeutung dieses Gebots wiederherstellen, indem er sich von der Deutung der »Lehrer«, der offiziellen Gesetzesexperten, distanziert. Aber über die Deutung hinaus, die aus der Überlieferung stammt, bietet uns das Alte Testament noch eine andere Überlieferung zum Verständnis des Gebotes »Du sollst nicht die Ehe brechen«. Es ist die Überlieferung der Propheten. Wenn diese sich auf Ehebruch beziehen, wollen sie Israel und Juda daran erinnern, dass ihre größte Sünde das Aufgeben des einen wahren Gottes zugunsten des Kultes verschiedener Götzen war, den das auserwählte Volk im Zusammenleben mit anderen Völkern schnell und unüberlegt sich zu eigen gemacht hatte. So ist in der Ausdrucksweise der Propheten die Analogie mit dem Ehebruch bezeichnender als der Ehebruch selber. Und doch lässt auch diese Analogie das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« und seine Deutung besser verstehen, während sie in den gesetzgeberischen Texten fehlt. In den Weissagungen der Propheten und zumal von Jesaja, Hosea und Ezechiel wird der Gott Jahwe oft als Bräutigam dargestellt, und die Liebe, mit der er sich an Israel gebunden hat, kann und muss gleichgesetzt werden mit der bräutlichen Liebe von Ehegatten. Nun begeht aber Israel aufgrund seines Götzendienstes und weil es Gott, seinen Bräutigam, verläßt, an ihm Verrat, den man mit dem Verrat der Frau an ihrem Mann vergleichen kann: es begeht tatsächlich Ehebruch.
6. Die Propheten stellen mit beredten Worten und mit oft ungewöhnlich plastischen Bildern und Gleichnissen sowohl die Liebe des Bräutigams Jahwe als auch den Verrat der Braut Israel dar, die Ehebruch treibt. Auf dieses Thema müssen wir bei unseren Überlegungen noch zurückkommen, wenn wir nämlich das Problem »Sakramente« analysieren. Trotzdem soll es aber heute schon gestreift werden, damit wir die Worte Christi bei Mt 5, 27-28 verstehen und das neue Ethos begreifen, das sie enthalten: »Ich aber sage euch . . .« Wenn einerseits Jesaja<ref>Vgl. Jes 54; 61, 1-5.</ref> in seinen Texten vor allem die Liebe des Bräutigams Jahwe herausstellt, der unter allen Umständen seiner Braut entgegenkommt und alle ihre Untreue übersieht, so bieten anderseits Hosea und Ezechiel Beispiele im Überfluss, die vor allem die Widerwärtigkeit und das moralisch Verwerfliche des Ehebruchs beleuchten, den die Braut Israel begangen hat.
Bei unserer nächsten Betrachtung wollen wir versuchen, noch tiefer in die Texte der Propheten einzudringen, um den Inhalt noch besser herauszustellen, der sich im Bewusstsein der Zuhörer der Bergpredigt mit dem Gebot verband: »Du sollst nicht die Ehe brechen !«
Die Analogie zwischen Ehebruch und Götzendienst als Bundesbruch 27. 8. 1980, OR 80/36
1. In der Bergpredigt sagt Christus: »Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben; ich bin nicht gekommen, sie aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen« (Mt 5, 17). Um zu erklären, worin diese Erfüllung besteht, geht er die einzelnen Gebote durch und kommt so auch zu dem, das lautet: »Du sollst nicht die Ehe brechen!« In unserer letzten Betrachtung haben wir versucht aufzuzeigen, wie der eigentliche Inhalt dieses von Gott gewollten Gebotes in der weiteren Gesetzgebung Israels durch zahlreiche Kompromisse verdunkelt wurde. Die Propheten aber, die in ihre Lehre oft den Abfall des Volkes vom wahren Gott, Jahwe, anprangern, vergleichen diesen Abfall mit einem Ehebruch und stellen so den Inhalt des Gebotes klar heraus.
Hosea versucht nicht nur mit Worten, sondern anscheinend auch durch sein Verhalten uns klarzumachen,<ref>Vgl. Hos 1-3.</ref> dass die Untreue des Volkes der ehelichen Untreue, ja sogar dem gewohnheitsmäßigen Ehebruch ähnlich ist. »Geh, nimm dir eine Prostituierte zur Frau und zeuge mit ihr Kinder der Prostitution, denn das Land begeht nur noch Ehebruch, da es sich vom Herrn entfernt« (Hos 1 , 2 ) . Der Prophet erfährt in sich selbst diesen Auftrag und nimmt ihn an, weil er von Gott Jahwe kommt: »Der Herr sagte mir weiter: Geh, liebe eine Frau, die von einem anderen geliebt wird und Ehebrecherin ist« (Hos 3, 1). Aber wenn auch Israel seinem Gott gegenüber untreu ist wie eine Braut, die »ihren Liebhabern nachlief und mich vergaß« (Hos 2, 15), so hört Jahwe doch nicht auf, seine Braut zu suchen. Er wartet unermüdlich auf ihre Bekehrung und ihre Rückkehr und bekräftigt diese Haltung mit den Worten und Handlungen des Propheten: »Und es wird an jenem Tag geschehen - Spruch des Herrn -, dass du mich >meinen Gatten< und nicht mehr >meinen Herrn< nennen wirst. . . Ich werde dich für immer zu meiner Braut machen. Du wirst meine Braut sein nach Recht und Gerechtigkeit, in Wohlwollen und Liebe. Ich werde mich mit dir in Treue verbinden, und du wirst den Herrn erkennen« (Hos 2, 18.21-22). Dieser eindringliche Aufruf zur Bekehrung der untreuen Braut und Gattin ist zugleich von folgender Drohung begleitet: »Sie soll von ihrem Antlitz die Zeichen ihrer Prostitution entfernen und die Zeichen des Ehebruchs von ihrer Brust; denn sonst werde ich sie bis zur Nacktheit entblößen, wie sie im Augenblick ihrer Geburt war« (Hos 2, 4-5).
2. Dieses Bild von der demütigenden Nacktheit bei der Geburt wird der treulosen Braut Israels vom Propheten Ezechiel vorgehalten, der noch ausführlicher wird:<ref>Vgl. Ez 16, 5-8.12-15.30-32.</ref> »Nichts von all dem hat man getan, niemand zeigte dir seine Liebe, niemand hatte Mitleid mit dir, sondern am Tag deiner Geburt hat man dich auf freiem Feld ausgesetzt, weil man dich nicht haben wollte. Da kam ich an dir vorüber, sah dich blutig daliegen und zappeln; und ich sagte zu dir, als du blutverschmiert dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen. Und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Deine Brüste wurden fest; dein Haar wurde dicht. Doch du warst nackt und unbekleidet. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und ich sah, dass deine Zeit gekommen war, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Nacktheit. Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein - Wort Gottes, des Herrn -, und du wurdest mein . . . Deine Nase schmückte ich mit einem Reif, Ohrringe hängte ich dir an die Ohren und setzte dir eine herrliche Krone auf. Mit Gold und Silber konntest du dich schmücken, in feinstes Leinen, kostbare Stoffe und bunte Gewebe dich kleiden. Weizenmehl, Honig und Öl war deine Nahrung. So wurdest du strahlend schön und warst wie eine Königin. Der Ruf deiner Schönheit drang zu allen Völkern; denn mein Schmuck, den ich dir anlegte, hatte deine Schönheit vollkommen gemacht - Wort Gottes, des Herrn. Doch dann hast du dich auf deine Schönheit verlassen, du hast deinen Ruhm missbraucht und dich zur Dirne gemacht. Jedem, der vorbeiging, hast du dich angeboten, jedem bist du zu Willen gewesen . . . Wie fiebert dein Herz - Wort Gottes, des Herrn -, weil du all das getan hast, du hochmütige Dirne. Du hast dir an jeder Straßenecke ein Bett und auf jedem freien Platz eine Kultstätte errichtet. Du warst keine gewöhnliche Dirne, denn du hast es verschmäht, dich bezahlen zu lassen. Die Ehebrecherin nimmt sich statt ihres Mannes fremde Männer.«
3. Das Zitat ist etwas lang, doch der Text so bedeutsam, dass er angeführt werden musste. Die Analogie zwischen Ehebruch und Götzendienst kommt hier nachhaltig und umfassend zum Ausdruck. Das verbindende Element zwischen den beiden Punkten der Analogie ist der von der Liebe begleitete Bund. Aus Liebe schließt Gott Jahwe mit Israel einen Bund - ohne dessen Verdienst - und wird für Israel gleichsam ein zärtlicher Bräutigam und Gatte, der sich seiner Braut gegenüber in seinem Eifer und seiner Hochherzigkeit nicht genug tun kann. Für diese Liebe aber, die das auserwählte Volk seit den Anfängen seiner Geschichte begleitet, empfängt Jahwe, der Bräutigam, als Entgelt immer neue Untreue: »Die Höhen« sind als Orte des Götzendienstes zu Orten des Ehebruchs der Braut Israel geworden. Bei der Analyse, die wir gerade vornehmen, ist der Begriff des Ehebruchs wesentlich, dessen Ezechiel sich bedient. Man kann freilich sagen, dass die Gesamtsituation, in die der Begriff im Rahmen der Analogie eingefügt wird, nicht typisch ist. Es geht nicht so sehr um eine von beiden Brautleuten getroffene Wahl, die aus ihrer gegenseitigen Liebe erwächst; vielmehr wird die Braut erwählt, und das von Geburt an; die Wahl erfolgt aufgrund der Liebe des Bräutigams, die von ihm aus ein Akt reiner Barmherzigkeit ist. In diesem Sinn ist daher die Erwählung Israels zu sehen: sie entspricht der Analogie da, wo es um den Bund Jahwe mit Israel geht; weniger dagegen entspricht sie dem zweiten Aspekt der Analogie, der die Natur der Ehe kennzeichnet. Gewiß war die Mentalität der damaligen Zeit für diese Wirklichkeit nicht sehr empfänglich - nach israelitischem Verständnis war die Ehe vielmehr das Ergebnis einer einseitigen, oft von den Eltern getroffenen Wahl -, aber eine solche Situation ist für uns heute nur schwer verständlich.
4. Von dieser Einzelheit abgesehen, kann man unmöglich übersehen, dass sich aus den Texten der Propheten eine andere Bedeutung des Ehebruchs ergibt als jene, die wir in der Gesetzesüberlieferung vorfinden. Ehebruch ist Sünde, weil er den personalen Bund zwischen Mann und Frau zerbricht. In den Gesetzestexten wird die Verletzung des Eigentumsrechtes betont, und zwar an erster Stelle das Eigentumsrecht des Mannes über die Frau, die dem Gesetz nach seine Ehegattin ist, eine der vielen. In den Texten der Propheten ändert der Hintergrund der tatsächlich üblichen und legalisierten Polygamie die ethische Bedeutung des Ehebruchs nicht. In vielen Texten scheint die Einehe als einzige und allein berechtigte Analogie zum Eingottglauben auf, wie er im Sinn des Bundes zu verstehen ist, wo man dem einen und wahren Gott Jahwe, dem Bräutigam Israels, die Treue hält und sich ihm anvertraut. Der Ehebruch ist das Gegenstück zu diesem bräutlichen Verhältnis und ein Widerspruch zur Ehe (auch als Insititution), denn die Einehe verwirklicht in sich den personalen Bund zwischen Mann und Frau; sie verwirklicht den der Liebe entsprungenen Bund, den beide Teile eben als Ehe bekräftigen (und der dann wieder als solcher von der Gesellschaft anerkannt wird). Ein solcher Bund zwischen zwei Personen bildet das Fundament für jene Einigung, um derentwillen »der Mann . . . sich mit seiner Frau verbindet, und die beiden werden ein Fleisch sein« (Gen 2, 24). Im oben zitierten Zusammenhang kann man sagen, dass diese körperliche Einheit ihr (gegenseitiges) Recht ist, vor allem aber das normale Zeichen ihrer personalen Begegnung, der Einheit zwischen Mann und Frau als Eheleuten. Der Ehebruch ist dann von beiden Seiten nicht nur die Verletzung eines Rechts, das ausschließlich der Ehepartner besitzt, sondern zugleich eine radikale Verfälschung des Zeichens. Es scheint, dass in den Weissagungen der Propheten gerade dieser Aspekt des Ehebruchs genügend klar zum Ausdruck kommt.
5. Wenn wir also feststellen, dass der Ehebruch eine Verfälschung jenes Zeichens ist, das nicht nur seine Norm, sondern vielmehr seine innere Wahrheit schlechthin in der Ehe finde -t im Zusammenleben eines Mannes und einer Frau, die Ehegatten geworden sind -, dann kehren wir damit gewissermaßen erneut zu den früher gemachten fundamentalen Aussagen zurück, die für eine Theologie des Leibes vom anthropologischen und ethischen Gesichtspunkt aus wesentlich und wichtig sind. Ehebruch ist eine »Sünde des Leibes«. Das bezeugt die ganze Überlieferung des Alten Testaments, und Christus bekräftigt sie. Die vergleichende Analyse seiner Worte in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) wie auch bei verschiedenen im Evangelium und an anderen Stellen des Neuen Testaments festgehaltenen Gelegenheiten erlaubt uns, den eigentlichen Grund herauszufinden, warum Ehebruch Sünde ist. Es liegt auf der Hand, dass wir diesen Grund für die Sündhaftigkeit oder das moralische Übel vom Grundsatz des Widerspruchs zu jenem moralischen Gut herleiten, das die eheliche Treue ist und nur im ausschließlichen Verhältnis der beiden Teile zueinander verwirklicht werden kann (d. h. im ehelichen Verhältnis eines Mannes zu einer Frau). Die Forderung nach einem solchen Verhältnis ist der bräutlichen Liebe vorbehalten, deren interpersonale Struktur, wie schon gesagt, von der inneren normgebenden Kraft herkommt, wie sie die Personengemeinschaft mit sich bringt. Gerade sie gibt dem Bund seine wesentliche Bedeutung, sei es beim Verhältnis Mann-Frau, sei es analog beim Verhältnis Jahwe-Israel. Über den Ehebruch, seine Sündhaftigkeit und das damit verbundene moralische Übel kann man aufgrund des Prinzips der Gegenteiligkeit zum so verstandenen Ehebund ein Urteil fällen.
6. All das müssen wir vor Augen haben, wenn wir sagen, der Ehebruch ist eine »Sünde des Leibes«. Der Körper wird hier im begrifflichen Zusammenhang der Worte von Gen 2, 24 verstanden, welche tatsächlich von Mann und Frau sprechen, die als Gatte und Gattin sich derart eng miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch« werden. Der Ehebruch bezeichnet jenen Akt, in dem Mann und Frau, die nicht Gatte und Gattin sind, »ein Fleisch« werden, d. h. Menschen, die nicht Gatte und Gattin im Sinn der Einehe sind, wie sie am Anfang eingesetzt wurde, im Gegensatz zur gesetzlichen Kasuistik des Alten Testamentes. Die Sünde des Leibes kann nur im Hinblick auf das Personenverhältnis identifiziert werden. Von moralischem Gut oder Übel kann man reden, je nachdem dieses Verhältnis die leibliche Einheit innerlich wahr macht und ihr den Charakter eines wahrheitsgemäßen Zeichens verleiht oder nicht. In diesem Fall können wir also Ehebruch entsprechend dem objektiven Inhalt des Aktes als Sünde erkennen und beurteilen.
Diesen Inhalt hat Christus im Sinn, wenn er in der Bergpredigt daran erinnert: »Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: du sollst nicht die Ehe brechen.« Christus bleibt aber bei dieser Sicht der Frage nicht stehen.
Die Texte aus den Weisheitsbüchern 3. 9. 1980, OR 80/37
1.' In der Bergpredigt beschränkt sich Jesus darauf, das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« in Erinnerung zu rufen, ohne das entsprechende Verhalten seiner Zuhörer zu bewerten. Das, was wir im voraufgehenden dazu gesagt haben, stammt aus anderen Quellen, zumal aus dem Gespräch Jesu mit den Pharisäern, in dem er sich auf den »Anfang« beruft (vgl. Mt 19, 8; Mk 10, 6). In der Bergpredigt unterlässt Christus eine solche Bewertung, d. h. er setzt sie vielmehr voraus. Das, was er im zweiten Teil seiner Erklärung sagt, der mit den Worten beginnt: »Ich aber sage euch . . .«, geht über die Polemik mit den Gesetzeslehrern bzw. den Moralisten der Thorah hinaus. Es geht auch über die Bewertung des Ethos im Alten Testament hinaus und ist ein direkter Übergang zu einem neuen Ethos. Christus scheint alle Erörterungen über die ethische Bedeutung des Ehebruchs in der Gesetzgebung und in ihrer Kasuistik beiseitezulassen, denn dort war die wesentlich personale Beziehung von Mann und Frau großenteils durch das objektive Besitzverhältnis verdunkelt. Christus stößt in eine andere Dimension vor und erklärt: »Ich aber sage euch: wer eine Frau auch nur lüstern anblickt, hat mir ihr im Herzen schon Ehebruch begangen« (Mt 5, 28; bei diesem Abschnitt kommt einem immer die alte Übersetzung in den Sinn: »Er hat sie in seinem Herzen schon zur Ehebrecherin gemacht«, und diese Fassung drückt vielleicht besser als der heutige Text die Tatsache aus, dass ein innerlicher und einseitiger Akt vorliegt). Damit wird also der »Ehebruch, den man nur im Herzen begeht«, gewissermaßen dem »leiblich vollzogenen Ehebruch« gegenübergestellt.
Wir müssen uns fragen, warum der Schwerpunkt der Sünde verschoben wird, und ferner, welches die echte Bedeutung der Analogie ist. Wenn nämlich Ehebruch in seiner Grundbedeutung nur eine »leiblich vollzogene Sünde« sein kann, in welchem Sinn verdient dann ein Mensch, der ihn im Herzen vollzieht, ebenfalls die Bezeichnung »Ehebrecher«? Die Worte, mit denen Christus den Grund für das neue Ethos legt, erfordern ihrerseits eine tiefe Verwurzelung in der Anthropologie. Bevor wir aber auf diese Fragen eingehen, verweilen wir noch bei dem Ausdruck, der nach Mt 5, 27-28 in gewissem Sinn die Übertragung oder Verschiebung der Bedeutung des Ehebruchs vom Leib zum Herzen hin vollzieht. Es geht um das Begehren.
2. Christus sagt dazu: »Wer . . . lüstern anblickt.« Gerade dieser Ausdruck erfordert eine eigene Analyse, will man die Aussage in ihrer Gesamtheit verstehen. Wir müssen hier auf die voraufgehende Analyse zurückgreifen, die sozusagen das Bild des »Menschen der Begierde« herausarbeiten wollte, wie er uns bereits am Anfang der Geschichte begegnet (vgl. Gen 3). Der Mensch, von dem Christus in der Bergpredigt spricht - der Mensch mit lüsternem Blick -, ist zweifellos ein Mensch des Begehrens. Gerade weil in ihm das Begehren, und zwar das Begehren des Leibes, lebt, ist er lüstern und schaut er lüstern. Das Bild vom Menschen des Begehrens, das wir schon erarbeitet haben, hilft uns jetzt bei der Erklärung der Lüsternheit, von der Christus bei Mt 5, 27-28 spricht. Es geht hier nicht nur um eine psychologische, sondern zugleich um eine theologische Deutung. Christus spricht im Zusammenhang mit der menschlichen Erfahrung und gleichzeitig im Zusammenhang mit dem Heilswerk. Beide Zusammenhänge überlagern sich und gehen ineinander über. Das aber ist von wesentlicher und grundlegender Bedeutung für das ganze Ethos des Evangeliums, zumal für den Inhalt des Wortes »lüstern« oder »lüstern anschauen«.
3. Mit diesen Ausdrücken spricht der Herr zunächst die Erfahrung seiner unmittelbaren Zuhörer an, dann aber auch die Erfahrung und das Bewusstsein des Menschen aller Zeiten und Orte. Wenn auch die Sprache des Evangeliums universale Bedeutung hat, musste sich doch beim direkten Hörer, dessen Gewissen durch die Bibel gebildet wurde, der Ausdruck »Lüsternheit« mit zahlreichen Vorschriften und Mahnungen verbinden, wie sie sich vor allem in den Weisheitsbüchern finden, denn dort treffen wir wiederholt auf Hinweise über das Begehren des Leibes und auf Ratschläge, sich davor zu schützen.
4. Bekanntlich hatte die Tradition der Weisheitsbücher ein besonderes Interesse an den guten Sitten und Gewohnheiten der israelitischen Gesellschaft. Was uns bei diesen Ermahnungen und Ratschlägen, wie sie uns im Buch der Sprichwörter,<ref>Vgl. z. B. Spr 5, 3-6, 15-20; 6, 24-7, 27; 21, 9.19; 22, 14; 30, 20. </ref> bei Jesus Sirach<ref>Vgl. z.B. Sir 7, 19, 24-26; 9, 1-9; 23, 22-27; 25, 13-26; 36, 21-25; 42, 6.9-14.</ref> und sogar bei Kohelet<ref>Vgl. z. B. Koh 7, 26-28; 9, 9. 256.</ref> begegnen, unmittelbar auffällt, ist eine gewisse Einseitigkeit, insofern die Mahnungen vor allem an die Männer gerichtet sind. Das kann bedeuten, dass die Männer es besonders nötig hätten. Was die Frau angeht, so erscheint sie in diesen Mahnungen und Ratschlägen häufiger als Gelegenheit zur Sünde oder gar als Verführerin, vor der man sich zu hüten hat. Anzuerkennen ist freilich auch, dass sowohl das Buch der Sprichwörter wie das des Sirach neben der Warnung vor der Frau und vor der Verführungskraft ihrer Gestalt, die den Mann zur Sünde hinreißt (vgl. Spr 5, 1-6; 6, 24-29; Sir 26, 9-12), die Frau auch rühmend hervorheben als »vollkommene« Lebensgefährtin ihres Mannes (vgl. Spr 31, 10 ff.). Sie stellen ebenso die Schönheit und Anmut einer guten Gattin heraus, die ihren Mann glücklich zu machen weiß: »Anmut über Anmut ist jene schamhafte Frau, kein Preis wiegt eine auf, die sich selbst beherrscht. Wie die Sonne aufstrahlt in den Höhen des Herrn, so die Schönheit einer guten Frau als Schmuck ihres Hauses. Wie die Lampe scheint auf dem heiligen Leuchter, so ein schönes Gesicht auf einer edlen Gestalt. Wie goldene Säulen auf silbernem Sockel sind schlanke Beine auf wohlgeformten Füßen. Die Anmut der Frau entzückt ihren Mann, ihre Klugheit erfrischt seine Glieder« - (Sir 26, 15-18.13).
5. In den Büchern der Weisheit steht dem erwähnten Lobpreis der Frau und Gattin häufig eine Mahnung gegenüber, nämlich wenn es um die Schönheit und Anmut einer Frau geht, die nicht die eigene Gattin ist und zum Stachel der Versuchung sowie zum Anlass für einen Ehebruch wird: »Verlange in deinem Herzen nicht lüstern nach ihrer Schönheit . . .« (Spr 6, 25). Bei Sirach (vgl. 9, 1-9) ist die gleiche Mahnung noch schärfer ausgedrückt: »Verhüll dein Auge vor einer reizvollen Frau, blick auf keine Schönheit, die dir nicht gehört! Wegen einer Frau kamen schon viele ins Verderben, sie versengt ihre Liebhaber wie Feuer. Mit einer Verheirateten strecke dich nicht zum Weingelage hin, sitz nicht berauscht mit ihr zusammen, damit du ihr nicht dein Herz zuneigst und in deinem Blut ins Grab sinkst!« (Sir 9, 8-9).
Diese Texte aus den Weisheitsbüchern haben vor allem pädagogische Bedeutung. Sie lehren die Tugend, suchen die moralische Ordnung zu schützen und weisen dabei auf das Gesetz Gottes sowie auf die Erfahrung in weiterem Sinn hin. Außerdem zeichnen sie sich durch die besondere Kenntnis des menschlichen »Herzens« aus. Man könnte sagen: sie entwickeln eine besondere Moralpsychologie, ohne freilich dem Psychologismus zu verfallen. In gewisser Hinsicht nähern sie sich dem Appell Christi an das Herz, den Matthäus uns überliefert hat (vgl. 5, 27-29), auch wenn man nicht sagen kann, sie zeigten bereits eine Tendenz zur grundlegenden Umformung des Ethos. Die Verfasser dieser Bücher benützen ihre Kenntnis vom Innenleben des Menschen vielmehr, um die Moral im Zusammenhang des geschichtlich gegebenen Ethos zu lehren, das sie im wesentlichen bekräftigen. Gelegentlich faßt einer von ihnen, z. B. Kohelet, diese Bekräftigung in seiner eigenen Philosophie über die menschliche Existenz zusammen. Das mag wohl auf die Art, wie er Mahnungen und Ratschläge formuliert, Einfluss haben, ändert jedoch nicht die wirklich tragenden Strukturen der ethischen Bewertung.
6. Auf einen echten Wandel des Ethos wird man bis zur Bergpredigt warten müssen. Dennoch war die gründliche Kenntis der Psychologie des Menschen in der Weisheitsüberlieferung gewiß nicht ohne Bedeutung für das Suchen jener, die persönlich und unmittelbar die Bergpredigt hörten. Wenn diese Hörer durch die prophetische Überlieferung für das entsprechende Verständnis des Begriffes »Ehebruch« vorbereitet waren, dann waren sie durch die Weisheitsüberlieferung ebenso dazu vorbereitet, die Worte vom lüsternen Blick und vom Ehebruch, den man im Herzen begeht, zu verstehen.
Auf die Analyse des Begehrens innerhalb der Bergpredigt werden wir noch zurückkommen müssen.
Der Blick ist die Schwelle zur inneren Wahrheit 10. 9. 1980, OR 80/38
1. Wir setzen unsere Betrachtungen über die Worte Jesu aus der Bergpredigt fort: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28). Christus spricht diesen Satz vor Zuhörern, die aufgrund der Bücher des Alten Testaments gewissermaßen darauf vorbereitet waren, die Bedeutung des Blickes, der der Begierde entspringt, zu verstehen. Schon am vergangenen Mittwoch haben wir auf Texte aus den sogenannten Weisheitsbüchern Bezug genommen.
Hier als Beispiel nun ein anderer Abschnitt, wo der biblische Verfasser den inneren Zustand eines Menschen analysiert, der von der fleischlichen Begierde beherrscht wird: » . . . leidenschaftliche Begierde, sie brennt wie Feuer und erlischt nicht, bis sie sich verzehrt hat; der Mensch, der am eigenen Leib Unzucht treibt und nicht aufhört, bis das Feuer verglüht; der Wollüstige, dem jedes Brot süß schmeckt, der nicht aufhört, bis er tot ist; der Mensch, der Ehebruch treibt auf seinem Lager, der bei sich denkt: Wer sieht mich? Dunkel umgibt mich, Wände verbergen mich, keiner sieht mich, warum sollte ich mich fürchten zu sündigen? Er denkt nicht an den Höchsten, nur die Augen der Menschen fürchtet er. Er bedenkt nicht, dass die Augen des Herrn zehntausendmal heller sind als die Sonne, dass sie alle Wege des Menschen sehen und die geheimsten Winkel durchdringen . . . So auch die Frau, die ihren Mann verließ und von einem ändern einen Erben zur Welt bringt. . .« (Sir 23, 16-22).
2. An ähnlichen Beschreibungen mangelt es in der Weltliteratur keineswegs.<ref>Vgl. z. B. die Bekenntnisse des hl. Augustinus: »Gebunden von der Sucht des Fleisches, schleppte ich meine Kette trunken von der todbringenden Wonne, ja ich fürchtete, daraus befreit zu werden, und wies das gute Zureden des Freundes zurück, als hätte mir die Hand, die mich befreien wollte, an die Wunde gestoßen ... Was mich hauptsächlich und so ungestüm in meiner Verstricktheit peinigte, war meine Gewohnheit, der unstillbaren Lustbegier zur Stillung nachzugeben« (Confessiones, VI, 12). »Aber ich fand in der Freude an meinem Gott kein Beharren: von deiner Schönheit zu dir gerissen, ward ich bald durch meine eigene Schwere von dir wieder weggerissen und fiel mit Seufzen zurück ins Alte: und diese Schwere war mein gewohntes Haften am Fleisch« (Confessiones, VII, 17).
»So war ich krank und marterte mich in Vorwürfen gegen mich selbst, bitterer noch als sonst, und wand und wälzte mich in meiner Fessel, dass sie nun endlich, dem Gebundenen schon zu dünn geworden, ganz zerrisse. Aber ich blieb doch gebunden. Da warst du es, Herr, der in strenger Milde meinen geheimen Tiefen sich nahte mit der Doppelpeitsche der Furcht und der Scham, dass ich nicht wieder nachgäbe und dieser schwache, dünne Rest meiner Fessel zu neuer Kraft erwüchse und mich noch fester schnürte . . .« (Confessiones, VIII, 11).
Dante beschreibt diesen inneren Bruch und hält ihn für bestrafenswert: »Einsah ich, dass zu so beschaffner Marter / verurteilt sind die fleischlichen Verbrecher, / die die Vernunft den Lüsten unterwerfen. / Und wie die Stare trägt ihr Flügelpaar / zur kalten Zeit in breitem, vollem Schwärme, / so jener Hauch die unglückseligen Geister: / hierhin, dorthin führt er, hinauf, hinab sie; / keinerlei Hoffnung läßt sie je erstarken, / nicht nur auf Ruh' nicht, selbst auf mind're Pein« (Dante, Die Göttliche Komödie, Die Hölle, V, 37-43).
»Shakespeare beschrieb die Befriedigung einer tyrannischen Lust als etwas, dem man nachjagt und, das, sobald man es hat, Grund ist, gehaßt zu werden« (C. S. Lewis, The Four Loves, New York 1960, S. 28).</ref> Viele davon zeichnen sich gewiß durch größere Schärfe der psychologischen Analyse und durch stärkere Suggestivität und Ausdruckskraft aus. Die biblische Schilderung des Jesus Sirach (23, 16-22) enthält jedoch manche Elemente, die in der Analyse der fleischlichen Begierde als »klassisch« gelten können. Ein solches Element ist zum Beispiel der Vergleich zwischen der fleischlichen Begierde und dem Feuer: wenn es im Menschen aufflammt, erfaßt es die Sinne, versetzt den Körper in Erregung, beherrscht Gefühle und Empfindungen und ergreift gewissermaßen Besitz vom »Herzen«. Diese von der fleischlichen Begierde herrührende Leidenschaft erstickt im »Herzen« die aus der Tiefe aufsteigende Stimme des Gewissens, das Gefühl der Verantwortung vor Gott; und gerade das wird in dem eben zitierten biblischen Text besondes herausgestellt. Anderseits besteht das äußere Schamgefühl gegenüber den Menschen weiter - oder vielmehr ein Anschein von Schamhaftigkeit, der sich mehr als Furcht vor den Folgen als vor dem Übel selbst äußert. Dadurch dass sie die Stimme des Gewissens unterdrückt, versetzt die leidenschaftliche Begehrlichkeit den Körper und die Sinne in Unruhe: es ist die Unruhe des »äußeren Menschen«. Wenn der innere Mensch zum Schweigen gebracht worden ist, äußert sich die Leidenschaft, die nun sozusagen Handlungsfreiheit erlangt hat, als anhaltende Neigung, Leib und Sinne zu befriedigen.
Diese Befriedigung müßte nach Meinung des von der Leidenschaft beherrschten Menschen das Feuer zum Erlöschen bringen; aber das Gegenteil ist der Fall: Sie erreicht nicht die Quellen des inneren Friedens und berührt lediglich das Äußere des Menschen. Und hier stellt der biblische Autor mit Recht fest, dass der Mensch, dessen Wille mit der Befriedigung der Sinne beschäftigt ist, weder zur Ruhe kommt noch zu sich selbst findet, sondern im Gegenteil »sich verzehrt«. Die Leidenschaft sucht nach Befriedigung; deshalb stumpft das Denken ab und bleibt die Stimme des Gewissens unbeachtet; sie besitzt aus sich kein Prinzip der Unzerstörbarkeit, und darum »nützt sie sich ab«. Sie ist der Dynamik des Verbrauchs unterworfen, die dazu neigt, sich zu erschöpfen und zu versiegen. Wohl kann die Leidenschaft, wenn sie in das Gesamt der tiefsten geistigen Kräfte eingefügt ist, zu einer schöpferischen Kraft werden; doch in einem solchen Fall muss sie eine radikale Umwandlung durchmachen. Wenn sie aber die Kräfte in der Tiefe des Herzens und des Gewissens unterdrückt (wie es in dem Bericht von Sir 23, 16-22 geschieht), »verzehrt sie sich«, und indirekt verzehrt sich in ihr der Mensch, der zu ihrer Beute geworden ist.
3. Wenn Christus in der Bergpredigt von dem Menschen spricht, »der begehrt«, der »lüstern ansieht«, darf man annehmen, dass er auch die Bilder vor Augen hat, die seinen Zuhörern durch die Überlieferung der Weisheitsbücher bekannt sind. Doch gleichzeitig bezieht er sich auf jeden Menschen, der aufgrund seiner eigenen inneren Erfahrung weiß, was »begehren«, »lüstern anblicken« heißt. Der Meister analysiert diese Erfahrung nicht, und er beschreibt sie auch nicht, wie das zum Beispiel Jesus Sirach (23, 16-22) getan hat; er scheint sozusagen eine ausreichende Kenntnis jener inneren Gegebenheit vorauszusetzen, auf die er die Aufmerksamkeit seiner tatsächlichen und möglichen Zuhörer lenkt. Könnte es sein, dass der eine oder andere von ihnen nicht weiß, worum es sich handelt? Wenn er tatsächlich nichts davon wüßte, dann ginge ihn der Inhalt der Worte Christi nichts an, und keine Analyse oder Beschreibung wäre in der Lage, es ihm zu erklären. Wenn er es aber weiß - es handelt sich in diesem Fall um ein Wissen des ganzen inneren Menschen, seines Herzens und Gewissens -, wird er sogleich verstehen, dass sich die oben genannten Worte auf ihn beziehen.
4. Christus beschreibt also weder noch analysiert er, was die Erfahrung der Begehrlichkeit, die Erfahrung der fleischlichen Begierde ausmacht. Ja man hat sogar den Eindruck, dass er gar nicht in die ganze Fülle der inneren Dynamik dieser Erfahrung eindringt, wie das zum Beispiel in dem angeführten Text des Sirach geschieht, sondern an der Schwelle dieser Erfahrung stehenbleibt. Die Begehrlichkeit hat sich noch nicht in eine äußere Handlung umgewandelt, sie ist noch nicht zum körperlichen Akt geworden; sie ist noch die innere Haltung des Herzens: Sie kommt im Blick zum Ausdruck, in der Art, wie ein Mann »eine Frau ansieht«. Doch dieser Blick lässt bereits verstehen, er zeigt, was im Menschen steckt, aus welcher inneren Haltung er kommt.
Wir müssen nun eine solche Analyse anstellen. Der Blick ist Ausdruck dessen, was im Herzen ist. Ich möchte sagen, im Blick kommt der ganze Mensch zum Ausdruck. Wenn man allgemein annimmt, dass der Mensch »so handelt, wie er ist« (operari sequitur esse), dann will Christus hier hervorheben, dass der Mensch »so blickt, wie er ist« (intueri sequitur esse). Durch den Blick enthüllt sich der Mensch gewissermaßen der Außenwelt und den anderen; vor allem legt er frei, was er in seinem Inneren wahrnimmt.<ref>Die sprachliche Analyse bestätigt die Bedeutung des Ausdrucks ho blépón (»blickend« oder »einer, der blickt«: Mt 5, 28). »Wenn blépó in Mt 5, 28 die Bedeutung des inneren Erfassens hat, also soviel heißt wie: >ich denke, ich richte meine Aufmerksamkeit auf etwas, ich gebe acht<, dann ergibt sich mit aller Klarheit und Strenge die evangelische Lehre im Hinblick auf die zwischenpersönlichen Beziehungen der Jünger Christi. Nach Christus bedarf es gar nicht erst eines lüsternen Blickes, um mit einem Menschen die Ehe zu brechen. Es genügt bereits ein Gedanke des Herzens« (M. Adinolfi, »II desiderio della donna in Matteo 5, 28«, in: Fondamenti biblici della teologia morale, Brescia 1973, S. 279).</ref>
5. Christus lehrt also, dass der Blick gleichsam als Schwelle zur inneren Wahrheit zu verstehen ist. Bereits am Blick, an der »Art, wie einer einen ansieht«, kann man deutlich erkennen, was die Begehrlichkeit ist. Versuchen wir, sie zu erklären. »Begehrlichkeit«, »begehrlich ansehen« deutet auf eine Erfahrung vom Wert des Leibes hin, der nun aufgrund der Begehrlichkeit die bräutliche Bedeutung verliert. Auch die auf Fortpflanzung hingeordnete Bedeutung des Leibes (über die wir bei unseren voraufgegangen Betrachtungen gesprochen haben), die - wenn es um die eheliche Vereinigung von Mann und Frau geht - in der bräutlichen Bedeutung des Leibes verwurzelt ist und gleichsam organisch aus ihr hervorgeht, hört auf. Der »begehrliche« Mensch, der Mensch, »der eine Frau lüstern ansieht« (wie wir bei Mt 5, 27-28 lesen), wendet sich also mehr oder weniger deutlich von jener Bedeutung des Körpers ab, die (wie wir festgestellt haben) der personalen Gemeinschaft von Mann und Frau zugrundeliegt: sei es außerhalb der Ehe, sei es - in besonderer Weise -, wenn der Mann und die Frau dazu berufen sind, »ein Fleisch zu werden« (wie es das »Evangelium vom Anfang« im klassischen Text von Genesis 2, 24 verkündet). Die Erfahrung der bräutlichen Bedeutung des Leibes hängt ganz besonders von der sakramentalen Berufung ab, aber sie beschränkt sich nicht auf sie. Diese Bedeutung kennzeichnet die Freiheit der schenkenden Hingabe, die sich - wie wir bei späteren Untersuchungen noch genauer sehen werden - nicht nur in der Ehe, sondern auch in anderer Form verwirklichen lässt.
Christus sagt: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28). Will er damit vielleicht nicht sagen, dass sich der Mensch in der Begehrlichkeit - wie im Ehebruch - innerlich von der bräutlichen Bedeutung des Leibes abwendet? Will er seine Zuhörer nicht auf ihre inneren Erfahrungen von einer solchen Lostrennung verweisen? Bezeichnet er sie nicht vielleicht deshalb als »im Herzen begangenen Ehebruch«?
Begierde: statt personaler Fülle - isolierte Sexualität 17. 9. 1980, OR 80/39
1. Bei unserer letzten Betrachtung haben wir uns gefragt, was die »Begehrlichkeit« ist, von der Christus in der Bergpredigt spricht (Mt 5, 27-28). Wir erinnern uns, dass er davon im Zusammenhang mit dem Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« sprach. Dieses »Begehren« (genau heißt es an der Stelle: »lüstern ansehen«) wird als »im Herzen begangener Ehebruch« beschrieben. Das gibt uns zu denken. In den voraufgegangenen Überlegungen sagten wir, dass Christus mit dieser Ausdrucksweise seine Zuhörer auf die Abkehr von der bräutlichen Bedeutung des Körpers hinweisen wollte, die der Mann erlebt, wenn er mit dem inneren Akt des »Begehrens« der fleischlichen Begierde nachgibt. Die Abkehr von der bräutlichen Bedeutung des Körpers besagt gleichzeitig einen Konflikt mit seiner Würde als Person: einen echten Gewissenskonflikt. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich die biblische (und daher auch theologische) Bedeutung der »Begehrlichkeit« von der rein psychologischen unterscheidet. Der Psychologe beschreibt das »Begehren« als eine intensive Hinwendung zum Objekt, hervorgerufen durch seinen besonderen Wert: in unserem Fall wegen seines sexuellen Wertes. Wie es scheint, findet sich diese Definition in den meisten Werken zu derartigen Themen. Die biblische Beschreibung jedoch stellt, ohne den psychologischen Aspekt zu vernachlässigen, vor allem den ethischen Aspekt heraus, da hier ein Wert verletzt wird. Die Begehrlichkeit ist, so möchte ich sagen, die Täuschung des menschlichen Herzens angesichts der ewigen Berufung von Mann und Frau - einer Berufung, die im Schöpfungsgeheimnis selbst geoffenbart wurde - zur Gemeinschaft durch gegenseitiges Sich-Schenken. Wenn Christus also in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) auf das Herz oder auf den inneren Menschen Bezug nimmt, sind seine Worte immer von jener Wahrheit über den »Anfang« erfüllt, auf die er in seiner Antwort an die Pharisäer (vgl. Mt 19, 8) das gesamte Problem des Mannes, der Frau und der Ehe zurückgeführt hatte.
2. Die ewige Berufung, die wir, dem Buch Genesis folgend (vor allem Gen 2, 23-25), untersucht haben, und in gewissem Sinne die ewige gegenseitige Anziehung, die der Mann auf die Frau und die Frau auf den Mann ausübt, ist eine vom Körper ausgehende Einladung, aber sie ist nicht die Begehrlichkeit im Sinne der Worte von Mt 5, 27-28. Die Begehrlichkeit als Aufbrechen der fleischlichen Begierde (auch und vor allem in der rein inneren Haltung) vermindert die Bedeutung dessen, was jene Einladung, jene gegenseitige Anziehung waren und ihrem Wesen nach immer sind. Das »ewig Weibliche« wie übrigens ebenso das »ewig Männliche« trachtet auch historisch gesehen danach, sich von der bloßen Begierde zu befreien, um sich auf dem Niveau des Persönlichen zu behaupten. Davon zeugt jene Urscham, von der Genesis 3 spricht. Die Dimension der bewussten Ausrichtung von Gedanken und Gefühlen bildet eine der wichtigsten Tendenzen der universalen Menschheitskultur. Die Worte Christi in der Bergpredigt bestätigen ebendiese Dimension.
3. Nichtsdestoweniger sagen diese Worte mit aller Klarheit, dass die Begehrlichkeit zur Realität des menschlichen Herzens gehört. Wenn wir behaupten, dass die Begehrlichkeit im Hinblick auf die ursprüngliche gegenseitige Anziehung von Mann und Frau eine Verminderung darstellt, meinen wir eine bewusste Verminderung, eine Einengung oder Verschließung des Horizonts von Geist und Herz. Es ist ein Unterschied, ob man einmal den Wert des Geschlechts zum ganzen Reichtum der Werte zählt, mit denen das weibliche Wesen dem männlichen erscheint, oder ob man diesen ganzen personalen Reichtum des Weiblichen nur auf einen Wert verkürzt, nämlich auf das Geschlecht als geeignetes Objekt für die Befriedigung der eigenen Sexualität. Dieselbe Überlegung lässt sich über das anstellen, was der Mann für die Frau bedeutet, auch wenn sich die Worte von Mt 5, 27-28 unmittelbar nur auf das andere Verhältnis beziehen. Die absichtliche Verminderung hat, wie man sieht, vor allem wertenden Charakter. Auf der einen Seite setzt die ewige Neigung des Mannes zur Frau (vgl. Gen 2, 23) in ihm eine Reihe von geistigen und sinnlichen Wünschen vorwiegend personalen und gemeinschaftlichen Charakters frei (vgl. die Analyse des »Anfangs«) - oder sollte sie vielleicht freisetzen -, Wünsche, denen eine Wertskala entspricht. Auf der anderen Seite schränkt die Begehrlichkeit diese Wertskala ein, indem sie die Ordnung der Werte trübt, welche die ewige Neigung von Mann und Frau kennzeichnet.
4. Das Begehren bewirkt, dass sich im Innern, also im »Herzen« des Mannes und der Frau die Bedeutung des Körpers und damit der Person verdunkelt. Die Weiblichkeit hört damit auf, für den Mann in erster Linie Subjekt zu sein; sie hört auf, ein besonderer Ausdruck des Geistes zu sein; sie verliert den Zeichencharakter. Ich möchte sagen, sie hat nicht mehr länger die großartige bräutliche Bedeutung des Körpers. Sie steht nicht mehr im Zusammenhang des Bewusstseins und der Erfahrung dieser Bedeutung. Der Besitzwunsch, der aus der fleischlichen Begierde entsteht, geht vom Augenblick, wo er im Menschen - in seinem »Herzen« - vorhanden ist, gewissermaßen an diesem Zusammenhang vorbei (in einem Bild könnte man sagen, sie geht über die bräutliche Bedeutung des Leibes und aller seiner subjektiven Komponenten hinweg) und strebt kraft ihrer Intention direkt und ausschließlich zu einem Ziel: einzig und allein die sexuellen Bedürfnisse an einem Körper als Objekt zu befriedigen.
5. Eine solche Verminderung hinsichtlich der Absicht und Bedeutung kann nach den Worten Christi (Mt 5, 27-28) bereits als Blick, als innerer Akt im Blick zum Ausdruck kommen. Der Blick bzw. das »Ansehen«, »Anblicken« ist in sich selbst ein Erkenntnisakt. Wenn in seine innere Verfassung die Begierde einzieht, nimmt der Blick den Charakter der »begehrlichen Erkenntnis« an. Der biblische Ausdruck »lüstern ansehen« kann sowohl auf einen Erkenntnisakt hindeuten, dessen sich der verlangende Mensch bedient, als auch auf einen Erkenntnisakt, der die Begierde im anderen Menschen, vor allem in seinem Wollen und in seinem »Herzen« weckt. Wie man sieht, kann man einem inneren Akt eine intentionale Deutung geben, wenn man den einen oder den anderen Pol der menschlichen Psyche im Auge hat: die Erkenntnis oder das als »appetitus« verstandene Verlangen. (»Appetitus« ist etwas Umfassenderes als das Begehren, denn es weist auf alles hin, was sich im Menschen als Erwartung äußerst, und ist als solche immer auf ein Ziel gerichtet, also auf ein Objekt, das unter dem Aspekt des Wertes erkannt wurde.) Eine entsprechende Deutung der Worte von Mt 27-28 verlangt jedoch, dass wir durch die Intentionalität der Erkenntnis bzw. des »appetitus« etwas Tieferes entdecken, nämlich die Intentionalität der Existenz des Menschen in Beziehung zum anderen Menschen; in unserem Fall: des Mannes in Beziehung zur Frau und der Frau in Beziehung zum Mann. Auf dieses Thema werden wir noch zurückkommen müssen. Bevor wir die heutige Überlegung abschließen, ist noch hinzuzufügen, dass in diesem Begehren, in diesem »lüstern ansehen«, von dem die Bergpredigt handelt, die Frau für den Mann, der sie so »ansieht«, nicht mehr Subjekt der ewigen Anziehung ist, sondern nur noch Objekt fleischlicher Begierde. Damit verbunden ist die tiefe innere Abkehr von der bräutlichen Bedeutung des Leibes, von der wir bereits bei der vorangegangenen Analyse gesprochen haben.
Das Sein von Mann und Frau »füreinander« 24. 9. 1980, OR 80/40 273
1. In der Bergpredigt sagt Christus: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Seit einiger Zeit versuchen wir die Bedeutung dieser Aussage zu ergründen, indem wir die einzelnen Teile analysieren, um so den ganzen Text besser verstehen zu können. Wenn Christus vom Mann spricht, der eine Frau »lüstern ansieht«, weist er damit nicht nur auf die Ausrichtung des Blickes, also auf die Begierde, die psychologische Dimension, hin, sondern er deutet auch die Ausrichtung im Wesen des Mannes an. Das heißt, er zeigt, was die Frau, die der Mann »lüstern ansieht«, für diesen Mann »ist« bzw. was sie für ihn »wird«. In diesem Fall bestimmt und bezeichnet die Ausrichtung des Bewusstseins die Ausrichtung des Seins selbst. In der von Christus beschriebenen Situation ist diese Dimension einseitig vom Mann her gegeben, der als Subjekt die Frau als Objekt betrachtet (was aber nicht heißt, diese Dimension wäre nur einseitig); wir wollen aber die Analyse vorläufig weder umkehren noch auf beide Teile, auf beide Subjekte ausdehnen. Bleiben wir bei der von Christus vorgezeichneten Situation und unterstreichen wir, dass es sich um einen rein inneren Akt handelt, der im Herzen verborgen ist und die Schwelle des Blickes nicht überschreitet. Es genügt festzustellen, dass in diesem Fall die Frau - die aufgrund ihres subjektiven Personseins immer für den Mann da ist und erwartet, dass auch er aus demselben Grund für sie da ist - der Bedeutung ihrer Anziehungskraft als Person beraubt wird, da sie zwar die Eigenart des »ewig Weiblichen« darstellt, jedoch für den Mann zum bloßen Objekt wird: das heißt, von nun an beginnt sie, der Absicht nach Objekt der potentiellen Befriedigung der männlichen Sexualität zu sein. Obgleich es sich um einen ganz und gar inneren, im Herzen verborgenen und nur im Blick zum Ausdruck kommenden Akt handelt, vollzieht sich im Mann bereits ein (subjektiv einseitiger) Wandel der Ausrichtung im Sein. Wäre das nicht der Fall, würde es sich also nicht um einen so tiefgreifenden Wandel handeln, hätten die folgenden Worte des Satzes keinen Sinn: » . . . der hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28).
2. Dieser Wandel der Absicht, der Ausrichtung im Sein, durch den eine bestimmte Frau für einen bestimmten Mann nicht mehr Person ist, die ihn als Subjekt anruft und persönlich anzieht oder Gemeinschaft mit ihm sucht, sondern ausschließlich Objekt der potentiellen Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses, vollzieht sich im Herzen, weil er im Willen geschieht. Diese Ausrichtung des Erkennens bedeutet noch keine Versklavung des Herzens. Erst wenn die intentionale Verkürzung, die wir schon erläutert haben, den Willen in ihren verengten Horizont zerrt, wenn sie seinen Entschluss weckt, mit einem anderen menschlichen Wesen (in unserem Fall mit der Frau) eine Beziehung nach der »Wertskala« der Begehrlichkeit einzugehen, erst dann kann man davon sprechen, dass das Begehren sich auch des Herzens bemächtigt hat. Erst wenn sich die Begehrlichkeit des Willens bemächtigt hat, kann man sagen, dass sie die Person beherrscht und den Willen, die Wahlund Entscheidungsfreiheit bestimmt, durch die - kraft der Selbstentscheidung oder Selbstbestimmung - die Verhaltensweise gegenüber einer anderen Person festgelegt wird. Die Ausrichtung eines solchen Seins wird dann im Vollsinn subjektiv.
3. Erst dann - also von dieser subjektiven Ausrichtung her - wird bekräftigt, was wir z. B. im Buch Jesus Sirach (23, 17-22) über den von der Begehrlichkeit beherrschten Menschen gelesen haben und was wir noch anschaulicher in der Weltliteratur dargestellt finden. Dann können wir auch von jenem mehr oder weniger vollständigen Zwang sprechen, der an anderer Stelle »physischer Zwang« genannt wird und zum Verlust der Freiheit der Hingabe führt, wie sie dem tiefen Bewusstsein von der bräutlichen Bedeutung des Körpers eigen ist, von der wir ebenfalls schon gesprochen haben.
4. Wenn wir vom Begehren als Änderung der Ausrichtung eines konkreten menschlichen Seins, z. B. des Mannes sprechen, für den (nach Mt 5, 27-28) eine bestimmte Frau zum bloßen Objekt der potentiellen Befriedigung seines männlichen Sexualtriebes wird, geht es keineswegs darum, diesen Trieb, der eine objektive Gegebenheit der menschlichen Natur zum Zweck der Zeugung ist, in Frage zu stellen. Die Worte Christi in der Bergpredigt (in ihrem Gesamtzusammenhang) sind weit entfernt von jedem Manichäismus, was auch für die echt christliche Überlieferung gilt. Solche Einwände können in unserem Fall also nicht erhoben werden. Es geht vielmehr um die Seinsweise von Mann und Frau als Personen, das heißt um jenes Sein füreinander, das - auch aufgrund des Sexualtriebes als objektiver Gegebenheit der menschlichen Natur - dem Aufbau der Einheit in Gemeinschaft bei ihren gegenseitigen Beziehungen dienen kann und soll. Das ist in der Tat die grundlegende Bedeutung der immerwährenden Anziehung von Mann und Frau, die in der Wirklichkeit des Menschen als Person, Körper und Geschlecht enthalten ist.
5. Der personalen Vereinigung oder Gemeinschaft, zu welcher Mann und Frau »von Anfang an« berufen sind, entspricht nicht, ja widerspricht sogar die Möglichkeit, dass eine der beiden Personen lediglich Subjekt zur Befriedigung des Sexualtriebes ist und die andere ausschließlich Objekt dieser Befriedigung wird. Im Widerspruch zu dieser Einheit in Gemeinschaft steht auch der Fall, wenn beide, Mann und Frau, gegenseitig zum Objekt der Befriedigung des Sexualtriebes werden und jeder nur Subjekt dieser Befriedigung ist. Diese Verkürzung eines so reichen Inhalts der gegenseitigen unauflöslichen Anziehung als Mann und Frau entspricht ganz und gar nicht der Natur dieser Anziehung. Eine solche Verkürzung löscht die dem Mann und der Frau eigene personale und gemeinschaftliche Bedeutung aus, wonach gemäß Genesis 2, 24 »der Mann . . . sich an seine Frau bindet, und die beiden ein Fleisch werden«. Die Begehrlichkeit löst das Sein von Mann und Frau »füreinander« von den personalen und gemeinschaftlichen Bezügen, die ihrer immerwährenden gegenseitigen Anziehung eigen sind. Sie verkürzt diese und drängt sie sozusagen ins Utilitaristische ab, wo der Mensch sich des anderen Menschen bedient und ihn lediglich zur Befriedigung seiner eigenen Triebe gebraucht.
6. Die innere Erfahrung des Menschen aller Zeiten und Zivilisationen scheint der reiche Inhalt zu sein, den wir in der knappen Aussage Christi in der Bergpredigt vorfinden. Gleichzeitig darf man nicht die Bedeutung übersehen, die diese Aussage dem Inneren des Menschen, dem Herzen, als voller Dimension des inneren Menschen beimisst. Hier liegt der eigentliche Kern für den Wandel der Gesinnung, des Ethos, dem die so machtvollen und zugleich wunderbar schlichten Worte Christi aus Mt 5, 27-28 gelten.
B. Die neue Reinheit des Herzens als Frucht der Erlösung des Leibes
Das neue Ethos der Bergpredigt: die »Reinheit des Herzens« (1) 1. 10. 1980, OR 80/41
1. In unseren Betrachtungen kommen wir zum dritten Teil der Ausführungen Christi in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28). Der erste Teil lautet: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen.« Der zweite: »Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht«, ist grammatikalisch mit dem dritten verbunden: »hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.«
Unsere Methode, die Aussage Christi in drei aufeinanderfolgende Abschnitte zu teilen oder aufzugliedern, mag gekünstelt erscheinen. Doch wenn wir die ethische Bedeutung der ganzen Aussage in ihrer Gesamtheit zu erheben suchen, kann gerade die von uns vorgenommene Aufgliederung des Textes nützlich sein, vorausgesetzt, dass wir nicht trennen, sondern verbinden wollen. Das aber wollen wir tun. Jeder Teil hat seinen eigenen Gehalt und seine besonderen Merkmale, und gerade das möchten wir durch die Aufgliederung des Textes herausstellen; gleichzeitig aber zeigt sich, dass jeder Teil sich durch den unmittelbaren Bezug zu den anderen erklärt. Das gilt in erster Linie für die semantischen Hauptelemente, durch welche die Aussage zu einem Ganzen wird. Diese Elemente sind: Ehebruch begehen, lüstern ansehen, körperlicher Ehebruch, Ehebruch im Herzen. Es wäre besonders schwierig, die ethische Bedeutung des »Begehrens« zu ermitteln ohne das letzte Element, nämlich den »Ehebruch im Herzen«. Bereits unsere vorangegangene Überlegung hat dieses Element irgendwie in Betracht gezogen; doch ist ein volleres Verständnis des »Ehebruch im Herzen begehen« erst nach einer besonderen Analyse möglich.
2. Wie wir schon zu Beginn sagten, geht es hier um die ethische Bedeutung. Die Aussage Christi in Mt 5, 27-28 geht von dem Gebot aus: »Du sollst nicht die Ehe brechen«, um zu zeigen, wie es verstanden und verwirklicht werden soll, damit darin die »Gerechtigkeit«, die Gott Jahwe als Gesetzgeber gewollt hat, überfließe: damit sie sich in größerem Maße erfülle, als es nach der Auslegung und Kasuistik der Schriftgelehrten des Alten Testaments geschah. Wenn die Worte Christi in diesem Sinn das neue Ethos einführen wollen (und zwar aufgrund desselben Gebotes), führt der Weg dorthin über die Wiederentdeckung der Werte, die - im allgemeinen alttestamentarischen Verständnis und in der Anwendung dieses Gebotes - verlorengegangen waren.
3. Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch die Formulierung des Textes bei Mt 5, 27-28 bezeichnend. Das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« ist als Verbot formuliert, das ein bestimmtes moralisches Übel kategorisch ablehnt. Bekanntlich enthält das Gesetzbuch (der Zehn Gebote) außer dem Verbot »Du sollst nicht die Ehe brechen« auch das Verbot »Du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen« (Ex 20, 14.17; Dtn 5, 18.21). Christus hebt nicht das eine Verbot zugunsten des anderen auf. Obgleich er vom »begehrlichen Verlangen« spricht, zielt er eine tiefergehende Klärung von »Ehebruch« an. Bezeichnenderweise ändert er nach dem Verbot »du sollst nicht die Ehe brechen«, das seinen Zuhörern bekannt war, im folgenden seinen Stil und die logische Struktur von der normativen Form in die erzählerisch-feststellende. Wenn er sagt: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«, beschreibt er einen Vorgang im Innern, dessen Realität die Zuhörer leicht verstehen konnten. Gleichzeitig gibt er durch den auf diese Art beschriebenen und gekennzeichneten Vorgang an, wie das Gebot: »Du sollst nicht die Ehe brechen« aufgefaßt und praktisch erfüllt werden soll, damit es zu der vom Gesetzgeber gewollten »Gerechtigkeit« führt.
4. So stehen wir nun bei dem Ausdruck »hat in seinem Herzen Ehebruch mit ihr begangen«, der, so scheint es, den Schlüsselbegriff für das Verständnis seiner rechten sittlichen Bedeutung bildet. Diese Formulierung ist zugleich die wichtigste Quelle, um die wesentlichen Werte des neuen Ethos zu verdeutlichen: des Ethos der Bergpredigt. Wie es im Evangelium häufig geschieht, so stehen wir auch hier vor einem gewissen Paradox. Denn wie kann es zu einem Ehebruch kommen, ohne dass einer »die Ehe bricht«, das heißt ohne den äußeren Akt, der es erlaubt, die vom Gesetz verbotene Handlung festzustellen? Wir haben gesehen, wie sehr sich die Kasuistik der Gesetzeslehrer um die genaue Erklärung dieses Problems bemühte. Aber auch unabhängig von der Kasuistik scheint klar zu sein, dass man von Ehebruch erst sprechen kann, wenn er im Fleische geschieht, das heißt, wenn die beiden, Mann und Frau, sich so miteinander vereinigen, dass sie ein Fleisch werden (vgl. Gen 2, 24), obwohl sie nicht rechtmäßig miteinander verheiratete Eheleute, also Mann und Frau sind. Was soll das heißen: »im Herzen Ehebruch begehen«? Ist das nicht nur ein bildlicher Ausdruck, den der Meister verwendet, um die Sündhaftigkeit der Begierde hervorzuheben?
5. Wenn wir diese Lesart der Aussage Christi (Mt 5, 27-28) annehmen, müssen wir über deren ethische Konsequenzen tief nachdenken, das heißt über die ethische Richtigkeit des Verhaltens. Der Ehebruch geschieht, wenn Mann und Frau sich miteinander verbinden, so dass sie ein Fleisch werden (vgl. Gen 2, 24), also nach Art von Eheleuten, obwohl sie nicht rechtmäßig miteinander verheiratet sind. Ehebruch als mit dem Körper begangene Sünde ist streng und ausschließlich an den äußeren Akt gebunden, an die eheliche Gemeinschaft, die auch den von der Gesellschaft anerkannten Stand der beteiligten Personen einschließt. In unserem Fall ist dieser Stand nicht gegeben, und er berechtigt darum nicht zu einem solchen Akt (daher die Bezeichnung »Ehebruch«).
6. Zum zweiten Teil der Aussage Christi übergehend (wo sich das neue Ethos abzuzeichnen beginnt), müßte man den Ausdruck »wer eine Frau auch nur lüstern ansieht« ausschließlich im Bezug zu den Personen nach ihrem von der Gesellschaft anerkannten Familienstand - also ob sie Eheleute sind oder nicht - verstehen. Hier beginnen sich die Fragen zu häufen. Weil Christus zweifellos auf die Sündhaftigkeit des inneren Aktes der Begierde hinweist, die nach außen durch den Blick auf eine Frau, die nicht Ehefrau dessen ist, der sie so ansieht, zum Ausdruck kommt, können und müssen wir uns fragen, ob Christus mit diesem Ausdruck einen solchen Blick, einen solchen inneren Akt der Begierde, wenn sie der Ehefrau jenes Mannes gilt, der sie so anblickt, billigt und bestätigt. Für die bejahende Antwort auf diese Frage scheint folgende logische Voraussetzung zu sprechen: (in unserem Fall) kann den »Ehebruch im Herzen« nur der Mann begehen, der potentielles Subjekt des »Ehebruches im Fleisch« ist. Da dieses Subjekt nicht der Ehemann gegenüber seiner eigenen Frau sein kann, kann sich der »Ehebruch im Herzen« nicht auf ihn beziehen, sondern muss irgendeinem anderen Mann zur Last gelegt werden. Wenn er Ehemann ist, kann er nicht mit seiner eigenen Frau Ehebruch begehen. Er allein hat das ausschließliche Recht, seine Ehefrau »zu begehren« oder sie »lüstern anzusehen« - und nie wird man behaupten können, dass er aufgrund eines solchen inneren Aktes des »im Herzen begangenen Ehebruchs« anzuklagen sei. Wenn er aufgrund der Ehe das Recht hat, »sich mit seiner Frau zu verbinden«, so dass »die beiden ein Fleisch werden«, dann kann dieser Akt keinesfalls als »Ehebruch« bezeichnet werden; dementsprechend kann der innere Akt des »Begehrens«, von dem die Bergpredigt handelt, nicht als »im Herzen begangener Ehebruch« bezeichnet werden.
7. Diese Auslegung der Worte Christi in Mt 5, 27-28 scheint der Logik der Zehn Gebote zu entsprechen, wo außer dem Gebot »du sollst nicht die Ehe brechen« (6. Gebot) auch das Gebot steht »du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen« (9. Gebot). Außerdem trägt die zu ihrer Unterstützung vorgenommene Beweisführung sämtliche Merkmale objektiver Korrektheit und Exaktheit an sich. Und dennoch lässt sich wohl bezweifeln, ob diese Beweisführung allen Aspekten der Offenbarung sowie der Theologie des Leibes Rechnung trägt, die berücksichtigt werden müssen, vor allem dann, wenn wir die Worte Christi verstehen wollen. Wir haben bereits bei vorausgegangenen Überlegungen gesehen, worin das eigentliche Gewicht dieser Rede besteht, wie reich und vielfältig die anthropologischen und theologischen Implikationen dieses einzigen Satzes sind, in dem Christus sich »auf den Anfang« beruft (vgl. Mt 19, 8). Die anthropologischen und theologischen Implikationen der Aussage der Bergpredigt, in der Christus sich auf das menschliche Herz beruft, verleihen der Aussage selbst auch ihr eigentliches Gewicht und geben zugleich ihren Zusammenhang mit der gesamten Lehre des Evangeliums an.
Deshalb müssen wir zugeben, dass die oben gebotene Auslegung trotz ihrer objektiven Korrektheit und logischen Präzision einer gewissen Erweiterung und vor allem Vertiefung bedarf. Wir müssen bedenken, dass der Hinweis auf das menschliche Herz, der vielleicht etwas paradox formuliert ist (Mt 5, 27-28), von dem stammt, der »wußte, was im Menschen ist« (Joh 2, 25). Und wenn seine Worte die zehn Gebote (nicht nur das sechste, sondern auch das neunte) bestätigen, so sind sie gleichzeitig auch Ausdruck jener Wissenschaft vom Menschen, die - wie wir an anderer Stelle hervorgehoben haben - uns erlaubt, das Wissen um seine Sündhaftigkeit mit der Aussicht auf die »Erlösung des Leibes« (vgl. Röm 8, 23) in Verbindung zu bringen. Diese »Wissenschaft« aber liegt dem neuen Ethos zugrunde, das sich in den Worten der Bergpredigt ausdrückt.
Wenn wir das alles in Betracht ziehen, folgern wir daraus, dass Christus, so wie er bei der Deutung des »im Fleisch begangenen Ehebruches« die irrige und einseitige Deutung des Ehebruchs, die sich aus der Nichteinhaltung der Einehe ergibt (also der Ehe als unauflöslichen Bund der Personen), einer Kritik unterzieht, auch bei der Deutung des »Ehebruchs im Herzen« nicht allein den wirklichen Rechtsstand des betreffenden Mannes bzw. der Frau berücksichtigt. Christus macht die moralische Bewertung des Begehrens vor allem von der persönlichen Würde des Mannes und der Frau abhängig; und das ist von Bedeutung sowohl für Unverheiratete als auch - und da vielleicht noch mehr - für Eheleute. Von diesem Gesichtspunkt aus werden wir die Analyse der Worte der Bergpredigt am nächsten Mittwoch ergänzen.
Das neue Ethos der Bergpredigt: die »Reinheit des Herzens« (2) 8. 10. 1980, OR/42
1. Heute möchte ich die Auslegung der Worte Christi in der Bergpredigt über den »Ehebruch« und die »sinnliche Begierlichkeit« abschließen, im besonderen die des letzten Teiles der Aussage, wo der »lüsterne Blick« als »im Herzen begangener Ehebruch« bezeichnet wird.
Wir haben bereits in unseren vorangegangenen Überlegungen festgestellt, dass die genannten Worte gewöhnlich als Verlangen nach der Frau eines anderen (also im Sinne des neunten Gebotes) verstanden werden. Es scheint jedoch, dass diese - einschränkende - Interpretation im Lichte des Gesamtzusammenhanges erweitert werden kann und muss. Die sittliche Bewertung der Begierlichkeit (des »lüsternen Blicks«), die Christus als »im Herzen begangenen Ehebruch« bezeichnet, hängt, so scheint es, vor allem von der personalen Würde des Mannes und der Frau ab; das gilt sowohl für jene, die nicht durch die Ehe verbunden sind, als auch - und vielleicht noch mehr - für Verheiratete.
2. Die Auslegung, die wir bisher über die Aussage von Mt 5, 27-28 »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«, vorgenommen haben, weist hin auf die Notwendigkeit, die zuvor gebotene Interpretation im Hinblick auf die sittliche Bedeutung dieser Aussage zu erweitern und vor allem zu vertiefen.
Wir stehen bei der vom Meister beschriebenen Situation, wonach jener, der durch einen inneren Akt der Begierlichkeit (der im Blick zum Ausdruck kommt) »in Gedanken Ehebruch begeht«, der Mann ist. Es ist bezeichnend, dass Christus, wenn er vom Gegenstand dieser Begierde spricht, nicht hervorhebt, dass es sich um die »Frau eines anderen« bzw. nicht um die eigene Ehefrau handelt, sondern allgemein sagt: die Frau. Der »im Herzen« begangene Ehebruch wird nicht umschrieben durch die Grenzen der interpersonalen Beziehung, wie sie den »körperlich« begangenen Ehebruch kennzeichnen. Für den »im Herzen« begangenen Ehebruch sind diese Grenzen nicht ausschließlich und wesentlich entscheidend, sondern die Natur der sinnlichen Begierlichkeit selbst drückt sich in diesem Fall durch den Blick aus, also durch die Tatsache, dass der Mann - von dem Christus als Beispiel - spricht eine Frau »lüstern ansieht«. Der Ehebruch »in Gedanken« wird nicht nur deshalb begangen, weil der Mann die Frau, die nicht seine Ehefrau ist, so »ansieht«, sondern deswegen, weil er eine Frau gerade so anblickt. Auch wenn er seine Ehefrau so anblickte, würde er ebenfalls »im Herzen« Ehebruch begehen.
3. Diese Deutung scheint uns das umfassender in Betracht zu ziehen, was bei unseren Überlegungen insgesamt über die Begierlichkeit und in erster Linie über die sinnliche Begierde als dauerndes Element der Sündhaftigkeit des Menschen (status naturae lapsae, Zustand der gefallenen Natur) gesagt worden ist. Die Begierde, die als innerer Akt aus dieser Wurzel entspringt (wie wir in der vorangegangenen Betrachtung aufzuzeigen versucht haben), verändert die Ausrichtung des Daseins der Frau »für« den Mann, indem sie den Reichtum der ewigen Berufung zur Gemeinschaft der Personen, den Reichtum der tiefen Anziehung von Mann und Frau auf die bloße Befriedigung des sexuellen Triebes des Leibes (dem eher der Begriff »Instinkt« zu entsprechen scheint) verkürzt. Eine solche Verkürzung bewirkt, dass die Person (in unserem Fall die Frau) für die andere Person (den Mann) in erster Linie zu einem Objekt der potentiellen Befriedigung des eigenen sexuellen Triebes wird. Auf diese Weise wird jenes gegenseitige »Füreinander« deformiert, es büßt den Charakter der Gemeinschaft zwischen den Personen zugunsten eines bloßen Gebrauchs ein. Der Mann, der eine Frau so »ansieht«, wie in Mt 5, 27-28 beschrieben, »bedient sich« der Frau, ihres Frauseins, um seinen Trieb zu befriedigen. Auch wenn er das nicht in einem äußeren Akt vollzieht, so hat er bereits in seinem Innern diese Haltung angenommen dadurch, dass er sich innerlich im Blick auf eine bestimmte Frau so entschieden hat. Eben darin besteht der »im Herzen begangene Ehebruch«. Einen solchen Ehebruch »im Herzen«, »in Gedanken« kann der Mann auch mit seiner eigenen Ehefrau begehen, wenn er sie nur als Gegenstand seiner Triebbefriedigung behandelt.
4. Wir können nicht zur zweiten Auslegung der Worte von Mt 5, 27-28 gelangen, wenn wir uns auf die rein psychologische Interpretation der Begierde beschränken, ohne dem Rechnung zu tragen, was ihren spezifisch theologischen Charakter ausmacht, nämlich der organischen Beziehung zwischen der Begierlichkeit (als Akt) und der sinnlichen Begierde sozusagen als ständige Bereitschaft, die aus der Sündhaftigkeit des Menschen herrührt. Die rein psychologische (bzw. sexualwissenschaftliche) Erklärung der Begierlichkeit scheint keine ausreichende Grundlage für das Verständnis unseres Textes aus der Bergpredigt darzustellen. Wenn wir uns hingegen auf die theologische Auslegung beziehen - ohne deshalb das, was an der ersten Deutung, also der psychologischen, unverständlich bleibt, unterschätzen zu wollen -, so erscheint uns diese zweite - theologische - Auslegung als die vollständigere. Denn durch sie wird auch die sittliche Bedeutung der Schlüsselaussage der Bergpredigt deutlicher, der wir die entsprechende sittliche Dimension, das Ethos des Evangeliums verdanken.
5. Wenn Christus diese Dimension umreißt, bleibt er dem Gesetz treu: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5, 17). Darum zeigt er, wie notwendig es ist, das tiefste Innere des Menschenherzens aufzudecken, damit dieses Herz zu einem Ort der »Erfüllung« des Gesetzes werden kann. Die Aussage von Mt 5, 27-28, die die innere Perspektive des »im Herzen« begangenen Ehebruchs deutlich macht - und dabei auf die richtigen Wege zur Erfüllung des Gebots: »Du sollst nicht die Ehe brechen« hinweist -, ist ein einzigartiger Beweis dafür. Denn diese Aussage (Mt 5, 27-28) bezieht sich auf den Abschnitt, wo es sich in besonderer Weise um die »Reinheit des Herzens« handelt (vgl. Mt 5, 8) - ein Ausdruck, der in der Bibel bekanntlich eine sehr weite Bedeutung hat. Auch an anderer Stelle werden wir Gelegenheit haben, zu überlegen, inwieweit das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« - das, was die Art der Formulierung und den Inhalt betrifft, ein eindeutiges und strenges Verbot ist (wie das Gebot »Du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen«, Ex 20, 17) - eben durch die »Reinheit des Herzens« erfüllt wird. Von der Strenge und Kraft des Verbots zeugen indirekt die anschließenden Worte im Text der Bergpredigt, wo Christus bildhaft vom »Ausreißen des Auges« und vom »Abhauen der Hand« spricht, als wären diese Ursache der Sünde (vgl. Mt 5, 29-30). Wir haben bei früheren Überlegungen festgestellt, dass die Gesetzgebung des Alten Testaments, obgleich sie in hohem Maß strenge, harte Bestrafungen kennt, nicht zur »Erfüllung des Gesetzes« beitrug, weil ihre Kasuistik hinsichtlich der sinnlichen Begierde von vielfältigen Kompromissen gekennzeichnet war. Christus dagegen lehrt, dass das Gebot durch die »Reinheit des Herzens« erfüllt wird, zu der der Mensch nicht gelangt, wenn er nicht gegenüber allem, was der sinnlichen Begierde entspringt, innere Festigkeit beweist. Die Reinheit des Herzens erwirbt, wer konsequent Anforderungen an sein Herz zu stellen weiß: an sein Herz und an seinen Leib.
6. Das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« findet seine richtige Motivierung in der Unauflöslichkeit der Ehe, in welcher der Mann und die Frau sich kraft des ursprünglichen Plans des Schöpfers so miteinander verbinden, dass sie »ein Fleisch werden« (vgl. Gen 2, 24). Der Ehebruch widerspricht seinem Wesen nach einer solchen Einheit in dem Sinn, in dem die Einheit der Würde der Personen entspricht. Christus bestätigt nicht nur die wesentliche sittliche Bedeutung des Gebots, sondern sucht es in der Tiefe der menschlichen Person selbst zu verankern. Die neue Dimension des Ethos ist immer mit der Enthüllung jenes tiefsten Grundes verbunden, den man »Herz« nennt, und mit seiner Befreiung von der Begierde, so dass in jenem Herzen der Mensch voller sichtbar wird: Mann und Frau in der ganzen inneren Wahrheit des gegenseitigen Füreinander. Befreit von dem Zwang und der Beschränkung des Geistes, wie sie die sinnliche Begierde mit sich bringt, findet sich der Mensch, Mann und Frau, in der Freiheit der gegenseitigen Hingabe, des Sich-einander-Schenkens wieder, das die Voraussetzung für jedes Zusammenleben in der Wahrheit und besonders in der Freiheit des Sich-einander-Schenkens ist, da beide, als Mann und Frau, die sakramentale Einheit bilden müssen, die, wie Gen 2, 24 sagt, vom Schöpfer selbst gewollt ist.
7. Es ist also offenkundig, dass die Forderung, die Christus in der Bergpredigt an alle seine tatsächlichen und möglichen Hörer stellt, zu dem inneren Raum gehört, in dem der Mensch - besonders der, der auf ihn hört - die verlorengegangene Fülle seines Menschseins neu entdecken und wiedererwerben muss. Jene volle gegenseitige Beziehung der Personen, des Mannes und der Frau, fordert der Meister in Mt 5, 27-28, wobei er vor allem die Unauflöslichkeit der Ehe im Sinn hat, aber auch jede andere Form der Koexistenz von Männern und Frauen, jenes Zusammenlebens, welches zum reinen und schlichten Ablauf des Daseins gehört. Das menschliche Leben ist von seiner Natur her »koedukativ«, und seine Würde, sein Gleichgewicht hängen in jedem Augenblick der Geschichte und an jedem Punkt geographischer Länge und Breite davon ab, was Sie für Ihn und Er für Sie wird. Die von Christus in der Bergpredigt verkündeten Worte haben ohne Zweifel diese universale und zugleich tiefe Bedeutung. Nur so können sie im Munde dessen verstanden werden, der zutiefst »wußte, was in jedem Menschen ist« (Joh 2, 25) und der gleichzeitig in sich das Geheimnis von der »Erlösung des Leibes« trug, wie es der hl. Paulus später ausdrücken sollte. Sollen wir uns vor der Strenge dieser Worte fürchten oder vielmehr Vertrauen haben auf ihren heilbringenden Inhalt, ihre Wirkkraft?
In jedem Fall erschließt uns die durchgeführte Analyse der Worte Christi in der Bergpredigt den Weg zu weiteren unerläßlichen Reflexionen, um volle Kenntnis vom Menschen der Geschichte und vor allem vom Menschen unserer Zeit, von seinem Gewissen und von seinem Herzen zu erlangen.
Der Leib als Quelle des Bösen im Manichäismus 15. 10. 1980, OR 80/43
1. Bei unseren zahlreichen Mittwochsbegegnungen haben wir eine eingehende Analyse der Worte aus der Bergpredigt vorgenommen, wo Christus auf das menschliche »Herz« Bezug nimmt. Wie wir nunmehr wissen, sollen seine Worte verpflichten. Christus sagt: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Dieser Hinweis auf das Herz stellt die Innerlichkeit des Menschen heraus, die Dimension des inneren Menschen, die zur Ethik und noch mehr zur Theologie des Leibes gehört. Das Verlangen, das im Bereich der fleischlichen Begierde aufsteigt, ist zugleich eine innere und eine theologische Wirklichkeit, die gewissermaßen von jedem geschichtlichen Menschen erfahren wird. Und eben dieser Mensch stellt sich - auch wenn er die Worte Christi nicht kennt - unablässig die Frage nach seinem Herzen. Die Worte Christi machen diese Frage besonders deutlich: Wird das Herz angeklagt oder wird es zum Guten gerufen? Und diese Frage wollen wir nun aufgreifen am Ende unserer Überlegungen und Analysen, die wir im Zusammenhang mit dem so knappen und zugleich nachdrücklichen Satz des Evangeliums entwickelt haben, der so angefüllt ist mit theologischem, anthropologischem und ethischem Gehalt.
Damit geht eine zweite mehr praktische Frage einher: Wie kann und soll der Mensch handeln, der die Worte Christi in der Bergpredigt aufnimmt, der Mensch, der das Ethos des Evangeliums, zumal in diesem Bereich, annimmt?
2. Dieser Mensch findet in den bisher angestellten Überlegungen zumindest indirekt die Antwort auf unsere beiden Fragen: Wie kann er handeln, das heißt, worauf kann er sich in seinem Innersten, am Ursprung seiner inneren bzw. äußeren Handlungen verlassen? Und weiter: Wie sollte oder müßte er handeln, das heißt, in welcher Weise stellen die Werte, die nach der in der Bergpredigt offenbarten Rangordnung erkannt werden, eine Verpflichtung für seinen Willen und sein Herz, seine Wünsche und seine Entscheidungen dar? In welcher Weise verpflichten sie ihn in seinem Handeln und Verhalten, wenn sie ihn, einmal erkannt und aufgenommen, bereits im Denken und in gewisser Weise im Empfinden verpflichten? Diese Fragen sind für die menschliche Praxis wichtig und zeigen eine organische Verbundenheit von Praxis mit dem Ethos an. Die lebendige Moral ist immer das Ethos der menschlichen Praxis.
3. Auf die gestellten Fragen kann man verschieden antworten. Sowohl in der Vergangenheit wie heute wurden und werden tatsächlich verschiedene Antworten gegeben. Das beweist eine umfangreiche Literatur. Außer den Antworten, die wir dort finden, gilt es, die unendliche Zahl von Antworten zu berücksichtigen, die der konkrete Mensch von sich aus auf diese Fragen gibt, welche das Gewissen, das sittliche Bewusstsein und Empfinden jedes einzelnen im Leben immer wieder gibt. In diesem Bereich durchdringen sich fortwährend Ethos und Praxis. Hier leben die einzelnen Grundsätze ihr gewiß nicht ausschließlich theoretisches Leben, also die Moralgesetze mit ihren Motivierungen, wie sie von den Moralisten ausgearbeitet und verkündet werden, aber auch jene, welche - natürlich nicht ohne Verbindung mit der Arbeit der Moralisten und Wissenschaftler - die einzelnen Menschen als Urheber und unmittelbare Subjekte der tatsächlichen Moral, als Mitgestalter ihrer Geschichte ausarbeiten, von denen dann auch das Niveau der Moral selbst, ihr Fortschritt bzw. ihr Verfall, abhängt. In alledem haben wir immer und überall jenen geschichtlichen Menschen vor uns, zu dem einst Christus gesprochen hat, als er mit der Bergpredigt die Frohbotschaft des Evangeliums verkündete, wo er unter anderem auch den Satz sprach, den wir in Matthäus 5, 27-28 lesen: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.«
4. Die Aussage des Matthäus ist großartig klar im Hinblick auf alles, was zu diesem Thema in der Weltliteratur geschrieben worden ist. Und vielleicht besteht gerade darin ihre Wirkkraft in der Geschichte des Ethos. Zugleich muss man sich darüber im klaren sein, dass die Geschichte des Ethos wie in einem vielgestaltigen Flussbett dahinfließt, in dem die einzelnen Strömungen sich nähern und voneinander entfernen. Der geschichtliche Mensch bewertet sein Herz immer auf seine besondere Weise, wie er auch seinen Körper beurteilt: er geht vom Extrem des Pessimismus zum Extrem des Optimismus über, von puritanischer Strenge zum heutigen Permissivismus. Man muss sich dessen bewusst sein, damit das Ethos der Bergpredigt stets gegenüber den Handlungen und Verhaltensweisen des Menschen genügend durchsichtig bleibt. Dazu sind weitere Überlegungen nötig.
5. Unsere Betrachtungen über die Bedeutung der Worte Christi nach Matthäus 5, 27-28 wären unvollständig, würden wir nicht - wenigstens kurz - beim Widerhall innehalten, den sie in der Geschichte des menschlichen Denkens und der Bewertung des Ethos gefunden haben. Der Widerhall ist immer eine Umformung der Stimme und der Worte, die sie spricht. Wir wissen aus Erfahrung, dass diese Umformung voll von geheimnisvollem Zauber sein kann. In unserem Fall ist freilich etwas Gegenteiliges eingetreten. Denn den Worten Christi wurde vielmehr ihre Schlichtheit und Tiefe genommen; es wurde ihnen eine Bedeutung unterschoben, die weit von der tatsächlichen entfernt ist, eine Bedeutung, die letzten Endes sogar im Widerspruch zu diesen Worten steht. Wir denken hier an all das, was am Rande des Christentums unter dem Namen des »Manichäismus« aufgetaucht ist<ref>Der Manichäismus enthält die charakteristischen Elemente der Gnosis und bringt sie zur Reifung; er ist ein Dualismus mit zwei gleich ewigen und radikal entgegengesetzten Prinzipien und einem Begriff der Erlösung, die sich nur durch die Erkenntnis (gnosis) oder das Verständnis seiner selbst verwirklicht. In dem ganzen manichäischen Mythos gibt es einen einzigen Helden und eine einzige Situation, die immer wiederkehrt: die gefallene Seele ist in der Materie gefangen und wird durch die Erkenntnis befreit.
Die derzeitige Existenz des Menschen in der Geschichte entspricht ihm nicht, weil sie eine vorläufige und anormale Mischung aus Geist und Materie, aus Gut und Böse, darstellt, die einen früheren, ursprünglichen Zustand voraussetzt, in welchem die beiden Substanzen getrennt und unabhängig voneinander waren. Es gibt daher drei Epochen: den Anfang, das heißt die ursprüngliche Trennung; die Mitte, also den gegenwärtigen herrschenden Zustand der Vermischung und das Ende, das in der Rückkehr zur ursprünglichen Trennung besteht, in der Erlösung, die einen völligen Bruch zwischen Geist und Materie mit sich bringt.
Die Materie ist im Grund Begierde, böses Verlangen nach Lust und Genuß, tödlicher Instinkt, der dem Sexualtrieb, der Libido vergleichbar, wenn nicht überhaupt mit ihm identisch ist. Sie ist eine Kraft, die das Licht anzugreifen sucht; eine ungeordnete Bewegung, ein tierisches, brutales, halbbewusstes Verlangen. Adam und Eva wurden von zwei Dämonen gezeugt; unser Geschlecht entsprang einer Folge abstoßender Akte des Kannibalismus und der Sexualität und bewahrt die Zeichen dieses diabolischen Ursprungs: den Körper, der die tierische Gestalt der »Archonten der Unterwelt« ist, und die Libido, die den Menschen dazu treibt, sich zu paaren und fortzupflanzen und damit die lichtvolle Seele für immer gefangen zu halten. Wenn der Mensch erlöst werden will, muss er versuchen, sein »lebendiges Ich«, den noûs, vom Fleisch und vom Körper zu befreien. Da die Materie in der Begierde ihren höchsten Ausdruck findet, besteht die Hauptsünde in der geschlechtlichen Vereinigung (Unzucht), die zugleich Brutalität und Bestialität ist und die Menschen durch die Fortpflanzung zu Werkzeugen und Mitschuldigen des Bösen macht.
Die Auserwählten bilden die Gruppe der Vollkommenen mit einer charakteristischen asketischen Tugend, der Abstinenz, die sich in der Beobachtung von drei »Siegeln« verwirklicht: das »Siegel des Mundes« verbietet jede Gotteslästerung und gebietet die Enthaltung von Fleisch, Blut, Wein, allen alkoholischen Getränken und auch das Fasten; das »Siegel der Hände« gebietet die Achtung vor dem Leben (dem »Licht«), das die Körper, die Samen, die Bäume in sich schließen, und verbietet das Sammeln von Früchten, das Ausreißen von Pflanzen, das Töten von Menschen und Tieren; das »Siegel des Schoßes« schreibt totale Enthaltsamkeit vor (vgl. H. Ch. Puech, Le Manichèisme, son fondateursa doctrine, Paris 1949 [Musée Guimet, Bd. LVI], S. 73-88. Ders., Le Manichéisme, in: Histoire des Religions [Encyclopédie de la Pleiade] II, 1972, S. 522-645. J. Ries, Manichéisme, in: Catholicisme hier, aujourd'hui, demain, 34, Lilie 1977, S. 314-320).</ref> und sogar versuchte, gerade bei der Theologie und dem Ethos des Leibes christliches Terrain zu erobern. Der Manichäismus in seiner ursprünglichen Gestalt, der im Orient außerhalb des biblischen Milieus entstanden war, sah bekanntlich die Quelle des Bösen in der Materie. Er verkündete deshalb die Verurteilung und Verwerfung alles dessen, was am Menschen körperlich ist. Und da sich beim Menschen die Körperlichkeit vor allem im Geschlechtlichen äußert, wurde diese Verurteilung auch auf die Ehe und das eheliche Zusammenleben sowie auf sämtliche Bereiche des Seins und des Handelns, in denen die Körperlichkeit zum Ausdruck kommt, ausgeweitet.
6. Einem ungeübten Ohr konnte die offenkundige Strenge jenes Systems im Einklang mit den strengen Worten aus Matthäus 5, 29-30 erscheinen, wo Christus vom »Ausreißen des Auges« und vom »Abhauen der Hand« spricht, wenn sie Anlass zum Ärgernis wären. Durch die bloß buchstäbliche Auslegung dieser Worte war es auch möglich, zu einer manichäischen Auffassung der Aussage Christi zu kommen, wo von dem Mann die Rede ist, der »im Herzen Ehebruch begangen hat ..., wenn er eine Frau lüstern ansieht«. Auch in diesem Fall neigt die manichäische Deutung zur Verurteilung des Körpers als tatsächlicher Quelle des Bösen, da sich nach dem Manichäismus in ihm das Seinsprinzip des Bösen verbirgt und zugleich kundtut. Man versuchte also, eine solche Verurteilung im Evangelium zu finden und fand sie bisweilen dort, wo statt dessen ausschließlich eine besonders an den menschlichen Geist gerichtete Forderung ausgesprochen wurde.
Es ist zu beachten, dass die Verurteilung ein Vorwand sein konnte - und immer sein kann -, um sich den Forderungen zu entziehen, die im Evangelium von dem aufgestellt wurden, der »wußte, was im Menschen ist« (Joh 2, 25). Dafür mangelt es in der Geschichte nicht an Beweisen. Wir hatten zum Teil bereits Gelegenheit (und werden sie gewiß noch haben), zu zeigen, in welchem Maß diese Forderung einzig und allein aus einer Bejahung - und nicht aus einer Verneinung oder Verurteilung - kommen kann, wenn sie zu einer noch reiferen und objektiv und subjektiv vertieften Bejahung führen soll. Zu dieser Bejahung des Frauseins und Mannseins des Menschen als persönlicher Dimension des »Leibseins« sollen und müssen die Worte Christi in Matthäus 5, 27-28 führen. Das ist die richtige sittliche Bedeutung dieser Worte. Sie geben dem Evangelium ein besonderes Ethos in der Absicht, dieses in der Folge dem menschlichen Leben aufzuprägen.
Dieses Thema wollen wir bei unseren späteren Überlegungen wieder aufgreifen.
Der Leib ist »von Anfang an« zur Kundgabe des Geistes berufen 22. 10. 1980/OR 80/44
1. Im Mittelpunkt unserer Betrachtungen bei den Mittwochsaudienzen steht schon seit längerer Zeit die Aussage Christi aus der Bergpredigt: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mir ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Diese Worte sind für die ganze in der Lehre Christi enthaltene Theologie des Leibes von grundlegender Bedeutung. Deshalb messen wir dem richtigen Verständnis und der gewissenhaften Auslegung dieser Worte mit Recht große Bedeutung bei. Bereits in unserer letzten Betrachtung haben wir festgestellt, dass die manichäische Lehre sowohl in ihren frühen wie in ihren späteren Äußerungen im Widerspruch zu diesen Worten steht. Denn aus dem hier besprochenen Abschnitt der Bergpredigt lässt sich durchaus keine Verdammung oder Anklage des Körpers herauslesen. Allenfalls lässt sich eine Verurteilung des menschlichen Herzens erkennen. Unsere bisher angestellten Überlegungen zeigen jedoch, dass, wenn die Worte von Matthäus 5, 27-28 überhaupt eine Anklage enthalten, Objekt dieser Anklage vor allem der Mensch der Begierde ist. Mit diesen Worten wird das Herz nicht so sehr angeklagt als vielmehr einem Gericht unterworfen oder, besser, zu einer kritischen, ja selbstkritischen Prüfung aufgerufen: ob es der fleischlichen Begierde unterlegen ist oder nicht. Wenn wir die tiefe Bedeutung von Matthäus 5, 27-28 zu ergründen suchen, müssen wir allerdings feststellen, dass das hier eingeschlossene Urteil über das »Begehren« als Akt der fleischlichen Begierde nicht eine Verneinung, sondern eine Bejahung des Leibes enthält: zusammen mit dem Geist bestimmt er nämlich die seinsmäßige Subjektivität des Menschen und hat an seiner Würde als Person teil. Das Urteil über die fleischliche Begierde hat also eine grundlegend andere Bedeutung als jene, welche die manichäische Ontologie des Leibes voraussetzt und die notwendigerweise aus ihr erwächst.
2. Der Leib ist in seinem Mannbzw. Frausein »von Anfang an« dazu berufen, zu einer Kundgabe des Geistes zu werden. Er wird dies auch durch die eheliche Verbindung von Mann und Frau, wenn sie »ein Fleisch« werden. An anderer Stelle (vgl. Mt 19, 5-6) verteidigt Christus die unverletzlichen Rechte dieser Einheit, durch welche der Leib in seinem Mannbzw. Frausein den Wert eines gewissermaßen sakramentalen Zeichens gewinnt; indem er mahnt, gegenüber der leiblichen Begierde wachsam zu sein, drückt er auch hier die gleiche Wahrheit über die ontologische Dimension des Körpers aus und bestätigt seine sittliche Bedeutung, wie es dem Ganzen seiner Lehre entspricht. Diese sittliche Bedeutung hat nichts mit der manichäischen Verwerfung des Leibes gemein; sie ist vielmehr tief vom Geheimnis der »Erlösung des Leibes« geprägt, von welcher der hl. Paulus im Römerbrief schreibt (vgl. Röm 8, 23). Die »Erlösung des Leibes« meint jedoch nicht, das ontologisch Böse sei ein Wesensmerkmal des menschlichen Körpers; es weist nur die Sündhaftigkeit des Menschen auf, durch die dieser unter anderem den klaren Sinn für die bräutliche Bedeutung des Leibes verloren hat, in welcher die innere Herrschaft und die Freiheit des Geistes zum Ausdruck kommt. Es handelt sich hier - wie wir schon früher festgestellt haben - um einen teilweisen, potentiellen Verlust, wo der Sinn für die bräutliche Bedeutung des Leibes sich gewissermaßen mit der Begehrlichkeit vermengt und leicht von ihr überwältigt und aufgesogen wird.
3. Eine entsprechende Auslegung der Worte Christi nach Matthäus 5, 27-28 sowie auch die Praxis, die dann das wahre Ethos der Bergpredigt verwirklichen soll, müssen im Denken und Verhalten völlig von manichäischen Elementen frei bleiben. Die manichäische Haltung müßte zu einer wenn auch nicht tatsächlichen, so doch wenigstens angestrebten »Ausschaltung» des Leibes führen, zu einer Leugnung des Wertes der menschlichen Geschlechtlichkeit, des Mannoder Frauseins der menschlichen Person, oder zumindest zu ihrer bloßen »Duldung« in den Grenzen des von der Notwendigkeit der Fortpflanzung bestimmten »Bedürfnisses«. Nach den Worten Christi in der Bergpredigt hingegen ist das christliche Ethos von einem Wandel im Bewusstsein und in den Haltungen der menschlichen Person, des Mannes wie der Frau, gekennzeichnet, der den Wert des Leibes und der Geschlechtlichkeit kundtut und verwirklicht, wie sie nach dem ursprünglichen Plan des Schöpfers in den Dienst der Personengemeinschaft gestellt sind, welche den tiefsten Grund der menschlichen Sittlichkeit und Kultur bildet. Während für das manichäische Denken Leib und Geschlechtlichkeit sozusagen einen »Unwert« darstellen, sind sie für das Christentum stets ein »nicht hinreichend gewürdigter Wert«, wie ich noch besser erklären werde. Die zweite Haltung deutet an, wie das Ethos beschaffen sein muss, in dem das Geheimnis der Erlösung des Leibes sozusagen im geschichtlichen Boden der Sündhaftigkeit des Menschen Wurzel faßt. Das bringt die theologische Formel zum Ausdruck, die den Zustand des geschichtlichen Menschen als »Status naturae lapsae simul ac redemptae«, Stand der gefallenen und zugleich erlösten Natur, definiert.
4. Man muss im Licht dieser vielschichtigen Wahrheit über den Menschen die Worte Christi aus der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) auslegen. Wenn sie auch eine gewisse »Anklage« gegen das menschliche Herz enthalten, so doch vielmehr noch einen Appell. Die Anklage des moralischen Übels, welches das der ungezügelten fleischlichen Begierde entsprungene Verlangen in sich birgt, ist gleichzeitig ein Appell zur Überwindung dieses Übels. Auch wenn der Sieg über das Böse in der Loslösung von ihm bestehen muss (daher die strengen Worte im Zusammenhang von Mt 5, 27-28), handelt es sich doch nur um die Abkehr vom bösen Akt (in unserem Fall vom inneren Akt der Begierde) und nicht um die Übertragung des negativen Charakters dieses Aktes auf sein Objekt. Eine solche Übertragung würde einer gewissen - wenn auch vielleicht nicht voll bewussten - Annahme des manichäischen »Unwertes« gleichkommen. Das würde keinen wahren und echten Sieg über das Böse des Aktes darstellen, der seinem sittlichen Charakter nach böse, also geistlich böse ist; ja, es bestünde die große Gefahr, die Handlung zum Schaden des Objekts zu rechtfertigen (hier liegt ja eben der eigentliche Irrtum des manichäischen Ethos). Es ist offensichtlich, dass Christus in Matthäus 5, 27-28 eine Abkehr vom Übel der Begierde (bzw. des lüsternen Blicks) fordert, doch lässt seine Aussage auf gar keinen Fall die Annahme zu, dass das Objekt jener Begierde, also die Frau, die der Mann lüstern ansieht, schlecht sei. (Diese Präzisierung scheint in manchen Erklärungen zu fehlen.)
5. Wir müssen also den Unterschied zwischen »Anklage« und »Appell« präzisieren. Da die gegen das Übel der Begierde gerichtete Anklage gleichzeitig ein Appell zu seiner Überwindung ist, muss folglich dieser Sieg mit dem Bemühen einhergehen, den echten Wert des Objekts zu entdecken, damit nicht im Menschen, in seinem Bewusstsein und in seinem Willen der manichäische »Unwert« Platz greift. Denn das Übel der Begierde, das heißt des Aktes, von welchem Christus in Mt 5, 27-28 spricht, macht deutlich, dass das Objekt, auf das er sich richtet, für das menschliche Subjekt einen »nicht hinreichend gewürdigten Wert« darstellt. Wenn in unserem Text der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) das menschliche Herz der Begierde »angeklagt« (bzw. vor ihr gewarnt) wird, ist darin gleichzeitig der Aufruf enthalten, den vollen Sinn dessen zu entdecken, was in dem Akt der Begierde für ihn einen »nicht hinreichend gewürdigten Wert« darstellt. Die Worte Christi sind bekanntlich: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.« Den »im Herzen begangenen Ehebruch« kann und muss man als Minderung oder als Verarmung eines echten Wertes verstehen, als vorsätzliche Aberkennung des unverkürzten Wertes der Fraulichkeit. Die Worte von Matthäus 5, 27-28 fordern zur Neuentdeckung und Bekräftigung dieses Wertes und dieser Würde auf. Anscheinend versteht man die zitierten Worte aus Matthäus nur dann, wenn man ihre Bedeutung respektiert. Zum Abschluss dieser knappen Ausführungen müssen wir noch einmal feststellen, dass das manichäische Verständnis von Leib und Geschlechtlichkeit des Menschen dem Evangelium wesensfremd ist und nicht der exakten Bedeutung der Worte Christi in der Bergpredigt entspricht. Der Appell zur Beherrschung der fleischlichen Begierde stammt eben aus der Bekräftigung der personalen Würde des Leibes und des Geschlechts und dient ausschließlich dieser Würde. Wer diesen Worten eine manichäische Sicht entnehmen wollte, befindet sich in einem grundlegenden Irrtum.
Nicht »angeklagt in Argwohn« sondern »angerufen in der Wahrheit« 29. 10. 1980, OR 80/45
1. Schon seit geraumer Zeit kreisen unsere Überlegungen bei den Mittwochsaudienzen um die Aussage Jesu Christi in der Bergpredigt: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Letzthin haben wir klargestellt, dass die genannten Worte nicht im manichäischen Sinn verstanden oder gedeutet werden dürfen. Sie bedeuten auf gar keinen Fall eine Verurteilung des Körpers und der Geschlechtlichkeit. Sie sollen lediglich zur Überwindung des dreifachen Begehrens, besonders der fleischlichen Begierde, aufrufen: Dies geht ja gerade aus der Bestätigung der persönlichen Würde des Körpers und der Geschlechtlichkeit hervor und bekräftigt zugleich diese Feststellung. Die genaue Verdeutlichung dieser Formulierung bzw. das Herausarbeiten der eigentlichen Bedeutung dieser Worte der Bergpredigt, in denen Christus auf das menschliche Herz verweist (vgl. Mt 5, 27-28), ist sehr wichtig, nicht nur wegen der aus dem Manichäismus herrührenden »eingefleischten Gewohnheiten«, die Dinge zu bedenken und zu bewerten, sondern auch wegen mancher moderner Auffassungen, die den Sinn des Menschen und der Moral interpretieren möchten. Ricoeur hat Freud, Marx und Nietzsche als »Meister des Argwohns« (»maîtres du soupçon«) bezeichnet,<ref>»Der in der Schule Descartes' ausgebildete Philosoph weiß, dass die Dinge zweifelhaft sind, dass sie nicht die sind, als die sie erscheinen; aber er zweifelt nicht daran, dass das Bewusstsein so ist, wie es sich selbst erscheint . . .; seit Marx, Nietzsche und Freud zweifeln wir daran. Nach dem Zweifel an den Dingen sind wir in den Zweifel am Bewusstsein eingetreten.
Aber diese drei Meister des Argwohns sind nicht drei Meister des Skeptizismus; sie sind sicher drei große >Zerstörer<. Seit ihnen ist das Begreifen eine Hermeneutik: nach dem Sinn su- chen heißt von jetzt ab nicht mehr, das Bewusstsein des Sinns herauslesen, sondern die Ausdrucksweisen entziffern. Was man daher vergleichen müßte, ist nicht nur ein dreifacher Argwohn, sondern ein dreifacher Kunstgriff . . . Zugleich wird eine noch tiefere Verwandtschaft zwischen Marx, Freud und Nietzsche sichtbar. Alle drei beginnen mit dem Argwohn gegenüber den Illusionen des Bewusstseins und fahren mit dem Kunstgriff der Entzifferung fort ...« (Paul Ricoeur, Le conflit des interpretations, Paris, 1969, S. 149-150).</ref> wobei er wohl an die von jedem einzelnen repräsentierten Systeme denkt, vor allem aber wohl an ihre verborgene Ausgangsbasis und Einstellung beim Verständnis und der Erläuterung des Menschlichen an sich.
Es erscheint notwendig, wenigstens kurz auf diese Ausgangsbasis und Einstellung hinzuweisen. Wir müssen das tun, um einerseits eine bezeichnende Übereinstimmung mit und anderseits auch einen ganz wesentlichen Unterschied zu der Hermeneutik festzustellen, die ihre Quelle in der Bibel hat und der wir in unseren Analysen zu folgen suchen. Worin besteht nun die Übereinstimmung? In der Tatsache, dass die obenerwähnten Denker, die auf die Denkund Urteilsweise der Menschen unserer Zeit großen Einfluss ausgeübt haben und noch immer weiter ausüben, im wesentlichen auch das »Herz« des Menschen anzuklagen und zu verurteilen scheinen. Ja, noch mehr, es hat den Anschein, dass sie das Herz aufgrund jener Tatsache anklagen und verurteilen, die in der Sprache der Bibel und besonders bei Johannes »Begehren«, das »dreifache Begehren«, genannt wird.
2. Hier könnte man eine bestimmte Rollenverteilung vornehmen. In der Hermeneutik Nietzsches entsprechen Anklage und Verurteilung des menschlichen Herzens gewissermaßen dem, was in der biblischen Sprache »Hoffahrt des Lebens« heißt; in der marxistischen Hermeneutik dem, was in der Bibel »Augenlust« genannt wird; in der Hermeneutik Freuds hingegen dem, was »Fleischeslust« heißt. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit der menschlichen Hermeneutik, die sich auf die Bibel gründet, besteht in der Tatsache, dass auch wir bei der Aufdeckung des dreifachen Begehrens im Herzen des Menschen uns darauf hätten beschränken können, dieses Herz ständig zu verdächtigen. Doch die Bibel gestattet es uns nicht, hier haltzumachen. Die Worte Christi bei Matthäus 5, 27-28 sind solcher Art, dass sie, auch wenn sie die ganze Wirklichkeit des sinnlichen Verlangens und der Begehrlichkeit aufzeigen, nicht zulassen, diese Begehrlichkeit zum absoluten Kriterium der Anthropologie und der Ethik bzw. zum Kernpunkt der Hermeneutik des Menschen zu machen. In der Bibel bildet das dreifache Begehren nicht das grundlegende und schon gar nicht das einzige und absolute Kriterium für die Anthropologie und die Ethik, auch wenn es zweifellos ein wichtiger Faktor für das Verständnis des Menschen, seiner Handlungen und ihres sittlichen Wertes ist. Das ergibt ja auch die von uns bisher durchgeführte Analyse.
3. Gerade weil wir zu einer vollständigen Auslegung der Worte Christi über den Menschen mit dem »begehrlichen Blick« (vgl. Mt 5, 27-28) gelangen wollen, können wir uns nicht mit irgendeiner beliebigen Auffassung von der sinnlichen Begierde zufrieden geben, auch nicht, wenn so die Fülle der uns zugänglichen psychologischen Wahrheit erreicht würde. Vielmehr müssen wir uns an den 1. Johannesbrief (2, 15-16) mit seiner »Theologie des Begehrens« halten. Der Mensch mit dem »begehrlichen Blick« ist in der Tat der Mensch des dreifachen Begehrens, der Mensch der fleischlichen Begierde. Daher »kann« er so blicken und muss sich sogar bewusst sein, dass er, den Mächten der Natur preisgegeben, auch wenn er auf diesen inneren Akt verzichtet, doch den Einfluss des fleischlichen Begehrens nicht auszuschalten vermag. In Matthäus 5, 27-28 spricht Christus ebenfalls davon und macht uns darauf aufmerksam. Seine Worte beziehen sich nicht nur auf den konkreten Akt des Begehrens, sondern indirekt auch auf den Menschen der Begierde.
4. Warum können nun diese Worte aus der Bergpredigt trotz der Ähnlichkeit ihrer Aussage über das menschliche Herz<ref>Vgl. auch Mt 5, 19-20.</ref> mit dem, was in der Hermeneutik der genannten »Meister des Argwohns« vorliegt, nicht als Basis für eine solche oder eine ähnliche Hermeneutik angesehen werden? Und wieso bilden sie den Ausdruck, die Darstellung eines völlig anderen Ethos? Verschieden nicht nur vom manichäischen, sondern auch vom Ethos Freuds? Ich meine, die Gesamtheit der bisher vorgenommenen Analysen und Betrachtungen gibt Antwort auf diese Frage. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Worte Christi bei Matthäus 5. 27-28 nicht zulassen, dass wir nur Anklage gegen das menschliche Herz erheben und es ständig verdächtigen. Sie müssen vielmehr vor allem als ein Anruf und Aufruf an dieses Herz verstanden und interpretiert werden. Dies ergibt sich aus dem Wesen des Ethos der Erlösung. Aufgrund dieses Geheimnisses, das der hl. Paulus als »Erlösung des Leibes« bezeichnet (Röm 8, 23), aufgrund jener Wirklichkeit, die Erlösung genannt wird, und damit aufgrund des Ethos der Erlösung des Leibes können wir das menschliche Herz nicht wegen der sinnlichen Begierde und des Begehrens des Fleisches ausschließlich anklagen. Der Mensch darf nicht stehenbleiben bei der ständigen und gnadenlosen Anklage des Herzens wegen der Äußerungen des fleischlichen Begehrens und der Libido, die der Psychoanalytiker des Unbewussten aufdeckt.<ref>Vgl. z. B. eine charakteristische Stelle aus dem letzten Werk Freuds: »Den Kern unseres Wesens bildet also das dunkle Es, das nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt und auch unserer Kenntnis nur durch die Vermittlung einer anderen Instanz zugänglich wird. In diesem Es wirken die organischen Triebe, selbst aus Mischungen von zwei Urkräften (Eros und Destruktion) in wechselnden Ausmaßen zusammengesetzt und durch ihre Beziehung zu Organen oder Organsystemen voneinander differenziert. Das einzige Streben dieser Triebe ist das nach Befriedigung, die von bestimmten Veränderungen an den Organen mit Hilfe von Objekten der Außenwelt erwartet wird« (S. Freud, Abriß der Psychoanalyse, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M./ Hamburg, 19554, S. 74-75).
Demnach wäre also jener »Kern« oder das »Herz« des Menschen von der Verbindung zwischen dem Geschlechtstrieb und jenem Trieb der Destruktion beherrscht, und das Leben bestünde in der Befriedigung dieser Triebe.</ref> Die Erlösung ist eine Wahrheit und Wirklichkeit, in deren Namen der Mensch sich aufgerufen, »bewusst aufgerufen« fühlen soll. Er muss diesen Aufruf auch in den Worten Christi bei Matthäus 5, 27-28 beachten und sie wieder im Gesamtzusammenhang der Offenbarung des Leibes lesen. Der Mensch muss sich aufgerufen fühlen, die bräutliche Bedeutung des Leibes wieder zu entdecken, ja sie zu verwirklichen und so die innere Freiheit der Hingabe, also jene geistige Haltung und Kraft zum Ausdruck zu bringen, die Folge der Beherrschung des fleischlichen Begehrens sind.
5. Dazu wird der Mensch vom Wort des Evangeliums, also von »außen« aufgerufen, zugleich aber ergeht auch von »innen« ein Aufruf an ihn. Die Worte Christi, der sich in der Bergpredigt auf das Herz beruft, führen den Hörer gewissermaßen zu diesem inneren Anruf. Wenn er dem zustimmt, was sie in ihm bewirken sollen, kann er gleichzeitig in seinem Inneren sozusagen den Widerhall jenes »Anfangs«, jenes guten Anfangs vernehmen, auf den sich Christus an anderer Stelle berief, um seine Hörer daran zu erinnern, wer der Mann und wer die Frau und was sie füreinander im Schöpfungswerk sind. Die Worte Christi in der Bergpredigt sind kein ins Leere gesprochener Aufruf. Sie richten sich nicht an den Menschen, der ganz und gar der fleischlichen Begierde ausgeliefert und unfähig ist, nach einer anderen Form der ewigen gegenseitigen Anziehungskraft zu suchen, welche »von Anfang an« zur Geschichte des Mannes und der Frau gehören. Die Worte Christi bezeugen, dass die ursprüngliche Kraft (also auch die Gnade) des Schöpfungsgeheimnisses für jeden Menschen zur Kraft (und das heißt zur Gnade) des Geheimnisses der Erlösung wird. Das bezieht sich auf die eigentliche Natur, den Urgrund des Menschseins der Person, die tiefsten Impulse des Herzens. Empfindet der Mensch außer der Begierde nicht etwa ein tiefes Bedürfnis, die Würde der gegenseitigen Beziehungen zu bewahren, die eben aufgrund der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit des Leibes ihren Ausdruck in eben diesem Leib finden? Fühlt er nicht das Bedürfnis, diese mit allem Edlen und Schönen zu durchdringen? Fühlt er nicht das Bedürfnis, ihnen den höchsten Wert zu verleihen, der eben die Liebe ist?
6. Wenn man diesen Appell, den die Worte Christi in der Bergpredigt enthalten, aufs neue liest, versteht man, dass er kein vom konkreten Dasein losgelöster Akt sein kann. Das bedeutet immer . wenn auch nur in der Dimension des Aktes, auf den es sich bezieht - die Wiederentdeckung des Sinnes des gesamten Daseins, des Sinnes des Lebens, in der auch die Bedeutung des Leibes enthalten ist, die wir »bräutlich« (»hochzeitlich«) nennen. Diese Bedeutung des Leibes ist gewissermaßen die Antithese der Libido Freuds.
Der Sinn des Lebens steht im Widersprach zur Hermeneutik des »Argwohns«. Diese Hermeneutik unterscheidet sich sehr, ja grundlegend von jener, die wir in den Worten Christi in der Bergpredigt finden. Diese Worte verraten nicht nur ein anderes Ethos, sondern auch eine andere Sicht der Möglichkeiten des Menschen. Es kommt darauf an, dass er sich gerade in seinem Herzen nicht unwiderruflich angeklagt und der Begierde des Fleisches preisgegeben, sondern energisch angerufen fühlt. Angerufen zu jenem höchsten Wert, der die Liebe ist. Angerufen als Person in der Wahrheit seines Menschseins, also auch in der Wahrheit seines Mannbzw. Frauseins, in der Wahrheit seines Leibes. Angerufen in jener Wahrheit, die Erbe von »Anfang« an, Erbe seines Herzens ist und tiefer reicht als die ererbte Sündhaftigkeit, tiefer als die dreifache Begierde. Die Worte Christi, die in die gesamte Wirklichkeit der Schöpfung und Erlösung eingeordnet sind, machen jenes tiefere Erbe aktuell und verleihen ihm wahre Kraft.
Eros und Ethos begegnen sich 5. 11. 1980, OR 80/46
1. Im Verlauf unserer wöchentlichen Betrachtungen über die Aussage Christi in der Bergpredigt, wo er im Hinblick auf das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« die Begehrlichkeit (den begehrlichen Blick) mit dem im Herzen begangenen Ehebruch vergleicht, suchen wir eine Antwort auf die Frage: Klagen diese Worte das menschliche Herz nur an, oder sind sie vor allem ein an dieses Herz gerichteter Appell, selbstverständlich ein ethischer Appell, ein wichtiger und wesentlicher Aufruf zum Ethos des Evangeliums? Wir antworten, dass die genannten Worte vor allem ein Anruf sind.
Zugleich versuchen wir, unsere Überlegungen den Wegen näherzubringen, die das Bewusstsein des heutigen Menschen durchläuft. Bereits im vorausgegangenen Zyklus unserer Betrachtungen haben wir auf den Eros hingewiesen. Dieser griechische Ausdruck, der von der Mythologie in die Philosophie, dann in die Literatursprache und schließlich in die Alltagssprache überging, ist der Sprache der Bibel im Gegensatz zum Wort Ethos fremd und unbekannt. Wenn wir bei unserer jetzigen Auslegung der biblischen Texte den der Septuaginta und dem Neuen Testament bekannten Begriff Ethos verwenden, tun wir das aufgrund der allgemeinen Bedeutung, die er in Philosophie und Theologie gewonnen hat, wobei er inhaltlich die vom menschlichen Willen abhängigen und den Gesetzen des Gewissens und dem Empfinden des menschlichen Herzens unterworfenen Bereiche von Gut und Böse einschließt. Der Begriff Eros ist nicht nur die Bezeichnung für eine mythologische Person, er hat in den Schriften Platons auch philosophische Bedeutung.<ref>Nach Platon ist es dem Menschen, der zwischen der Welt der Sinne und der Welt der Ideen steht, bestimmt, von der ersten Welt in die zweite aufzusteigen. Die Welt der Ideen allein ist jedoch nicht imstande, die Welt der Sinne zu überwinden: das vermag nur der Eros, der dem Menschen angeboren ist. Wenn der Mensch durch die Betrachtung der in der Welt der Sinne befindlichen Dinge das Vorhandensein der Ideen zu ahnen beginnt, empfängt er den Impuls vom Eros, das heißt vom Verlangen nach den reinen Ideen. Der Eros ist in der Tat die Ausrichtung des »sinnlichen« bzw. »sinnenhaften« Menschen auf das Transzendente: die Kraft, welche die Seele auf die Welt der Ideen hinlenkt. Im Symposion beschreibt Platon die Stufen dieses Einflusses des Eros: er erhebt die Seele des Menschen vom Schönen eines einzelnen Körpers zum Schönen aller Körper, dann zum Schönen der Wissenschaft und schließlich zur Idee des Schönen selbst (vgl. Symposion 211, Staat 514).
Der Eros ist weder rein menschlich noch göttlich: er ist ein Zwischending (»daimonion«) und hat eine Vermittlerfunktion. Sein Hauptmerkmal ist das ständige Sehnen und Verlangen. Selbst wenn er zu beschenken scheint, bleibt der Eros ein Verlangen, zu besitzen; demnach unterscheidet er sich von der rein sinnlichen Liebe, da er die Liebe ist, die nach dem Höchsten strebt. Nach Platon lieben die Götter nicht. Sie verspüren kein Verlangen, weil ihre Wünsche bereits befriedigt sind. Sie können daher lediglich Objekt, aber nicht Subjekt der Liebe sein (Symposion, 200-201). Sie haben daher keine direkte Beziehung zum Menschen; nur durch den Eros wird eine Beziehung hergestellt (Symposion 203). Der Eros ist somit der Weg, der den Menschen zum Göttlichen führt, aber nicht umgekehrt.
Die Sehnsucht nach der Transzendenz ist also ein Wesenselement des platonischen Eros-Begriffes, eine Vorstellung, die den radikalen Dualismus der Welt der Ideen und der Welt der Sinne überwindet. Der Eros ermöglicht den Übergang von der einen in die andere Welt. Er ist also eine Art Flucht über die materielle Welt hinaus, auf welche die Seele verzichten muss, weil das Schöne der sinnfälligen Dinge nur Wert besitzt, sofern es in die Höhe führt.
Demnach bleibt der Eros für Platon immer die egozentrische Liebe: sie strebt danach, den Gegenstand zu erobern und zu besitzen, der für den Menschen wertvoll ist. Das Gute lieben heißt, es immer besitzen zu wollen. Die Liebe ist also stets ein Verlangen nach Unsterblichkeit, und auch das beweist den egozentrischen Charakter des Eros (vgl. A. Nygren, Eros et Agape. La notion chrétienne de l'amour et ses transformations, I, Paris, 1962, S. 180-200).
Für Platon ist der Eros ein Übergang von der elementaren zur tieferen Wissenschaft und zugleich das Verlangen, von »dem, was nicht ist« - also dem Bösen -, zu dem aufzusteigen, was »in Fülle existiert«: also dem Guten (vgl. Max Scheler, Liebe und Erkenntnis, Amour et connaissance, in: »Le sens de la souffrance, suivi de deux autres essais«, Paris, S. 145).</ref> die sich allem Anschein nach von der allgemein üblichen Bedeutung und auch von jener, die ihm gewöhnlich in der Literatur beigemessen wird, unterscheidet. Natürlich müssen wir hier die weite Skala der Bedeutungen in Betracht ziehen, die sich in Nuancen voneinander unterscheiden, sowohl was die mythologische Gestalt als auch den philosophischen Gehalt und vor allem den Gesichtspunkt des Körpers bzw. des Geschlechts betrifft. Unter Berücksichtigung einer so breiten Bedeutungsskala muss man ebenso differenziert das betrachten, was mit dem Eros verbunden und als »erotisch« bezeichnet wird.<ref>Vgl. z. B. C. S. Lewis, Eros, in: The Four Loves, New York, 1960, S. 131-133, 152, 159-160; P. Chauchard, Vices des vertus, vertus des vices, Paris, 1965, S. 147.</ref>
2. Nach Platon ist der Eros die innere Kraft, die den Menschen zu allem hinzieht, was gut, wahr und schön ist. Diese Anziehung weist in unserem Fall auf die Intensität eines subjektiven Aktes des menschlichen Geistes hin. In der gängigen Bedeutung hingegen - wie auch in der Literatur - scheint diese Anziehung vor allem sinnenhafter Art zu sein. Der Eros weckt in den beiden Personen, in Mann und Frau, die Neigung, sich einander zu nähern bis zur körperlichen Vereinigung, zu jener Vereinigung, von der Genesis 2, 24 spricht. Es geht um eine Antwort auf die Frage, ob Eros hier die gleiche Bedeutung hat wie in der biblischen Erzählung (vor allem in Gen 2, 23-25), wo zweifellos die gegenseitige Anziehung und die bleibende Berufung der menschlichen Person - aufgrund ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit - zu jenem »Einswerden im Fleisch« bezeugt ist, das zugleich die Einheit und Gemeinschaft der Personen verwirklichen soll. Mit dieser Deutung des Eros (und seiner Beziehung zum Ethos) gewinnt auch die Art und Weise, wie wir die »Begierde« verstehen, von der in der Bergpredigt die Rede ist, grundsätzliche Bedeutung.
3. Der gewöhnliche Sprachgebrauch, so hat es den Anschein, hat vorwiegend jene Bedeutung der Begierde im Auge, die wir zuvor als »psychologisch« bezeichnet haben und die man auch »sexualwissenschaftlich« nennen könnte, und das aufgrund von Voraussetzungen, die sich in erster Linie auf die naturalistische, somatische und sensualistische Deutung der menschlichen Erotik beschränken. (Wir wollen hier in keiner Weise den Wert der wissenschaftlichen Forschungen auf diesem Gebiet verringern, es soll nur auf die Gefahr eines allzu einschränkenden und ausschließlichen Gesichtspunktes hingewiesen werden.) Im psychologischen oder sexualwissenschaftlichen Sinn also verweist die Begierde auf die subjektive Intensität der Hinwendung zum Objekt um seines sexuellen Charakters (sexuellen Wertes) willen. Diese Hinwendung erhält ihre subjektive Intensität aufgrund der spezifischen Anziehung, die ihren Einfluss auf die emotionale Sphäre des Menschen und seine Körperlichkeit (also sein körperliches Mannbzw. Frausein) ausweitet. Wenn in der Bergpredigt von der »Begehrlichkeit« des Mannes die Rede ist, der »eine Frau lüstern ansieht«, dann beziehen sich diese Worte - psychologisch (sexualwissenschaftlich) verstanden - auf den Bereich jener Erscheinungen, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch »erotisch« genannt werden. Bei der Aussage von Matthäus 5, 27-28 handelt es sich nur um einen inneren Akt, während als »erotisch« vor allem jene Formen des Handelns und gegenseitigen Verhaltens von Mann und Frau bezeichnet werden, die die äußere Bekundung dieser inneren Handlungen sind. Dennoch scheint sicher zu sein, dass man bei einer solchen Argumentation praktisch ein Gleichheitszeichen setzen muss zwischen »erotisch« und dem, was »aus der sinnlichen Begierde stammt« (und der Befriedigung des fleischlichen Begehrens dient). Wäre das der Fall, so würden die Worte Christi bei Matthäus 5, 27-28 ein negatives Urteil über das Erotische bedeuten und, an das menschliche Herz gerichtet, zugleich eine strenge Warnung vor dem Eros.
4. Doch wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der Eros eine Vielzahl von Bedeutungsunterschieden aufweist. Will man also das Verhältnis der Aussage in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) zum weiten Bereich des Erotischen bestimmen, das heißt jener Handlungen und Verhaltensweisen, durch die Mann und Frau einander nahekommen und sich so vereinigen, dass sie »ein Fleisch werden« (vgl. Gen 2, 24), muss man die vielen Bedeutungsunterschiede des Eros beachten. Es scheint in der Tat möglich, dass der Begriff Eros in seiner platonischen Bedeutung Raum bietet für jenes Ethos, jene sittlichen und indirekt auch theologischen Inhalte, die wir im Zug unserer Analysen am Anruf Christi an das menschliche Herz in der Bergpredigt aufgezeigt haben. Auch die Kenntnis der vielfältigen Bedeutungsunterschiede des Eros und dessen, was die verschiedenen Erfahrungen, in denen der Mensch verschiedener Epochen, Gegenden und Kulturräume das Erotische umschreibt, kann uns ein neues und umfassendes Verständnis der Fülle des Herzens schenken, auf die Christus bei Matthäus 5, 27-28 hinweist.
5. Wenn wir annehmen, dass der Eros die innere Kraft bedeutet, die den Menschen zum Wahren, Guten und Schönen hinzieht, dann erkennt man, dass sich damit auch der Weg zu dem auftut, was Christus in der Bergpredigt ausdrücken wollte. Die Worte von Matthäus 5, 27-28 sind eine Anklage des menschlichen Herzens und zugleich und noch mehr ein an dieses Herz gerichteter Appell. Dieser Appell ist das eigentliche Ethos der Erlösung. Der Aufruf zu dem, was wahr, gut und schön ist, bedeutet im Ethos der Erlösung zugleich die Notwendigkeit, das zu überwinden, was von der dreifachen Begierde herrührt. Er kann und muss auch verändern, was von der fleischlichen Begierde belastet wurde. Weiter: wenn die Worte von Matthäus 5,27-28 diesen Aufruf bedeuten, dann heißt das, dass im erotischen Bereich Eros und Ethos nicht auseinandergehen, nicht zueinander im Gegensatz stehen, sondern dazu bestimmt sind, im menschlichen Herzen einander zu begegnen und Früchte zu tragen. Es ist des menschlichen Herzens wohl würdig, dass die Art und Weise des Erotischen zugleich die Ausdrucksweise des Ethos ist, also dessen, was ethisch ist.
6. Diese Feststellung ist sehr wichtig, sowohl für das Ethos als auch für die Ethik, denn mit diesem letztgenannten Begriff wird sehr oft eine negative Bedeutung in Verbindung gebracht, weil die Ethik Normen, Gebote und auch Verbote beinhaltet. Wir begnügen uns oft damit, die Worte der Bergpredigt über die Begierde (über den »begierlichen Blick«) ausschließlich als Verbot anzusehen, als Verbot im Bereich des Eros (also auf erotischem Gebiet). Sehr oft begnügen wir uns bloß mit diesem Verständnis und versuchen nicht, die wahrhaft tiefen und wesentlichen Werte freizulegen, die dieses Verbot verdeckt und somit sicherstellt. Es schützt diese Werte nicht nur, sondern macht sie auch zugänglich und legt sie frei, wenn wir lernen, ihnen unser Herz zu öffnen.
Das lehrt Christus uns in der Bergpredigt, und er lenkt das Herz des Menschen auf diese Werte hin.
Das Ethos muss zur bestimmenden Gestalt des Eros werden 12. 11. 1980, OR 80/47
1. Wir nehmen heute unsere in der vergangenen Woche begonnene Betrachtung über die Wechselbeziehung zwischen dem Ethischen und dem Erotischen wieder auf. Unsere Überlegungen folgen dem roten Faden der von Christus in der Bergpredigt verkündeten Worte, mit denen er an das Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« anknüpft und zugleich die Begierde (den »begehrlichen Blick«) als »im Herzen begangenen Ehebruch« bezeichnet. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass das Ethos mit der Entdeckung einer neuen Wertordnung verbunden ist. Es gilt, im Erotischen fortwährend die bräutliche Bedeutung des Leibes und die wahre Würde des Sich-Schenkens zu beachten. Hier liegt eine Aufgabe des menschlichen Geistes, eine Aufgabe, die ethischen und sittlichen Charakter hat. Wird diese Aufgabe nicht geleistet, können die Anziehungskraft der Sinne und die Leidenschaft des Körpers bei der reinen, von jedem ethischen Wert losgelösten Begierde stehenbleiben, und der Mensch, Mann und Frau, erfährt nicht jene Fülle des Eros, die den Aufschwung des menschlichen Geistes zum Wahren, Guten und Schönen bedeutet und wodurch auch das Erotische wahr, gut und schön wird. Das Ethos muss daher unbedingt zur bestimmenden Gestalt des Eros werden.
2. Solche Überlegungen sind eng mit dem Problem der Spontaneität verbunden. Sehr häufig meint man, gerade das Ethos entziehe dem, was im Leben und Verhalten des Menschen erotisch ist, die spontane Ursprünglichkeit; deshalb fordert man den Abschied vom Ethos »zum Vorteil« des Eros. Es könnte so scheinen, als ob auch die Worte der Bergpredigt diesem »Glück« hinderlich sind. Das ist eine wenn nicht irrige, so doch gewiß oberflächliche Meinung. Wenn wir sie akzeptieren und hartnäckig festhalten, erreichen wir nie den Eros in seiner Vollgestalt, und das wirkt sich unvermeidlich im Bereich der entsprechenden »Praxis« aus, also in unserem Verhalten und auch in der konkreten Werterfahrung. Wer das Ethos der Aussage von Matthäus 5, 27-28 bejaht, muss wissen, dass er auch zur vollen Reife der Spontaneität der Beziehungen berufen ist, die der immerwährenden Anziehungskraft der Männlichkeit und der Fraulichkeit entspringen. Wer die Antriebe des eigenen Herzens klug unterscheidet, gewinnt stufenweise gerade diese Spontaneität.
3. Die Worte Christi sind streng. Sie fordern vom Menschen, dass er bei den Beziehungen zu Personen des anderen Geschlechts sich voll und ganz seiner eigenen, vor allem inneren Haltungen bewusst ist; er muss sich der inneren Antriebe seines »Herzens« derart bewusst sein, dass er sie in reifer Weise erkennen und bewerten kann. Die Worte Christi fordern, dass der Mensch in diesem scheinbar ausschließlich dem Körper und den Sinnen, also dem äußeren Menschen zugehörigen Bereich tatsächlich ein innerer Mensch bleibt, dass er dem rechten Gewissen zu gehorchen weiß, dass er wirklich Herr seiner inneren Triebe zu sein vermag, gleich einem Wächter, der eine verborgene Quelle hütet; dass er schließlich imstande ist, bei all diesen Trieben sich für das zu entscheiden, was der »Reinheit des Herzens« entspricht, indem er gewissenhaft und konsequent den personalen Sinn der bräutlichen Bedeutung des Leibes aufbaut, der den Innenraum der freien Hingabe erschließt.
4. Wenn der Mensch also auf den Anruf bei Matthäus 5, 27-28 antworten möchte, muss er beharrlich und konsequent sich vertraut machen, was die Bedeutung des Körpers, des Frauund Mannseins, eigentlich ist. Er muss das lernen, und zwar nicht nur durch eine objektivierende Abstraktion (obgleich auch diese notwendig ist), sondern vor allem im Bereich der inneren Regungen des eigenen »Herzens«. Das ist eine »Wissenschaft«, die man wahrhaftig nicht ausschließlich aus Büchern lernen kann, weil es hier in erster Linie um ein vertieftes Erkennen des menschlichen Innern geht. Im Rahmen dieser Erkenntnis lernt der Mensch zwischen dem unterscheiden, was den mannigfaltigen Reichtum der Männlichkeit und der Weiblichkeit in den Zeichen ausmacht, die von ihrer ewigen Berufung und geschöpflichen Anziehungskraft herrühren, und dem, was allein das Zeichen der Begierde trägt. Und obgleich sich diese Varianten und Nuancen der inneren Regungen des Herzens in einem bestimmten Grad überschneiden, muss doch gesagt werden, dass der innere Mensch von Christus berufen ist, ein reifes und vollkommenes Urteil zu gewinnen, das ihn die verschiedenen Strömungen seines eigenen Herzens unterscheiden und werten lässt. Und man muss hinzufügen, dass diese Pflicht wirklich menschenwürdig ist. In der Tat hängt die Unterscheidung, von der wir hier sprechen, wesentlich mit der Spontaneität zusammen. Die subjektive Struktur des Menschen weist hier besonderen Reichtum und klare Differenzierung auf. Eines ist zum Beispiel eine edle Lust, ein anderes ist die sexuelle Begierde; wenn diese mit einer edlen Lust gepaart ist, unterscheidet sie sich von einer Begierde schlechthin. Ähnliches gilt von den unmittelbaren Reaktionen des Herzens: die sinnliche Erregung unterscheidet sich ganz und gar von der tiefen Gemütsbewegung, mit welcher nicht nur die Sensibilität, sondern auch die Geschlechtlichkeit auf den unverkürzten Ausdruck der Fraulichkeit bzw. Männlichkeit reagiert. Wir können diese Thematik hier nicht ausführlicher entwickeln. Aber es steht fest, dass, wenn wir die Worte Christi bei Matthäus 5, 27-28 als fordernd bezeichnen, sie dies auch in Bezug auf die tiefreichenden Ansprüche der menschlichen Spontaneität sind.
5. In allen Regungen und Trieben der rein fleischlichen Begierde kann es eine derartige Spontaneität nicht geben, da die Begierde als solche nicht von einer Entscheidung und damit auch nicht von einer Wertordnung abhängt. Nur wenn er die Triebe beherrscht, kann der Mensch zu jener tieferen und reiferen Spontaneität gelangen, mit der sein Herz durch Beherrschung der Instinkte die geistige Schönheit der Zeichenhaftigkeit des menschlichen Leibes in seiner Männlichkeit bzw. Fraulichkeit entdeckt. Da diese Entdeckung sich im Bewusstsein als Überzeugung und im Willen als Ausrichtung vertieft, sowohl für die mögliche Wahl als auch für die einfachen Begierden, wird das menschliche Herz sozusagen zum Teilhaber einer anderen Spontaneität, von der der »fleischliche Mensch« nichts oder nur wenig weiß. Zweifellos sind wir durch die Worte Christi bei Matthäus 5, 27-28 gerade zu einer solchen Spontaneität aufgerufen. Vielleicht ist der wichtigste Bereich der »Praxis« - was die mehr »inneren« Handlungen betrifft - eben jener, der stufenweise den Weg zu solcher Spontaneität vorzeichnet.
Das ist ein umfangreiches Thema, das wir künftig noch einmal werden aufgreifen müssen, wenn wir das wahre Wesen der »Reinheit des Herzens« im Evangelium erläutern werden. Für heute schließen wir mit dem Hinweis, dass die Worte der Bergpredigt, mit denen Christus die Aufmerksamkeit seiner damaligen und heutigen Zuhörer auf die Begierde (den »begehrlichen Blick«) lenkt, indirekt den Weg zu einer reifen Spontaneität des menschlichen Herzens weisen, die sein edles Verlangen und seine Sehnsüchte nicht erstickt, sondern im Gegenteil sie frei macht und in gewissem Sinn begünstigt.
Damit soll jetzt genügen, was wir über die Wechselbeziehung zwischen Ethischem und Erotischem nach dem Ethos der Bergpredigt gesagt haben.
Den »neuen Menschen« wiederfinden 3. 12. 1980, OR 80/50
1. Am Anfang unserer Überlegungen zu den Worten Christi in der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) haben wir festgestellt, dass sie eine tiefe ethische und anthropologische Bedeutung besitzen. Es geht hier um einen Abschnitt, in dem Christus an das Gebot erinnert: »Du sollst nicht die Ehe brechen«, und hinzufügt: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.« Wir sprechen von der ethischen und anthropologischen Bedeutung dieser Worte, weil sie auf die beiden eng zusammengehörigen Dimensionen des Ethos und des geschichtlichen Menschen anspielen. Im Verlauf unserer bisherigen Betrachtungen haben wir versucht, diese beiden Dimensionen zu beleuchten, wobei wir stets im Auge behielten, dass die Worte Christi an das Herz, also an den inneren Menschen gerichtet sind. Der innere Mensch ist das eigentliche Subjekt für das Ethos des Leibes, und mit dieser Wahrheit will Christus das Bewusstsein und den Willen seiner Zuhörer und Jünger prägen. Es geht zweifellos um ein neues Ethos. Es ist neu im Vergleich zum Ethos der Menschen des Alten Testaments, wie wir bereits in ausführlichen Darlegungen aufzuzeigen versucht haben. Es ist neu auch im Hinblick auf die Situation des geschichtlichen Menschen nach dem Sündenfall, also im Hinblick auf den »Menschen der Begehrlichkeit«. Es ist daher auch neu in seiner universalen Bedeutung und Tragweite. Dieses Ethos ist neu für jeden Menschen, unabhängig von jeder geographischen Länge und Breite und historischen Bestimmtheit.
2. Dieses neue Ethos, das aus der Sicht der Worte Christi in der Bergpredigt hervorgeht, haben wir schon mehrfach »Ethos der Erlösung« oder genauer »Ethos der Erlösung des Leibes« genannt. Wir folgten damit dem hl. Paulus, der im Römerbrief »die Sklaverei und Verlorenheit« (Röm 8, 21) und das Unterworfensein »unter die Vergänglichkeit« (ebd., 8, 20) - der die gesamte Schöpfung durch die Sünde ausgeliefert wurde - dem Verlangen nach der »Erlösung unseres Leibes« (ebd., 8, 23) gegenüberstellt. In diesem Zusammenhang spricht der Apostel vom Seufzen »der ganzen Schöpfung«, die »die Hoffnung hegt, dass auch sie von der Sklaverei und Verlorenheit befreit wird zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (ebd., 8, 20-21). Damit enthüllt Paulus die Lage eines jeden Geschöpfes und besonders die des Menschen nach dem Sündenfall. Kennzeichnend für diese Situation ist - zusammen mit dem neuen »Angenommenwerden als Söhne« (vgl. ebd., 8, 23) - das Streben nach der »Erlösung des Leibes«, die sich als Ziel, als eschatologische und reife Frucht des Mysteriums der von Christus vollbrachten Erlösung des Menschen und der Welt darbietet.
3. In welchem Sinn können wir also vom Ethos der Erlösung und besonders dem der Erlösung des Leibes sprechen? Wir müssen zugeben, dass im Zusammenhang der von uns betrachteten Worte der Bergpredigt (Mt 5, 27-28) diese Bedeutung bisher noch nicht in ihrer Fülle sichtbar geworden ist. Sie wird noch deutlicher, wenn wir andere Worte Christi aufgreifen, nämlich jene, wo er sich auf die Auferstehung bezieht (vgl. Mt 22, 30; Mk 12, 25; Lk 20, 35-36). Denn ohne Zweifel spricht Christus auch in der Bergpredigt aus der Sicht der Erlösung des Menschen und der Welt und damit der »Erlösung des Leibes«. Dies ist in der Tat die Perspektive des ganzen Evangeliums, der ganzen Lehre, ja der ganzen Sendung Christi. Und wenn auch der unmittelbare Zusammenhang der Bergpredigt das Gesetz und die Propheten als den für das Gottesvolk des Alten Bundes charakteristischen historischen Bezugspunkt nennt, dürfen wir doch nicht übersehen, dass in der Lehre Christi der grundlegende Bezug auf die Ehe und auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau auf den »Anfang« verweist. Ein solcher Hinweis lässt sich nur aus der Tatsache der Erlösung rechtfertigen; ohne die bliebe allein die dreifache Begierde oder jene »Sklaverei und Verlorenheit«, übrig, von welcher der Apostel Paulus schreibt (Röm 8, 21). Nur diese Sicht von der Erlösung her rechtfertigt den Hinweis auf den »Anfang«, das heißt die Sicht des Schöpfungsgeheimnisses in der Gesamtheit der Lehre Christi über Fragen der Ehe, des Mannes und der Frau und ihrer Beziehung zueinander. Die Worte bei Matthäus 5, 27-28 stehen also in der gleichen theologischen Perspektive.
4. In der Bergpredigt fordert Christus vom Menschen nicht die Rückkehr in den Zustand der ursprünglichen Unschuld, denn diesen Zustand hat die Menschheit unwiderruflich hinter sich gelassen; er ruft ihn vielmehr auf - aufgrund der ewigen und, man könnte sagen, unzerstörbaren Werte alles dessen, was menschlich ist -, die lebendigen Formen des »neuen Menschen« wiederzufinden. Auf diese Weise entsteht eine Verbindung, ja eine Kontinuität zwischen dem »Anfang« und der Sicht der Erlösung. Im Ethos der Erlösung des Leibes soll das ursprüngliche Ethos der Schöpfung neu verwirklicht werden. Christus ändert das Gesetz nicht, er bekräftigt vielmehr das Gebot: »Du sollst nicht die Ehe brechen«; gleichzeitig aber lenkt er Verstand und Herz der Zuhörer auf jene von Gott, dem Schöpfer und Gesetzgeber, gewollte »Fülle der Gerechtigkeit«, die dieses Gebot in sich schließt. Diese Fülle wird zurückgewonnen: zunächst durch eine innere Schau des Herzens, dann durch entsprechendes Leben und Verhalten. Der »neue Mensch« kann aus diesem Sein und Handeln in dem Maß entstehen, wie das Ethos des erlösten Leibes die Begierde des Fleisches und den ganzen Menschen in seiner Begehrlichkeit beherrscht. Christus weist mit aller Klarheit darauf hin, dass der Weg dorthin die maßvolle Beherrschung der Begierden sein muss, und zwar in der Wurzel, im rein inneren Bereich des Menschen (» . . . wer eine Frau lüstern ansieht. . .«). Das Ethos der Erlösung enthält in jedem Bereich - besonders im Bereich der Begehrlichkeit des Fleisches - das Gebot zur Selbstbeherrschung, die Notwendigkeit, in einem gegebenen Fall enthaltsam zu sein und gewohnheitsmäßig das rechte Maß zu halten.
5. Doch Mäßigung und Enthaltsamkeit bedeuten nicht, wenn man so sagen kann, ein »Hängenbleiben in der Leere«, weder in der Leere der Werte noch in der Leere des Subjekts. Das Ethos der Erlösung verwirklicht sich in der Selbstbeherrschung - durch die Mäßigung, das heißt durch die Enthaltsamkeit von den Begierden. In einem solchen Verhalten bleibt das menschliche Herz an den Wert gebunden, von dem es sich durch die Begierde sonst entfernen würde, weil es sich nach der bloßen, jeden sittlichen Wert entbehrenden Begierde ausrichtet (wie wir in der vorangegangenen Analyse ausgeführt haben). Im Ethos der Erlösung wird die Gebundenheit an jenen Wert durch einen Akt der Beherrschung mit einer noch tieferen Kraft und Festigkeit bestärkt bzw. wiederhergestellt. Es geht hier um den Wert der bräutlichen Bedeutung des Leibes, um ein erhellendes Zeichen. Durch dieses hat der Schöpfer - zusammen mit der ewigen gegenseitigen Anziehung von Mann und Frau kraft ihres Mann- bzw. Frauseins - in das Herz beider das Geschenk der Gemeinschaft geschrieben, also die geheimnisvolle Wirklichkeit ihrer Ebenbildlichkeit und Ähnlichkeit mit Gott. Um diesen Wert geht es bei der Selbstbeherrschung und der Mäßigkeit, und auf ihn weist Christus in der Bergpredigt hin (Mt 5, 27-28).
6. Dieser Akt kann weiterhin den Eindruck erwecken, das Subjekt »bliebe im Leeren hängen«. Besonders dann, wenn der Mensch sich zum ersten Mal dafür entscheiden muss, oder mehr noch, eine entgegengesetzte Haltung entstanden ist, d. h., wenn der Mensch der fleischlichen Begierde bisher gewohnheitsmäßig nachgegeben hat. Doch schon beim ersten Mal und erst recht dann, wenn er die Fähigkeit gewinnt, macht der Mensch schrittweise die Erfahrung seiner Würde und bezeugt durch seine Mäßigung, dass er sein eigener Herr ist; er beweist, dass er das wesenhaft Personale vollziehen kann. Außerdem erfährt er schrittweise die Freiheit der Hingabe, die einerseits Vorbedingung und anderseits Antwort des Individuums auf den bräutlichen Wert des menschlichen Körpers in seiner Weiblichkeit und Männlichkeit ist. So verwirklicht sich also das Ethos der Erlösung des Leibes durch die Selbstbeherrschung, durch die Zügelung der Begierden, wenn das menschliche Herz dieses Ethos bejaht oder es vielmehr durch sein unverkürztes Personsein bestätigt: wenn sich die tiefsten und trotzdem realsten Möglichkeiten und Anlagen der Person offenbaren, wenn ihre tiefsten Schichten nach oben kommen, denen die Begehrlichkeit des Fleisches dies sozusagen nicht gestatten möchte. Diese Schichten können auch dann nicht sichtbar werden, wenn das menschliche Herz dauernd argwöhnisch bleibt, wie die Freudsche Hermeneutik sagt. Sie können sich auch dann nicht kundtun, wenn im Bewusstsein eine manichäische Wertverneinung vorherrscht. Das Ethos der Erlösung hingegen gründet sich auf die Bejahung jener Schichten.
7. Weitere Überlegungen werden uns das bestätigen. Wenn wir nun unsere Betrachtungen über die so bedeutsame Botschaft Christi bei Matthäus 5, 27-28 abschließen, erkennen wir, dass darin das menschliche Herz vor allem aufgerufen und nicht angeklagt wird. Gleichzeitig müssen wir zugeben, dass das Bewusstsein der Sündhaftigkeit im geschichtlichen Menschen nicht nur ein notwendiger Ausgangspunkt ist, sondern auch eine unerläßliche Vorbedingung für sein Streben nach Tugend, nach Reinheit des Herzens, nach Vollkommenheit. Das Ethos der Erlösung des Leibes bleibt zutiefst im anthropologischen und axiologischen Realismus der Offenbarung verwurzelt. Wenn sich Christus hier an das Herz wendet, formuliert er seine Worte in konkretester Weise: der Mensch ist nämlich einmalig und unwiederholbar vor allem wegen seines Herzens, das ihn von innen her bestimmt. Das Herz ist gewissermaßen identisch mit dem Personsein des Menschen. Der Hinweis auf die Reinheit des Herzens, wie er in der Bergpredigt Ausdruck findet, ist jedenfalls eine Erinnerung an die ursprüngliche Einsamkeit, aus der der Mann durch sein Offenwerden für das andere menschliche Wesen, die Frau, befreit wurde. Die Reinheit des Herzens erklärt sich letzten Endes durch den Bezug zum anderen Subjekt, das ursprünglich und ewig mitberufen wurde.
Die Reinheit ist eine Forderung der Liebe. Sie ist Ausdruck der inneren Wahrhaftigkeit im Herzen des Menschen.
Reinheit kommt aus dem Herzen 10. 12. 1980, OR 80/51-52
1. Eine unerläßliche Ergänzung der von Christus in der Bergpredigt verkündeten Botschaft, auf die wir unsere gegenwärtigen Betrachtungen bezogen haben, ist eine Darstellung der Reinheit. Als Christus bei der Erklärung der rechten Bedeutung des Gebotes »Du sollst nicht die Ehe brechen« auf den inneren Menschen verwies, verdeutlichte er zugleich den grundlegenden Sinn der Reinheit, von der die gegenseitigen Beziehungen zwischen Mann und Frau in und außerhalb der Ehe gekennzeichnet sind. Die Worte: »Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28) drücken den Gegensatz zur Reinheit aus. Zugleich fordern diese Worte eine Reinheit, wie die Bergpredigt sie in der Formulierung der Seligpreisungen enthält: »Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5, 8). Auf diese Weise richtet Christus einen Appell an das Herz des Menschen: er spricht es an, aber er klagt es nicht an. Das haben wir bereits klargestellt.
2. Christus sieht im Herzen, im Innern des Menschen den Ursprung der Reinheit, aber auch der sittlichen Unreinheit, beide in der fundamentalen, allgemeinen Bedeutung des Wortes. Das wird zum Beispiel aus der Antwort an die Pharisäer deutlich, die sich darüber entrüsten, dass seine Jünger »die Überlieferung der Alten missachten, denn sie waschen sich nicht die Hände vor dem Essen« (Mt 15, 2). Jesus sagte darauf zu den Anwesenden: »Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein« (Mt 15, 11). Seinen Jüngern erklärte er diese Worte als Antwort auf die Frage des Petrus folgendermaßen: » . . . Was aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht; aber mit ungewaschenen Händen essen macht ihn nicht unrein« (Mt 15, 18-20; vgl. auch Mk 7, 20-23). Wenn wir von »Reinheit« und »rein« in der nächstliegenden Bedeutung dieser Begriffe sprechen, meinen wir den Gegensatz zum Unsauberen, Schmutzigen. Beschmutzen heißt unsauber machen oder beflecken. Das bezieht sich auf die verschiedenen Bereiche der physischen Welt. Wir sprechen zum Beispiel von einer schmutzigen Straße, einem schmutzigen Raum oder auch von verschmutzter Luft. So kann auch der Mensch »schmutzig« sein, wenn sein Körper nicht sauber ist. Um den Schmutz vom Körper zu entfernen, muss man sich waschen. In der Überlieferung des Alten Testaments legte man den rituellen Waschungen, z. B. dem Waschen der Hände vor dem Essen, von dem der angeführte Text spricht, große Bedeutung bei. Zahlreiche und genaue Vorschriften betrafen Waschungen des Körpers im Zusammenhang mit der ausschließlich physiologisch verstandenen sexuellen Unreinheit. Davon haben wir schon früher gesprochen (vgl. Lev 15). Nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft jener Zeit konnten die verschiedenen Waschungen Hygienevorschriften sein. Insofern sie im Namen Gottes auferlegt und in die Heiligen Bücher der alttestamentlichen Gesetzgebung aufgenommen worden waren, gewann ihre Beachtung indirekt religiöse Bedeutung; es waren rituelle Waschungen, die im Leben des Menschen im Alten Bund die rituelle »Reinheit« ausdrückten.
3. In Bezug auf die genannte juridisch-religiöse Tradition des Alten Bundes entstand ein falsches Verständnis von der sittlichen Reinheit.<ref>Neben einem umfassenden System von Vorschriften bezüglich der rituellen Reinheit, aus dem sich die Gesetzeskasuistik entfaltete, bestand jedoch im Alten Testament der Begriff einer sittlichen Reinheit in zwei Überlieferungsströmen. Die Propheten forderten ein dem Willen Gottes entsprechendes Verhalten, das von der Umkehr des Herzens, dem inneren Gehorsam und der völligen Redlichkeit ihm gegenüber ausgeht (vgl. z. B. Jes 1, 10-20; Jer 4, 14; 24, 7; Ez 36, 25 ff.). Eine ähnliche Haltung fordert auch der Psalmist: »Wer darf hinaufziehen zum Berg des Herrn . . .? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz ... Er wird Segen empfangen vom Herzen« (Ps 24, 3-5). Nach der Überlieferung der Priesterschrift ist sich der Mensch seiner tiefen Sündhaftigkeit bewusst; nicht in der Lage, die Reinigung mit eigenen Kräften zu vollziehen, bittet er Gott, jene Umwandlung des Herzens zu bewirken, die allein Werk seines schöpferischen Tuns sein kann: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz . . . wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee ... ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen« (Ps 51, 12.9.19). Beide Traditionen des Alten Testaments begegnen einander in der Seligpreisung derer, die »ein reines Herz haben« (Mt 5, 8), auch wenn ihre mündliche Formulierung näher dem 24. Psalm zu sein scheint (vgl. J. Dupont, Les béatitudes, vol. III: Les Evangelistes, Paris, 1973, Gabalda, S. 603-604).</ref> Man verstand diese oft in ausschließlich äußerlicher und materieller Weise. Jedenfalls verbreitete sich eine ausgesprochene Neigung zu einer solchen Interpretation. Dem trat Christus radikal entgegen: nicht, was »von außen« kommt, macht den Menschen unrein, kein »materieller« Schmutz macht den Menschen im sittlichen, das heißt inneren Sinn unsauber. Keine Waschung, auch keine rituelle kann von sich aus die sittliche Reinheit bewirken. Diese hat ihre ausschließliche Quelle im Inneren des Menschen: sie kommt aus dem Herzen. Wahrscheinlich dienten die diesbezüglichen Vorschriften des Alten Testaments (z. B. jene, die sich im Buch Leviticus 15, 16-24; 18, 1 ff., oder 12, 1-5 finden) außer hygienischen Zwecken auch dazu, dem, was in der menschlichen Person körperlich und geschlechtlich ist, eine gewisse Dimension der Innerlichkeit zu geben. In jedem Fall hütet sich Christus davor, die Reinheit im sittlichen Sinn mit der Physiologie und den entsprechenden körperlichen Vorgängen in Zusammenhang zu bringen. Im Sinn der oben angeführten Worte aus Matthäus 15, 18-20 gehört keiner der Aspekte der sexuellen »Unreinheit« im streng somatischen, biophysiologischen Sinn in die Definition der moralisch-ethischen Reinheit oder Unreinheit.
4. Die oben angeführte Aussage (Mt 15, 18-20) ist vor allem aus semantischen Gründen wichtig. Wenn wir von der Reinheit im moralischen Sinn, also von der Tugend der Reinheit sprechen, bedienen wir uns einer Analogie, nach welcher das sittlich Schlechte eben mit der Unreinheit verglichen wird. Sicherlich gehörte diese Analogie schon seit den ältesten Zeiten in den Bereich ethischer Begriffe. Christus greift sie wieder auf und bekräftigt sie in ihrem ganzen Umfang: »Was aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein.« Hier spricht Christus von jedem moralischen Übel, von jeder Sünde, das heißt von den Übertretungen der verschiedenen Gebote, und zählt »böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen« auf, ohne sich auf eine besondere Art von Sünde zu beschränken. Daraus geht hervor, dass der Begriff der »Reinheit« und der »Unreinheit« im moralischen Sinn vor allem ein allgemeiner und kein spezifischer Begriff ist: für den jedes sittlich Gute Ausdruck der Reinheit und jedes sittlich Schlechte der Unreinheit ist. Die Aussage von Matthäus 15, 18-20 bezieht die Reinheit nicht nur auf den Moralbereich im Zusammenhang mit dem Gebot »Du sollst nicht die Ehe brechen« und »Begehre nicht deines Nächsten Frau«, also auf jenen Bereich der Beziehungen zwischen Mann und Frau, soweit sie den Körper und die entsprechende Begierde betreffen. Ähnlich können wir die Seligpreisung der Bergpredigt, die an die Menschen »reinen Herzens« gerichtet ist, sowohl im allgemeinen als auch in jenem mehr besonderen Sinn verstehen. Allein der jeweilige Kontext erlaubt eine Abgrenzung und Präzisierung dieser Bedeutung.
5. Die weitere und allgemeine Bedeutung der Reinheit ist auch in den Briefen des hl. Paulus anzutreffen. Hier können wir schrittweise die Zusammenhänge erkennen, die ausdrücklich die Bedeutung der Reinheit auf den »somatischen« und »sexuellen« Bereich beschränken, also auf die Bedeutung jener Worte Christi in der Bergpredigt über die Begierde, die bereits »im begehrlichen Blick auf die Frau« zum Ausdruck kommt und mit einem »im Herzen begangenen Ehebruch« verglichen wird (vgl. Mt 5, 27-28). Der hl. Paulus ist nicht der Urheber der Worte über die dreifache Begierde. Diese finden sich, wie wir wissen, im ersten Johannesbrief. Man kann jedoch sagen, dass analog zu dem, was für Johannes (1 Joh 2, 16-17) im Innern des Menschen den Gegensatz zwischen Gott und der Welt bildet (zwischen dem, was »vom Vater« kommt, und dem, was »von der Welt« kommt) - im Johannesbrief entsteht der Gegensatz im Herzen und dringt in die Handlungen des Menschen als »Begierde der Augen, Begierde des Fleisches und Prahlen mit dem Besitz« -, der hl. Paulus im Christen einen anderen Gegensatz feststellt: bei Paulus besteht der Gegensatz und zugleich die Spannung zwischen dem »Fleisch« und dem »Geist« (gemeint ist der Heilige Geist): »Darum sage ich: Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen. Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, so dass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was ihr wollt« (Gal 5, 16-17). Daraus folgt, dass das Leben »nach dem Fleisch« im Gegensatz zum Leben »gemäß dem Geist« steht. »Denn alle, die vom Fleisch bestimmt sind, trachten nach dem, was dem Fleisch entspricht, alle, die vom Geist bestimmt sind, nach dem, was dem Geist entspricht« (Röm 8, 5).
In den weiteren Analysen werden wir versuchen zu zeigen, dass sich die Reinheit - die Reinheit des Herzens, von der Christus in der Bergpredigt gesprochen hat - in einem Leben aus dem Geist eigentlich erst verwirklicht.
»Nach dem Fleisch und nach dem Geist« 17. 12. 1980, OR 81/1
1. »Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch.« Diese Worte des hl. Paulus aus dem Galaterbrief (Gal 5, 17), mit denen wir vergangene Woche unsere Betrachtungen über die wahre Bedeutung der Reinheit abgeschlossen haben, wollen wir heute weiter vertiefen. Paulus denkt dabei an die im Inneren des Menschen, in seinem »Herzen« bestehende Spannung. Es handelt sich bei ihr nicht nur um den Leib (die Materie) und den Geist (die Seele) als zwei wesenhaft verschiedene anthropologische Komponenten, die von Anfang an das eigentliche Wesen des Menschen ausmachen. Dabei werden jene Kräfte vorausgesetzt, die sich im Menschen mit der Erbsünde gebildet haben und denen jeder geschichtliche Mensch unterworfen ist. Bei dieser Kräfteverteilung im Inneren des Menschen widersetzt sich der Körper dem Geist und gewinnt leicht Oberhand über ihn.<ref>»Paulus setzte nicht wie die Griechen >sündiges Fleisch< mit dem physischen Leib gleich . . . Fleisch ist bei Paulus nicht mit dem Geschlecht oder mit dem leiblichen Körper gleichzusetzen. Es kommt der hebräischen Auffassung von der physischen Persönlichkeit - dem Ich näher, das physische und psychische Elemente einschließt und Träger des äußeren Lebens und der tieferen Schichten der Erfahrung ist.
Es ist der Mensch in seinem Menschsein mit allen seinen Grenzen, der moralischen Schwachheit, der Verwundbarkeit, Geschöpflichkeit und Sterblichkeit, die das Menschsein einschließt ...
Der Mensch ist verwundbar sowohl dem Bösen wie Gott gegenüber: er ist Träger, Kanal, Wohnung, Tempel, Kampfplatz (alle diese Vergleiche gebraucht Paulus) des Guten und des Bösen. Was von ihm Besitz ergreifen, in ihm wohnen, ihn beherrschen soll - ob die Sünde, das Böse, der Geist, der jetzt in den Kindern des Ungehorsams wirksam ist, oder Christus, der Heilige Geist,Glaube und Gnade -, das muss jeder Mensch für sich entscheiden.</ref> Die paulinische Ausdrucksweise besagt jedoch noch mehr: hier scheint die Vorherrschaft des »Fleisches« gleichsam mit der dreifachen Begierde bei Johannes zusammenzufallen, die »von der Welt kommt«. In der Sprache der Paulusbriefe<ref>Dass er so wählen kann, lässt die andere Seite der Auffassung des Paulus von der menschlichen Natur, dem menschlichen Gewissen und dem menschlichen Geist erkennen« (R. E. O. White, Biblical Ethics, Exeter 1979, Paternoster Press, S, 135-138). Der Sinn des griechischen Wortes sarx, »Fleisch«, in den Briefen des Paulus hängt vom jeweiligen Zusammenhang des Briefes ab. So lassen sich z. B. im Galaterbrief mindestens zwei verschiedene Bedeutungen von sarx ausmachen.
Als Paulus an die Galater schrieb, kämpfte er gegen zwei Gefahren, die die junge Christengemeinde bedrohten. Einmal versuchten die bekehrten Juden die Heidenchristen zur Annahme der Beschneidung zu überreden, die im Judentum vorgeschrieben war. Paulus wirft ihnen vor, »sich des Fleisches zu rühmen«, das heißt, die Hoffnung erneut auf die Beschneidung des Fleisches zu setzen. In diesem Zusammenhang (Gal 3, 1-5, 12; 6, 12-18) bedeutet »Fleisch« also »Beschneidung« als Symbol einer neuerlichen Unterwerfung unter die Gesetze des Judentums.
Die zweite Gefahr erwuchs der jungen Kirche in Galatien aus dem Einfluss der »Pneumatiker«, die das Wirken des Heiligen Geistes eher als Vergöttlichung des Menschen denn als Kraft im ethischen Sinne verstanden. Das führte sie zu einer Unterbewertung der moralischen Grundsätze. In seinem Brief bezeichnet Paulus als »Fleisch« alles, was den Menschen zum Objekt seiner Begierde hinzieht und ihn mit dem verführerischen Versprechen eines scheinbar erfüllteren Lebens anlockt (vgl. Gal 5, 13-6, 10). Das »Fleisch« »prahlt« also gleichermaßen mit dem »Gesetz« wie auch mit dem Verstoß gegen dieses Gesetz, und in beiden Fällen verheißt es das, was es nicht erfüllen kann. Paulus unterscheidet ausdrücklich zwischen dem Objekt der Handlung und der sarx. Das Entscheidungszentrum liegt nicht im »Fleisch«: »Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen« (Gal 5, 16). Der Mensch verfällt der Knechtschaft des Fleisches, wenn er sich dem »Fleisch« und dem anvertraut, was es (im Sinne des »Gesetzes« bzw. des Verstoßes gegen das Gesetz) verheißt. (Vgl. F. Musner, Der Galaterbrief, Herders Theolog. Kommentar zum NT, IX; Freiburg 1974, S. 367; R. Jewett, Paul's Anthropological Terms. A Study of their use in Conflict Settings. Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, X; Leiden 1971, S. 95-106.)</ref> meint »Fleisch« nicht nur den »äußeren« Menschen, sondern auch den »innerlich« der »Welt« unterworfenen Menschen,<ref>Paulus hebt in seinen Briefen den dramatischen Charakter dessen hervor, was sich in der Welt abspielt. Weil die Menschen durch ihre Schuld Gott vergessen haben, »darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus« (Röm 1, 24); daher kommt auch die ganze moralische Unordnung, die das sexuelle Leben (ebd. 1, 24-27), den Ablauf des sozialen und wirtschaftlichen, ja selbst des kulturellen Lebens (ebd. 1, 29-32) entstellt; denn »sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (ebd. 1, 32).
Seitdem durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist (vgl. Röm 5, 12), »hat der Gott dieser Weltzeit das Denken der Ungläubigen verblendet. So strahlt ihnen der Glanz der Heilsbotschaft nicht auf, der Botschaft von der Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist« (2 Kor 4, 4); und darum wird auch »der Zorn Gottes vom Himmel herab offenbar wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (Röm 1, 18). Denn »die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes . . .; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Röm 8, 19-21), jener Freiheit, zu welcher »uns Christus befreit hat« (Gal 5, 1).
Der Begriff »Welt« hat beim hl. Johannes verschiedene Bedeutungen: in seinem ersten Brief ist die Welt der Ort, an dem sich die dreifache Begierde äußert (1 Joh 2, 15-16) und an dem die falschen Propheten und die Feinde Christi die Gläubigen zu verführen suchen; doch dank ihres Glaubens besiegen die Christen die Welt (ebd. 5, 4); denn die Welt und ihre Begierden vergehen, wer aber den Willen Gottes tut, lebt in Ewigkeit (vgl. ebd 2, 17). (Vgl. P. Grelot, »Monde«, in: Dictionnaire de Spiritualité, Ascétique et mystique, doctrine et histoire (fascicules 68-69), S. 1628 ff. - J. Mateos J. Barreto, Vocabulario teologico del Evangelio de Jüan, Madrid 1980, S. 211-215.)</ref> der gewissermaßen festgelegt ist auf jene Werte, die nur zur Welt gehören, und auf jene Ziele, welche die Welt dem Menschen aufzwingen kann: Werte, für die gerade der »fleischliche« Mensch empfänglich ist. So scheint die Sprache des Paulus den wesentlichen Inhalten des Johannes zu entsprechen, und die Sprache beider deutet etwas an, das auch mit verschiedenen Begriffen der heutigen Ethik und Anthropologie bestimmt wird, wie z. B. »humanistische Autarkie«, »Säkularismus« oder auch, allgemeiner, mit »Sinnlichkeit«. Der Mensch, der »nach dem Fleische« lebt, ist ein Mensch, der nur für das, was von »der Welt« kommt, ansprechbar ist: der Sinnenmensch, der Mensch der dreifachen Begierde. Das bestätigen seine Taten, wie wir gleich ausführen werden.
2. Ein solcher Mensch lebt sozusagen am Gegenpol dessen, was »der Geist will«. Der Geist Gottes will eine Wirklichkeit, die von der des Fleisches verschieden ist, er strebt nach einer anderen Wirklichkeit als jener, die das Fleisch anstrebt, und das bereits im Inneren des Menschen, an der eigentlichen Quelle des menschlichen Wollens und Tuns - »so dass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was ihr wollt« (Gal 5, 17). Paulus drückt das noch deutlicher aus, wenn er an anderer Stelle von dem Bösen schreibt, das er tut, obwohl er es nicht tun will, und von der Unmöglichkeit - oder besser der eingeschränkten Möglichkeit -, das Gute zu tun, das er tun möchte (vgl. Röm 7, 19). Ohne auf die Probleme einer genaueren Auslegung dieses Textes einzugehen, kann man sagen, dass die Spannung zwischen »Fleisch« und »Geist« zunächst immanent ist, auch wenn sie sich nicht auf diese Ebene beschränkt. Sie äußert sich in seinem Herzen als Kampf zwischen Gut und Böse. Dieses Begehren, von dem Christus in der Bergpredigt spricht (vgl. Mt 5, 27-28), bleibt, auch wenn es ein innerer Vorgang ist, in der Sprache des Paulus jedenfalls eine Äußerung des Lebens »nach dem Fleisch«. Zugleich lässt uns dieses Begehren erkennen, dass im Inneren des Menschen das Leben »nach dem Fleisch« im Widerstreit steht zum Leben »nach dem Geist« und dass dieses Leben »nach dem Geist« im gegenwärtigen Zustand des Menschen angesichts seiner ererbten Sündhaftigkeit ständig der Schwäche und Unzulänglichkeit des Fleisches ausgesetzt ist, dem es häufig nachgibt, wenn es nicht innerlich stark gemacht wird für das, »was der Geist will«. Wir können daraus schließen, dass die Worte des Paulus vom Leben »nach dem Fleisch« und »nach dem Geist« sowohl eine Synthese als auch ein Programm sind; und es gilt, sie in diesem Sinn auszulegen.
3.' Den Widerstreit zwischen dem Leben »nach dem Fleisch« und dem Leben »nach dem Geist« finden wir ebenfalls im Römerbrief. Auch hier (wie im Brief an die Galater) wird dieser Widerstreit im Zusammenhang der paulinischen Lehre über die Rechtfertigung aus dem Glauben, das heißt durch die Macht Christi, der durch den Heiligen Geist im Herzen des Menschen wirkt, dargestellt. Diesen Widerstreit treibt Paulus zur äußersten Konsequenz, wenn er schreibt: »Denn alle, die vom Fleisch bestimmt sind, trachten nach dem, was dem Fleisch entspricht, alle, die vom Geist bestimmt sind, nach dem, was dem Geist entspricht. Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nicht dem Gesetz Gottes und kann es auch nicht. Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit« (Röm 3, 5-10).
4. Es lässt sich klar erkennen, welche Gedanken Paulus in diesem Text aufgreift: er geht zum »Anfang«, das heißt hier zum Sündenfall zurück, von dem das Leben »nach dem Fleisch« seinen Ausgang nahm und der im Menschen eine erbliche Anfälligkeit geschaffen hat, einzig und allein ein Leben nach dem Fleische zu führen und damit dem Tod zu verfallen. Zugleich aber sieht Paulus die endgültige Überwindung von Sünde und Tod voraus, deren Zeichen und Vorwegnahme die Auferstehung Christi ist: »Er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, wird auch euren sterblichen Leib lebendig machen, durch seinen Geist, der in euch wohnt« (Röm 8, 11). In diesem eschatologischen Entwurf betont Paulus die Rechtfertigung in Christus bereits für den geschichtlichen Menschen, jeden Menschen von »gestern, heute und morgen«, in der Weltund Heilsgeschichte: eine Rechtfertigung, die für den inneren Menschen wesentlich und eben für jenes »Herz« bestimmt ist, auf das sich Christus bezog, als er von Reinheit und Lauterkeit im moralischen Sinn sprach. Diese Rechtfertigung aus dem Glauben bedeutet nicht nur einen Aspekt des göttlichen Heilsplans und der Heiligung des Menschen, sondern ist nach Paulus eine wirkliche Kraft, die im Menschen wirksam ist und sich in seinen Handlungen offenbart und ausdrückt.
5. Hören wir noch ein Zitat aus dem Galaterbrief: »Die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und ähnliches mehr . . . « (Gal 5,19-21). »Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung . . .« (Gal 5, 22-23). In der paulinischen Lehre steht das Leben »nach dem Fleisch« zum Leben »nach dem Geist« nicht nur im Inneren des Menschen, in seinem Herzen im Widerstreit: offensichtlich findet es ein weites und vielfältiges Betätigungsfeld. Paulus spricht einerseits von den »Werken«, die aus dem »Fleisch« kommen - man könnte sagen: von den Werken des Menschen, der »nach dem Fleisch« lebt -, anderseits spricht er von der »Frucht des Geistes«, d. h. von Handlungen,<ref>Die Exegeten weisen darauf hin, dass Paulus zwar bisweilen den Begriff »Frucht« auch auf die »Werke des Fleisches« anwendete (z. B. Röm 6, 21; 7, 5), jedoch niemals die »Frucht des Geistes« als »Werk« bezeichnete.
In der Tat sind für Paulus »die Werke« das eigene Handeln des Menschen (bzw. das, auf das Israel zu Unrecht seine Hoffnung setzt), für das er sich vor Gott wird verantworten müssen. Paulus vermeidet auch den Begriff »Tugend«, arete; er findet sich nur ein einziges Mal in ganz allgemeinem Sinn in Phil 4, 8. In der griechischen Welt hatte dieses Wort eine allzu anthropozentrische Bedeutung; besonders die Stoiker betonten das Ausreichende, bzw. die Autarkie der Tugend.
Hingegen unterstreicht der Ausdruck »Frucht des Geistes« das Handeln Gottes im Menschen. Diese »Frucht« wächst in ihm als Geschenk eines Lebens, dessen einziger Urheber Gott ist; der Mensch kann höchstens die geeigneten Bedingungen fördern, damit die Frucht wachsen und reifen kann. Die Frucht des Geistes - im Singular - entspricht in gewissem Sinne der »Gerechtigkeit« des Alten Testaments, die das ganze mit dem Willen Gottes übereinstimmende Leben bedeutet; sie entspricht in dieser Hinsicht auch der »Tugend« der Stoiker, die unteilbar war. Das erkennen wir z. B. in Eph 5, 9.11: »Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor . . . Habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht bringen . . .«
Doch unterscheidet sich die »Frucht des Geistes« sowohl von der »Gerechtigkeit« als auch von der »Tugend«, weil sie in allen ihren Äußerungen und Differenzierungen, die in den Tugendkatalogen aufscheinen, die Wirkung des Geistes ist, der in der Kirche Fundament und Wirkkraft des christlichen Lebens des Christen ist. (Vgl. H. Schlier, Der Brief an die Galater, Meyer's Kommentar, Göttingen 19715, S. 255-264; O. Bauernfeind, arete, in: Theological Dictionary of the New9Testament, ed. G. Kittel-G. Bromley, Bd. 1, Grand Rapids 1978 , S. 4601; W. Tatarkiewicz, Historia Filozofii, Bd. 1, Warschau 1970, S. 121; E. Kamiah, Die Form der katalogischen Paränese im Neuen Testament, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 7, Tübingen 1961, S. 14.)</ref> Verhaltensweisen und Tugenden, in denen der Mensch, der nach dem Geist lebt, sichtbar wird. Während wir es im ersten Fall mit einem Menschen zu tun haben, der der dreifachen Begierde ausgeliefert ist, die nach Johannes »von der Welt« stammt, haben wir im zweiten Fall das vor uns, was wir bereits früher das Ethos der Erlösung genannt haben. Dadurch sind wir jetzt in der Lage, Wesen und Struktur dieses Ethos voll zu deuten. Es wird ausgedrückt und bestätigt durch alles, was im Menschen, in seinem ganzen Tun und Verhalten Frucht der Herrschaft über die dreifache Begierde ist, über die Fleischeslust, die Augenlust und die Hoffart des Lebens, lauter Dinge, die man dem menschlichen Herzen mit Recht vorwerfen kann und mit denen man beim Menschen und seinem Innern ständig rechnen muss.
6. Wenn die Beherrschung im Bereich des Ethos sich als »Liebe, Freude, Frieden, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung« kundtut und verwirklicht - wie wir im Brief an die Galater lesen -, dann steht hinter diesen Realisierungen, diesen Verhaltensweisen, diesen sittlichen Tugenden jeweils eine Entscheidung, eine Anstrengung des Willens, die Frucht des menschlichen Geistes ist, der, vom Geist Gottes durchdrungen, sich in der Wahl des Guten kundtut. Um in der Sprache des Paulus zu sprechen: »Das Begehren des Geistes richtet sich gegen das Fleisch« (Gal 5, 17), und in diesem »Begehren« erweist er sich stärker als das »Fleisch« und als das von der dreifachen Begierde hervorgerufene Begehren. In diesem Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen erweist sich der Mensch dank der Macht des Heiligen Geistes stärker, der durch sein Wirken im menschlichen Geist erreicht, dass dessen Trachten gute Frucht bringt. Es handelt sich also nicht nur - und nicht so sehr - um »Werke« des Menschen als um »Früchte«, das heißt um Wirkungen des »Geistes« im Menschen. Und deshalb spricht Paulus von der »Frucht des Geistes«.
Ohne mit Hilfe der feinen Differenzierungen, mit denen uns die systematische Theologie (besonders seit Thomas von Aquin) ausgestattet hat, in die Strukturen der menschlichen Innerlichkeit eindringen zu wollen, beschränken wir uns auf die zusammenfassende Auslegung der biblischen Lehre, die uns den Unterschied und den Widerstreit von »Fleisch« und »Geist« im wesentlichen und ausreichend verstehen lässt. Wir haben gesehen, dass der Apostel zu den Früchten des Geistes auch die »Selbstbeherrschung« rechnet. Das sollten wir nicht vergessen, denn bei unseren weiteren Betrachtungen werden wir dieses Thema wieder aufgreifen, um es eingehender zu behandeln.
Die wahre Freiheit der Kinder Gottes 7. 1. 1981, OR 81/3
1. Was bedeutet die Feststellung: »Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch« (Gal 5, 17)? Im Rahmen unserer Überlegungen zur Reinheit des Herzens, von der das Evangelium spricht, scheint das eine wichtige, ja grundlegende Frage zu sein. Doch der Verfasser des Galaterbriefes breitet in diesem Zusammenhang einen noch weitreichenderen Horizont vor uns aus. In dieser Gegenüberstellung vom »Fleisch« und Geist (Geist Gottes) sowie von einem Leben »nach dem Fleisch« und einem Leben »nach dem Geist« ist die paulinische Theologie von der Rechtfertigung enthalten, das heißt der Ausdruck des Glaubens im anthropologischen und ethischen Realismus der von Christus gewirkten Erlösung, die Paulus in dem uns bereits bekannten Rahmen auch »Erlösung des Leibes« nennt. Nach dem Römerbrief (8, 23) hat die »Erlösung des Leibes« auch eine »kosmische« (auf die gesamte Schöpfung bezogene) Ausrichtung, aber in ihrem Zentrum steht der Mensch: der Mensch in seiner personalen Einheit von Geist und Leib. Und eben in diesem Menschen, in seinem Herzen und somit in seinem ganzen Verhalten, trägt die Erlösung Christi ihre Früchte durch jene Kräfte des Geistes, die die »Rechtfertigung« verwirklichen, das heißt, die bewirken, dass die Gerechtigkeit im Menschen »in Fülle zunimmt«, wie es uns die Bergpredigt vor Augen stellt (Mt 5, 20), also in dem Maße »zunimmt«, wie Gott selbst es gewollt hat und er es erwartet.
2. Bezeichnend ist, dass Paulus, wenn er von den »Werken des Fleisches« spricht (vgl. Gal 5, 11-21), nicht nur »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben . . . Trink- und Essgelage« aufzählt - also all das, was nach einem objektiven Verständnis den Charakter der »fleischlichen Sünden« und des mit dem Fleisch verbundenen sinnlichen Genusses besitzt, sondern dass er auch andere Sünden erwähnt, denen wir gewöhnlich nicht so leicht einen »fleischlichen« und »sinnlichen« Charakter zuschreiben, nämlich: »Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst ...« (Gal 5, 20-21). Nach unserem anthropologischen (und ethischen) Verständnis wären wir eher geneigt, alle hier aufgezählten »Werke« als »Sünden des menschlichen Geistes« und nicht als »fleischliche« Sünden zu bezeichnen. Nicht ohne Grund mögen wir in ihnen viel eher die Auswirkungen der »Augenlust« oder »der Hoffart des Lebens« als die Auswirkungen der »fleischlichen Begierde« erkennen. Dennoch bezeichnet sie Paulus als »Werke des Fleisches«. Das ist freilich nur vor dem Hintergrund jener umfassenderen (in gewissem Sinne metonymischen) Bedeutung zu verstehen, die der Begriff »Fleisch« in den paulinischen Briefen besitzt, ein Begriff, der nicht nur und nicht so sehr dem »menschlichen« Geist als vielmehr dem Heiligen Geist gegenübergestellt ist, der in der Seele (im Geist) des Menschen wirkt.
3. Es besteht also eine bezeichnende Übereinstimmung zwischen dem, was Paulus als »Werke des Fleisches« bezeichnet, und den Worten, mit denen Christus seinen Jüngern das erklärt, was er zuvor den Pharisäern über die gesetzliche »Reinheit« und »Unreinheit« gesagt hatte (vgl. Mt 15, 2-20). Nach den Worten Christi hat die wahre Reinheit (und auch die Unreinheit) im moralischen Sinn ihren Sitz im Herzen des Menschen und kommt aus dem Herzen. Als »unreine Werke« in ebendiesem Sinn werden nicht nur »Mord« und »Unzucht«, also die »Sünden des Fleisches« im eigentlichen Sinn, bezeichnet, sondern auch böse Gedanken . . ., Diebstahl, falsche Zeugenaussage, Verleumdung. Christus bedient sich hier, wie wir schon festgestellt haben, sowohl der allgemeinen als auch der besonderen Bedeutung des Wortes »Unreinheit« (und daher indirekt auch des Wortes »Reinheit«). Der hl. Paulus drückt sich analog aus: die Werke »des Fleisches« haben im paulinischen Text sowohl allgemeine als auch besondere Bedeutung. Alle Sünden sind Kundgabe des »Lebens nach dem Fleisch«, das im Gegensatz zum »Leben nach dem Geist« steht. Unserem Sprachgebrauch entsprechend sehen wir (übrigens zum Teil mit Recht) als »Vergehen des Fleisches« an, was in der paulinischen Aufzählung zu einer der vielen Äußerungen (oder Weisen) der »Werke des Fleisches« zählt und in diesem Sinn eines der Symptome, d. h. der Verwirklichung des Lebens »nach dem Fleisch« und nicht »nach dem Geist« ist.
4. Die Worte, die Paulus an die Römer schrieb: »Wir sind also nicht dem Fleisch verpflichtet, Brüder, so dass wir nach dem Fleisch leben müßten. Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müßt ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben« (Röm 8, 12-13), führen uns erneut die reiche Fülle der Bedeutungen vor Augen, die die Begriffe »Leib« und »Geist« für ihn haben. Doch die eigentliche Bedeutung der Aussage hat mahnenden Charakter und gilt somit für das Ethos des Evangeliums. Wenn Paulus von der Notwendigkeit spricht, die Werke des Leibes mit Hilfe des Geistes zu töten, drückt er genau das aus, wovon Christus in der Bergpredigt gesprochen hat, wo er auf das menschliche Herz hinweist und es auffordert, die Begierden zu beherrschen - auch jene, die sich im Blick des Mannes äußern, der sich auf eine Frau richtet, um die Begierde des Fleisches zu befriedigen. Dieses Überwinden oder, wie Paulus schreibt, »die Werke des Leibes mit Hilfe des Geistes töten« ist eine unerläßliche Vorbedingung für das »Leben nach dem Geist«, also das Leben, das im Gegensatz zum Tod steht, von dem er im selben Zusammenhang spricht. Das Leben »nach dem Fleisch« führt in der Tat zum Tod, das heißt, es bewirkt den Tod des Geistes.
Der Begriff »Tod« meint also nicht nur den leiblichen Tod, sondern auch die Sünde, welche die Moraltheologie später als »Todsünde« bezeichnet. In den Briefen an die Römer und an die Galater erweitert der Apostel ständig den Horizont von »Sünde und Tod« sowohl auf den Anfang der Geschichte des Menschen als auch auf deren Ende hin. Und deshalb stellt er nach Aufzählung der vielfältigen »Werke des Fleisches« fest, dass »wer so etwas tut, das Reich Gottes nicht erben wird« (Gal 5, 21). An anderer Stelle wird er mit gleichem Nachdruck schreiben: »Denn das sollt ihr wissen: Kein unzüchtiger, schamloser, habgieriger Mensch - das heißt kein Götzendiener - erhält ein Erbteil im Reich Christi und Gottes« (Eph 5, 5). Auch hier werden die Werke, die von der »Teilhabe am Reich Christi und Gottes« ausschließen - also die »Werke des Fleisches« -, als Beispiel und in allgemeiner Bedeutung aufgezählt, obwohl an erster Stelle die Sünden gegen die Reinheit im engeren Sinn stehen (vgl. Eph 5, 3-7).
5. Um den Gegensatz zwischen dem »Leib« und der »Frucht des Geistes« zu verdeutlichen, ist zu bedenken, dass Paulus in allem, was Äußerung des Lebens und des Verhaltens nach dem Geiste ist, zugleich eine Äußerung jener Freiheit sieht, zu der Christus »uns befreit hat« (Gal 5,1). So schreibt er: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Gal 5, 13-14). Wie wir bereits früher festgestellt haben, beherrscht der Gegensatz »Leib - Geist«, Leben »nach dem Fleisch« - Leben »nach dem Geist« zutiefst die ganze paulinische Lehre von der Rechtfertigung. Der Völkerapostel verkündet mit einzigartiger Überzeugungskraft, dass sich die Rechtfertigung des Menschen in Christus und durch Christus vollzieht. Der Mensch erlangt die Rechtfertigung im »Glauben, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5, 6), und nicht nur durch die Erfüllung der einzelnen Vorschriften des alttestamentlichen Gesetzes (besonders der Beschneidung). Die Rechtfertigung kommt somit »aus dem Geist« (Gottes) und nicht »aus dem Fleisch«. Er ermahnt daher die Empfänger seines Briefes, die falsche »fleischliche« Auffassung der Rechtfertigung aufzugeben und die wahre, das heißt »geistige« anzunehmen. In diesem Sinne fordert er sie auf, sich vom Gesetz frei zu machen, und noch mehr, für die Freiheit, zu der Christus »uns berufen hat«, frei zu werden.
So müssen wir also dem Gedanken des Apostels gemäß die Reinheit des Evangeliums, das heißt die Reinheit des Herzens, bedenken und vor allem verwirklichen - nach dem Maße jener Freiheit, zu der Christus »uns berufen hat«.
Freiheit, Reinheit und Heiligkeit 14. 1. 1981, OR 81/4
1. Im Brief an die Galater schreibt der hl. Paulus: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Gal 5, 13-14). Bereits vor einer Woche haben wir uns bei dieser Aussage aufgehalten; doch greifen wir sie heute in Bezug auf das Hauptthema unserer Überlegungen noch einmal auf.
Auch wenn sich der angeführte Abschnitt vor allem auf das Thema der Rechtfertigung bezieht, so ist der Apostel doch bestrebt, hier ausdrücklich die ethische Dimension der Gegenüberstellung von Leib und Geist, das heißt des Lebens »nach dem Fleisch« und des Lebens »nach dem Geist«, verständlich zu machen. Ja, er berührt gerade hier den wesentlichen Punkt, indem er die anthropologischen Wurzeln des Ethos im Evangelium aufdeckt. Denn wenn »das ganze Gesetz« (gemeint ist das Moralgesetz des Alten Testaments) »seine Erfüllung« im Gebot der Liebe findet, dann ist das neue Ethos des Evangeliums nichts anderes als ein Appell an die menschliche Freiheit, ein Appell zu ihrer vollen Verwirklichung und gewissermaßen zur vollen Nutzung der Anlagen des menschlichen Geistes.
2. Es könnte den Anschein erwecken, als stelle Paulus lediglich die Freiheit dem Gesetz und das Gesetz der Freiheit gegenüber. Eine vertiefte Analyse des Textes zeigt jedoch, dass der hl. Paulus im Brief an die Galater vor allem die sittliche Unterordnung der Freiheit unter das Element betont, in dem sich das ganze Gesetz erfüllt: nämlich unter die Liebe, die das höchste Gebot im Evangelium ist. »Christus hat uns befreit, damit wir frei bleiben«, genau in dem Sinn, in dem er uns die ethische (und theologische) Unterordnung der Freiheit unter die Liebe offenbar gemacht und die Freiheit mit dem Gebot der Liebe verbunden hat. So verstanden bedeutet die Berufung zur Freiheit (»Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder«, Gal 5, 13): dem Ethos, in dem sich das Leben »nach dem Geist« verwirklicht, Gestalt zu geben. Es besteht freilich auch die Gefahr, die Freiheit misszuverstehen, und hierauf weist Paulus mit aller Klarheit hin, wenn er in demselben Zusammenhang schreibt: »Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!« (ebd.).
3. Mit anderen Worten: Paulus warnt uns vor der Möglichkeit, die Freiheit zu missbrauchen, einem Missbrauch, welcher zu der von Christus vollzogenen Befreiung des menschlichen Geistes im Gegensatz stünde und jener Freiheit widerspräche, zu der »Christus uns befreit hat«. In der Tat hat Christus jene Freiheit verwirklicht und kundgetan, die ihre Fülle in der Liebe findet, also jene Freiheit, dank welcher wir »einander dienen«; mit anderen Worten: die Freiheit, die zur Quelle neuer Werke und eines Lebens »nach dem Geist« wird. Es kommt zum Gegensatz und in gewisser Weise zum Widerspruch eines solchen Gebrauchs der Freiheit, wenn sie für den Menschen zum Vorwand für ein Leben »nach dem Fleisch« wird. Die Freiheit wird dann zu einer Quelle von Werken und eines Lebens »nach dem Fleisch«. Sie ist nicht mehr die wahre Freiheit, zu der »uns Christus befreit hat«, und wird zu einem Vorwand für das »Fleisch«, zur Quelle (bzw. zum Werkzeug) einer besonderen Unterjochung durch Hochmut, Augenlust und Fleischeslust. Wer so - »nach dem Fleisch« lebt und sich wenn auch zum Teil unbewusst, doch nicht weniger wirksam - der dreifachen Begierde, besonders der Begierde des Fleisches, unterwirft, verliert die Fähigkeit zu jener Freiheit, zu der »uns Christus befreit hat«; er ist auch nicht mehr zur wahren Selbsthingabe fähig, die Frucht und Ausdruck solcher Freiheit ist. Darüber hinaus ist er nicht mehr zu jener Hingabe fähig, die in organischem Zusammenhang mit der Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter steht, über die wir bei unseren vorangegangenen Betrachtungen über das Buch der Genesis (vgl. Gen 2, 23-25) gesprochen haben.
4. So erlaubt uns die paulinische Lehre über die Reinheit - eine Lehre, in der wir den getreuen und echten Widerhall der Bergpredigt finden -, die dem Evangelium gemäße christliche »Reinheit und Lauterkeit des Herzens« umfassender zu sehen. Vor allem erlaubt sie uns, diese Reinheit des Herzens mit der Liebe zu verbinden, in der »das ganze Gesetz seine Erfüllung findet«. Ähnlich wie Christus kennt Paulus eine zweifache Bedeutung der »Reinheit« (bzw. der »Unreinheit«): einen allgemeinen und einen besonderen Sinn. Im ersten Fall ist alles »rein«, was sittlich gut ist, »unrein« hingegen alles, was sittlich schlecht ist. Das bestätigen klar die schon zitierten Worte Christi bei Mt 15, 18-20. In den Aussagen des Paulus über die »Werke des Fleisches«, die er der »Frucht des Geistes« gegenüberstellt, finden wir die Grundlage für ein analoges Verständnis unseres jetzigen Problems. Zu den »Werken des Fleisches« zählt Paulus das, was moralisch schlecht ist, während er alles, was moralisch gut ist, mit dem Leben »nach dem Geist« in Verbindung bringt. So ist eine der Äußerungen des Lebens »nach dem Geist« ein Verhalten, das jener Tugend entspricht, die Paulus im Galaterbrief eher indirekt zu erläutern scheint, von der er aber im ersten Brief an die Thessalonicher unmittelbar spricht.
5. In den Abschnitten des Galaterbriefes, die wir schon früher eingehender bedacht haben, zählt der Apostel an erster Stelle unter den »Werken des Fleisches« auf: »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben«; während er anschließend diesen Werken die »Frucht des Geistes« gegenüberstellt, spricht er nicht direkt von der »Reinheit«, sondern nennt nur die »Selbstbeherrschung«, die enkrateia. Diese »Selbstbeherrschung« kann man als eine Tugend verstehen, welche die Enthaltsamkeit im Bereich aller sinnlichen Begierden, vor allem auch im geschlechtlichen Bereich, meint. Sie steht daher im Gegensatz zu »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendem Leben«, auch zu »Trunksucht« und »Schwelgerei«. Man darf also annehmen, dass die paulinische »Selbstbeherrschung« das umfasst, was die Begriffe »Enthaltsamkeit« oder »Mäßigkeit« besagen, die der lateinischen temperantia entsprechen. In diesem Fall haben wir das bekannte Tugendsystem vor uns, das die spätere Theologie, insbesondere die Scholastik, gewissermaßen der Ethik des Aristoteles entlehnen wird. Doch mit Sicherheit bedient Paulus sich in seinem Text nicht dieses Systems. Wenn unter »Reinheit« das richtige Verhalten im Geschlechtsbereich entsprechend dem persönlichen Stand des einzelnen (und nicht notwendigerweise eine absolute Enthaltsamkeit im Geschlechtlichen) zu verstehen ist, dann ist diese »Reinheit« im paulinischen Begriff der »Selbstbeherrschung« oder enkrateia eingeschlossen. So finden wir in den paulinischen Texten nur eine allgemeine und indirekte Erwähnung der Reinheit, weil der Verfasser den »Werken des Fleisches«, wie »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben«, die »Frucht des Geistes«, das heißt die neuen Werke, in denen sich »das Leben nach dem Geist« kundtut, gegenüberstellt. Daraus dürfen wir schließen, dass eines dieser neuen Werke gerade die »Reinheit« ist: die Reinheit, die im Gegensatz zur »Unreinheit«, zur »Unzucht« und zum »ausschweifenden Leben« steht.
6. Aber schon im ersten Thessalonicherbrief behandelt Paulus ausdrücklich und unmissverständlich dieses Thema. Wir lesen dort: »Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. Das bedeutet, dass ihr die Unzucht meidet, dass jeder von euch lernt, mit seiner Frau in heiliger und achtungsvoller Weise zu verkehren,<ref>Ohne auf die detaillierten Diskussionen der Exegeten einzugehen, sei doch darauf hingewiesen, dass der griechische Ausdruck tò heautoû skeûos sich auch auf die Ehefrau beziehen kann (vgl. 1 Petr 3, 7).</ref> nicht in leidenschaftlicher Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen« (1 Thess 4, 3-5). Und dann: »Denn Gott hat uns nicht dazu berufen, unrein zu leben, sondern heilig zu sein. Wer das verwirft, der verwirft also nicht Menschen, sondern Gott, der euch seinen Heiligen Geist schenkt« (ebd., 7-8). Mögen wir es auch in unserem Text mit der allgemeinen Bedeutung der »Reinheit« zu tun haben, die hier mit der »Heiligung« gleichgesetzt wird (insofern die »Unreinheit« als Gegensatz der »Heiligung« bezeichnet wird), so zeigt doch der ganze Zusammenhang deutlich, um welche »Reinheit« bzw. »Unreinheit« es sich handelt, das heißt, worin also das besteht, was Paulus hier »Unreinheit« nennt und wie die »Reinheit« zur »Heiligung« des Menschen beiträgt. Es liegt daher nahe, dass wir in den Betrachtungen der kommenden Wochen den soeben zitierten Text aus dem ersten Thessalonicherbrief wieder aufgreifen.
Bewahrung des Leibes in Heiligkeit 28. 1. 1981, OR 81/6
1. Im 1. Thessalonicherbrief schreibt der hl. Paulus: » . . . Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. Das bedeutet, dass ihr die Unzucht meidet, dass jeder von euch lernt, seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren, nicht in leidenschaftlicher Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen« (1 Thess 4, 3-5). Einige Verse später fährt er fort: »Denn Gott hat uns nicht dazu berufen, unrein zu leben, sondern heilig zu sein. Wer das verwirft, der verwirft also nicht Menschen, sondern Gott, der euch seinen Heiligen Geist schenkt« (ebd., 4, 7-8). Über diese Worte des Apostels haben wir bei unserer Begegnung am 14. Januar gesprochen. Wir kommen jedoch heute noch einmal auf sie zurück, weil sie für unser Thema von besonderer Bedeutung sind.
2. Die Reinheit, von der Paulus im 1. Thessalonicherbrief spricht (4, 3-5.7-8), äußert sich darin, dass der Mensch »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise bewahrt, nicht in leidenschaftlicher Begierde«. In dieser Formulierung hat jedes Wort seine besondere Bedeutung und verdient daher eine entsprechende Erläuterung.
Zunächst ist die Reinheit eine »Fähigkeit«, das heißt - in der herkömmlichen Sprache der Anthropologie und Ethik - eine Haltung. Und in in diesem Sinn ist sie eine Tugend. Wenn diese Fähigkeit bzw. Tugend zur Enthaltsamkeit von der »Unzucht« führt, dann deshalb, weil der Mensch, der sie besitzt, gelernt hat, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren, nicht in leidenschaftlicher Begierde«. Es handelt sich hier um eine praktische Fähigkeit, die den Menschen in die Lage versetzt, in einer bestimmten Weise und nicht entgegengesetzt zu handeln. Um eine solche Fähigkeit oder Haltung auszuprägen, muss die Reinheit offensichtlich im Willen, im Fundament des bewussten Wollens und Handelns des Menschen gründen. Noch direkter sieht Thomas von Aquin in seiner Tugendlehre das Objekt der Reinheit in der Fähigkeit zum sinnenhaften Verlangen, das er »appetitus concupiscibilis« nennt. Ebendiese Fähigkeit gilt es, in besonderer Weise zu »beherrschen« und zu ordnen, dass sie imstande ist, in Übereinstimmung mit der Tugend zu handeln, damit man dem Menschen die »Reinheit« zuschreiben kann. Nach dieser Auffassung besteht die Reinheit vor allem in der Beherrschung der Regungen der sinnlichen Begierde, deren Gegenstand das Leibliche und Geschlechtliche im Menschen ist. Die Reinheit ist eine Form der Tugend der Mäßigung.
3. Der Text aus dem 1. Thessalonicherbrief (4, 3-5) macht deutlich, dass die Tugend der Reinheit nach der Auffassung des hl. Paulus auch in der Beherrschung und Überwindung der »leidenschaftlichen Begierde« besteht; dies besagt, dass zum Wesen der Reinheit notwendig die Fähigkeit zur Beherrschung der Antriebe der sinnlichen Begierde, also die Tugend der Mäßigung, gehört. Gleichzeitig lenkt der gleiche paulinische Text unsere Aufmerksamkeit auf eine andere Funktion der Tugend der Reinheit, auf eine andere, man könnte sagen, mehr positive als negative Dimension der Reinheit. Die Aufgabe der Reinheit, die der Verfasser des Briefes vor allem hervorzuheben scheint, ist nicht nur (und nicht so sehr) die Enthaltsamkeit von der »Unreinheit« und von dem, was zu ihr hinführt, also das Sich-Enthalten von »leidenschaftlichen Begierden«, sondern ebenso das Bewahren des eigenen Leibes und, indirekt, des Leibes des anderen »in Heiligkeit und Ehrbarkeit«.
Diese beiden Funktionen, die »Enthaltsamkeit« und das »Bewahren«, sind eng miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Denn es ist unmöglich, »den Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu bewahren«, wenn nicht jene Enthaltsamkeit »von der Unzucht« und von allem, was zu ihr hinführt, gegeben ist; man darf folglich annehmen, dass die Bewahrung des Leibes (des eigenen und, indirekt, des Leibes des anderen) »in Heiligkeit und Ehrbarkeit« jener Enthaltsamkeit ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert verleiht. Sie fordert ihrerseits die Überwindung von etwas, das im Menschen ist und das plötzlich in ihm aufsteigt als Neigung, als Reiz und auch als Wert, das vor allem im Bereich der Sinne wirksam ist, aber sehr oft nicht ohne Auswirkung auf die weiteren Dimensionen der menschlichen Person bleibt, besonders im affektiv-emotionellen Bereich.
4. Wenn man das alles betrachtet, so scheint es, dass die paulinische Vorstellung von der Tugend der Reinheit - eine Vorstellung, die der sehr plastischen Gegenüberstellung der »Enthaltsamkeit« (also der Mäßigung) und der »Bewahrung des Leibes in Heiligkeit und Ehrbarkeit« entspringt - zutiefst richtig, vollständig und entsprechend ist. Diese Vollständigkeit verdanken wir wahrscheinlich allein dem Umstand, dass Paulus die Reinheit nicht nur als Fähigkeit (das heißt als Haltung) der subjektiven Anlagen des Menschen sieht, sondern zugleich als eine konkrete Äußerung des Lebens »nach dem Geist«. In ihm wird die menschliche Fähigkeit innerlich von dem befruchtet und bereichert, was Paulus im Galaterbrief 5, 22 als »Frucht des Geistes« bezeichnet. Die Achtung, die im Menschen all dem gegenüber entsteht, was an ihm wie an jedem anderen Menschen, ob Mann oder Frau, körperlich und geschlechtsbezogen ist, erweist sich als die wesentlichste Kraft zur Bewahrung des Leibes »in Heiligkeit«. Um die paulinische Lehre von der Reinheit zu verstehen, muss man tief in die Bedeutung des Begriffes »Achtung« eindringen, die hier selbstverständlich als geistliche Kraft verstanden wird. Diese innere Kraft ist es denn auch, die der Reinheit als Tugend, das heißt als volle Fähigkeit des Verhaltens in dem ganzen Bereich Ausdruck verleiht, in dem der Mensch in seinem Inneren die vielfältigen Impulse der leidenschaftlichen Begierde erfährt und ihnen aus verschiedenen Gründen bisweilen unterliegt.
5. Zum besseren Verständnis des Gedankenganges des Verfassers des 1. Thessalonicherbriefes wird es gut sein, sich noch einen anderen Text vor Augen zu halten, den wir im 1. Korintherbrief finden. Dort entwirft Paulus seine großartige Lehre von der Kirche, wonach die Kirche der Leib Christi ist; er nimmt die Gelegenheit wahr, um den folgenden Gedankengang über den menschlichen Leib zu entwickeln: » . . . Nun aber hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach« (1 Kor 12, 18); und dann weiter: »Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre, und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen« (ebd. 12, 22-25).
6. Auch wenn das Thema des angeführten Textes eigentlich die Theologie der Kirche als Leib Christi ist, kann man doch zu diesem Abschnitt am Rande bemerken, dass Paulus durch seinen großartigen ekklesiologischen Vergleich (der in anderen Briefen wiederkehrt und auf den wir zu gegebener Zeit zurückkommen werden) zugleich zur Vertiefung der Theologie des Leibes beiträgt. Während er im 1. Thessalonicherbrief von der Bewahrung des Leibes »in Heiligkeit und Ehrbarkeit« schreibt, will er in dem soeben zitierten Abschnitt aus dem 1. Korintherbrief den menschlichen Leib als achtenswert herausstellen; man könnte auch sagen, er will die Empfänger seines Briefes die richtige Auffassung vom menschlichen Leib lehren. Dieses paulinische Verständnis des menschlichen Leibes im 1. Korintherbrief scheint also in engem Zusammenhang zu stehen mit den Empfehlungen im 1. Thessalonicherbrief: »Ein jeder bewahre seinen Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit« (1 Thess 4, 4). Das ist ein wichtiger, vielleicht der wesentliche Grundgedanke der Lehre des hl. Paulus von der Reinheit.
Achtung vor dem Leib 4. 2. 1981, OR 81/7
1. Bei unseren Betrachtungen am vergangenen Mittwoch über die Reinheit nach der Lehre des hl. Paulus haben wir auf den Text aus dem 1. Korintherbrief hingewiesen. Der Apostel stellt dort die Kirche als Leib Christi vor, was ihm Gelegenheit zu folgenden Gedanken über den menschlichen Körper gibt: » . . . Gott hat jedes einzelne Glied so in den Körper eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach . . . Gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre, und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen« (1 Kor 12, 18.22-25).
2. Die paulinische Beschreibung des menschlichen Leibes entspricht der Wirklichkeit, die ihn ausmacht, es ist also eine realistische Beschreibung. Der Realismus dieser Beschreibung hat einen leichten Einschlag von Wertung, die ihr einen zutiefst christlichen, dem Evangelium entsprechenden Wert verleiht. Es ist natürlich möglich, den menschlichen Körper zu beschreiben, seine Wirklichkeit mit der den Naturwissenschaften eigenen Objektivität auszudrücken; aber eine solche Beschreibung kann bei aller Genauigkeit ihrem Gegenstand nicht angemessen sein, da es sich nicht nur um den Organismus im somatischen Sinn handelt, sondern um den Menschen, der sich mit diesem Leib ausdrückt und in diesem Sinne der Leib selbst ist. So ist also in Anbetracht dessen, dass es sich um den Menschen als Person handelt, der Einschlag von Wertung bei der Beschreibung des menschlichen Körpers unerläßlich. Außerdem wird gesagt, wie gerecht diese Wertung ist. Sie ist eine der unvergänglichen Aufgaben und Themen aller Kultur: der Literatur, Bildhauerei, Malerei und auch des Tanzes, der Bühnenkunst und schließlich der Kultur des Alltagslebens im privaten und gesellschaftlichen Bereich. Ein Thema, das es verdiente, eigens behandelt zu werden.
3. Die paulinische Beschreibung aus dem 1. Korintherbrief (12, 18-25) hat natürlich keine wissenschaftliche Bedeutung, ist keine biologische Studie über den menschlichen Organismus oder über die Leiblichkeit des Menschen; von diesem Gesichtspunkt handelt es sich bloß um eine »vorwissenschaftliche«, knappe, nur aus wenigen Sätzen bestehende Beschreibung. Sie ist jedoch sicher genügend realistisch. Was jedoch ihre besonderen Züge betrifft, das, was in besonderer Weise ihren Platz in der Heiligen Schrift rechtfertigt, ist eben jene in die Beschreibung eingeflochtene realistisch erzählende Bewertung. Man kann mit Sicherheit sagen, dass eine solche Beschreibung ohne die ganze Wahrheit der Schöpfung und der Erlösung des Leibes, zu der sich Paulus bekennt und die er verkündet, nicht möglich wäre. Man kann auch behaupten, dass die paulinische Beschreibung des Leibes genau der geistlichen Achtung dem menschlichen Leib gegenüber entspricht, die ihm wegen der den Geheimnissen von Schöpfung und Erlösung innewohnenden »Heiligkeit« (vgl. 1 Thess 4, 3-5.7-8) gebührt. Die paulinische Beschreibung ist gleich weit von der manichäischen Verachtung des Körpers und den verschiedenen Äußerungen eines naturalistischen »Körperkultes« entfernt.
4. Der Verfasser von 1 Kor 12, 18-25 hat den menschlichen Leib in seiner ganzen Wirklichkeit vor Augen; also den Leib, der sozusagen von der ganzen Würde der Person durchdrungen ist. Es ist zugleich der Leib des geschichtlich gegebenen Menschen, von Mann und Frau, das heißt jenes Menschen, der nach dem Sündenfall sozusagen aus der Wirklichkeit jenes Menschen empfangen wurde, der die Erfahrung der Ur-Unschuld gemacht hatte. In den Worten des Paulus über die »weniger anständigen Glieder« des menschlichen Leibes wie auch über jene, die »wir für weniger edel ansehen«, oder jene, die »schwächer zu sein scheinen«, meinen wir, den Beweis für dasselbe Schamge fühl wiederzufinden, das die ersten Menschen, Mann und Frau, nach dem Sündenfall empfunden hatten. Diese Scham ist ihnen und allen Generationen des geschichtlich gegebenen Menschen als Folge der dreifachen Begehrlichkeit - besonders der fleischlichen Begierde - aufgeprägt. Und gleichzeitig findet sich in dieser Scham - wie bereits in den vorangegangenen Audienzen herausgestellt wurde - gewissermaßen ein Echo der Ur-Unschuld des Menschen: gleichsam ein Negativ des Bildes, dessen Positiv eben die Ur-Unschuld gewesen ist.
5. Die paulinische Beschreibung des menschlichen Leibes scheint unsere früheren Gedanken vollkommen zu bestätigen. Es gibt am menschlichen Körper die »weniger anständigen Glieder«, und zwar nicht aufgrund ihrer leiblichen Natur (denn die physiologische Beschreibung der Wissenschaft behandelt sämtliche Glieder und Organe des menschlichen Körpers »neutral«, mit der gleichen Objektivität), sondern allein und ausschließlich deshalb, weil es im Menschen selbst jene Scham gibt, die manche Glieder des Leibes als »weniger anständig« empfindet und dazu führt, sie so zu betrachten. Die gleiche Scham scheint auch dem zugrunde zu liegen, was der Apostel im 1. Korintherbrief schreibt: »Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre, und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand« (1 Kor 12,23). Man kann also sagen, dass gerade das Schamgefühl Achtung vor dem eigenen Leib hervorbringt: eine Achtung, deren Bewahrung Paulus im 1. Thessalonicherbrief (4, 4) fordert. Und diese Bewahrung des Leibes »in Heiligkeit und Ehrbarkeit« gilt als wesentlich für die Tugend der Reinheit.
6. Im Rückgriff auf die paulinische Beschreibung des menschlichen Körpers in 1 Kor 12, 18-25 wollen wir darauf hinweisen, dass nach dem Verfasser des Briefes jenes besondere Bemühen um Achtung des menschlichen Körpers und im besonderen seiner »weniger anständigen« und »weniger edlen« Glieder dem ursprünglichen Plan des Schöpfers bzw. jener Schau, von der das erste Buch der Genesis redet, entspricht: »Gott sah, dass alles, was er geschaffen hatte, gut war« (Gen 1, 31). Paulus schreibt: »Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen« (1 Kor 12, 24-25). Der »Zwiespalt im Leib«, infolgedessen manche Glieder für »schwächer«, »weniger anständig«, ja »weniger edel« gehalten werden, ist ein weiterer Ausdruck der Erscheinung für den inneren Zustand des Menschen nach dem Sündenfall, das heißt des geschichtlich gegebenen Menschen. Der Mensch der Ur-Unschuld, Mann und Frau, von denen wir in Genesis 2, 25 lesen, dass »sie nackt waren, sich aber nicht voreinander schämten«, empfanden noch nicht jenen »Zwiespalt im Leib«. Der objektiven Harmonie, die der Schöpfer dem Leib geschenkt hat und die Paulus als einträchtige Sorge der Glieder füreinander beschreibt (vgl. 1 Kor 12,25), entsprach eine ähnliche Harmonie im Innern des Menschen: die Harmonie des Herzens. Diese Harmonie oder, genauer, die »Reinheit des Herzens« ließ Mann und Frau im Zustand der Ur-Unschuld einfach (und auf eine Weise, die ursprünglich beide glücklich machte) die einigende Kraft ihrer Körper erleben, die sozusagen der »unverdächtige« Nährboden ihrer personalen Vereinigung oder »communio personarum« war.
7. Man sieht also, der Apostel verknüpft in 1 Kor 12, 18-25 seine Beschreibung des menschlichen Leibes mit dem Zustand des geschichtlich gegebenen Menschen. Am Anfang der Geschichte dieses Menschen steht die Erfahrung der Scham, verbunden mit dem Zwiespalt im Leib, mit dem Schamgefühl für diesen Leib (und besonders für jene Glieder, die leiblich die Männlichkeit und Weiblichkeit ausmachen). Doch in derselben Beschreibung gibt Paulus auch den Weg an, der (eben aufgrund des Schamgefühls) zur Änderung dieses Zustandes führen soll, bis zur schrittweisen Überwindung des Zwiespalts im Leib, zu einem Sieg, der sich im Herzen des Menschen vollziehen kann und muss. Ebendies ist der Weg der Reinheit oder der »Bewahrung des eigenen Leibes in Heiligkeit und Ehrbarkeit«. Auf die »Achtung«, von welcher der 1. Thessalonicherbrief (4, 3-5) handelt, kommt Paulus im ersten Korintherbrief (12, 18-25) zurück. Er verwendet einige gleichlautende Formulierungen, wenn er von der »Achtung« oder Wertschätzung gegenüber den »weniger edlen«, »weniger anständigen« Gliedern des Leibes spricht und »mehr Anstand« gegenüber dem empfiehlt, was beim Menschen für »weniger anständig« gilt. Diese Formulierungen charakterisieren näher jene »Achtung« vor allem im Bereich der menschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen gegenüber dem Leib; dies hat sowohl für den eigenen Körper als auch für die gegenseitigen Beziehungen Bedeutung (zumal die Beziehungen zwischen Mann und Frau, wenn auch nicht auf sie beschränkt). Für uns besteht kein Zweifel, dass die Beschreibung des menschlichen Leibes im ersten Korintherbrief für die gesamte paulinische Lehre von der Reinheit grundlegende Bedeutung besitzt.
Der Leib, Tempel des Heiligen Geistes 11. 2. 1981, OR 81/8
1. Bei unseren letzten Mittwochsbegegnungen haben wir zwei Abschnitte aus dem ersten Brief an die Thessalonicher (4, 3-5) bzw. aus dem ersten Korintherbrief (12, 18-25) erörtert, um aufzuzeigen, was uns an der Lehre des hl. Paulus über die moralisch, das heißt als Tugend verstandene Reinheit wesentlich erscheint. Wenn man beim Text aus dem ersten Thessalonicherbrief feststellen kann, dass die Reinheit in der Mäßigung besteht, so wird doch in diesem Text wie auch im ersten Korintherbrief die Bedeutung der »Achtung« hervorgehoben. Durch diese dem menschlichen Leib gebührende Achtung (und wir fügen hinzu, dass sie nach dem ersten Korintherbrief in Beziehung zur Scham gesehen wird) erweist sich die christliche Tugend der Reinheit in den Paulusbriefen als wirksamer Weg, sich von dem loszulösen, was im Menschenherzen Frucht der fleischlichen Begierde ist. Die Enthaltung von Unzucht, die die Bewahrung des Leibes in »Heiligkeit und Ehrbarkeit« einschließt, lässt den Schluss zu, dass nach der Lehre des Apostesl die Reinheit eine Fähigkeit ist, die sich auf die Würde des Körpers bezieht, das heißt auf die Würde der Person in Bezug zum eigenen Körper, zur Weiblichkeit oder Männlichkeit, die sich in diesem Körper ausprägt. Die als Fähigkeit verstandene Reinheit ist also Ausdruck und Frucht eines Lebens »nach dem Geist« in der vollen Bedeutung dieses Wortes, nämlich als neue Fähigkeit des Menschen, in der die Gabe des Heiligen Geistes Früchte trägt. Diese beiden Dimensionen der Reinheit - die ethische Dimension oder die Tugend und die charismatische Dimension oder die Gabe des Heiligen Geistes - sind in der Botschaft des Paulus gegeben und eng miteinander verknüpft. Das wird vom Apostel im 1. Korintherbrief besonders unterstrichen, wo er den Leib als »Tempel (also: Wohnung und Heiligtum) des Heiligen Geistes« bezeichnet.
2. »Oder wißt ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst« - sagt Paulus zu den Korinthern (1 Kor 6, 19), nachdem er sie zuvor mit großer Strenge in den sittlichen Forderungen der Reinheit unterwiesen hatte. »Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib« (ebd., 6, 18). Die besondere Eigenart der Sünde, die der Apostel hier anprangert, liegt darin, dass sie sich im Unterschied zu allen anderen Sünden »gegen den Leib« richtet (während die anderen Sünden »außerhalb des Leibes« bleiben). So finden wir also in der Terminologie des hl. Paulus die Begründung für die Formulierungen: »Sünden des Leibes« oder »fleischliche Sünden«. Es handelt sich gerade um Sünden im Gegensatz zu jener Tugend, kraft welcher der Mensch »den eigenen Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit« bewahrt (vgl. 1 Thess 4, 3-5).
3. Derartige Sünden bringen eine Entweihung des Leibes mich sich: sie berauben den Leib der Frau bzw. des Mannes der Achtung, die ihm aufgrund der Personwürde gebührt. Der Apostel geht jedoch noch weiter: für ihn ist die Sünde gegen den Leib auch »Entweihung des Tempels«. Bestimmend für die Würde des menschlichen Leibes ist in den Augen des hl. Paulus nicht nur der Geist des Menschen, durch den sich der Mensch als Person darstellt, sondern mehr noch die übernatürliche Wirklichkeit, das Wohnen und die dauernde Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen - in seiner Seele und in seinem Körper - als Frucht der von Christus vollbrachten Erlösung. Daraus folgt, dass der Leib des Menschen nun nicht mehr ausschließlich ihm gehört. Nicht nur deshalb, weil er Leib einer Person ist, verdient er jene Achtung, die Männer und Frauen sich beim gegenseitigen Umgang durch die Tugend der Reinheit erweisen. Wenn der Apostel schreibt: »Euer Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt« (1 Kor 6, 19), will er damit noch auf eine andere Quelle der Würde des Leibes hinweisen, nämlich auf den Heiligen Geist, der auch die Quelle der sittlichen Verpflichtung ist, die sich aus dieser Würde ergibt.
4. Für Paulus ist die Wirklichkeit der Erlösung, die ja auch »Erlösung des Leibes« ist, eine lebendige unmittelbar auf jeden Menschen bezogene Wirklichkeit. Durch die Erlösung hat jeder Mensch von Gott sich selbst und seinen Leib gleichsam neu empfangen. Christus hat dem menschlichen Leib - dem Leib jedes Mannes und jeder Frau - eine neue Würde verliehen, da in ihm der menschliche Leib zusammen mit der Seele in die Vereinigung mit der Person des Sohnes und menschgewordenen Wortes hineingenommen wurde. Aus dieser neuen Würde der »Erlösung des Leibes« ergab sich auch eine neue Verpflichtung, von welcher Paulus ganz knapp, aber um so ergreifender schreibt: »Denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden« (1 Kor 6, 20). Frucht der Erlösung ist in der Tat der Heilige Geist, der im Menschen und in seinem Leib wie in einem Tempel wohnt. In diesem Geschenk, das jeden Menschen heiligt, empfängt der Christ sich selbst aufs neue als Geschenk von Gott. Dieses neue, zweifache Geschenk verpflichtet. Der Apostel bezieht sich auf diese Dimension der Verpflichtung, wenn er die Gläubigen, die um dieses Geschenk wissen, überzeugt, dass man nicht »Unzucht treiben«, nicht »gegen den eigenen Leib sündigen« darf (vgl. 1 Kor 6, 18). Er schreibt: »Der Leib ist aber nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib« (ebd. 6, 13). Knapper und treffender ließe sich das, was das Geheimnis der Menschwerdung für jeden Gläubigen mit sich bringt, wohl kaum ausdrücken. Der menschliche Leib, in Jesus Christus Leib des menschgewordenen Gottes geworden, erfährt daher in jedem Menschen eine neue übernatürliche Wertung, welcher jeder Christ in seinem Verhalten gegenüber seinem eigenen Leib und natürlich gegenüber dem Leib des anderen Rechnung tragen muss: der Mann gegenüber der Frau und die Frau gegenüber dem Mann. Die Erlösung des Leibes hat die Einführung eines neuen Maßstabes für die Heiligkeit des Leibes in Christus und durch Christus zur Folge. Eben auf diese »Heiligkeit« weist Paulus im ersten Thessalonicherbrief hin (4, 3-5), wenn er schreibt, es gelte, »den eigenen Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu bewahren«.
5. Im 6. Kapitel des ersten Korintherbriefes erläutert Paulus die Wahrheit über die Heiligkeit des Leibes noch genauer, indem er mit geradezu drastischen Worten die »Unzucht« anprangert, also die Sünde gegen die Heiligkeit des Leibes, die Sünde der Unreinheit: »Wißt ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Darf ich nun die Glieder Christi nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen? Auf keinen Fall! Oder wißt ihr nicht: Wer sich an eine Dirne bindet, ist ein Leib mit ihr? Denn es heißt: Die zwei werden ein Fleisch sein. Wer sich dagegen an den Herrn bindet, ist ein Geist mit ihm« (1 Kor 6, 15-17). Wenn nach der Lehre des hl. Paulus die Reinheit ein Aspekt des Lebens »nach dem Geiste« ist, so will das besagen, dass in ihr das Geheimnis der Erlösung des Leibes als Teil des Geheimnisses Christi, das mit der Menschwerdung begonnen und durch sie bereits alle Menschen erreicht hat, Früchte trägt. Dieses Geheimnis wird auch in der Reinheit offenbar, die als eine besondere, auf der Sittlichkeit beruhende Verpflichtung verstanden wird. Die Tatsache, dass wir »um einen teuren Preis erkauft worden sind« (1 Kor 6, 20), nämlich um den Preis der Erlösung Christi, zieht eine besondere Verpflichtung nach sich, nämlich die, »den eigenen Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu bewahren«. Das Wissen um die Erlösung des Leibes bewirkt im menschlichen Willen das Vermeiden der Unzucht, ja es hat zur Folge, dass sich der Mensch eine bestimmte Fähigkeit, eben die Tugend der Reinheit, aneignet. Den Worten des hl. Paulus im ersten Korintherbrief (6, 15-17) über die christliche Tugend der Reinheit als Verwirklichung des Lebens »nach dem Geist« wohnt eine besondere Tiefe und übernatürliche realistische Glaubenskraft inne. Wir werden über dieses Thema noch einige Male Betrachtungen anstellen müssen.
Reinheit und Weisheit 18. 3. 1981, OR 81/13
1. Bei unserer Begegnung vor einigen Wochen haben wir unsere Aufmerksamkeit auf den Abschnitt des ersten Korintherbriefes konzentriert, wo der hl. Paulus den menschlichen Leib »Tempel des Heiligen Geistes« nennt. Er schreibt: »Oder wißt ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden« (1 Kor 6, 19-20). »Wißt ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?« (1 Kor 6, 15). Der Apostel bezeichnet das Geheimnis der »Erlösung des Leibes« durch Christus als Quelle einer besonderen sittlichen Pflicht, die die Christen zur Reinheit verpflichtet, von der Paulus an anderer Stelle sagt, es sei notwendig, »dass jeder von euch seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise bewahrt« (1 Thess 4, 4).
2. Im übrigen entdecken wir den Reichtum des in den paulinischen Texten enthaltenen Gedankens nur dann ganz, wenn wir bemerken, dass das Geheimnis der Erlösung im Menschen auch in charismatischer Weise Früchte bringt. Der Heilige Geist, der nach den Worten des Apostels in den menschlichen Leib wie in seinen Tempel eindringt, wohnt hier und wirkt zugleich durch seine geistlichen Gaben. Unter diesen Gaben, die in der Geschichte der Spiritualität als die sieben Gaben des Heilgen Geistes bekannt sind (vgl. Jes 11,2 in Septuaginta und Vulgata), scheint diejenige, die der Tugend der Reinheit am verwandtesten ist, die Gabe der »Frömmigkeit« (eusebeia)<ref>Eusebeia oder pietas bezieht sich in der hellenistisch-römischen Zeit generell auf die Götterverehrung (als Frömmigkeitsakt), bewahrt aber noch den anfänglich weiteren Sinn der Achtung vor den lebendigen Strukturen.
Eusebeia bezeichnet das Verhalten der Blutsverwandten untereinander, die Beziehungen zwischen den Ehegatten wie auch das Verhalten, das die Legionen dem Kaiser und die Sklaven dem Herrn schulden. Im Neuen Testament verwenden nur die späteren Schriften das Wort eusebeia bei Christen; in den älteren Schriften charakterisiert dieser Begriff die Haltung der »guten Heiden« (Apg 10, 2.7; 17, 23). So hat das griechische eusebeia, das sich wie die »Gabe der Frömmigkeit« zweifellos auf die Gottesverehrung bezieht, eine breite Grundlage in der Bezeichnung zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl. W. Foerster, eusebeia, in: Theological Dictionary of the New Testament, ed. G. KittelG. Bromiley, vol. VII, Grand Rapieds S. 177-182).</ref> zu sein. Wenn die Reinheit den Menschen fähig macht, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, wie wir im ersten Brief an die Thessalonicher lesen (4, 3-5), scheint die Frömmigkeit in besonderer Weise der Reinheit zu dienen, indem sie dem Menschen das Gefühl für die Würde gibt, die dem menschlichen Leib kraft des Geheimnisses der Schöpfung und Erlösung eigen ist. Durch die Gabe der Frömmigkeit gewinnen die Worte des Paulus: »Oder wißt ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt ... Ihr gehört nicht euch selbst« (1 Kor 6, 19), die Überzeugungskraft einer Erfahrung und werden lebendige und praktisch erlebte Wahrheit. Sie öffnen auch den volleren Zugang zur Erfahrung der Bedeutung des Leibes für die eheliche Vereinigung und zur Erfahrung der Freiheit des damit verbundenen Geschenks, in der sich das tiefe Antlitz der Reinheit und ihre organische Verbindung mit der Liebe enthüllt.
3. Obwohl die Bewahrung des eigenen Leibes »in heiliger und ehrbarer Weise« durch Enthaltung von der »Unreinheit« geschieht - und ohne das geht es nicht -, trägt sie ihre Frucht immer in der tiefsten Erfahrung jener Liebe, die »von Anfang an«, nach dem Bild und Gleichnis Gottes selbst, zu jedem menschlichen Wesen und damit auch zu seinem Leib gehört. Deshalb schließt der hl. Paulus seine Argumentation in 1 Kor 6 mit einer wichtigen Mahnung: »Verherrlicht also Gott in eurem Leib« (Vers 20). Die Reinheit, diese Tugend oder Fähigkeit, »seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise zu bewahren«, verbunden mit der Gabe der Frömmigkeit als Frucht der Wohnung des Heiligen Geistes im »Tempel« des Leibes, bewirkt in diesem eine solche Fülle von Würde in den zwischenmenschlichen Beziehungen, dass Gott selbst im Leib verherrlicht wird. Die Reinheit ist die Herrlichkeit des menschlichen Leibes vor Gott. Sie ist die Herrlichkeit Gottes im menschlichen Leib, durch den sich der Mensch als Mann oder Frau zu erkennen gibt. Aus der Reinheit fließt jene einzigartige Schönheit, die alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens durchdringt und erlaubt, die Schlichtheit und Tiefe, die Herzlichkeit und unnachahmliche Echtheit des persönlichen Vertrauens auszudrücken. (Vielleicht bietet sich später noch eine Gelegenheit, dieses Thema breiter zu behandeln. Die Verbindung der Reinheit mit der Liebe und auch die Verbindung eben dieser Reinheit in der Liebe mit jener Gabe des Heiligen Geistes, die die Frömmigkeit ist, bildet einen wenig bekannten Zug der Theologie des Leibes, der trotzdem eine besondere Vertiefung verdient. Das wird im Verlauf der Untersuchungen über die Sakramentalität der Ehe geschehen können.)
4. Und jetzt noch ein kurzer Hinweis auf das Alte Testament. Die paulinische Lehre über die Reinheit als »Leben im Geist« scheint eine gewisse Kontinuität mit den Weisheitsbüchern des Alten Testaments anzuzeigen. Wir finden hier z. B. das folgende Gebet um die Reinheit in Gedanken, Worten und Werken: »Herr, Vater und Gott meines Lebens, . . . . Unzucht und Sinnenlust sollen mich nicht ergreifen, schamloser Gier gib mich nicht preis« (Sir 23, 4-6). Die Reinheit ist in der Tat die Voraussetzung, um Weisheit zu finden und ihr zu folgen, wie wir im gleichen Buch lesen: »Ich richtete mein Verlagen auf die Weisheit und fand sie in ihrer Reinheit« (Sir 51, 20). Außerdem könnte man auch in gewisser Weise den aus der Liturgie bekannten Text aus dem Buch der Weisheit (8, 21) heranziehen, der in der Version der Vulgata heißt: »Scivi quoniam aliter non possum esse continens, nisi Deus det; et hop ipsum erat sapientiae, scire, cuius esset hoc donum - Ich wußte, dass ich ohne die Gnade Gottes nicht enthaltsam sein konnte; und schon das war Weisheit, zu wissen, wessen Geschenk das ist«.<ref>Diese Vulgata-Version, die sich in der Neo-Vulgata und der Liturgie erhalten hat und mehrmals bei Augustinus zitiert wird (De S. Virg., 43; Confess. VI, 11; X, 29; Serm. CLX, 7), ändert übrigens den Sinn des griechischen Originals, wo es heißt: »Ich erkannte aber, dass ich die Weisheit nur als Geschenk Gottes erhalten könne . . .«</ref> Nach dieser Vorstellung ist nicht so sehr die Reinheit die Voraussetzung der Weisheit als die Weisheit die Voraussetzung der Reinheit als einer besonderen Gabe Gottes. Es scheint, dass sich schon in den oben zitierten Weisheitstexten eine doppelte Bedeutung der Reinheit abzeichnet: als Tugend und als Gabe. Die Tugend steht im Dienst der Weisheit, und die Weisheit versetzt in die Lage, die Gabe, die von Gott kommt, anzunehmen. Diese Gabe festigt die Tugend und ermöglicht ihr, in der Weisheit die Früchte einer reinen Lebensführung zu genießen.
5. Wie Christus in seiner Bergpredigt die seligpreist, die »ein reines Herz haben«, und ihnen verspricht, »sie werden Gott schauen« (als Frucht der Reinheit und in eschatologischer Sicht), so hebt Paulus für seinen Teil die Ausstrahlung dieser Schau in zeitlichen Dimensionen hervor, wenn er schreibt: »Für die Reinen ist alles rein; für die Unreinen und Ungläubigen aber ist nichts rein, sogar ihr Denken und ihr Gewissen sind unrein. Sie beteuern, Gott zu kennen, durch ihr Tun aber verleugnen sie ihn . . .« (Tit 1,15 ff.). Diese Worte können auch auf die Reinheit im generellen wie spezifischen Sinn bezogen werden als charakteristisch für alles sittlich Gute. Für das paulinische Verständnis von Reinheit im Sinn von 1 Thess 4, 3-5 und 1 Kor 6, 13-20, d. h. im Sinn des »Lebens im Geist«, scheint - wie sich aus der Gesamtheit unserer Überlegungen ergibt - die Anthropologie der Wiedergeburt im Geist (vgl. auch Joh 3, 5 ff.) grundlegend zu sein. Diese erwächst aus den Wurzeln der Wirklichkeit der von Christus gewirkten Erlösung des Leibes, deren letzter Ausdruck die Auferstehung ist. Hier gibt es tiefe Gründe, um die ganze Thematik der Reinheit mit den Worten des Evangeliums zu verknüpfen, in denen Christus sich auf die Auferstehung beruft (und das wird das Thema der letzten Etappe unserer Überlegungen sein). Hier haben wir sie vor allem in Beziehung zum Ethos von der Erlösung des Leibes gesetzt.
6. Diese aus dem Alten Testament überkommene und für die Weisheitsbücher charakteristische Vorstellung von der Reinheit war sicher eine indirekte, aber nichtsdestoweniger reale Vorbereitung auf die paulinische Lehre von der Reinheit als »Leben im Geist«. Ohne Zweifel erleichterte das auch vielen Hörern der Bergpredigt das Verständnis der Worte Christi, als er bei Erklärung des Gebots »Du sollst nicht die Ehe brechen« sich auf das menschliche »Herz« berief. Unsere ganzen Überlegungen konnten auf diese Weise wenigstens in einem gewissen Maß zeigen, welcher Reichtum und welche Tiefe die Lehre von der Reinheit in ihren biblischen und evangelischen Quellen auszeichnet.
Der Weg zur »Reinheit des Herzens« 1.4. 1981, OR 81/15
1. Ehe wir den Zyklus unserer Betrachtungen über die Worte Jesu Christi in der Bergpredigt abschließen, wollen wir diese Worte noch einmal bedenken und den Gedankengang, zu dem sie die Grundlage bildeten, kurz zusammenfassen. Noch einmal die Worte Jesu: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Das sind zusammenfassende Worte, die vertieftes Nachdenken erfordern ähnlich den Worten, mit denen Christus sich auf den »Anfang« berief. Den Pharisäern, die ihn - unter Bezugnahme auf das Gesetz des Mose, das die sogenannte Entlassung der Frau aus der Ehe gestattete - gefragt hatten: »Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen?«, antwortete er: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat? ... Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein . . . Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« (Mt 19, 3-6). Auch auf diese Worte mussten wir näher eingehen, um den ganzen in ihnen enthaltenen Reichtum herauszuholen. Diese Betrachtung erlaubte es uns, die authentische Theologie des Leibes zu entwerfen.
2. Indem wir dem Hinweis Christi auf den »Anfang« folgten, widmeten wir mehrere Überlegungen den entsprechenden Texten aus dem Buch Genesis, die eben von jenem »Anfang« handeln. Aus diesen Analysen ergab sich nicht nur ein Bild von der Situation des Menschen Mann und Frau - im Zustand der Ur-Unschuld, sondern auch die theologische Grundlage für die Wahrheit über den Menschen und seine besondere Berufung, die aus dem ewigen Geheimnis der Person erwächst: Abbild Gottes, Fleisch geworden in der sichtbaren und leiblichen Erscheinung des Mannbzw. Frauseins der menschlichen Person. Diese Wahrheit liegt der Antwort zugrunde, die Christus zum Charakter der Ehe und besonders zu ihrer Unauflöslichkeit gegeben hat. Es ist die Wahrheit über den Menschen, eine Wahrheit, deren Wurzeln in den Zustand der Ur-Unschuld zurückreichen, eine Wahrheit, die wir also im Zusammenhang mit der Situation vor dem Sündenfall verstehen müssen, wie wir es im Zyklus unserer bisherigen Betrachtungen versucht haben.
3. Zugleich gilt es jedoch, diese Grundwahrheit über den Menschen, sein Mannund Frausein, auch im Rahmen einer anderen Situation zu betrachten, zu verstehen und zu erläutern: nämlich jener, die durch den Bruch des ersten Bundes mit dem Schöpfer bzw. durch die Erbsünde entstanden ist. Man muss diese Wahrheit über den Menschen - als Mann und Frau - im Zusammenhang mit seiner ererbten Sündhaftigkeit sehen. Und gerade hier begegnen wir der Aussage Christi in der Bergpredigt. Natürlich gibt es in der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments zahlreiche Erzählungen, Sätze und Worte, die die gleiche Wahrheit aussprechen, nämlich dass der geschichtlich gegebene Mensch das Erbe der Ur-Sünde in sich trägt; doch die in der Bergpredigt ausgesprochenen Worte Christi scheinen gerade in ihrer knappen Formulierung eine ganz besonders nachdrückliche Aussagekraft zu besitzen. Das beweisen die bisher von uns vorgenommenen Untersuchungen, die stufenweise enthüllt haben, was in jenen Worten enthalten ist. Um die Aussagen über die Begierde zu verdeutlichen, muss man die biblische Bedeutung der Begierde - der dreifachen Begierde - und vor allem der fleischlichen erfassen. Dann versteht man allmählich, warum Jesus diese Begierde (genau: das »lüstern Ansehen«) als »Ehebruch im Herzen« definiert. Mit unseren Analysen wollten wir zugleich besser verständlich machen, welche Bedeutung die Worte Christi für seine unmittelbaren Zuhörer hatten, die in der Tradition des Alten Testamentes, also in der Überlieferung der Gesetzestexte wie der prophetischen Schriften und der Weisheitsbücher aufgewachsen waren; welche Bedeutung die Worte Christi ferner für den Menschen jeder anderen Zeit und besonders für den heutigen Menschen haben können, wenn man seine verschiedenen kulturellen Bedingtheiten in Betracht zieht. Wir sind in der Tat überzeugt, dass diese Worte in ihrem wesentlichen Inhalt den Menschen aller Orte und Zeiten gelten. Darin besteht auch ihr umfassender Wert: sie teilen einem jeden die für ihn gültige und wesentliche Wahrheit mit.
4. Was ist das für eine Wahrheit? Ohne Zweifel ist es eine Wahrheit sittlicher Natur und somit letzten Endes eine Wahrheit von normativem Charakter, so wie die Wahrheit im Gebot: »Du sollst nicht die Ehe brechen« normativen Charakter hat. Die Auslegung dieses Gebotes Christi weist auf das Böse hin, das zu vermeiden und zu besiegen ist - eben das Böse der fleischlichen Begierde -, zugleich aber auf das Gute, dem die Überwindung der Begierden den Weg freimacht. Dieses Gute ist die »Reinheit des Herzens«, von der Christus im gleichen Zusammenhang bei der Bergpredigt spricht. Vom biblischen Standpunkt aus bedeutet »Reinheit des Herzens« die Freiheit von jeder Art Sünde oder Schuld, also nicht nur von den Sünden, die die Begierde des Fleisches betreffen. Doch hier beschäftigen wir uns besonders mit einem Aspekt dieser »Reinheit«, der das Gegenteil des »im Herzen begangenen« Ehebruchs ausmacht. Wenn jene »Reinheit des Herzens«, mit der wir uns befassen, im Denken des hl. Paulus als »Leben nach dem Geist« verstanden wird, bietet uns der paulinische Zusammenhang ein vollständiges Bild des Inhalts der von Christus in der Bergpredigt verkündeten Worte. Sie enthalten eine sittliche Wahrheit, warnen vor dem Bösen und weisen auf das sittlich Gute des menschlichen Verhaltens hin, ja sie leiten die Zuhörer dazu an, das Übel der Begierde zu vermeiden und die Reinheit des Herzens zu gewinnen. Diese Worte besitzen also eine normative und zugleich richtungsweisende Bedeutung. Indem sie zum Gut der »Reinheit des Herzens« anleiten, verweisen sie gleichzeitig auf die Werte, nach denen das menschliche Herz streben kann und soll.
5. Daraus ergibt sich die Frage: welche für jeden Menschen gültige Wahrheit ist in den Worten Christi enthalten? Wir müssen darauf antworten, dass nicht nur eine sittliche Wahrheit, sondern die wesentliche Wahrheit über den Menschen darin enthalten ist - die anthropologische Wahrheit. Deshalb kommen wir auf diese Worte zurück, wenn wir hier in aller Knappheit und sozusagen in der Sicht der vorangehenden Worte, in denen Christus sich auf den »Anfang« bezog, die Theologie des Leibes formulieren. Man kann behaupten, dass durch ihre ausdrucksvolle evangelische Aussagekraft dem Menschen der Begierde gewissermaßen der Mensch der Ur-Unschuld ins Bewusstsein gerufen wird. Aber die Worte Christi sind wirklichkeitsbezogen. Sie versuchen nicht, das Menschenherz in den Zustand seiner Unschuld am »Anfang« zurückzuversetzen, die der Mensch nun einmal im Augenblick des Sündenfalls verloren hat; vielmehr weisen sie ihn hin auf die Straße zu einer Reinheit des Herzens, die ihm auch im Stand der Erbsünde möglich und zugänglich ist. Das ist die Lauterkeit des »Menschen der Begierde«, der dennoch vom Wort des Evangeliums beseelt und für das »Leben aus dem Geist« offen ist (entsprechend den Worten des hl. Paulus), also die Reinheit und Lauterkeit des Menschen der Begierde, der ganz ergriffen wird von der von Christus vollbrachten »Erlösung des Leibes«. Gerade deshalb finden wir in den Worten der Bergpredigt den Hinweis auf das »Herz«, also auf den inneren Menschen. Der innere Mensch muss sich dem »Leben aus dem Geist« öffnen, damit er an der Herzensreinheit nach dem Evangelium teilhat: damit er den Wert des Leibes, der durch die Erlösung von den Fesseln der Begierde befreit wurde, wiederentdeckt und verwirklicht.
Die normative Bedeutung der Worte Christi ist tief begründet in ihrer anthropologischen Bedeutung, in der Dimension der menschlichen Innerlichkeit.
6. Nach der Lehre des Evangeliums, die in den Paulusbriefen auf so großartige Weise entfaltet wird, meint die Reinheit nicht nur die Enthaltung von der Unzucht (vgl. 1 Thess 4, 3), also Zucht, sondern sie öffnet zugleich auch den Weg zu einer immer vollkommeneren Entdeckung der Würde des menschlichen Leibes, der organisch verbunden ist mit der freien Hingabe der Person in der unversehrten Echtheit ihres Mannbzw. Frauseins. So gelangt die Reinheit, verstanden als Zucht, im Herzen des Menschen zur Reife, der sie pflegt und die Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter in ihrer ganzen Wahrheit zu entdecken und zu bestätigen trachtet. Gerade diese Wahrheit muss innerlich erkannt werden; sie muss man gewissermaßen mit dem Herzen spüren, damit die gegenseitigen Beziehungen von Mann und Frau - und sogar der bloße Blick - wieder jenen wahrhaft ehelichen Bedeutungsinhalt erlangen. Auf eben diesen Inhalt verweist im Evangelium die »Reinheit des Herzens«.
7. Wenn in der inneren Erfahrung des Menschen (also des Menschen der Begierde) die Zucht als negativ empfunden wird, so erlaubt uns ein Vergleich der Worte Christi in der Bergpredigt mit den Texten des hl. Paulus, diese Bedeutung positiv zu verstehen. In der Tugend der Reinheit genießt der Mensch die Früchte des über die Begierde errungenen Sieges, eines Sieges, von dem der hl. Paulus mahnend schreibt, »dass jeder seinen Leib in heiliger und ehrbarer Weise bewahrt« (1 Thess 4, 4). Ja, in einer so lauteren Reinheit zeigt sich zum Teil die Wirksamkeit der Gabe des Heiligen Geistes, dessen »Tempel« der menschliche Leib ist (vgl. 1 Kor 6, 19). Diese Gabe ist vor allem die Gabe der Frömmigkeit (donum pietatis), die der Erfahrung des Leibes - besonders, wenn es sich um den Bereich der gegenseitigen Beziehungen von Mann und Frau handelt - ihre ganze Natürlichkeit, Klarheit und innere Freude zurückgibt. Dies ist, wie man sieht, eine geistliche Atmosphäre, die sich grundlegend von der »Leidenschaft und Begierde« unterscheidet, von der Paulus schreibt und die wir im übrigen schon aus den vorangehenden Betrachtungen kennen; man braucht nur an die Stelle im Buch Jesus Sirach, 26, 13.15-18 zu erinnern. Denn die Befriedigung der Leidenschaften ist eine Sache, eine andere die Freude, die der Mensch im Vollbesitz seiner selbst findet, wobei er so auch immer mehr für eine andere Person zu einem echten Geschenk werden kann. Die Worte Christi in der Bergpredigt führen das menschliche Herz zu solcher Freude. Ihnen muss man sich selbst, seine Gedanken und seine Handlungen anvertrauen, um die Freude zu finden und sie den anderen zu schenken.
Spiritualität des Leibes 8. 4. 1981, OR 81/16-17
1. Wir wollen nun die Betrachtungen und Untersuchungen über die Worte Christi in der Bergpredigt, mit denen er sich auf das menschliche Herz bezog und es zur Reinheit mahnte, abschließen. »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 27-28). Wiederholt haben wir betont, dass diese Worte, die einmal an die anwesenden Zuhörer jener Predigt gerichtet waren, sich auf die Menschen aller Zeiten und Orte beziehen. Sie appellieren an das menschliche Herz, wo die innerste und in gewisser Hinsicht eigentliche Geschichte geschrieben wird. Es ist die Geschichte von Gut und Böse (deren Anfang im Buch Genesis mit dem geheimnisvollen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in Zusammenhang gebracht wird); dann ist es die Heilsgeschichte, deren Formulierung das Evangelium und deren Kraft der Heilige Geist ist, der denen geschenkt wird, die das Evangelium wirklich im Herzen annehmen.
2. Wenn uns der Aufruf Christi an das menschliche Herz und noch vorher seine Berufung auf den »Anfang« erlaubt, eine Anthropologie aufzustellen oder wenigstens zu entwerfen, die wir als »Theologie des Leibes« bezeichnen können, so ist eine solche Theologie zugleich Pädagogik. Die Pädagogik will den Menschen erziehen, indem sie ihm Anforderungen vor Augen stellt, diese motiviert und die Wege zu ihrer Verwirklichung aufzeigt. Die Aussagen Christi haben also auch dieses Anliegen: sie sind »erzieherische« Aussagen. Sie enthalten eine Pädagogik des Leibes, die knapp und doch vollständig formuliert ist. Sowohl die Antwort an die Pharisäer über die Unauflöslichkeit der Ehe als auch die Worte der Bergpredigt über die Bezähmung der Begierde zeigen - zumindest indirekt -, dass der Schöpfer dem Menschen den Leib in seinem Mann- und Frausein als Aufgabe anvertraut hat und dass er ihm mit dem Mann- und Frausein gewissermaßen sein Menschsein, die Personwürde sowie das transparente Zeichen der interpersonalen Gemeinschaft, in welcher der Mensch sich durch echte Selbsthingabe verwirklicht, zur Aufgabe gemacht hat. Indem der Schöpfer dem Menschen die den Aufgaben entsprechenden Anforderungen zeigt, eröffnet er dem Menschen, dem Mann und der Frau, zugleich die Wege, die ihre Übernahme und Durchführung gewährleisten.
3. Wenn wir diese Schlüsseltexte der Bibel bis zu ihrer Kernbedeutung untersuchen, gelangen wir zu jener Anthropologie, die wir als »Theologie des Leibes« bezeichnen können. Und diese »Theologie des Leibes« bildet dann den Grundstock für die beste Methode der »Pädagogik des Leibes«, das heißt der Erziehung (ja der Selbsterziehung) des Menschen. Das ist von besonderer Aktualität für den modernen Menschen, dessen Wissen auf dem Gebiet der Biophysiologie und der Biomedizin große Fortschritte gemacht hat. Doch diese Wissenschaft behandelt den Menschen unter einem bestimmten Gesichtspunkt und ist daher eher voreingenommen, nicht umfassend. Wir kennen sehr wohl die Funktionen des Leibes als Organismus, die Funktionen, die mit dem Mannund Frausein der menschlichen Person in Zusammenhang stehen. Aber dieses Wissen entfaltet aus sich noch nicht die Kenntnis des Leibes als Zeichen des Personseins, als Ausdrucksform des Geistes. Die gesamte Entwicklung der modernen Wissenschaft vom Leib als Organismus hat vielmehr den Charakter rein biologischen Wissens, weil sie sich darauf gründet, das Leibliche im Menschen von dem, was geistig ist, zu trennen. Wenn man eine derart einseitige Kenntnis von den organischen Funktionen des Leibes benutzt, gelangt man unschwer dahin, den Leib mehr oder weniger systematisch als Objekt für Manipulationen zu behandeln; in diesem Fall hört der Mensch sozusagen auf, sich subjektiv mit seinem Leib zu identifizieren, weil dieser der Bedeutung und Würde beraubt ist, die vom tatsächlichen Personsein dieses Leibes herrühren. Wir befinden uns hier an der Grenze von Problemen, die häufig nach grundlegenden Lösungen verlangen, die aber ohne eine ganzheitliche Sicht des Menschen unmöglich sind.
4. Gerade hier zeigt sich klar, dass die Theologie des Leibes, wie wir sie aus den Schlüsseltexten der Worte Christi abgeleitet haben, zur fundamentalen Methode der Pädagogik, das heißt der Erziehung des Menschen vom Gesichtspunkt des Leibes aus, unter voller Berücksichtigung seines Mannund Frauseins wird. Diese Erziehung kann unter dem Aspekt einer besonderen Spiritualität des Leibes verstanden werden; denn der Leib in seinem Mannund Frausein ist dem menschlichen Geist als Aufgabe anvertraut (wie es der hl. Paulus in der ihm eigenen Sprache großartig formuliert hat); durch eine angemessene Reife des Geistes aber wird auch er zum Zeichen der Person, dessen sich die letztere bewusst ist, endlich zur authentischen »Materie« in der Gemeinschaft der Personen. Mit anderen Worten: Durch seine geistige Reife entdeckt der Mensch die Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter. Die Worte Christi in der Bergpredigt machen deutlich, dass die Begierde an und für sich dem Menschen jene Bedeutung nicht enthüllt, ja im Gegenteil, sie beeinträchtigt und trübt. Die rein biologische Kenntnis der mit dem Mann- und Frausein der menschlichen Person in Zusammenhang stehenden organischen Funktionen des Leibes vermag nur dann bei der Erkenntnis der Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter hilfreich zu sein, wenn sie mit einer entsprechenden geistigen Reife der menschlichen Person einhergeht. Ohne das kann dieses Wissen geradezu gegenteilige Auswirkungen haben; und das bestätigen vielfache Erfahrungen unserer Zeit.
5. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es, die Lehräußerungen der Kirche unserer Zeit eingehend zu betrachten. Ein angemessenes Verständnis und die Interpretation wie auch die praktische Anwendung (also eben die Pastoralpädagogik) dieser Verlautbarungen erfordern jene vertiefte Theologie des Leibes, die wir letztlich vor allem den Schlüsselworten Christi entnehmen. Was die Lehräußerungen der Kirche unserer Zeit betrifft, muss man das Kapitel »Förderung der Würde der Ehe und der Familie« aus der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (Gaudium et spes, II. Teil, Kap. I) und dazu die Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. berücksichtigen. Die Worte Christi, deren Untersuchung wir breiten Raum gewidmet haben, hatten ohne Zweifel keinen anderen Zweck als die Aufwertung der Würde der Ehe und der Familie; daher die grundlegende Übereinstimmung zwischen den Worten Christi und dem Inhalt der beiden genannten Lehräußerungen der heutigen Kirche. Christus sprach zu den Menschen aller Zeiten und Orte; die Lehräußerungen der Kirche wollen die Worte Christi aktualisieren und müssen deshalb gemäß jener Theologie und jener Pädagogik verstanden werden, die in den Worten Christi Ursprung und Stütze finden. Es ist kaum möglich, hier eine umfassende Analyse der genannten Verlautbarungen des höchsten kirchlichen Lehramtes durchzuführen. Wir werden uns auf die Wiedergabe einiger Abschnitte beschränken. In folgender Weise charakterisiert das Zweite Vaticanum - indem es die »Förderung der Würde der Ehe und der Familie« zu den dringendsten Problemen der Kirche in der Welt von heute zählt - die hier bestehende Situation: »Nicht überall erscheint die Würde dieser Institution (nämlich der Ehe und der Familie) in gleicher Klarheit. Polygamie, um sich greifende Ehescheidung, sogenannte freie Liebe und andere Entartungen entstellen diese Würde. Darüber hinaus wird die eheliche Liebe öfters durch Egoismus, bloße Genußsucht und durch unerlaubte Praktiken gegen die Fruchtbarkeit der Ehe entweiht« (Gaudium et spes, Nr. 47). Paul VI., der sich in der Enzyklika Humanae vitae mit diesem letzteren Problem auseinandersetzte, schreibt unter anderem: »Man muss auch befürchten, dass der Mann, wenn er sich an den Gebrauch der empfängnisverhütenden Praktiken gewöhnt, schließlich die Achtung vor der Frau verliert und . . . sie am Ende als bloßes Mittel egoistischer Genußsucht und nicht mehr als seine von ihm geachtete und geliebte Partnerin und Gefährtin ansieht« (Humanae vitae, Nr. 17). Befinden wir uns etwa hier nicht im Umfeld derselben Sorge, die einst die Worte Christi über die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe wie auch die Worte der Bergpredigt über die Reinheit des Herzens und die Beherrschung der sinnlichen Begierde bestimmt hatte, Worte, die später vom Apostel Paulus mit soviel Scharfsinn vertieft wurden?
6. Im selben Geist legt der Verfasser der Enzyklika Humanae vitae, wo er von den Forderungen der christlichen Ethik spricht, zugleich die Möglichkeit für deren Erfüllung dar, wenn er schreibt: »Die Beherrschung der Triebe durch die Vernunft und den freien Willen nötigt zweifellos zu einer Askese« - Paul VI. gebraucht diesen Begriff -, »damit die Gefühlsäußerungen des ehelichen Lebens der rechten Ordnung entsprechen und vor allem periodisch Enthaltsamkeit geübt wird. Aber diese der Keuschheit der Eheleute entsprechende Disziplin ist weit davon entfernt, der ehelichen Liebe Schaden zuzufügen, vielmehr verleiht sie ihr einen höheren menschlichen Wert. Das erfordert ein ständiges Bemühen« - oben wird dieses Bemühen »Askese« genannt -, »doch dank seines heilsamen Einflusses entfalten die Ehepartner ihre ganzheitliche Persönlichkeit, indem sie an geistigen Werten wachsen und reicher werden. Diese Disziplin fördert . . . die Achtung gegenüber dem anderen Ehepartner, sie hilft den Eheleuten bei der Bezähmung ihres Egoismus, der ein Feind der wahren Liebe ist, und vertieft ihr Verantwortungsbewusstsein . . .« (Humanae vitae, Nr. 21).
7. Diese Zitate mögen genügen. Sie - besonders das letzte - zeigen mit aller Klarheit, wie unerläßlich für ein angemessenes Verständnis der Äußerung des Lehramtes der heutigen Kirche jene Theologie des Leibes ist, deren Grundlagen wir vor allem in den Worten Christi selbst gefunden haben. Diese Theologie wird auch - wie wir bereits gesagt haben - zur fundamentalen Methode der gesamten christlichen Erziehung des Leibes. Im Hinblick auf die angeführten Worte darf man behaupten, dass das Ziel der Erziehung des Leibes eben darin besteht, dass »die gefühlsmäßigen Ausdrucksformen« - vor allem jene des ehelichen Lebens - der sittlichen Ordnung, das heißt letzten Endes der Würde der Person entsprechen. In diesen Worten taucht wieder das Problem der gegenseitigen Beziehung zwischen »Eros« und »Ethos« auf, das wir bereits behandelt haben. Insofern wir die Theologie als Methode der Erziehung des Leibes verstehen, bereitet sie uns auch auf die weiteren Betrachtungen über den sakramentalen Charakter des Lebens des Menschen und besonders des Ehelebens vor. Das Evangelium von der Reinheit des Herzens gestern und heute: Indem wir mit diesem Satz diesen Zyklus unserer Überlegungen abschließen, wollen wir - bevor wir zum nächsten Zyklus übergehen, dem die Auslegung der Worte Christi über die Auferstehung des Leibes zugrunde liegen wird - der »Notwendigkeit, eine für die Erziehung zur Keuschheit günstige Atmosphäre zu schaffen«, von der die Enzyklika Pauls VI. spricht (vgl. Humanae vitae, Nr. 22), noch kurz Aufmerksamkeit schenken und diese Beobachtung auf das Problem vom Ethos des Leibes in den Werken der Kunst konzentrieren unter besonderer Berücksichtigung der Situationen, wie man sie heute antrifft.
III. DIE THEOLOGIE DES LEIBES UND DAS ETHOS DER KUNST
Die ästhetische Erfahrung der Kunst und das Ethos des Leibes 15. 4. 1981, OR 81/18
1. In unseren früheren Überlegungen - sei es im Rahmen der Worte, wo Christus sich auf den »Anfang« bezieht, sei es im Zusammenhang mit dem Abschnitt der Bergpredigt, wo er auf das menschliche »Herz« verweist - haben wir systematisch aufzuzeigen versucht, dass die Subjektivität des Menschen als Person ein unerläßliches Element der theologischen Hermeneutik darstellt, das wir bei der Betrachtung des menschlichen Lebens entdecken und voraussetzen müssen. Also nicht nur die objektive Gegebenheit des Leibes, sondern, wie es scheint, noch viel mehr das subjektive Bewusstsein und auch die subjektive Erfahrung des Leibes sind in den biblischen Texten enthalten und müssen daher erwogen und durchdacht werden und ihren Widerschein auch in der Theologie finden. Die theologische Hermeneutik muss daher immer diese beiden Aspekte berücksichtigen. Wir können den Leib nicht als eine objektive Gegebenheit außerhalb des subjektiven Personseins des Menschen, des Menschen in seinem Mannund Frausein, ansehen. Nahezu sämtliche das Ethos des Leibes betreffenden Probleme sind gleichzeitig verknüpft mit seiner ontologischen Identität als Leib einer Person sowie mit dem Inhalt und der Qualität der subjektiven Erfahrung, das heißt des Erlebens sowohl des eigenen Körpers als solchem wie dieses Körpers in den Beziehungen zum anderen, besonders in der immerwährenden Beziehung zwischen Mann und Frau. Auch die Worte des ersten Thessalonicherbriefes, in denen der Verfasser zur Bewahrung des Leibes »in Heiligkeit und Ehrbarkeit« ermahnt (also das ganze Problem der »Reinheit des Herzens« anspricht), weisen ohne Zweifel auf diese beiden Dimensionen hin.
2. Es sind Dimensionen, die den konkreten, lebendigen Menschen in seiner Einstellung und in seinem Verhalten direkt betreffen. Die Werke der Kultur, besonders der Kunst, bringen es mit sich, dass jene Dimensionen der Leiblichkeit und der Erfahrung des Leibes gewissermaßen über den konkreten Menschen hinausgreifen. Der Mensch begegnet der Wirklichkeit des Leibes und erfährt den Leib auch, wenn dieser zu einem Thema seines schöpferischen Schaffens, zu einem Kunstwerk, zum Inhalt der Kultur wird. Obgleich man grundsätzlich zugeben muss, dass dieser Kontakt vor allem auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung erfolgt, bei der es sich um Einsicht in das Kunstwerk handelt (griechisch: aisthánomai - ich schaue an, ich betrachte), also um den dargestellten Leib außerhalb seiner Seinsidentität, um seine Abbildung in ganz anderer Weise und nach den Kriterien künstlerischen Schaffens, ist der Mensch, dem diese Betrachtungsweise ermöglicht wird, doch von vornherein zu tief verbunden mit der Bedeutung des Urbildes bzw. Modells - das in diesem Fall er selbst, der lebendige Mensch und der lebendige menschliche Körper ist -, als dass er jenen wesentlich ästhetischen Akt der Gestaltung des Werkes an sich und seiner Betrachtung völlig von jenen Kräften oder Verhaltensreaktionen und von den Urteilen loslösen und trennen könnte, die für jene erste Erfahrung und Daseinsweise maßgebend sind. Dieses seinem Wesen nach ästhetische Schauen kann im subjektiven Bewusstsein des Menschen nicht völlig von jenem »Blick« getrennt werden, von dem Christus in der Bergpredigt spricht: wenn er vor dem begehrlichen Blick warnt.
3. So gehört also der ganze Bereich der ästhetischen Erfahrung zugleich in das Ethos des Leibes. Mit Recht muss man daher auch hier an die Notwendigkeit denken, ein für die Reinheit günstiges Klima zu schaffen; dieses Klima kann nämlich nicht nur durch die Art und Weise bedroht werden, wie sich die Beziehungen und das Zusammensein der lebendigen Menschen gestalten, sondern auch im gegenständlichen Bereich der Werke der Kultur und auf dem Gebiet der sozialen Kommunikationsmittel: überall dort, wo es sich um das gesprochene oder geschriebene Wort handelt; bei der bildlichen Darstellung oder Vorführung, sowohl in der herkömmlichen wie in der modernen Bedeutung dieses Begriffes. So gelangen wir zu den verschiedenen Formen und Werken der Kunst und Kultur: Graphik, Skulptur, Schauspiel, auch zu den Formen, die auf den modernen audiovisuellen Techniken beruhen. In diesem weiten und äußerst differenzierten Bereich müssen wir uns im Lichte des bei unseren vorangegangenen Ausführungen näher herausgearbeiteten Ethos des Leibes über den menschlichen Leib als Gegenstand der Kultur eine Frage stellen.
4. Zuerst und vor allem ist festzustellen, dass der menschliche Körper seit eh und je Gegenstand der Kultur im weitesten Sinne des Wortes ist, einfach weil der Mensch selber Träger der Kultur ist und in seinem kulturellen und kreativen Schaffen sein Menschsein einsetzt, den Leib eingeschlossen. Wir müssen bei unseren gegenwärtigen Überlegungen jedoch den Begriff »Kulturgegenstand« einengen und uns auf den Begriff als Thema des Kulturschaffens, im besonderen des künstlerischen Schaffens, beschränken. Es handelt sich also um die Thematisierung bzw. Objektivierung des Leibes in diesen Werken. Doch gilt es hier sogleich, wenn auch nur beispielsweise, einige Unterscheidungen zu treffen. Da ist einmal der lebendige menschliche Leib: der Körper des Mannes und der Frau, der von sich aus den Kunstgegenstand oder das Kunstwerk schafft (wie z. B. im Theater, im Ballett und bis zu einem gewissen Grad auch bei einem Konzert); etwas ganz anderes ist der Leib als Modell des Kunstwerks, wie bei den bildenden Künsten, bei Skulptur und Malerei. Kann man auch den Film oder die Kunst der Photographie im weitesten Sinne auf die gleiche Ebene stellen? Anscheinend ja, obgleich vom Gesichtspunkt des Leibes als Gegenstand bzw. Thema her sich in diesem Fall ein sehr wesentlicher Unterschied ergibt. In der Malerei oder Skulptur bleibt der menschliche Leib immer ein Modell, das der Künstler in besonderer Weise gestaltet. Im Film dagegen und noch mehr in der Photographie wird nicht das Modell gestaltet, sondern der lebendige Mensch vorgeführt: und in diesem Fall ist der Mensch bzw. der menschliche Körper nicht Modell eines Kunstwerks, sondern Gegenstand der Darstellung einer durch entsprechende Techniken erreichten Wiedergabe.
5. Es ist notwendig, schon jetzt darauf hinzuweisen, dass die gemachte Unterscheidung vom Gesichtspunkt des Ethos des Leibes her für die Werke der Kultur wichtig ist. Es sei aber gleich hinzugefügt, dass die künstlerische Wiedergabe, wenn sie zum Inhalt der Darstellung und der Wiedergabe (in Fernsehen oder Film) wird, in gewissem Sinne ihren wesentlichen Kontakt mit dem Menschen und seinem Leib, dessen Wiedergabe sie ist, verliert und ihn häufig zu einem anonymen Gegenstand macht, wie das z. B. bei einem anonymen, in illustrierten Zeitschriften veröffentlichten photographischen Akt oder bei einem über die Fernsehgeräte der ganzen Welt verbreiteten Bild der Fall ist. Eine solche Anonymität ist das Ergebnis der Verbreitung einer Darstellung und Wiedergabe des menschlichen Leibes, insofern er mit Hilfe der Reproduktionstechnik zum bloßen Gegenstand wird; das aber unterscheidet sich wohl - wie oben erwähnt - ganz wesentlich von der Gestaltung des Modells im Kunstwerk, zumal in der Plastik. Diese Anonymität (die außerdem dazu dient, die Identität der dargestellten Person zu »verschleiern« oder zu »verbergen«) stellt nun auch ein besonderes Problem vom Standpunkt des Ethos des menschlichen Leibes dar, und zwar allgemein in den Werken der Kultur, besonders aber in den Werken der sogenannten modernen Massenkultur.
Lassen wir es heute bei diesen einleitenden Bemerkungen bewenden, die für das Ethos des menschlichen Leibes bei den Werken der Kunst und Kultur von entscheidender Bedeutung sind. Später werden uns diese Überlegungen zu Bewusstsein bringen, wie eng sie mit den Worten zusammenhängen, die Christus in der Bergpredigt verkündet hat, als er den »begehrlichen Blick« mit dem »im Herzen begangenen Ehebruch« verglich. Die Anwendung dieser Worte auf Kunst und Kultur ist von besonderer Bedeutung, weil es darum geht, »ein Klima zu schaffen, das der Reinheit der Sitten entgegenkommt«, wie Paul VI. in seiner Enzyklika Humanae vitae ausgeführt hat. Versuchen wir, dieses Thema noch tiefer und wesentlicher zu ergründen.
Das Schamgefühl - »ein bleibendes Element der Kultur« 22. 4. 1981, OR 81/18
1. Wir stellen nun - in Bezug auf die Worte Christi in der Bergpredigt - Überlegungen an zum Ethos des menschlichen Leibes in den Werken der bildenden Kunst. Die Wurzeln dieses Problems reichen sehr tief. Man braucht hier nur an die Reihe der Betrachtungen zu erinnern, die wir bezüglich des Hinweises Christi auf den »Anfang« und dann auf seinen Hinweis in der Bergpredigt auf das menschliche »Herz« vorgenommen haben. Der menschliche Leib - der nackte menschliche Körper in der ganzen Wahrheit seiner Männlichkeit oder Weiblichkeit - ist Ausdruck der personalen Hingabe, des gegenseitigen Sich-Schenkens zweier Menschen. Das Ethos des Leibes, also die sittliche Zulässigkeit seiner Nacktheit aufgrund der Würde der Persönlichkeit, steht in engem Zusammenhang mit jenem auf die Ehe bezogenen System, in welchem das Sich-Schenken des einen Partners der entsprechenden zustimmenden Antwort des ändern begegnet. Diese Antwort ist denn auch entscheidend für das gegenseitige Sich-Schenken zweier Menschen. Die künstlerische Darstellung des menschlichen Leibes in seiner Nacktheit als Mann oder Frau, um ihn zunächst zu einem Modell und danach zum Thema des Kunstwerkes zu machen, ist in gewissem Sinne immer eine Verlegung dieser ursprünglichen und leibspezifischen Darstellung des personalen Sich-Schenkens zweier Menschen nach außen. Das bringt gewissermaßen eine Entwurzelung, eine Loslösung des menschlichen Leibes von dieser Darstellung und seine Verlegung in die Dimension künstlerischer Wiedergabe mit sich: eine Dimension, wie sie dem Kunstwerk oder auch der typischen Darstellungsweise der modernen Filmund Fototechniken eigen ist.
2. In unseren vorausgegangenen Betrachtungen (vor allem im Zusammenhang mit der Bezugnahme Christi auf den »Anfang«) haben wir der Bedeutung der Scham viel Raum gewidmet, indem wir versuchten, den Unterschied zwischen der Situation - und dem Zustand - der Ur-Unschuld zu begreifen, wo »beide nackt waren, aber sich nicht voreinander schämten« (Gen 2, 25), und dann der Situation - und dem Zustand - der Sündhaftigkeit, wo zwischen Mann und Frau zusammen mit der Scham das besondere und dringende Verlangen nach Intimität bezüglich des eigenen Körpers entstand. Im Herzen des der Begierde grundsätzlich unterworfenen Menschen dient dieses Verlangen auch indirekt dazu, die personale Hingabe und die Möglichkeit des gegenseitigen Sich-Schenkens zu gewährleisten. Dieses Verlangen bildet auch die Handlungsweise des Menschen als Kulturobjekt im weitesten Sinne des Wortes. Wenn die Kultur die deutliche Tendenz aufweist, die Nacktheit des menschlichen Körpers zu bedecken, tut sie das gewiss nicht allein aus klimatischen Gründen, sondern auch in Bezug auf den Wachstumsprozess der Sensibilität des Menschen in seinem Personsein. Die anonyme Nacktheit des zum Objekt gewordenen Menschen widerspricht dem Fortschritt der wahrhaft menschlichen Sittenkultur. Wahrscheinlich lässt sich das auch im Leben der sogenannten primitiven Völker feststellen. Die Schärfung des personalen menschlichen Empfindungsvermögens, der menschlichen Sensibilität, ist sicherlich Faktor und Ergebnis der Kultur. Hinter dem Bedürfnis der Scham, also der Intimität des eigenen Körpers (worüber uns die biblischen Quellen in Genesis 3 sehr eingehend informieren), verbirgt sich eine tiefere Ordnung: die der Hingabe, die auf das Innere der eigenen Person oder auf die andere Person ausgerichtet ist - besonders in der Beziehung zwischen Mann und Frau nach dem ewigen Gesetz des gegenseitigen Sich-Schenkens. So stellen wir denn in den Entwicklungen menschlicher Kultur, im weitesten Sinne verstanden, auch im Zustand der ererbten Sündhaftigkeit des Menschen eine ganz deutliche Fortdauer der Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter fest. Jene Ur-Scham, die bereits aus den ersten Kapiteln der Bibel bekannt ist, stellt ein bleibendes Element der Kultur und der Sitten dar. Es hat Anteil an der Entstehung des Ethos vom menschlichen Leib.
3. Der Mensch mit höher entwickelter Sensibilität überschreitet nur schwer und mit innerem Widerstand die Schwelle jener Scham. Das wird sogar in Situationen deutlich, die im übrigen die Entblößung des Körpers durchaus rechtfertigen, wie z. B. im Fall ärztlicher Untersuchungen oder Eingriffe. Besonders zu erwähnen sind auch andere Umstände, wie z. B. die Verhältnisse in den Konzentrationslagern oder Vernichtungsstätten, wo die Verletzung des körperlichen Schamgefühls eine der gezielt angewandten Methoden ist, um die persönliche Sensibilität und das Bewusstsein der Menschenwürde zu zerstören. Überall bestätigt sich - wenn auch in verschiedener Weise - wieder dieselbe Regel. Der Mensch, der seiner persönlichen Sensibilität folgt, will nicht durch seine anonyme Nacktheit zum Objekt für andere werden und will auch nicht, dass der andere in ähnlicher Weise für ihn zum Objekt wird. Offensichtlich lässt er sich darin, dass er »nicht will«, vom Wissen um die Würde des menschlichen Leibes leiten. Es gibt freilich verschiedene Gründe, die den Menschen dazu veranlassen, verleiten, ja sogar drängen können, im Gegensatz zu dem zu handeln, was die Würde des menschlichen Leibes in Zusammenhang mit der persönlichen Sensibilität fordert. Man darf nicht vergessen, dass die innere Grundsituation des geschichtlich gegebenen Menschen der Zustand der dreifachen Begierde ist (vgl. 1 Joh 2, 16). Dieser Zustand - und im besonderen die sinnliche Begierde - macht sich auf verschiedene Weise bemerkbar, sowohl in den inneren Impulsen des menschlichen Herzens als auch im Gesamtklima der zwischenmenschlichen Beziehungen und in den Gepflogenheiten der Gesellschaft.
4. Dies dürfen wir dort nicht vergessen, wo es sich um den weiten Bereich der bildenden Kunst handelt, vor allem um Film und Theater, auch dann nicht, wenn es um die für unsere Zeit so bezeichnende Massenkultur geht, die mit dem Gebrauch der weitverbreiteten Techniken der audiovisuellen Kommunikation verbunden ist. Man stellt sich die Frage: Wann und in welchem Fall ist dieser Wirkungsbereich des Menschen - vom Standpunkt des Ethos des Leibes aus - der »Pornovision« anzuklagen, so wie dem literarischen Schaffen häufig »Pornographie« (dieser zweite Begriff ist älter) vorgeworfen wurde und wird? Der eine wie der andere Fall tritt dann ein, wenn die Schwelle der Scham bzw. der personalen Sensibilität im Hinblick auf den menschlichen Leib in seiner Nacktheit überschritten wird, wenn im Kunstwerk oder durch die Techniken audiovisueller Wiedergabe das Recht auf die Intimität des Körpers in seiner männlichen oder weiblichen Ausprägung verletzt wird und schließlich jene tiefe Bestimmung der Hingabe und des gegenseitigen Sich-Schenkens, die dieser Ausprägung als Frau und Mann in der ganzen Struktur des Menschseins eigen ist. Diese tiefe Bestimmung, ja Prägung, ist entscheidend für die Bedeutung des menschlichen Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter, das heißt für seine grundlegende Berufung, die Vereinigung der Personen herzustellen und daran teilzuhaben.
Wenn wir an dieser Stelle unsere Überlegungen unterbrechen, die wir am kommenden Mittwoch fortsetzen wollen, gilt es noch, festzustellen, dass die Beachtung oder Nichtbeachtung dieser Bestimmung, die so tief mit der personalen Sensibilität des Menschen verbunden ist, für die Frage nicht belanglos sein kann, im Leben und in der Erziehung der Gesellschaft ein der Keuschheit günstiges Klima zu schaffen.
Die künstlerische Darstellung besitzt eine ästhetische und eine ethische Dimension 29. 4. 1981, OR 81/19
1. Wir haben bereits mehrere Betrachtungen der Bedeutung der Worte Christi in der Bergpredigt gewidmet, mit denen er zur Reinheit des Herzens mahnt. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit sogar auf den »begehrlichen Blick«. Diese Worte Christi dürfen wir auch dort nicht vergessen, wo es um den weiten Bereich der bildenden Kunst geht, vor allem um Film und Theater, sowie um die für unsere Zeit so typische »Massenkultur«, verbunden mit dem Einsatz der Technik der audiovisuellen Kommunikationsmittel. Am vergangenen Mittwoch sagten wir, dass gegen die oben erwähnte Sphäre menschlichen Wirkens mitunter der Vorwurf der »Pornovision« erhoben wird, so wie man die Literatur der »Pornographie« beschuldigt. Der eine wie der andere Tatbestand tritt dann auf, wenn die Schwelle der Scham bzw. der personalen Empfindsamkeit für den menschlichen Leib in seiner Nacktheit überschritten wird, wenn im Kunstwerk durch die Technik audiovisueller Wiedergabe das Recht auf die Intimität des Körpers in seiner männlichen und weiblichen Ausprägung und schließlich jene tiefe und bleibende Bestimmung zur Hingabe und zum gegenseitigen Sich-Schenken verletzt wird, die der Ausprägung als Frau und Mann in der ganzen Struktur des Menschseins eigen ist. Diese tiefe Bestimmung, ja Prägung, ist entscheidend für die Bedeutung des menschlichen Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter, das heißt für seine grundlegende Berufung, eine Personengemeinschaft herzustellen und daran teilzuhaben.
2. Es liegt auf der Hand, dass bei Kunstwerken oder in den Werken audiovisueller künstlerischer Darstellung die oben erwähnte bleibende Bestimmung zur Hingabe, das heißt die tiefe Ausprägung der Bedeutung des menschlichen Körpers, nur in der intentionalen Richtung der Wiedergabe und der Darstellung verletzt werden kann; denn es handelt sich - wie bereits gesagt - um den menschlichen Körper als Modell oder Thema. Doch wenn das Schamgefühl und das personale Empfinden in diesen Fällen verletzt werden, dann geschieht das wegen ihrer Verlegung in die Dimension der »sozialen Kommunikation«, also deshalb, weil das, was im richtigen Empfinden des Menschen unbedingt in die personale Sphäre zwischen zwei Menschen gehört und gehören muss, das, was, wie schon früher hervorgehoben, mit der Personengemeinschaft verbunden ist und seinerseits der inneren Wahrheit des Menschen und somit auch der unverkürzten Wahrheit über den Menschen entspricht, sozusagen zum öffentlichen Eigentum wird. In diesem Punkt kann man nicht einer Meinung sein mit den Vertretern des sogenannten Naturalismus, die das Recht »auf alles, was menschlich ist«, in den Kunstwerken und in den Erzeugnissen der künstlerischen Wiedergabe geltend machen und behaupten, auf diese Weise im Namen der realistischen Wahrheit über den Menschen zu handeln. Eben diese Wahrheit über den Menschen - die unverkürzte Wahrheit über den Menschen - verlangt, dass sowohl der Sinn für die Intimität des Körpers als auch die Echtheit der mit der männlichen und weiblichen Ausprägung des Leibes in Zusammenhang stehenden Hingabe, in der sich das der inneren Struktur der Person eigene Geheimnis des Menschen widerspiegelt, beachtet werden. Diese Wahrheit über den Menschen muss auch in der Kunst bedacht werden, wenn man von einem vollen Realismus reden will.
3. Man stellt hier also fest, dass die Ordnung, die der Personengemeinschaft eigen ist, zutiefst mit dem weiten und differenzierten Bereich der Kommunikation übereinstimmt. Der menschliche Leib in seiner Nacktheit - wie wir bei unseren vorangegangenen Überlegungen, in denen wir uns auf Gen 2, 25 bezogen, festgestellt haben -, verstanden als Ausdruck der Person und als ihre Hingabe, das heißt als Zeichen des Vertrauens und des Sich-Schenkens an eine andere Person, die sich der Hingabe bewusst und entschlossen ist, auf ebenso personale Weise darauf zu antworten, dieser Leib wird zur Quelle einer besonderen Kommunikation, die das Menschsein selbst betrifft. Diese Kommunikation zwischen Personen dringt tief in das System der Gemeinschaft, der communio personarum, ein, wächst zugleich an ihm und entwickelt sich in ihrem Bereich in richtiger Weise. Eben wegen der großen Bedeutung des Leibes in diesem System der Personengemeinschaft ist die Tatsache, dass er in seiner Nacktheit - die eben das Element der Hingabe zum Ausdruck bringt - Gegenstand und Thema des Kunstwerkes oder der audiovisuellen Wiedergabe wird, nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein ethisches Problem. Denn jenes Element der Hingabe verschwindet sozusagen in dem Bereich eines sinnentleerten Empfangs und einer nicht entsprechenden Antwort und wird so irgendwie absichtlich bedroht, indem es als anonymes Objekt der Aneignung missbraucht werden kann. Deshalb bildet die volle, unverkürzte Wahrheit über den Menschen in diesem Fall die Grundlage der Norm, aus der das Gute oder Schlechte der jeweiligen Handlungen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Situationen seine Form empfängt. Die Wahrheit über den Menschen, über das, was - gerade auch wegen seines Leibes und dessen geschlechtlicher Ausprägung als Frau oder Mann - in ihm das spezifisch Personale und Innerliche ist, zieht hier genaue Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.
4. Diese Grenzen müssen vom Künstler anerkannt und beachtet werden, der den menschlichen Leib zum Gegenstand, Modell oder Thema des Kunstwerkes bzw. der audiovisuellen Wiedergabe macht. Weder ihm noch anderen Verantwortlichen auf diesem Gebiet steht das Recht zu, zu verlangen, zu bestimmen oder zu billigen, dass andere Menschen, die zur Betrachtung der Darstellung eingeladen, aufgefordert oder zugelassen werden, mit den Künstlern oder ihretwegen jene Grenzen überschreiten. Es handelt sich um die Darstellung, in welcher das, was an sich den zutiefst personalen Inhalt und Wen bildet, das, was zur geordneten Hingabe und zum persönlichen SichSchenken gehört, als Thema seines eigentlichen Nährbodens beraubt wird, um mit Hilfe der sozialen Kommunikation zum Objekt, ja gewissermaßen zum anonymen Objekt zu werden.
5. Das Gesamtproblem von Pornovision und Pornographie, das sich aus dem oben Gesagten ergibt, entspringt weder einer puritanischen Geisteshaltung noch einem engherzigen Moralismus; ebensowenig ist es Ergebnis eines vom Manichäismus belasteten Denkens. Es handelt sich hier vielmehr um einen äußerst wichtigen, grundsätzlichen Bereich von Werten, denen gegenüber der Mensch aufgrund der Würde seines Menschseins, des personalen Charakters und der Ausdruckskraft des menschlichen Leibes nicht gleichgültig sein kann. Alle diese Inhalte und Werte können durch die Werke der Kunst und die Tätigkeit der audiovisuellen Mittel gestaltet und vertieft, aber ebenso entstellt und im Herzen des Menschen zerstört werden. Man sieht also, wir befinden uns ständig im Bereich der Grundsätze, die Christus in der Bergpredigt verkündet hat. Auch die Probleme, die wir hier behandeln, müssen im Licht jener Grundsätze geprüft werden, welche den Blick, der von der Begierde kommt, als Ehebruch im Herzen betrachten. Deshalb meinen wir, dass die Überlegung dieser Probleme, die wichtig sind, um ein für die Erziehung zur Keuschheit günstiges Klima zu schaffen, eine unerläßliche Ergänzung zu allen vorangegangenen Betrachtungen bildet, die wir im Laufe zahlreicher Mittwochsaudienzen diesem Thema gewidmet haben.
Das Ethos der Darstellung: der menschliche Leib in der Kunst 6. 5. 1981, OR 81/20
1. In der Bergpredigt spricht Christus die Worte, denen wir im Laufe fast eines Jahres eine ganze Reihe von Audienzansprachen gewidmet haben. Christus erklärt seinen Zuhörern die Bedeutung des Gebotes: »Du sollst nicht die Ehe brechen«, mit den Worten: »Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5, 28). Es hat den Anschein, dass sich die genannten Worte auch auf die weiten Bereiche der menschlichen Kultur, besonders auf den des künstlerischen Schaffens, beziehen, was schon im Verlauf einiger Mittwochsaudienzen behandelt wurde. Heute wollen wir die letzte dieser Betrachtungen der Beziehung zwischen dem Ethos des Bildes - oder der Beschreibung - und dem des Sehens und Hörens, des Lesens oder anderer Formen der Erkenntnis widmen, durch die man dem Inhalt des Kunstwerkes oder der Audiovision im weiteren Sinn des Wortes begegnet.
2. Hier kommen wir noch einmal auf das Problem zurück, auf das wir schon früher hingewiesen haben: ob und in welchem Maß der menschliche Leib-in der ganzen sichtbaren Wahrheit seiner Männlichkeit und Weiblichkeit ein Gegenstand der Kunst und damit ein Gegenstand des jeweiligen Mediums sein kann, für das dieses Werk bestimmt ist. Diese Frage stellt sich der modernen Massenkultur besonders im Zusammenhang mit den audiovisuellen Techniken. Darf der menschliche Leib ein solches künstlerisches Motiv sein, wo wir doch wissen, dass damit jene »Beliebigkeit« verbunden ist, die wir früher Anonymität genannt haben? Allem Anschein nach bringt sie eine bleibende ernste Gefahr für die ganze Sphäre der Bedeutungen mit sich, die dem Körper des Mannes und der Frau aufgrund des personalen und sozialen Charakters des Menschen und der zwischenmenschlichen Beziehungen eigen sind.
Man kann hier noch hinzufügen, dass die Ausdrücke »Pornographie« und »Pornovision« - trotz ihrer alten Etymologie - erst verhältnismäßig spät im Sprachgebrauch auftauchen. Die traditionelle lateinische Terminologie benutzt das Wort »ob-scaena« (obszön) und bezeichnet damit alles, was sich nicht vor den Augen von Zuschauern abspielen darf, was von angemessener Diskretion umgeben sein muss und nicht willkürlich dem Blick des Menschen ausgesetzt werden darf.
3. Wenn wir auf die Frage von vorhin zurückkommen, wird uns bewusst, dass de facto im Laufe ganzer Epochen kulturellen und künstlerischen Schaffens der menschliche Leib ein solches künstlerisches Motiv war und noch immer ist. Ebenso wird die Liebe zwischen Mann und Frau und damit das Sich-Schenken in der Männlichkeit und Weiblichkeit ihres Leibes immer ein literarisches Thema sein. Dieses hat seinen Platz auch in der Bibel, vor allem im »Hohenlied«, das wir bei anderer Gelegenheit aufgreifen werden. Ja, man muss feststellen, dass in der Geschichte der Kultur, der Literatur und der bildenden Kunst dieses Thema besonders häufig aufscheint und besonders bedeutsam ist. Es handelt sich in der Tat um ein großes und wichtiges Problem. Das haben wir bereits zu Beginn unserer Betrachtungen festgestellt, als wir den Spuren der Bibeltexte folgten, die uns die wahre Dimension dieses Problems offenbaren: die Würde des Menschen in seiner Leiblichkeit als Mann und Frau und die Bedeutung des männlichen und weiblichen Körpers für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter, wie sie der inneren - und zugleich sichtbaren - Gesamtstruktur der menschlichen Person eigen ist.
4. Unsere vorhergegangenen Überlegungen verfolgen nicht die Absicht, das Recht auf die künstlerische Behandlung dieses Themas in Frage zu stellen. Sie beabsichtigen nur zu zeigen, dass diese eine besondere Verantwortung nicht nur künstlerischer, sondern auch ethischer Natur mit sich bringt. Der Künstler, der in irgendeinem Bereich der Kunst oder mittels audiovisueller Techniken jenes Thema aufgreift, muss sich der ganzen Tragweite des Gegenstandes und aller damit zusammenhängenden Werte bewusst sein; er darf sie nicht nur theoretisch berücksichtigen, sondern muss sie auch praktisch leben. Das entspricht genau dem Prinzip von der »Reinheit des Herzens«, das in bestimmten Fällen vom Bereich des Verhaltens auf den des künstlerischen Schaffens und seiner Verbreitung übertragen werden muss.
Es scheint, dass der Prozess dieses Schaffens nicht nur die Vergegenständlichung (und gewissermaßen eine neue »Materialisation«) des Modells anstrebt, sondern gleichzeitig in dieser Vergegenständlichung das zum Ausdruck bringen will, was man die schöpferische Idee des Künstlers nennen kann. In ihr tut sich die Welt seines Geistes und seiner Werte kund und damit auch das echte Erleben seines Gegenstandes. In diesem Prozess vollzieht sich eine eigentümliche Verwandlung des Modells bzw. der Materie und ganz besonders dessen, was der Mensch, der menschliche Leib in der ganzen Wahrheit seiner Männlichkeit und Weiblichkeit ist. (So gesehen besteht, wie wir bereits erwähnt haben, ein nicht unbeträchtlicher Unterschied zwischen dem Gemälde oder der Skulptur und der Photographie oder dem Film.) Wer vom Künstler zum Betrachten seiner Werke eingeladen wird, kommt nicht nur mit der Vergegenständlichung und daher gewissermaßen einer neuen »Materialisation« des Modells oder der Materie in Berührung, sondern wird zugleich mit der Wahrheit des Gegenstandes konfrontiert, die der Künstler mit seinen eigenen Mitteln ausdrücken könnte.
5. Im Verlauf der verschiedenen Epochen, angefangen von der Antike - und vor allem in der Blütezeit der klassischen griechischen Kunst -, gibt es Kunstwerke, deren Thema der menschliche Leib in seiner Nacktheit ist und deren Betrachtung es erlaubt, uns gewissermaßen auf die ganze Wahrheit des Menschen, auf die Würde und die Schönheit - auch jene übersinnliche Schönheit - seiner Männlichkeit und Weiblichkeit zu konzentrieren. Diese Werke tragen gleichsam eine Erhöhung in sich, die den Betrachter durch den Leib zum personalen Gesamtgeheimnis des Menschen führt. In der Begegnung mit solchen Werken, bei der wir uns von ihrem Gehalt nicht zum »begehrlichen Blick« verleitet fühlen, von dem die Bergpredigt spricht, lernen wir gewissermaßen jene Bedeutung des Leibes für die eheliche Verbindung der beiden Geschlechter kennen, die Entsprechung und Maß der »Reinheit des Herzens« ist. Aber es gibt auch Kunstwerke und wahrscheinlich noch häufiger Reproduktionen, die im Bereich des persönlichen Empfindens des Menschen Ablehnung hervorrufen - nicht wegen ihres Gegenstandes, denn der menschliche Körper an sich besitzt immer eine unveräußerliche Würde, sondern wegen der Qualität bzw. der Art und Weise der Reproduktion, Verkörperung und künstlerischen Darstellung. Entscheidend für ein Urteil über jene Darstellungsweise oder Qualität können die verschiedenen Faktoren des Werkes oder der Wiedergabe sein wie auch vielfältige Umstände oft mehr technischer als künstlerischer Natur.
Bekanntlich wird durch alle diese Elemente dem Betrachter wie dem Zuhörer oder dem Leser gewissermaßen die eigentliche Grundabsicht des Kunstwerkes oder des Produktes entsprechender Techniken zugänglich. Wenn unser persönliches Empfinden ablehnend und missbilligend reagiert, dann deshalb, weil wir in jener Grundabsicht zusammen mit der Vergegenständlichung des Menschen und seines Leibes gleichzeitig dessen Einschränkung - für ein Kunstwerk oder seine Reproduktion unerläßlich - auf das Niveau eines Objektes entdecken, eines Objektes des Genusses, der zur Befriedigung der Begierde bestimmt ist. Das aber richtet sich auch in der Ordnung und Zielsetzung der Kunst und der Reproduktion gegen die Würde des Menschen. Dasselbe gilt analog für die verschiedenen Bereiche künstlerischen Schaffens - nach der jeweiligen Besonderheit - wie auch für die verschiedenen audiovisuellen Techniken.
6. Die Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. (Nr. 22) unterstreicht die Notwendigkeit, »ein für die Erziehung zur Keuschheit günstiges Klima zu schaffen«. Damit will sie sagen, dass das körperliche Leben in der ganzen Wahrheit seiner männlichen und weiblichen Ausprägung der Würde dieses Körpers und seiner Bedeutung für die Gemeinschaft der Personen entsprechen muss. Man darf wohl sagen, dass dies eine grundlegende Dimension der menschlichen Kultur bildet, verstanden als Bejahung dessen, was alles Menschliche adelt. Deshalb haben wir diese kurzen Ausführungen dem Problem gewidmet, das man zusammenfassend das Problem des Ethos der Darstellung nennen könnte. Es handelt sich um die Darstellung, die den Menschen besonders »sichtbar macht« und die mehr oder weniger direkt verstanden werden will. Die gemeißelte oder gemalte Darstellung bringt den Menschen »sichtbar zum Ausdruck«; in anderer Weise bringt ihn die Theateraufführung oder das Ballett, wieder anders der Film »sichtbar zum Ausdruck«; auch das literarische Werk will auf seine Weise innere Bilder hervorrufen und bedient sich dabei des Reichtums der menschlichen Phantasie und Erinnerung. Was wir also hier als das »Ethos der Darstellung« bezeichnet haben, kann nicht losgelöst von der entsprechenden Komponente betrachtet werden, die man das »Ethos des Schauens« nennen müßte. Zwischen diesen beiden Komponenten spielt sich der ganze Kommunikationsprozess ab, unabhängig vom Umfang, den diese Kommunikation umschreibt, die in diesem Fall immer sozialen Charakter hat.
7. Die Schaffung eines für die Erziehung zur Keuschheit günstigen Klimas umfasst diese beiden Komponenten; sie betrifft sozusagen einen gegenseitigen Austausch, der zwischen Darstellung und Schauen, zwischen dem Ethos der Darstellung und dem Ethos des Schauens zustandekommt. Wie die Schaffung der Darstellung im weiteren und differenzierten Sinn des Wortes dem Verfasser, Künstler oder Reproduzenten Verpflichtungen nicht nur ästhetischer, sondern auch ethischer Art auferlegt, so erlegt das Schauen nach der gleichen weitverstandenen Analogie dem Empfänger des Werkes Verpflichtungen auf. Echtes und verantwortliches künstlerisches Tun ist bestrebt, die Anonymität des menschlichen Leibes als wahlloses Objekt zu überwinden, indem es (wie bereits früher gesagt) durch die schöpferische Kraft einen eigentümlichen künstlerischen Ausdruck für die Wahrheit über den Menschen in seiner Leiblichkeit als Mann und Frau sucht, die sozusagen dem Betrachter und in weiterem Sinn jedem Empfänger des Werkes als Aufgabe gestellt wird. Von ihm hängt es wiederum ab, ob er entschlossen ist, die Mühe aufzubringen, sich einer solchen Wahrheit zu stellen, oder ob er lediglich ein oberflächlicher Konsument der Eindrücke bleibt, also jemand, der die Begegnung mit dem anonymen Leib als Thema des Werkes bloß auf der Ebene der Sinne genießt, die eben wahllos auf ihr Objekt reagieren.
Damit schließen wir dieses wichtige Kapitel unserer Überlegungen über die Theologie des Leibes, deren Ausgangspunkt die Worte Christi in der Bergpredigt waren: Worte, die für den Menschen aller Zeiten gültig bleiben, für den geschichtlich gegebenen Menschen und gültig auch für jeden von uns. Die Betrachtungen über die Theologie des Leibes wären jedoch nicht vollständig, wenn wir nicht andere Worte Christi einbeziehen würden, jene nämlich, die auf die künftige Auferstehung Bezug nahmen. Ihnen wollen wir daher den nächsten Zyklus unserer Betrachtungen widmen.
Anmerkungen
<references />