Robert Bellarmin: Auslegung des Vater unser

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
Auslegung des Vater Unser (für Pfarrer)
des Kirchenlehrers Robert Bellarmin

Quelle: Robert Bellarmin: Katechismen - Glaubensbekenntnis - Vater unser, übersetzt und herausgegeben von Andreas Wollbold, Echter Verlag Würzburg 2008, S. 273-304 (304 Seiten, ISBN 978-3-429-03046-9; Copyright: am 17. November 2020 für Kathpedia vom Verlag genehmigt. Jede weitere Verwendung ist untersagt). Anno Domini 1592 in Rom mit Hilfe der zuvor in Löwen A. D. 1575 verfertigten Auslegung verfasst.<ref>Text übersetzt nach: Expositio Orationis Dominicae, in: Robertus Bellarminus, Opera oratoria postuma. Hg. von Sebastian Tromp, 11 Bde., Rom 1942-1969, Bd. VI, Rom 1945, 230-264 (= OOP). Die Fußnoten sind auf der Grundlage dieser Ausgabe erstellt. Um der leichteren Auffindbarkeit sind Verfassernamen und Werkbezeichnung in der am meisten üblichen Fassung wiedergegeben. Tromps Werkabkürzungen sind daraus übernommen, bei der ersten Nennung jedoch ausgeschrieben. - Die Auslegung des Vater Unser in den Kontroversen findet sich in: Robert Bellarmin, De Controversiis. XlV. De bonis operibus in particulari 1,4-6 (= 00 Vl, 397-410).</ref> Autograph in: Opera Nostrorum 237 (römisches Jesuitenarchiv). Editio Veneta 1599, von Bellarmin eigenhändig korrigiert.<ref> Am 16. Februar 1592 schrieb P. Jac. Sirmon, Bellarmin habe beinahe den letzten Band der Kontroversen beendet. Vgl. X. M. Le Bachelet, Bellarmin avant son Cardinalat, Paris 1911, 322, n. 5.</ref>

Die herausragende Bedeutung des Vater Unser

Tusculum (Frascati), zu Beginn des Jahres 1592

Worum man im Gebet bitten soll, können wir in der Tat nicht kürzer und vollständiger erläutern als dadurch, dass wir das Vater Unser ganz vollständig auslegen. Denn (wie es der heilige Augustinus im Brief 121, cap. 12, sagt): "Wenn wir auch noch so sehr andere Worte gebrauchen, so sagen wir doch nichts anderes, als was in diesem Vater Unser enthalten ist, wenn wir in rechter und übereinstimmender Weise beten." <ref> Augustinus, Epistola 130 (121) 12,22: PL 33,502.</ref> Wir werden also das Vater Unser im Geist der Väter auslegen, wenn wir von seiner herausragenden Bedeutung sowie der Zahl und Anordnung der Bitten in gewohnter Kürze einiges wenige vorab behandeln werden.

Bezüglich der herausragenden Bedeutung hat das Vater Unser durch seine Autorität, Kürze, Vollkommenheit, Anordnung, Wirksamkeit und Notwendigkeit den Vorrang vor anderen Formen des Gebets.

An Autorität, da es ja von der Weisheit Gottes selbst verfasst worden ist. Darum kann uns nicht nur kein Mensch, sondern auch kein Engel besser in der rechten Art zu beten unterrichten, als es Christus getan hat.

Auch an Kürze ragt es hervor, da das Gebet angesichts der Erhabenheit und Vielfalt der enthaltenen Gegenstände nicht hätte kürzer sein können. Diese äußerste Kürze ist aber nützlich, und zwar sowohl als Stütze für das Gedächtnis, wie der hl. Cyprian bemerkt<ref> Cyprian, De dominica oratione 28: PL 4,538 (556). </ref>, als auch dazu, wie Tertullian mahnt<ref> Tertullian, De oratione 1: PL 1,1153 (1255). </ref>, dass wir begreifen, es bedürfe nicht vieler Worte, wenn wir zu Gott beten - er weiß ja, was wir wollen, noch bevor wir bitten -, wohl aber einer großen Sehnsucht und eines heißen Verlangens.

Auch an Vollkommenheit ragt es hervor, da es alles umfasst, was von Gott zu erbitten entweder notwendig oder nützlich ist, so wie wir es kurz zuvor bei Augustinus gelernt haben.<ref> Augustinus, Epist. 130 (121),12,22: PL 33,502-503. </ref> Tertullian<ref> Tertullian, De orat. 1: PL 1, 1153 (1254-1255). </ref> fügt aber noch hinzu, das Vater Unser sei gewissermaßen die Kurzfassung des Evangeliums, weil wir beim Sprechen dieses Gebetes gleichzeitig daran erinnert werden, was wir glauben, hoffen, lieben, wen wir verehren, was wir tun, meiden, erstreben und verachten sollen. Folglich findet das Wort des Cölestin in Epist. ad Gallos, Kap. 11, hier seine vorzügliche Anwendung: "Das Gesetz des Betens legt das Gesetz des Glaubens (ergänze: ,sowie des Handeins') fest."<ref> Coelestin I., Epistula ad Gallos 11,12, oder: Indiculus de gratia 8: PL 50,535. Vgl. Prosper von Aquitanien, De vocatione gentium I, 12: PL 51,664. </ref>

Der Anordnung nach besitzt es den Vorrang, da wir darin lernen, das Göttliche ausdrücklich mit einer Methode zu erbitten: zuerst das, was sich auf die Ehre Gottes, sodann das, was sich auf unser Heil bezieht, und dabei zunächst das Ewige und danach das Zeitliche.

An Wirksamkeit oder Nutzen hat es den Vorrang, da (wie der hl. Cyprian zu Recht bemerkt<ref> Cyprian, De dom. orat. 3: PL 4,521 (538). </ref>) nichts Gott Vater mehr bewegen kann als das Gebet seines Sohnes. Auch weiß niemand besser, welches Gebet bei Gott wirksamer ist und welche Güter uns vornehmlich fehlen, als der, den Gott zu unserem Anwalt und Fürsprecher eingesetzt hat. Wenn schließlich alles, worum man im Namen Christi bittet, leicht erlangt wird, wie Joh 16,24 sagt, wie viel leichter wird dann das erlangt werden, was nicht nur im Namen Christi, sondern auch mit den Worten Christi erfleht wird?

Es hat schließlich bezüglich der Notwendigkeit den Vorrang, da es keine andere Form des Gebetes außer dieser gibt, die alle Christen mit diesen feststehenden Worten zu gebrauchen und häufig zu benützen gehalten sind. In den Apostolischen Konstitutionen, Buch 7, Kap. 25, werden alle Christen ermahnt, dieses Gebet täglich dreimal zu sprechen.<ref> Constitutiones Apostolorum VII 24: PG 1,1016. </ref> Ebenso weist uns das 4. Konzil von Toledo im can. 9 an, an keinem Tag dieses Gebet auszulassen, das die heiligen Väter Cyprian im Serm. 6 und Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 71, nicht ohne Grund tägliches Gebet genannt haben.<ref> Cyprian, Sermo 6 = De orat. dom. 18: PL 4,531-532 (548-549); Augustinus, Enchiridion 71: PL 40,265. </ref> Schließlich lehrt uns das Konzil von Reims in Caan. 2, es sei einem Christenmenschen nicht erlaubt, das Vater Unser entweder nicht auswendig zu können oder es nicht zu verstehen oder es nicht häufig zu wiederholen.<ref> Concilium Remense im Jahr 813, can. 2: Mansi 14,77. </ref>

Eine weitere herausragende Bedeutung ließe sich noch anfügen, nämlich dass die alten Väter dieses Gebet mit größtem Eifer ausgelegt haben. Dazu beachte man Tertullian im Buch "Das Gebet (De oratione)", dem letzten seiner Werke, Cyprian im Serm. 6 über das Vater Unser, Cyrill von Jerusalems 5. mystagogische Katechese, Ambrosius "Die Sakramente (De sacramentis)", Buch 5, Kap. 4, Gregor von Nyssa in den fünf Reden "Das Vater Unser (De oratione Dominica)", Hieronymus im Kommentar zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums, Johannes Chrysostomus im Kommentar zu demselben Kapitel und in den Homilien über das Vater Unser, Augustinus im Brief 121 an Proba, Kap. 11, im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 115, im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 8ff., in der Predigt 28 "Die Worte des Herrn (De verbis Domini)", in der Homilie 42 aus dem Buch der 50 Homilien, in den "Predigten im Kirchenjahr (Sermones de tempore)" 126, 135 und 182, Johannes Cassians "Gespräche (Collationes)" 9, Kap. 18 ff., Petrus Chrysologus Predigt 67ff., Bernhards 6. "Predigt über die Fastenzeit (De Quadragesima)" und Papst Innozenz "Die Geheimnisse der Messe (De mysteriis Missae)", Buch V, Kap. 17.<ref> Tertullian, De orat. 2-8: PL 1,1153-1164 (1254-1266); Cyprian, De orat. dom.: PL 4,519-544 (537-562); Cyrill von Jerusalem, Mystagogicae Catecheses 23,5,11-18: PL 33,117-1124; Ambrosius, De Sacramentis V 4,20-30: PL 16,451-454 (470-474); Gregor von Nyssa, De oratione dominica sermones quinque: PG 44,1120-1193; Hieronymus, In Matthaeum libri I cap. 6: PL 26,44-45; Chrysostomus, In Matthaeum homiliae 19,4-7: PG 57,278-284; Opus imperfectum in Matthaeum 9, homo 14: PG 56,711-715; De angusta porta et oratione dom. 3-5: PG 51,44-48; Augustinus, Epist. 130 (121) 11,21-12,23: PL 33,502-503; Enchir.115-116: PL 10,285-286; De sermone Domini in monte II 4,15-11,39: PL 34,1275-1287; De verbis Domini sermo 28 = Serm. app. 84: PL 39,1907-1908; Lib. 50 hom., homo 42 = Sermo 58: PL 38,393-400; Sermo de tempore 126 = Serm. app. 65: PL 39,1870-1871; Serm. de tempo 135 = Serm. 59: PL 38,400-402; Serm. de tempo 182 = Serm. app. 64,3: PL 39,1867; Johannes Cassian, Collatationes IX 18-24: PL 49,788-801; Petrus Chrysologus, Sermones 67-72: PL 52, 390-406; Bernhard von Clairvaux, In Quadragesima sermones VI: PL 183,181-183; Innozenz III., De sacro altaris mysterio (= De missarum mysteriis) V 16-37: PL 217,897-906. </ref> Schließlich gibt es noch die Kommentare zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums oder zum 11. Kapitel des Lukasevangeliums von Theophylakt, Euthymius, Beda, Anselm, Rupert, Thomas, Bonaventura, Albert und anderen.<ref> Theophylakt, In Matthaeum 6,9-13: PG 123,204-205; In Lucam 11,1-4: PG 123,853-856; Euthymius, In Matthaeum 6,9-13: PG 129,233-241; In Lucam 11,1-4: PG 129,969; Beda, In Matthaeum 6: PL 92,32-33; In Lucam 11: PL 92,472-473; Anselm von Laon, In Matthaeum 6: PL 162,1305-1309; Rupertvon Deutz, In Matthaeum libri V: PL 168,1428-1436; Thomas von Aquin, In Matthaeum cap. 6, n. 3; Bonaventura, In Lucam XI, nn. 1-17: ed. Clar. Aq. VII 277-282; Albert der Große, In Matthaeum cap. 6, In Lucam 11: Opera (Ausgabe Lyon 1651), vol. IX,118-149 et vol. X,2,47-63. </ref>

Zahl und Anordnung der Bitten des Vater Unser

Dass es sieben Bitten des Vater Unser gibt, ist die allgemeine Ansicht der älteren und jüngeren Ausleger, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, worunter sich Tertullian im Buch "Das Gebet (De oratione)"<ref>Tertullian, De orat. 8: PL 1,1163-1164 (1266). </ref> und Johannes Calvin im Buch 3 der "Unterweisung (Institutio)", Kap. 20 § 35<ref> Johannes Calvin, Institutio religionis christianae III 20,35, ed. Brunsv. II,1864, col. 661. </ref>, befinden, die nachdrücklich behaupten, es seien nur sechs, indem sie all die Worte "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen" zu einer Bitte zusammenfassen. Jedoch der spätere Irrtum raubte Tertullian die Autorität, wie es der hl. Hilarius zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums sagt<ref> Hilarius, In Matthaeum cap. 5, n. 1: PL 9,943.</ref>, und Calvin, der offenkundige Feind der Kirche, verdient es nicht, seine Meinung zu berücksichtigen, es sei denn, seine Ansicht muss widerlegt werden.

Dass es sieben Bitten des Vater Unser sind, lehren also mit beredten Worten die oben angeführten Augustinus, Anselm, Rupert, Innozenz, Thomas und Bonaventura.<ref> Augustinus an den gleich zu zitierenden Stellen; Anselm von Laon, In Matth. 6: PL 162,1305; Rupert von Deutz, In Matth. V: PL 168,1434; Innozenz III., De sacr. alt. myst. V, 18: PL 217,898; Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II q. 83, a. 9 coll.; In Matth. cap. 6, n. 3; Bonaventura, In Lue. cap. 11, n. 17 (?). </ref> Die übrigen älteren Autoren, Cyprian, Cyrill, der Nyssener, Chrysostomus und die anderen, kümmern sich nicht um die Zahl<ref> Zu den Zitaten von Cyprian, CyriIl, Hieronymus, Gregor von Nyssa, Chrysostomus siehe oben Anm. 13. </ref>, behandeln aber dennoch das Gebet in der Weise, dass sie klar genug ausdrücken, dass es in sieben Bitten aufgeteilt ist. Aus diesem Grund ist es falsch, wenn man es auch nicht als eine Lüge bezeichnen kann, was Calvin vorbringt<ref> Calvin, Instit. III 20,35. In edit. Brunsv. II col. 661 werden Augustinus, Enchir. 116, und Chrysostomus, d. h. der Autor des "Opus imperfectum in Matthaeum", zitiert. </ref>, die älteren Väter stünden auf seiner Seite, und dabei Augustinus und Chrysostomus an den Rand schreibt. Denn (wie gerade angemerkt) kümmert sich Chrysostomus gar nicht um die Zahl, Augustinus dagegen sagt folgendermaßen im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 115: "Darum scheint das Vater Unser beim Evangelisten Matthäus sieben Bitten zu enthalten." Und im Buch 2 "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 16: "Die siebte und letzte Bitte lautet: ,Sondern erlöse uns von dem Bösen.'" Ebenso Kap. 17: "Die Unterscheidung dieser sieben Bitten aber muss man bedenken und sich einprägen." Ebenso Kap. 18: "Auch scheint mir die Siebenzahl dieser Bitten jener Siebenzahl zu entsprechen, aus der diese ganze Predigt herrührt." Das gleiche findet sich in der Homilie 42 aus dem "Buch der 50 Homilien (Lib. 50 homiliarum)" am Ende, wo Augustinus das Vater Unser in drei Bitten, mit denen das Ewige, und in vier, mit denen das Zeitliche erbeten wird, einteilt.<ref> Augustinus, Enchir. 115: PL 40,285; Augustinus, De serm. D. in monte II 9,35; 10,36; 11,38: PL 34,1284-1286; Augustinus, Lib. 50 hom., homo 42 = Serm. 58,10,12: PL 38,399; vgl. auch Augustinus, Serm. de tempo 182 = Serm. app. 64,3 = PL 39,1867.</ref> So soll Calvin also schauen, wo er bei Augustinus die Sechszahl der Bitten finden wird.

Ein Vernunftgrund kommt noch hinzu, denn wenn es nicht sieben Bitten sind, dann ist das Vater Unser nicht ganz kurz und ganz vollständig, während es doch von den heiligen Vätern aufgrund seiner Kürze und Vollständigkeit immer wieder gelobt wird. Es könnte nämlich, so meine ich, nicht von äußerster Kürze sein, weil dieselbe Sache dann zweimal gesagt werden würde, nämlich "und führe uns nicht in Versuchung" und "erlöse uns von dem Bösen." Es ist aber nicht glaubwürdig, dass der Herr, der kurz zuvor in Mt 6,7 gesagt hatte: "Wenn ihr betet, gebraucht nicht viele Worte", nun eine Gebetsform vorschreibt, in der ein und dieselbe Sache mit verschiedenen Worten, d. h. mit zwei Sätzen, ausgedrückt wird. Ebensowenig wird es dann ganz vollständig sein, denn wenn "und führe uns nicht in Versuchung" und "erlöse uns von dem Bösen" ganz und gar dasselbe ist, werden wir nicht um Befreiung von einem vergangenen Übel, sondern nur von einem zukünftigen beten, und auch nicht vom Übel der Strafe, sondern nur vom Übel der Schuld. Denn die Versuchung, in die wir nach unserer Bitte nicht geführt werden möchten, ist kein vergangenes Übel, sondern ein zukünftiges, und auch kein Übel der Strafe, sondern der Schuld.

Es kommt schließlich noch dazu, dass es vollkommen zusammen passt, dass es so viele Bitten des Vater Unser gibt, wie es Gaben des Heiligen Geistes gibt, da nun einmal jene Gaben diesen Bitten entsprechen, wie es der hl. Augustinus im zweiten Buch von "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)" nachweist.<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 11,38: PL 34,1286. </ref>

Ferner erwähnt Calvin<ref> Calvin, Instit. loe. laud., col. 661. </ref> ein Argument in der Partikel "sondern", das nicht völlig zu verwerfen ist. Denn wenn es zwei Bitten wären: "führe uns nicht in Versuchung" und "erlöse uns von dem Bösen", dann wären sie nicht durch das adversative "sondern" verbunden, sondern durch das verbindende "und". Nun lautet es aber folgendermaßen: "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen", wie wenn damit gesagt worden wäre: "Führe uns nicht in Versuchung, sondern entreiße uns aus der Versuchung."

Darüberhinaus gibt es aber einen noch schwerwiegenderen Einwand, da Lukas 11,4 diesen Satz "sondern erlöse uns von dem Übel" nicht hat. Und der hl. Augustinus sagt im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 116<ref> Augustinus, Enchir. 116: PL 40, 286. </ref>, dieser Satz sei aus dem Grund von Lukas nicht hinzugefügt worden, weil er im vorhergehenden enthalten ist. Das ist vielleicht die Stelle bei Augustinus, die Calvin im Blick hatte, als er Augustinus für die Sechszahl der Bitten zitierte.<ref> Vielleicht zog Calvin auch Serm. de tempo 135 = Serm. 59,s: PL 38,401-402 in Betracht. </ref>

Was die Partikel "sondern" betrifft, so erwidere ich, dass sie an dieser Stelle nicht dafür gesetzt wurde, um das zuvor Gesagte zu erläutern - das würde nämlich überflüssig erscheinen und wäre der Kürze des Gebets abträglich. Vielmehr soll sie etwas Größeres andeuten, um die Aussage einer gewissen Korrektur anzuzeigen. Das wäre deutlicher, wenn das Wörtchen "eher" derart hinzugefügt wäre: "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns eher von jeglichem Bösen." Das ist, wie wenn ein Schuldner zu seinem Gläubiger sagte: "Bitte verlange nicht das Geld zurück, das du mir geliehen hast, sondern gib mir eher noch einiges!"

Was aber die Übereinstimmung von Matthäus und Lukas betrifft, muss man wissen, dass bei Lukas nach den lateinischen Handschriften zwei Bitten fehlen: "Dein Wille geschehe" und "Erlöse uns von dem Bösen".<ref> Zu den verschiedenen lateinischen, griechischen und syrischen Fassungen des Vater Unser bei Lukas vgl. A. Merk, Novum Testamentum Graece et Latine, Rom 1951. Sodann Euthymius, In Lucam 11,1-4: PG 129, 969, und Theophylakt, In Lucam 11,1-4: PG 123,853-856. </ref> Folglich würden das nicht sechs, wie es Calvin will, sondern nur fünf Bitten ergeben, wenn man diesem Einwand stattgeben dürfte.

Erstens ist es also möglich, dass in den lateinischen Handschriften infolge einer Unachtsamkeit der Abschreiber diese zwei Bitten fehlen, die sich vollständig in den griechischen und syrischen Handschriften finden und von Euthymius und Theophylakt in ihren Lukaskommentaren ausgelegt werden. Sodann kann es auch sein, dass der Herr bei Lukas das Vater Unser nicht vollständig überliefert hat. Denn es steht fest, dass der Herr die Gebetsform bei Lukas zu einem anderen Zeitpunkt und vor anderen Hörern gelehrt hat als bei Matthäus. Und da der Herr bei Lukas die ärmeren Jünger unterwies, denen er für gewöhnlich alles kürzer und unvollkommener überlieferte, darum hat er ihnen (wie Rupert anmerkt<ref> Rupert von Deutz, In Matth. lib. V cap. 6 PL 168, 1428 und 1434. </ref>) vielleicht nicht das vollständige Gebet überliefert.

Drittens schließlich lässt sich mit dem heiligen Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 116<ref> Augustinus, Enchir. 116: PL 40, 286. </ref>, sagen, die zwei Bitten seien bei Lukas ausgelassen worden, weil sie in gewisser Weise in den vorherigen enthalten seien. Nicht dass sie völlig identisch mit ihnen sind, vielmehr sind sie ihnen sehr ähnlich und können leicht aus ihnen abgeleitet werden. Denn darum fügt der heilige Augustinus die Partikeln "in gewisser Weise" und "gleichwie" hinzu, indem er behauptet, die dritte Bitte sei in gewisser Weise die Wiederholung der ersten und der zweiten, und die siebte sei gleichsam eins mit der sechsten. Dasselbe ist, wie wir sehen, bei den Seligpreisungen geschehen. Denn Matthäus hat im Kap. 5, V. 3-12 acht aufgezählt, Lukas aber im Kapitel 6, V. 20-23 vier. Es sind jedoch (wie der heilige Ambrosius im fünften Buch zu Lukas darlegt<ref> Ambrosius, In Lue. V n. 49: PL 15, 1649. </ref>) in jenen acht diese vier enthalten und in diesen vier jene acht. Wie es darum nach allgemeiner Übereinstimmung acht evangelische Seligpreisungen gibt, obwohl Lukas sie auf vier zusammenfasste, so gibt es sieben Bitten des Vater Unser, auch wenn Lukas sie auf fünf zurückführte.

f

Zur Frage der Reihenfolge der Bitten lehrt der heilige Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 115, und im Buch 2 "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 17<ref> Augustinus, Enchir. 115: PL 40,285; De serm. D. in monte II 10,36: PL 34,1285.</ref>, mit den drei ersten Bitten bete man um Ewiges, mit den vier weiteren um Zeitliches. Die ganze Frage erläutert Cornelius Iansenius vollständiger in der "Evangelienkonkordanz (Concordia Evangelica)".<ref> Iansenius, Concordantia evangelica ll, cap. 41 (Ausgabe Venedig 1568),121. </ref> Er schreibt nämlich, zuerst bete man um die Ausgießung von Gütern, sodann um die Beseitigung von Übeln. Bei den Gütern bete man aber zuerst um das Gut Gottes: "Geheiligt werde dein Name", zweitens um unser höchstes Gut: "Dein Reich komme", drittens um unser mittleres Gut, nämlich die Gnade, die Gebote zu halten: "Dein Wille geschehe", viertens unser niedrigstes Gut, nämlich die zeitlichen Hilfsmittel: "Unser tägliches Brot gib uns heute". Bei den Übeln bitte man zuerst um die Beseitigung des vergangenen Übels: "Vergib uns unsere Schulden", zweitens um die des zukünftigen Übels: "Und führe uns nicht in Versuchung", drittens um die des gegenwärtigen Übels: "Sondern erlöse uns von dem Bösen."

Ganz ausführlich legt der hl. Thomas in II-II, quaestio 83, art. 9, die Reihenfolge der Bitten folgendermaßen dar. Da ja das Gebet ein Verlangen auslegt, das Verlangen aber ein Akt der Liebe ist, mit der wir Gott in sich und uns in Gott lieben<ref> "in sich und uns in Gott" (= Korrektur Bellarmins, lectio antecedens im Archiv der Päpstlichen Universität Gregoriana 381: "wegen sich und alles übrige wegen Gott"). </ref> , deshalb erbitten wir zuerst die Ehre Gottes, damit sein Name geheiligt werde. Diese Bitte erwächst aus der Liebe, mit der wir Gott in sich lieben. Zweitens unsere Seligkeit, die wir haben werden, wenn das Reich Gottes kommt. Diese Bitte aber erwächst aus der Liebe, mit der wir uns in Gott lieben. Drittens das an sich hauptsächliche Mittel zur Seligkeit, nämlich der Gehorsam gegenüber dem Gesetz: "Dein Wille geschehe." Denn durch den Gehorsam dem Gesetz gegenüber verdienen wir die Seligkeit. Viertens das Mittel an sich, freilich als Hilfsmittel, d. h. das Brot, und zwar zuweilen das geistliche Brot des Wortes und der Sakramente, zuweilen auch das leibliche Brot. Fünftens das akzidentielle Mittel, d. h. die Beseitigung der Sünde in der Vergangenheit, die im eigentlichen Sinn vom Reich ausschließt und die unserem ersten Gut entgegensteht. Sechstens ein anderes akzidentielles Mittel, d. h. die Beseitigung der Sünde in der Zukunft, dass wir nämlich nicht von der Versuchung überwältigt werden, die verhindert, dass wir die Weisungen Gottes beachten, was unser zweites Gut war. Siebtens noch ein anderes akzidentielles Mittel, d. h. die Beseitigung des Übels in der Gegenwart, nämlich allen Elends dieses Lebens, insofern es verhindert, dass diejenigen zeitlichen Güter ausreichend zur Verfügung stehen, welche auf ihre Weise zur Erlangung des ewigen Lebens notwendig oder wenigstens nützlich sind. Darum stehen diese Übel, nach deren Beseitigung wir in der letzten Bitte verlangen, unserem dritten Gut entgegen, das wir in der vierten Bitte von Gott erflehen.

Auslegung des Vater Unser

Nun wollen wir zur Auslegung der eigentlichen Worte des Vater Unser kommen. Dabei wollen wir nicht so sehr unsere als die Auslegungen der Väter in den Mittelpunkt stellen.

VORWORT. "Vater unser, der du bist im Himmel"

Diese wenigen Worte enthalten das Vorwort zum gesamten Gebet. Es ist ganz kurz, ganz schön und ganz nützlich. Denn zuerst erinnert es uns an die göttliche Annahme an Kindes statt, während wir sprechen "Vater unser", und an die irdische Pilgerschaft, während wir ergänzen "der du bist im Himmel", damit wir zugleich begreifen, dass wir Hilfe nötig haben, weil wir Pilger sind, und Vertrauen fassen, Bitten zu äußern, weil wir Söhne Gottes sind. So sagt es der hl. Bernhard in der "Predigt zu Mariä Geburt (Sermo de Natali B. Mariae)" mit dem Titel "Das Aquädukt (De aquae ductu)".<ref> Bernhard von Clairvaux, In nativitate Beatae Mariae Virginis: PL 183, 438-439. </ref>

Zweitens sind diese Worte gewissermaßen das Vorwort, das Wohlwollen gewinnt, wie der hl. Augustinus im Buch 2 "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 18, aufweist.<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 4,15: PL 34,1275. </ref> Denn wenn wir sprechen "Vater unser", loben wir die Güte Gottes, der es nicht für unter seiner Würde hält, von ganz nutzlosen Knechten Vater genannt zu werden. Wenn wir dann weiter sagen "der du bist im Himmel", loben wir die Macht und Erhabenheit dessen, der im Himmel, d. h. auf dem höchsten Thron, regiert. Diese zwei Wendungen werden für gewöhnlich mit den zwei Ausdrücken benannt "Optimus, Maximus (Bester und Größter)".

Drittens erwecken diese Worte im Beter Liebe und Furcht, die besten Vorbereitungen zum rechten Beten. Es wird nämlich derjenige zur Liebe entflammt, der bedenkt, dass er sich dem Vater naht, um mit ihm über das ihm Notwendige zu sprechen. Zugleich wird derjenige auch durch heilige Furcht aufgerüttelt, der bedenkt, dass dieser Vater im Himmel sitzt und das Irdische zugleich mit dem Himmlischen lenkt.

Viertens legen wir in einem gewissen wunderbaren Kunstgriff den Grund nahe, warum Gott uns erhören kann und muss. Denn wenn er Vater ist, darf er den Söhnen das, was sie berechtigt erbitten, sicherlich nicht verweigern. Wenn er im Himmel als höchster Lenker des Alls ist, ist alles in seiner Hand, und er kann tun, was immer er will.

Fünftens rufen wir uns selbst ins Gedächtnis (wie Cyprian lehrt<ref> Cyprian, De dom. orat. 9: PL 4,525 (538). </ref>), dass wir uns daran erinnern, dem irdischen Vater widersagt zu haben, dafür aber angefangen haben, einen Vater im Himmel zu haben, und dass wir darum danach kein irdisches, sondern ein himmlisches Leben führen sollen und nicht auf Erden, sondern im Himmel Heimat und Erbe suchen sollen.

* * *

Nun ist aber ein wenig über die einzelnen Worte im besonderen zu sagen.

Zunächst ist über den Begriff "Vater" festzustellen, dass mit ihm die erste Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit gemeint ist und dass sich das Vater Unser an sie richtet, wie es Tertullian, Cyprian, Ambrosius und Augustinus an den oben erwähnten Stellen lehren<ref> Tertullian, De orat. 2: PL 1,1154 (1256); Cyprian, De dom. orat. 10-11: PL 4,525-526 (542-543); Ambrosius, De Sacram. V 4,19: PL 16,451 (470); Augustinus, Serm. 57,2: PL 38,387; De verb. Dom. 28 = Serm. app. 84,1: PL 39,1908; Serm. de tempo 126 = serm. app. 65,1: PL 39,1870. </ref>. Allerdings werden (wie es Tertullian lehrt<ref> Tertullian, loe. laud. 1154 (1256). </ref>) im Vater auch der Sohn und der Heilige Geist angerufen, deren Natur eine ist, eine Macht, ein Wille und eine Gottheit. Dasselbe können wir auch in den meisten Kollektengebeten beachtet finden, die an den Vater gerichtet sind und durch den Sohn beendet werden, "der mit demselben Vater und dem Heiligen Geist lebt und herrscht in die Ewigkeit der Ewigkeiten".

Hier wird nun meist gefragt, ob an dieser Stelle Gott Vater der Menschen aufgrund der Schöpfung entsprechend Dtn 32,6 genannt wird: "Ist er nicht dein Vater, der dich gemacht und erschaffen hat?" Oder aufgrund der Annahme an Kindes statt, von der der Apostel in Röm 8,15 spricht: "Ihr habt den Geist der Annahme als Söhne empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater." Übrigens bekräftigen der hl. Cyprian, der Nyssener, Chrysostomus, Augustinus und andere, Gott werde in diesem Gebet hauptsächlich aufgrund der Annahme an Kindes Vater statt genannt.<ref> Cyprian, De dom. orat. 9-11: PL 4,525-526 (542-543); Gregor von Nyssa, De orat. dom., serm. 3: PG 44,1157-1160; Chrysostomus, In Matth. homo 19,4: PG 57,278; Augustinus, loe. modo eit., und: De serm. D. in monte II 4,15-16 und 11,38: PL 34, 1276 und 1286-1287.</ref> Denn dieses Gebet ist spezifisch für das Neue Testament. Die Juden dagegen (wie Augustinus im 2. Buch "Die Bergpredigt [De sermone Domini in monte]", Kap. 8, darlegt<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 4,15: PL 34, 1275-1276. </ref>) hörten wie Knechte auf dem Berg Sinai: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat" (Ex 20,2). Wir aber werden geheißen, wie Söhne zu beten:

"Vater unser, der du bist im Himmel". Daraus entnimmt der hl. Gregor von Nyssa in der 2. Rede "Das Vater Unser (De oratione Dominica)"<ref> Gregor von Nyssa, De orat. dom. serm. 2: PG 44,1141-1144 und 1148. </ref>, dass diejenigen, die keine Söhne Gottes sind und es auch nicht sein wollen, also diejenigen, die freiwillig in der Todsünde verharren, lügnerisch sagen: "Vater unser, der du bist im Himmel". Denn wenn sie den Vater anrufen, rufen sie (wie er selbst sagt) nicht Gott, sondern den Teufel an. Denn sie sind aus dem Vater, dem Teufel. Der Teufel aber ist nicht im Himmel, sondern in der Hölle. Auf ein solches Gebet wird jedoch zu Recht das Wort von Spr 28,9 angewandt: "Sein Gebet wird abscheulich sein", ebenso wie das des Blindgeborenen in Joh 9,31: "Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört." Wenn dagegen der Sünder Buße zu tun beginnt und schon der Hoffnung und dem Verlangen nach ein Sohn Gottes ist, kann er nicht widersinnig sagen: "Vater unser", wie der hl. Hieronymus im Brief an Damasus "Der verlorene Sohn" aufzeigt.<ref> Hieronymus, EpististoIa 21,22: PL 22, 387. </ref> Das beweist er aus dem, was der verlorene Sohn in Lukas 15,18 sagt, obwohl er noch nicht versöhnt ist, nämlich dass er es nicht verdient, Sohn zu heißen. Trotzdem nenne er ihn aber Vater mit den Worten: "Vater, ich habe gegen den Himmel und gegen dich gesündigt". Ebenso betet auch Jesaja in 63,16 in der Person derer, die Buße tun: "Du, Herr, bist unser Vater" usw.

Des weiteren ist zum Begriff "unser" zu bemerken, mit diesem Begriff würden die Reichen und Adligen gemahnt, wie der hl. Augustinus an der angegebenen Stelle bemerkt<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 4,16: PL 34,1276; Serm. 58,2: PL 38,393. </ref>, sich nicht über die übrigen zu erheben und nicht die Armen und Niedrigen gering zu schätzen, weil sie in diesem Gebet zu verstehen geben, dass sie alle Christen als ihre Brüder anerkennen. Ebenso werden die Gläubigen zu Einheit und Frieden ermahnt, wie der hl. Cyprian lehrt<ref> Cyprian, De dom. orat. 8: PL 4,524 (541). </ref>, die wir mit allen halten müssen, wenn wir erhört werden möchten. Denn diejenigen, die gemeinsam einen Vater anrufen, müssen ein Herz und eine Seele sein<ref> Vgl. Apg 4, 32. </ref> und gewissermaßen mit einem Mund beten "Vater unser", was wir von den drei Jünglingen in Daniel 3, 51 lesen: "Da lobten die drei Gott wie aus einem Mund." Schließlich entnehmen die Väter Cyprian, Ambrosius und Chrysostomus<ref> Cyprian, loe. laud. 8, e. 523 (540); Ambrosius, De Sacram. V 4,19: PL 16,451 (470); Chrysos tomus, In Matth. homo 19,4: PG 57, 278. </ref> diesem Begriff, dass ein allgemeines Gebet besser sei als ein besonderes. Darum nämlich werden wir zu beten gelehrt: "Vater unser" und nicht "mein Vater". Der hl. Ambrosius bemerkt aber im 1. Buch von "Kain (De Cain)"<ref> Ambrosius, De Cain et Abel I 9,39: PL 14, 336. </ref>, das allgemeine Gebet sei nicht nur nützlicher für die anderen, sondern auch für den Betenden selbst. Denn während die einzelnen für alle beten, folgt, dass alle für die einzelnen beten. Wenn darum jeder für sich sagte "Mein Vater", würde niemand für mich beten außer ich allein. Wenn dagegen alle sagen "Vater unser", dann werden wirklich all diejenigen, die in der christlichen Welt leben, für mich beten, und das ist fürwahr von größtem Nutzen.

Es bleiben noch die Worte "der du bist im Himmel". Bei ihnen kann man fragen, was sie an dieser Stelle eigentlich bedeuten. Nun verstehen allerdings die heiligen Väter Cyrill, Ambrosius und Augustinus unter Himmel die Geister der Heiligen, in denen Gott durch die Gnade wohnt.<ref> Cyrill vonjerusa/em, Catecheses 23,11: PG 33,1117; Ambrosius, De Sacram. V 4,20: PL 16,451 (470); Augustinus, De serm. D. in monte II,5,17: PL 34,1276. </ref> Andere dagegen, etwa Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus und Cassian an den angegebenen Stellen und Bernhard in der Predigt 1 von "Der Psalm ,Qui habitat' (In Psalm.: Qui habitat)"<ref> Gregorvon Nyssa, De orat. dom serm. 2: PG 44,1145; Chrysostomus, In Matth. homo 19,4: PG 57,278; Johannes Cassian, Collat. IX 18: PL 49,789; Bernhard von Clairvaux, In Psalmum "Qui habitat" 14: PL 183,188. </ref>, verstehen den Himmel materiell und im eigentlichen Sinn. Beide Auslegungen sind zwar fromm und wahr, doch die zweite scheint eher dem Buchstaben und dem Sinn des Evangeliums zu entsprechen. Denn in der Schrift wird dieser materielle Himmel, den wir sehen, allenthalben der Sitz Gottes genannt, so bei Jesaja 66,1: "Der Himmel ist mir der Sitz, die Erde aber der Schemel für meine Füße", und Mt 5,34: "Schwört nicht beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, und nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße."

Man spricht aber davon, Gott sei im Himmel, nicht als ob er nicht überall wäre, sondern weil er in ihm die Herrlichkeit seiner Gegenwart am meisten kundtut. Denn auch die Seligen schauen Gott im Himmel von Angesicht zu Angesicht, und wir begreifen die Macht und Weisheit Gottes am meisten aus dem Anblick des Himmels, der der größte und schönste von allen materiellen Dingen ist: Denn "die Himmel erzählen von der Herrlichkeit Gottes, und die Werke seiner Hände verkündet das Firmament" (Ps 18,2).

Des Weiteren wird die Wohnung Gottes zu Beginn dieses Gebetes ganz offen erwähnt, damit wir zum einen gemahnt werden, das Herz in dem Augenblick erhoben zu haben und an nichts anderes als an Himmlisches denken zu dürfen, wenn wir zum Gebet schreiten, wie der hl. Augustinus im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)" im 3. Kapitel bemerkt<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II,3,11: PL 34,1274. </ref>, und damit wir zweitens begreifen, dass es eines lauten Rufens bedarf, wie der hl. Bernhard in der Predigt 16 von "Der Psalm ,Qui habitat' (In Psalm.: Qui habitat)"<ref> Bernhard von Clairvaux, In Ps Qui habitat 16,4: PL 183, 249. </ref> so lehrt, wenn wir von Gott erhört werden wollen, da wir in der Tiefe der Erde, er aber im höchsten Himmel seinen Sitz hat. Das versteht derjenige recht, der in Psalm 129,1 sprach: "Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu dir." Unter Rufen ist aber nicht das des Leibes, sondern des Herzens, und nicht das der Stimme, sondern der Sehnsucht zu verstehen.

ERSTE BITTE: "Geheiligt werde dein Name"

Das ist die erste Bitte. Manche beziehen sie sicherlich auf die Heiligkeit Gottes, die in uns begonnen oder vollendet werden soll, dass wir nämlich das Gebet darauf richten, heilig zu sein oder in der Heiligkeit fest zu bleiben - so Tertullian und Cyprian <ref> Tertullian, De orat. 3: PL 1,1155-1156 (1258-1259); Cyprian, De dom. orat. 12: PL 4,526-527 (543-544).</ref>. Andere beziehen sie auf die Ehre des Namens Gottes, allerdings insofern sie aus unseren guten Sitten und Werken entsprechend dem Wort von Mt 5,16 folgt: "So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der im Himmel ist, ehren" - so Cyrill in der 5. mystagogischen Katechese, der Nyssener in der 3. Rede "Das Vater Unser (De oratione Dominica)" sowie Chrysostomus, Hieronymus und Rupert in der Auslegung des 6. Kapitels des Matthäusevangeliums.<ref> Cyrill von Jerusalem, Catech. 23,12: PG 33,1120; Gregor von Nyssa, De orat. dom. hom 3: PG 44, 1153-1156; Chrysostomus, In Matth. homo 19,4: PG 57,278-279; Hieronymus, In Matth. lib. I cap. 6,9: PL 26,44; Rupert von Deutz, In Matth. lib. V,6: PL 168,1430-1431. </ref> Die beste und dem Buchstaben am meisten gemäße Auslegung stammt aber vom hl. Augustinus im Buch 2 "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 10, von Cassian, "Gespräche (Collationes)" 9, Kap. 18, vom hl. Bernhard in der Predigt 6 "Zur Fastenzeit (In Quadragesima)"<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 5,19: PI 34,1277; Johannes Cassian, Collat. IX 18: PL 49,791; Bernhard von Clairvaux, Serm. de Quadr. VI 5: PL 183,183. </ref> und anderen, die sagen, es werde einfach die Ehre Gottes erbeten, d. h. dass allen der Name Gottes bekannt gemacht und von allen geheiligt werde. Das geschieht, wenn die Menschen die Götzenbilder und Sünden verlassen und den lebendigen und wahren Gott anerkennen<ref> Vgl. Joh 17, 3. </ref>, ihm glauben, auf ihn hoffen, ihn aus ganzem Herzen lieben, loben, preisen, verkünden und verehren. So verwirklicht sich aber, was Malachias 1,11 vorhersagte, es werde einst eintreffen: "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang ist mein Name groß unter den Völkern." Denn die vorherigen Auslegungen, besonders die erste, sind deshalb weniger wahrscheinlich, da sie diese Bitte beinahe mit der dritten vermischen.<ref> Ambrosius, De Sacram. V 4,23: PL 16,451 (471); Rupert von Deutz, In Matth. lib V cap. 6: PL 168,431-432. </ref>

ZWEITE BITTE: "Dein Reich komme"

Das ist die zweite Bitte. Während wir in der ersten die Ehre Gottes erbaten, erbitten wir nun in der rechten Reihenfolge unsere Seligkeit. Denn das Reich Gottes findet sich in der Heiligen Schrift in dreifacher Weise: als Reich der Herrlichkeit, als Reich der Gnade und als Reich, das man als natürliches oder als das der Natur bezeichnen kann.

Um nun aber mit der letztgenannten Bedeutung zu beginnen, so wird das Reich Gottes der Natur als diejenige Herrschaft bezeichnet, die Gott von Natur aus über alles Geschaffene besitzt, das er nach seinem Ermessen lenkt und leitet. Davon lesen wir im Ps 144,13: "Dein Reich ist ein Reich aller Zeiten." Es gibt niemanden, der meint, die zweite Bitte des Vater Unser auf dieses Reich beziehen zu müssen, da es ja nicht nötig ist, darum zu bitten, dass das geschehe, was allezeit geschieht und nicht nicht geschehen kann. Dieses Reich aber besteht allezeit, es war immer und wird immer sein. Und obwohl die Gottlosen sich mit nichts mehr abmühen, als das Reich Gottes, d. h. die Ordnung der göttlichen Vorsehung, zu stören, so geschieht dennoch allezeit, was Gott will, und, wie es Mordechai in Est 13,9 sagt: "In die Macht Gottes ist alles gelegt, und es gibt niemanden, der seinem Willen widerstehen könnte."

Das Reich der Gnade ist dasjenige, wodurch Gott in der Kirche in den Geistern der Gläubigen herrscht, wovon es in Mt 13,41 heißt: "Sie werden aus seinem Reich alle Ärgernisse zusammenlesen." Manche legen diese Bitte auf dieses Reich hin aus, so der hl. Ambrosius im 5. Buch "Die Sakramente (De sacramentis)", Kap. 4, Rupert im Kommentar zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums und andere.<ref> Ambrosius, De Sacram. V 4,23: PL 16,451 (471); Rupert von Deutz, In Matth. lib V cap. 6: PL 168,431-432. </ref>

Die der Sache am nächsten kommende Auslegung aber bezieht sich auf das Reich der Herrlichkeit, das jetzt in den Geistern der Seligen beginnt und am Jüngsten Tag vollendet wird, wenn die Seligen auch die Herrlichkeit der Leiber empfangen haben und mit Gott vollkommen und glückselig herrschen werden. Denn dann wird jede Macht der Dämonen und der gottlosen Menschen weggenommen werden, und Gott allein und sein Sohn werden überall ohne jeden Widerstand herrschen.

Dass diese Auslegung die beste ist, ist klar. Erstens weil in ihr Tertullian, Cyprian, Cyrill, Chrysostomus, Hieronymus, Augustinus, Cassian, Bernhard und fast alle anderen übereinstimmen.<ref> Tertullian, De orat. 5: PL 1,1158-1160 (1261); Cyprian, De dom. orat. 13: PL 4,527f. (538); Cyrill von Jerusalem, Catech. 23,13: PG 33,1120; Hieronymus, In Matth. cap. 6,10: PL 26,44; Augustinus, De serm. D. in monte II 6,20: PL 34,1278; Augustinus, Serm. 57,s: PL 38,388; Augustinus, Lib. 50 homo homo 42 = Serm. 58,2,3: PL 38,394; Johannes Cassian, Collationes IX 19: PL 49,792; Bernhard von Clairvaux, Serm. de Quadr. VI 5: PL 183,183.</ref> Zweitens weil obige Auslegung die zweite Bitte mit der folgenden vermischt, diese dagegen die eine von der anderen angemessen und passend unterscheidet. Drittens weil, wenn wir nicht so sprächen, nirgendwo im gesamten Vater Unser um die Seligkeit gebetet würde. Dennoch scheint es richtig zu sein, vor allem um sie zu bitten. Denn (wie der hl. Augustinus, in Psal. 118, cont. 20, lehrt<ref> Augustinus, Enarr. in Psalm. 118 serm. 20,1: PL 37,1557. </ref>) wie vor der Menschwerdung Christi alle Wünsche der Frommen sich auf die erste Ankunft Christi richteten, so ist es nun entsprechend, dass sie sich auf die zweite richten. Auch der Apostel mahnt dazu, wenn er in Röm 8,23 sagt: "Auch wir selbst stöhnen innerlich, da wir die Annahme als Söhne Gottes erwarten, die Erlösung unseres Leibes," und in 2 Tim 4,8: "Mir ist die Krone der Gerechtigkeit aufbewahrt, die mir der gerechte Richter an jenem Tag überreichen wird, aber nicht nur mir, sondern auch denen, die seine Ankunft lieben," und in Tit 2,13: "Die selige Hoffnung und die Ankunft der Herrlichkeit des großen Gottes erwartend". Viertens weil das Reich Gottes, dessen Kommen verheißen wird, in der Schrift kaum jemals anders verstanden wird als in Bezug auf die Auferstehung und die himmlische Herrlichkeit, etwa in Lukas 13,28: "Wenn ihr Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes sehen werdet, euch aber hinausgestoßen," und Kap. 14,15: "Selig, wer das Brot im Reich Gottes essen wird", und Mt 25,34: "Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch von der Erschaffung der Welt an bereitet ist."

DRITTE BITTE: "Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden"

Zu Recht unterscheiden die Theologen den Willen Gottes in einen ,Willen des Zeichens' (voluntas signi) im Sinn einer Willenskundgabe und in einen ,Willen des Wohlgefallens' (voluntas beneplaciti) im Sinn einer Hinneigung zu etwas. Mit dem Willen des Zeichens bezeichnen sie die Gebote und Verbote, mit denen Gott bezeichnet, was er von uns getan oder nicht getan haben will. Unter Willen des Wohlgefallens verstehen sie denjenigen, mit dem Gott unbedingt will, dass etwas geschieht. Das geschieht immer, und keine äußere Macht kann es verhindern.

Auf die erste Bedeutung hin sind die folgenden Stellen zu lesen: Mt 12,50: "Wer immer den Willen meines Vaters, der im Himmel ist, tun wird, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter." Joh 4,34: "Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat." 1 Thess 4,3: "Denn das ist der Wille Gottes: eure Heiligung." Hebr 10,36: "Damit ihr den Willen Gottes tut und dadurch die Verheißung empfangt." Auf die zweite Bedeutung hin sind die folgenden Stellen zu lesen: Ps 113,3: "Alles, was der Herr wollte, das hat er auch getan, im Himmel wie auf der Erde." Jesaja 46,10: "Jeder meiner Ratschlüsse wird feststehen, und jeder Entschluss meines Willens wird geschehen." Ester 13,9 (Vulgata): "Niemanden gibt es, der deinem Willen widerstehen kann." In dieser Bitte "Dein Wille geschehe" stimmen aber die eingangs zitierten Väter darin überein, dass der Wille als Wille des Zeichens verstanden ist. Das nämlich ist es, worum wir bitten, dass uns die Gnade und die Hilfe Gottes beistehen, wodurch wir die göttlichen Gebote erfüllen können und wollen.

An dieser Stelle bemerkt der Autor des "Unvollendeten Werkes zum Matthäusevangelium (Opus imperfectum in Matthaeum)"<ref> PS.-Chrysostomus, Op. imp. in Matth. 9, Hom. 14: PG 56, 712. </ref>, zu Recht heiße es "dein Wille geschehe" und nicht "verwirkliche in uns deinen Willen" oder "Wir wollen deinen Willen tun", damit wir erkennen, dass der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, den wir mit Gottes Hilfe leisten, nicht das Werk Gottes allein und auch nicht bloß unseres freien Willens ist, sondern beider zugleich.

Obwohl aber diese Bitte hauptsächlich auf den Gehorsam gegenüber dem Gesetz und auf den Willen des Zeichens bezogen ist, kann sie in gewisser Weise auch auf den Willen des Wohlgefallens bezogen werden, insofern wir nämlich niemals das Wohlgefallen Gottes tadeln oder über es murren dürfen, selbst wenn er uns in Bedrängnis und Bedrückung führen will, sondern ihm geduldig und gern auch zustimmen sollen. In dieser Weise nämlich sagt der Herr in Lk 22,42: "Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine." Und als die Jünger in der Apostelgeschichte 21,14 Paulus nicht daran hindern können, sich nach Jerusalem in offensichtliche Gefahr zu begeben, eingekerkert und in Fesseln gelegt zu werden, sagten sie: "Es geschehe der Wille Gottes."

Auch der heilige Cyprian sagt in der Predigt "Die Sterblichkeit (De mortalitate)", als er das Volk ermahnt, gleichmütig die tödliche Epidemie zu ertragen, die damals in jener Provinz wütete: "Wir sollen uns daran erinnern, dass wir nicht unseren, sondern Gottes Willen tun sollen, dementsprechend, wie unser Herr uns geheißen hat, täglich zu beten."<ref> Cyprian, De mortalitate 18: PL 4,594 (616). </ref> Und der hl. Augustinus führt in der Predigt 109 im Kirchenjahr (De Tempore), der ersten am Dienstag nach dem Passionssonntag, diese eben genannte Stelle aus der Apostelgeschichte 21,24 an: "Es geschehe der Wille des Herrn". Dabei sagt er: "Wünschten sie etwa, weil sie sagten: ,Es geschehe der Wille des Herrn', dem Apostel, solches zu leiden, oder unterwarfen sie nicht eher ihren Geist in tiefster Frömmigkeit dem erhabenen und göttlichen Ratschluss?"<ref> Augustinus, Serm. de tempo 109 = Serm. 22,2: PL 38,150. </ref>

Übrigens lehrt derselbe Augustinus ganz recht im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 101<ref> Augustinus, Enchir. 101: PL 40,279. </ref> , wir dürfen nicht immer die Verwirklichung dessen wünschen, was Gott aufgrund des Willens seines Wohlgefallens will, obwohl der Ratschluss Gottes einem niemals missfallen darf. Denn oft passt dem Willen Gottes das eine, uns das andere. So kommt es auch, dass der Mensch oft trotz guten Willens nicht will, was Gott will, so wie einst Joseph von Arimathäa nicht wollte, dass Christus getötet werde, und deshalb nach Lk 23,51 den Taten der Juden nicht zustimmte; und ebenso dass er oftmals aus einem bösen Willen heraus will, was Gott will, wie die Juden, die Christus töten wollten.

Daraus erkennen wir auch, es ist kein Übel, wegen der Bedrängnisse der Kirche und anderem Leid betrübt zu sein, was uns gemäß dem Wohlgefallen Gottes zustößt, und um ihre Abwendung auch noch zu bitten. Denn so beklagte Samuel Saul, von dem er wusste, dass er von Gott verworfen war, David beweinte den Tod Abschaloms, Jeremia betrauerte auf das bitterste den Untergang Jerusalems, und der Herr selbst "sah die Stadt und weinte über sie"; auch sträubte er sich gegen seinen eigenen Tod und betete zum Vater, dass, wenn es möglich sei, die Stunde an ihm vorübergehe<ref> Vgl. 1 Kön 15,34; 2 Kön 18,33; Klg; Lk 19,41; Mt 26,39-42; Mk 14,36; Lk 22,42. </ref>. Schließlich beweinen alle Väter in ihren Trauerreden ihre Verstorbenen, deren Leben der Kirche offensichtlich nützlich erschien.

Hauptsache soll es also sein, dass wir über den Willen des Wohlgefallens nicht murren, sondern den Willen des Zeichens mit aller Kraft erfüllen sollen. Denn obwohl wir nicht immer das wollen sollen, was Gott unbedingt will, dass es geschehe, so müssen wir doch immer das wollen, was Gott will, dass wir es wollen, was uns wie gesagt durch das Gesetz und die Gebote nach 1 Kön 15,22 erläutert wird: "Will Gott etwa Ganzopfer und Opfergaben und nicht vielmehr, dass man der Stimme des Herrn gehorcht?"

* * *

Der Zusatz "wie im Himmel, so auf Erden" wird nun aber in vierfacher Weise von den Vätern ausgelegt.

Erstens nämlich verstehen sie unter dem Himmel den Geist und unter der Erde das Fleisch. Weil "das Fleisch gegen den Geist begehrt, der Geist aber gegen das Fleisch" (Gal. 5,17), sagen sie, wir bäten darum, dass das Fleisch mit dem Geist in Einklang stehe, und wie der Geist dem Gesetz Gottes untertan ist, so soll das Fleisch nicht mehr weiter dem Gesetz der Sünde dienen, sondern dem Gesetz Gottes. So Tertullian, Cyprian und Augustinus.<ref> Tertullian, De orat. 4: PL I,1157 (1259); Cyprian, De dom. orat. 16: PL 4,529 (546); Augustinus, De serm. D. in monte II,6,23: PL 34,1279; Lib. 50 homo Hom. 42 = Serm. 58,3,4: PL 38, 394. </ref>

Dann wieder verstehen sie unter Himmel die Gläubigen und Gerechten und unter Erde die Ungläubigen und Sünder, so dass der Sinn der Bitte darin besteht, dass, wie die Gläubigen und Gerechten Gott dienen, sich ebenso die Ungläubigen und Sünder zu Gott bekehren, sich ihm unterwerfen und ihm dienen. So Cyprian.<ref> "So Cyprian" ist ein Irrtum Bellarmins, vielmehr: Augustinus, De serm. D. in monte II,6, 22: PL 34,1279. </ref>

Ebenfalls verstehen sie unter Himmel Christus und unter Erde die Kirche. So meinen sie, es werde erbeten, dass die Kirche ihren Bräutigam im Gott geschuldeten Gehorsam nachahme. Denn er "war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz" (Phil 2,8). So Augustinus im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De serm. Domini in monte)", Kap. 11.<ref> Augustinus, a. a. 0.24, e. 1279. </ref>

Die übliche und ganz wörtliche Auslegung besteht jedoch darin, unter Himmel das himmlische Jerusalem bzw. die triumphierende Kirche zu verstehen, unter Erde dagegen die Kirche, die auf Erden streitet und pilgert. Das nämlich wünschen wir, dass so, wie die heiligen Engel im Himmel Gott bereitwillig, vollkommen und in allem gehorchen, auch wir es durch Gottes Gnade tun. So legen es alle eingangs zitierten Väter<ref> S. o. "Die herausragende Bedeutung des Vater Unser". </ref> aus, Griechen wie Lateiner, ausgenommen nur Tertullian und Cyprian, die diese Auslegung nicht erwähnen.

VIERTE BITTE: "Unser tägliches Brot gib uns heute"

Das ist die vierte Bitte, über die ich drei Meinungen der Autoren finde.

Die erste Meinung ist die derer, die behaupten, an dieser Stelle werde nichts anderes erbeten als das leibliche Brot. So legen es Chrysostomus und der Autor des "Unvollendeten Werkes zum Matthäusevangelium (Opus imperfecturn in Matthaeum)"<ref> Chrysostomus, In Matth. hom 19,5: PG 57,280; Op. imp. in Matth. 9, Hom. 14: PG 56, 713. </ref> aus, diese Meinung verteidigen hartnäckig Philipp Melanchthon in den "Orten (Loci)" im Abschnitt über die Anrufung und das Gebet<ref> Melanchthon, Loci communes: de invoc. et precat.: ex pI. orat. dom. 5 (Ausgabe Wittenberg 1562), 1, 279; und dem Sinn nach: In Matth. cap. 6: vol. III pp. 326-332.</ref> und Johannes Calvin im 3. Buch der "Unterweisung (Institutio)", Kap. 20, § 44.<ref> Calvin, Instit. III 20 § 44: ed. Brunsv. Il 669-670. </ref> Folgender Unterschied besteht freilich zwischen den alten Vätern und diesen neueren Häretikern, dass jene diejenigen nicht kritisieren, die diese Bitte als eine um geistliches Brot verstehen, diese dagegen es nicht ohne Vorwurf auffassen, wenn jemand es wagen sollte, diese Stelle im Sinne des geistlichen Brotes auszulegen.

Festzuhalten ist allerdings ein kindischer Irrtum Philipp Melanchthons<ref> Melanchthon, a. a. O. In der letzten Ausgabe der "Loci communes" aus dem Jahre 1551, die in der Wittenberger Ausgabe von 1562 abgedruckt ist, finden sich die von Bellarmin zitierten Worte nicht. Bei der Abfassung der "Kontroversen (Controversiis)" konsultierte Bellarmin allerdings auch die acht ersten Ausgaben.</ref>, der bei seinem Tadel gegen Chrysostomus überhaupt nicht weiß, was er redet:

"Chrysostomus und viele andere verzerren auf geschmacklose Art das Gebet, das Christus überliefert hat, da sie nicht wollen, dass man das tägliche Brot versteht, wenn man vom leiblichen Brot ausgeht." Das sagt er an der zitierten Stelle. Deshalb hat Philipp den Chrysostomus nicht gelesen, sondern als er zur Verteidigung des leiblichen Brotes wütet, beginnt er auf ihn mit den Worten, die ihm als erstes in den Sinn kommen, loszuschlagen.

Diese erste Meinung wird von uns keineswegs gebilligt. Erstens weil alle eingangs zitierten Väter mit Ausnahme von Chrysostomus und dem Autor des "Unvollendeten Werkes"<ref> "Alle Väter", d. h. die im einleitenden Abschnitt "Die herausragende Bedeutung des Vater Unser" zitierten.</ref> diese Stelle entweder ausschließlich oder doch hauptsächlich auf das geistliche Brot beziehen. Zweitens weil das Vater Unser sehr unvollkommen und verstümmelt wäre, wenn in ihm so gewissenhaft um die Nahrung des Leibes gebetet würde, die Nahrung der Seele aber überhaupt nicht erwähnt würde. Drittens weil es nach der Lehre des hl. Augustinus im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 12<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 7,25: PL 34,1280. </ref>, nicht glaubwürdig ist, dass der Herr gewollt habe, dass man so besorgt ausschließlich oder doch hauptsächlich um das leibliche Brot bittet, wo er doch in derselben Predigt mit den Worten von Mt 6,31 geboten hat, die Sorge um die leiblichen Dinge zu meiden: "Seid nicht besorgt, indem ihr sprecht: Was werden wir essen oder was trinken oder womit uns bekleiden? Denn nach all dem suchen ja die Heiden. Euer Vater weiß nämlich, dass ihr das alles nötig habt. Sucht also zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und all dies wird euch dazugegeben werden." Dort hat der Herr offensichtlich aus dem Grund gesagt "euer Vater weiß nämlich, dass ihr das alles nötig habt", damit wir begreifen, es sei nicht nötig, darum besorgt und ängstlich zu bitten. Ebenso hat er ja auch nicht gesagt: "Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und dann dieses Zeitliche", sondern: "und all dies wird euch dazugegeben werden", also auch denen, die nicht danach suchen.

Manche erwidern darauf, dieser Ausdruck bedeute, nicht über zeitliche Dinge besorgt zu sein, wenn jemand sein Denken auf den Herrn richtet und danach nicht auf andere Weise sucht, als indem er es durch Gebet vom himmlischen Vater erbittet. Diese Erwiderung wäre allerdings nicht zu verwerfen, wenn sie damit behaupteten, man müsse diese Güter von Gott wie etwas Zusätzliches erbitten, also nebenbei, Einschlussweise und selten. Doch sie wollen, dass wir darum mitten im Vater Unser bitten, das wir jeden Tag mit höchster Aufmerksamkeit und höchstem Eifer sprechen sollen, und das entschuldigt nicht vom Laster einer übergroßen Sorge und von Ängstlichkeit. Denn wie werden wir nicht zu sehr um die leibliche Speise besorgt sein, wenn wir sie so häufig und mit so viel Aufmerksamkeit dringend verlangen?

Eine andere Auslegung geben der heilige Hieronymus im 6. Kapitel der Erläuterung des Matthäusevangeliums und im 2. Kapitel der Erläuterung des Titusbriefes; der heilige Ambrosius im 5. Buch "Die Sakramente (De sacramentis)", Kap. 4; Cyrill in der 5. mystagogischen Katechese; Johannes Cassian in den "Gesprächen (Collationes)" 9, Kap. 21 und 24; und Petrus Chrysologus in der Predigt "Das Vater Unser (De oratione Dominica)".<ref> Hieronymus, In Matth. lib. I cap. 6,11-13: PL 26, 44; Hieronymus, Commentarius in epistoIam ad Titum cap. 2,11-14: PL 26, 623; Ambrosius, De Sacram. V 4, 24: PL 16, 452 (471); Cyrill von Jerusalem, Catech. 23,15: PG 33, 1120; Johannes Cassian, Collationes IX 21 und 24: PL 49, 794 und 800; Petrus Chrysologus, Sermones 67, 68, 70, 71, 72: PL 52, 392, 395, 400, 402, 406.</ref> Sie beziehen diese Bitte allein auf das geistliche Brot. Doch diese Auffassung, wenn sie die ganze Stelle so vom geistlichen Brot verstanden wissen will, dass das leibliche Brot völlig ausgeschlossen bleibt, scheint nicht sehr wahrscheinlich. Denn wenn man das leibliche Brot in rechter Weise wünschen und erbitten kann, wie es aus dem Gebet des Weisen in Spr 30,8 klar hervorgeht "Gib mir nur das Notwendige zum Lebensunterhalt", ebenso wie aus dem Wunsch des Patriarchen Jakob in Gen 28,20 "Wenn der Herr mit mir ist und mich auf dem Weg, auf dem ich gehe, behütet, und mir Brot zum Essen und Kleidung zum Anziehen gibt, dann werde ich reich zum Haus meines Vaters zurückkehren, und dann wird mir der Herr zum Gott sein" usw., dann muss darum in diesem Gebet sicherlich irgendwie gebetet werden, damit das Gebet vollkommen ist und alles enthält, worum man beten kann, wie wir oben anhand von Augustinus im Brief 121, Kapitel 12, gezeigt haben.<ref> Augustinus, Epist. 130 (121) 12,22: PL 33, 502. </ref>

Eine dritte Auffassung ist folglich zweifellos gutzuheißen, nach der unter dem Begriff Brot die Nahrung im allgemeinen zu verstehen ist, d. h. alle notwendigen Mittel, um das Leben des Leibes wie der Seele zu erhalten. Weil aber die Mittel des geistlichen Lebens wie Sakramente, Predigten und ähnliches mehr viel notwendiger und vorzüglicher sind als die Mittel des leiblichen Lebens, muss sich die Absicht des Beters auf das geistliche Brot als auf das, worum man zuerst bittet, richten, auf das leibliche Brot dagegen als auf etwas Zusätzliches.

Diese Auffassung ist bei den Vätern am weitesten verbreitet. So nämlich erklären Tertullian, Cyprian, Gregor von Nyssa, Theophylakt, Euthymius, Beda und andere, die wir eingangs zitierten, diese Stelle<ref> Tertullian, De orat. 6: PL 1,1160-1162 (1262-1264); Cyprian, De dom. orat. 18-20: PL 4,531-534 (548-551); Gregor von Nyssa, De orat. dom., homo 4: PG 44,1168-1177; Theophylakt, In Matth. 6,11: PG 123, 205; Theophylakt, In Lue. 11,1-4: PG 123, 856; Euthymius, In Matth. 6,11: PG 129, 237; Beda, In Matth. 6: PL 92, 32 f.; Beda, In Lue. 11: PL 92, 472. </ref>, außerdem der hl. Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 115, und im Brief 121, Kap. 11.<ref> Augustinus, Enchir. 115: PL 40,286; Epist. 130 (121) 11,22: PL 33, 503.</ref> Weil daher derselbe Autor im zweiten Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 12 <ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 7,25-27: PL 34,1280f. sowie 10,37: PL 34,1286 (von Tromp nicht eigens belegt). </ref>, diese Stelle allein im Sinne des geistlichen Brotes auslegt, ist darunter hauptsächlich und in vorrangiger Gebetsabsicht das geistliche Brot zu verstehen, nicht aber ausschließlich und allein das geistliche Brot. Andernfalls würde er offenkundig sich selbst widersprechen. In dieser Weise lassen sich auch alle anderen Väter auslegen, die wir für die zweite Meinung angeführt haben.

Nur ein einziger Einwand gegen diese dritte Auffassung besteht darin, dass das griechische Wort "epiousios", das sich bei Matthäus ebenso wie bei Lukas findet, anscheinend nicht auf das leibliche Brot bezogen werden kann. Es bedeutet nämlich entweder "übersubstantiell" oder auf jeden Fall "ausgezeichnet, außerordentlich und herausragend". Ebenso verhält es sich, wie der hl. Hieronymus sagt, mit "epiousios" und "periousios".<ref> Hieronymus, In Matth. lib I cap. 6.11-13: PL 26, 44; In ep. ad Tit. Kap. 2,11-14: PL 26, 622-623.</ref> Der Begriff m:plOuolO<; meint aber "besonders", wie es aus Dtn 7,6; 14,2 und 26,18 und aus Tit 2,14, wo das "auserwählte und besondere Volk" das "laos periousios" heißt<ref> Tit 2,14: "populus acceptabi!is". </ref> , eindeutig hervorgeht.

Darauf erwidere ich: Der Begriff "epiousios" beachtet man den Wortlaut, meint "übersubstantiell". Bedenkt man dagegen die zugrunde liegende Wirklichkeit, steht er für dasselbe wie für "substantiell" bzw. "wesentlich". Das aber ist offensichtlich nicht so sehr auf die Erhabenheit als auf die Notwendigkeit des Brotes zu beziehen. Denn die griechischen Väter, die die Bedeutung des griechischen Wortes am besten kannten, so Basilius in den "Kürzeren Fragen (Quaestionibus brevioribus)", Frage 252, Gregor von Nyssa in der 4. Rede "Das Vater Unser (De oratione Dominica)" sowie Johannes Chrysostomus, Theophylakt und Euthymius in ihren Kommentaren zum sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums meinen<ref> Basilius, Regulae brevius tractatae, interrogatio 252: PG 31,1252; Gregor von Nyssa, De orat. dom., homo 4: PG 44,1176; Chrysostomus, In Matth. homo 19,s: PG 57,280; Theophylakt, In Matth. 6,11: PG 123,205; Euthymius, In Matth. 6,11: PG 129,237. </ref> , "arton epriousion" bedeutet "das substantielle Brot", d. h. das, was dazu geeignet ist, unsere Substanz zu ernähren. Darauf achtete auch der alte Ausleger, der es als "täglich" wiedergibt, d. h. als das, dessen wir täglich bedürfen.

Man mag nun einwenden, die Vulgata setze in Mt 6,11 "supersubstantialem (überwesentlich)", was das lateinische Wort offensichtlich nur auf die Erhabenheit beziehen kann. Darauf erwidere ich: Erstens mangelt es nicht an vielen alten Handschriften der Vulgata, die nicht "supersubstantialem (überwesentlich)", sondern "quotidianum (täglich)" haben. Fest steht, dass auch der heilige Cyprian es so gelesen hat<ref> Cyprian, De dom. orat. 18: PL 4,531 (548). </ref> , ja auch die gesamte lateinische Kirche, die im Vater Unser, das sie zweifellos aus dem Matthäusevangelium entnommen hat, immer gebetet hat und auch heute betet: "Unser tägliches (quotidianum) Brot gib uns heute."<ref> Vgl. Missale Romanum beim Gebet des Kanons das "Pater noster". </ref> So wie ferner die Griechen "epiousiov" lesen und es trotzdem ungeachtet der Präposition im Sinn von "substantiell" auslegen, warum können dann nicht auch wir Lateiner "überwesentlich (supersubstantialis)" lesen, damit ein Wort dem anderen Wort entspricht, und es doch ungeachtet der Präposition im Sinn von "substantiell" übertragen? Dazu kommt noch: Weil die lateinische Vulgatafassung denselben griechischen Begriff "epiousiov" bei Lukas mit "quotidianum (täglich)" wiedergibt, bei Matthäus dagegen mit "übersubstantiell", so muss der Begriff "übersubstantiell" so übersetzt werden, dass er mit dem Begriff "quotidianus (täglich)" passend übereinstimmt. Dieser Einklang wird nun aber ganz offenkundig herrschen, wenn wir sagen, mit jenem "übersubstantiell" sei das Brot bezeichnet, das für die Ernährung und Erhaltung unseres Wesens täglich notwendig ist. Schließlich kann auch "supersubstantialis" dasselbe bedeuten wie "sehr substantiell", wie wir auch von "überfließen (superabundare)" und "überragen (supereminere)" sprechen und damit "sehr reichlich fließen" und "sehr hoch emporragen" meinen. In dieser Bedeutung wird das "übersubstantielle" und das "tägliche" Brot vollkommen dasselbe sein. Denn es ist deshalb täglich notwendig, weil es sehr substantiell ist.

* * *

Doch wir wollen nun auch etwas über die einzelnen Begriffe dieser Bitte sprechen.

BROT

Zu Recht bitten wir um Brot, nachdem wir die Gnade, die das Leben der Seele ist, erbeten haben. Denn wer zu leben begonnen hat, begehrt nichts lieber als Brot. Zu Recht werden mit dem Wort "Brot" alle Mittel bezeichnet, die für das Leben der Seele wie des Leibes notwendig sind. Denn auch das Altarsakrament, eines der hauptsächlichsten Mittel für die Seele, heißt in Joh 6,51-58<ref> Über die Bedeutung von "Brot" in Joh 6 vgl. Robert Bellarmin, De Controversiis. X. De sacramento Eucharistiae 1,7 (resp. ad quintum) (= 00 IV, 22) sowie II,8 (ad quartum) (= OO IV, 78f.).</ref> und 1 Kor 11,26-28 "Brot". Auch das Wort Gottes, durch dessen Verkündigung wir auf die Weide geführt werden, kann man als "Brot" bezeichnen, da der Apostel in 1 Tim 4,6 sagt: "Mit den Worten des Glaubens genährt", und Hebr 6,5: "Sie haben das gute Wort Gottes um nichtsdestoweniger geschmeckt." Schließlich ist es zu bekannt, um eines Beweises zu bedürfen, dass in den Schriften jegliche leibliche Speise mit dem Wort Brot bezeichnet wird.<ref> Zu Brot als Speise vgl. Robert Bel/armin, De Controversiis. X. De sacramento Eucharistiae 1,7 (ad septimum) (= OO IV, 23) sowie IIl, 23 (= OO IV, 188-192), wo vom Manna die Rede ist. </ref>

UNSER

Zu Recht ist zu "Brot" noch "unser" hinzugefügt, einerseits damit wir verstehen, dass das Brot der Eucharistie unser ist, d. h. es ist den Söhnen zu eigen, was die Fremden nicht besitzen können, wie der heilige Cyprian auslegt.<ref> Cyprian, De dom. orat. 18: PL 4,531-532 (548). </ref> Andererseits weil wir nicht fremdes Brot begehren, d. h. das Wort der häretischen Predigt, sondern unser Brot, d. h. die gesunde, katholische, orthodoxe Lehre, wie es den Söhnen der Kirche ausgeteilt wird. Schließlich da wir auch kein fremdes leibliches Brot wollen, d. h. solches, das wir durch Diebstahl, Raub, durch Betrügereien und üble Mittel und Wege erworben haben, vielmehr das unsere, also was uns durch eigenen Fleiß und Arbeit oder aus gerechten und legitimen Einkünften zugekommen ist. Dazu vergleiche den Autor des "Unvollständigen Werkes (Opus imperfectum)".<ref> Opus imperf. in Matth. Hom. 14: PG 56, 713. </ref>

TÄGLICH

Diesen Begriff müssen wir hinzufügen, erstens nach Cyprian und Chrysostomus als Gewährsleuten, damit wir begreifen, nicht Überflüssiges und Neugier Erregendes, sondern das Substantielle, Einfache, Notwendige sei zu suchen, ohne das wir keinen Tag leben können. Sodann (wie dieselben Autoren lehren) dass wir nicht um den nächsten Tag besorgt sein sollen, sondern wie Gäste und Pilger nur dem jeweiligen Tag leben. Drittens beten wir "täglich", wie der hl. Augustinus in der Predigt 182 mahnt<ref> Augustinus, Serm. 182 = Serm. App. 64,8: PL 39,1868. </ref>, im Unterschied zum ewigen Brot, das wir im Himmel so verkosten werden, dass das einmal Verzehrte eine ewige Sättigung verschafft. Aus diesem Grund wird es nicht mehr nötig sein, es täglich zu erbitten oder zu empfangen.

GIB UNS

Zwar bitten wir nicht darum noch erwarten wir, dass Gott Manna vom Himmel regnen lässt oder durch Engel die Sakramente spendet oder den Schlafenden Weisheit eingießt. Vielmehr wollen wir im Schweiß unseres Angesichts unser geistliches ebenso wie unser leibliches Brot essen.<ref> Vgl. Gen 3,19. </ref> Dennoch sagen wir zu Recht: "gib uns". Zum einen, da unser Bemühen ohne Gottes Vorsehung und Hilfe unnütz wäre, zum anderen auch (wie der heilige Augustinus in der Predigt 135 lehrt<ref> Augustinus, Serm. 135 = Serm. 59: PL 38, 401. Dort finden sich diese Worte nicht, sie sind vielmehr im Op. imperf. in Matth. hom 14: PG 56, 713 zu lesen. </ref>, da wir danach verlangen, die Speise aus der Hand Gottes zu empfangen, d. h. von ihm geheiligt, gemäßigt und zugemessen, so dass sie dem Leib nützt und der Seele nicht schadet, wenn es sich um Leibliches handelt. Umgekehrt soll sie den Geist nähren und den Leib nicht zerstören, wenn er sich dem Geistlichen widmet.

HEUTE

Dieser letzte Begriff kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Einmal um auszudrücken "in dieser Zeit", d. h. in der Zeit dieses sterblichen Lebens. So wird es vom Apostel in Hebr 3,13 verstanden: "Ermahnt einander, solange es ,heute' heißt." Zum anderen um genau "diesen Tag" zu bezeichnen. Die erste Auffassung ist die Cyrills in der 5. mystagogischen Katechese und des Augustinus im Brief 121, Kap. 11, und im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 12.<ref> Cyrill vonjerusalem, Catech. 23,15: PG 33,1120; Augustinus, Epist. 130 (121) 11,21: PL 33,502; De serm. D. in monte II 7,27: PL 34,1281. </ref> Die zweite ist die von Tertullian, Cyprian und Chrysostomus.<ref> Tertullian, De orat. 6: PL I, 1161 (1263); Cyprian, De dom. orat. 18: PL 4, 531 (548); Chrysos tomus, In Matth. hom 19, 5: PG 57, 280. </ref>

Wenn wir die erste Auffassung übernehmen, erledigen sich viele Fragen, die für gewöhnlich gestellt werden, warum wir darum beten, dass uns das sakramentale Brot an dem Tag geschenkt werde, an dem wir das Brot selbst nicht empfangen wollen oder schon empfangen haben; und warum wir oft unmittelbar nach dem Abend- oder Mittagessen um das leibliche Brot beten. Denn wir beten normalerweise das Vater Unser zu jeder Stunde. Diese und andere vergleichbare Fragen haben dann keinen Platz, wenn sich der Begriff "heute" nicht auf diesen Tag, sondern auf die ganze Zeitspanne unserer Sterblichkeit und Pilgerschaft bezieht.

Wenn wir dennoch der zweiten Auslegung folgen, wird man auf diese Fragen antworten müssen, dass mit dem Wort "Brot" allgemein alles für den Lebensunterhalt Notwendige gemeint ist. Aus diesem Grund lässt sich auch nicht nur jeden Tag, sondern auch jede Stunde und in jedem Augenblick zu Recht sprechen "unser tägliches Brot gib uns heute", da es keinen Tag, keine Stunde und keinen Augenblick gibt, in denen wir nicht bei irgendetwas der Unterstützung Gottes bedürfen, auch wenn wir nicht an jedem Tag oder zu jeder Stunde das Sakrament der Eucharistie oder das leibliche Brot nötig haben.

FÜNFTE BITTE: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern"

Unter dem Begriff "Schuldiger" sind an dieser Stelle nur die Sünden, nicht aber die Schulden bei der Erfüllung von Gesetzen, Gelübden, Versprechen und ähnlichem dieser Art zu verstehen. Denn Lukas 11,4 heißt es mit deutlichen Worten: "Und erlass uns unsere Sünden." In Mt 6,14 spricht der Herr zur Erläuterung dieser Bitte: "Wenn ihr nämlich den Menschen ihre Sünden vergebt, wird euch euer himmlischer Vater eure Sünden vergeben."

Ferner nennt man Sünden Schulden, einerseits weil jeder, der sündigt, Gott Unrecht tut und dadurch der Schuldner einer Genugtuung ist. Andererseits weil jeder, der sündigt, das Gesetz Gottes übertritt - das Gesetz Gottes ist mit einer Strafe verbunden, die zu büßen der zum Schuldner wird, der das Gesetz selbst verletzt. Dann weil schließlich Gott einem jeden von uns die eigene Seele wie einen Weinberg zur Bestellung anvertraut hat, von dem er Früchte erwartet zu seiner Zeit, und er uns die Gaben der Natur und der Gnade gegeben hat, um in ihnen zu wirken. Wer es demnach vernachlässigt, gut zu wirken, wird zum Schuldner eines nicht erreichten Gewinns und eines nicht erlangten Vermögens. Vergleiche auch einen anderen Grund bei Ambrosius im 5. Buch "Die Sakramente (De sacramentis)", Kap. 4.<ref> Ambrosius, De Sacram. V 4,27: PL 16,453 (472). </ref>

Die Väter beweisen aus dieser Bitte gerne drei kirchliche Lehren. Die erste lautet, dass alle Menschen, obwohl ansonsten gerecht und heilig, in diesem Leben nicht ohne Sünden sind. Denn alle sprechen täglich zu Gott: "Vergib uns unsere Schulden." Unter anderem stellen dies Tertullian, Cyprian und Gregor von Nyssa an den oben angeführten Stellen heraus.<ref> Tertullian, De orat. 7: PL I, 1162 (1265); Cyprian, De dom. orat. 22: PL 4, 534 (552); Gregor von Nyssa, De orat. dom. homo 5: PG 44, 1184-1185.</ref> Die zweite folgt aus der vorhergehenden: Es gibt lässliche Sünden, die ihrer Natur nach den Menschen nicht zum Feind Gottes machen und zusammen mit der Liebe selbst bestehen; vergleiche dazu Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)" Kap. 71.<ref> Augustinus, Enchir. 71: PL 40, 265. </ref> Die dritte lautet, dass es nach der Taufe immer noch Raum für Buße und Vergebung gibt. Denn dieses Gebet ist den Getauften zu eigen, und obwohl es offensichtlich hauptsächlich dazu eingesetzt wurde, die lässlichen Sünden zu tilgen, ist es doch auch dazu geeignet, die Vergebung der Todsünden zu erlangen. Vergleiche dazu Chrysostomus im Kommentar zum Kapitel 6 des Matthäusevangeliums.<ref> Chrysostomus, In Matth. hom 19,s: PG 57, 280-281. </ref>

Unseren Zusatz "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" fügen wir nicht deshalb bei, damit Gott uns nachahmt und von uns Barmherzigkeit lernt, sondern um zu bezeugen, dass uns die Barmherzigkeit sehr gefällt und es uns ganz klar erscheint, Unrecht nachzulassen. Mag Gott unseren Bitten dann wohl nicht antworten: "Warum erbittest du von mir Barmherzigkeit, der du Barmherzigkeit hasst? Und warum wagst du es zu verlangen, dass ich dich verschone, der du es für schändlich hältst, deine Mitknechte zu verschonen?" Vergleiche Gregor von Nyssa in der 5. Rede "Das Vater Unser (De oratione Dominica)", der diese Stelle elegant und ausführlich erklärt.

* * *

Bei dieser Stelle gibt es aber vier Unklarheiten, die wohl mit wenigen Worten aufzuklären sind.

Die erste Unklarheit ist: Welche Schulden müssen wir unseren Nächsten notwendig erlassen, wenn wir wollen, dass Gott uns unsere Schulden vergibt?

Die Antwort darauf fällt jedoch leicht. Denn es wird von uns nicht verlangt, alle Schulden zu vergeben, sondern nur die, die mit einer Beleidigung verbunden sind, und diese auch nicht vollständig, sondern nur in Bezug auf die geistige Beleidigung, so dass wir folglich den Nächsten nicht hassen, der uns verletzt hat, und keine Feindschaft mit ihm austragen. Daher kommt es auch, dass wir ihn nicht zwingen, den uns zugefügten Schaden zu ersetzen, wenn er dies vielleicht nicht ohne größeren eigenen Nachteil tun kann. Ebenso lässt Gott, wenn er uns unsere Sünden vergibt, das Unrecht nach, versöhnt uns zu seiner Freundschaft und verlangt nicht die ewige Strafe, die wir nicht ohne das schlimmste Verderben abbezahlen könnten. Vielmehr verlangt er, dass wir die zeitliche Genugtuung auf keinen Fall vernachlässigen.

Die zweite Unklarheit ist die, ob es genügt, dem Nächsten ein Unrecht zu vergeben, wenn er um Verzeihung bittet, oder ob es nötig ist, auch dem, der nicht darum bittet, zu vergeben.

Der hl. Augustinus schreibt im "Handbüchlein (Enchiridion)", Kap. 73<ref> Augustinus, Enchir. 73: PL 40, 266.</ref>, es genügt, dem zu vergeben, der um Verzeihung bittet. Doch er selbst meint im 2. Buch "Die Bergpredigt des Herrn (De sermone Domini in monte)", Kap. 13, es sei nötig, allen zu vergeben, auch denen, die nicht darum bitten.<ref> Augustinus, De serm. D. in monte II 11,37: PL 34,1285 f. sowie II,8,28 f.: PL 34, 1281 f. (von Tromp nicht eigens belegt). </ref> Das aber ist vernünftiger. Denn der Herr gebietet in Mk 11,25: "Wenn ihr euch zum Gebet erhebt, vergebt, wenn ihr etwas gegen einen anderen habt, wie auch euer Vater euch eure Sünden vergibt." Aus dieser Stelle verstehen wir, dass man einem Abwesenden und darum einem, der nicht um Verzeihung bittet, das Unrecht vergeben muss. Was aber der hl. Augustinus im "Handbüchlein (Enchiridion)" gesagt hat, ist wohl auf die Vergebung zu beziehen, die durch äußere Zeichen geschieht, und nicht auf diejenige, die nur im Geist geschehen kann.

Die dritte Unklarheit besteht in der Frage, ob jemand, der Unrecht von Herzen vergibt und dennoch willentlich in einer anderen Sünde verharrt, etwas durch dieses Gebet erflehen kann.

Darauf antworte ich, dass entweder derjenige, der willentlich in der Sünde verharrt, danach verlangt, von Gott die Gnade einer vollkommenen Bekehrung zu erlangen, und er sie ernsthaft erbittet, oder er verlangt nicht danach und erbittet sie nicht ernsthaft. Wenn er die Gnade der Bekehrung wünscht, obwohl er in der Zwischenzeit, von der Begehrlichkeit besiegt, nicht von der Sünde lässt, so spricht er doch nicht unnütz zu Gott: "Vergib uns unsere Sünden." Und wenn er seinem Bruder von Herzen das Unrecht vergibt, wird er dazu vorbereitet, die Gnade der vollkommenen Bekehrung zu erlangen. Denn "wer ein gutes Werk beginnt", indem er ihm das Verlangen und die Bitte nach Bekehrung und den Nachlass des Unrechts eingibt, wird es zweifellos auch "vollenden"<ref> Missale Romanum, 4. Sonntag nach Pfingsten in den Secreta. </ref>, wenn jener beharrlich anklopft und betet, dass Gott seiner Schwachheit aufhilft und den aufrührerischen Willen gnädig zu sich hin bekehrt.

Wenn er dagegen nicht nach der Gnade der Bekehrung verlangt und sie nicht von Herzen erbittet, sondern entweder aus Gewohnheit nur mit den Lippen betet oder, was noch schlimmer ist, um von den Menschen gesehen zu werden, dann erlangt ein solcher Mensch nicht nur nichts, sondern auch sein Gebet wird ihm zur Sünde werden, weil er in fast jeder Bitte lügt. Wie nämlich kann er "Vater unser" sprechen, da er nicht Sohn sein will<ref> Gregor von Nyssa, De orat. dom. serm. 2: PG 44, 1141-1144 und 1148. </ref>; "geheiligt werde dein Name", wodurch der Name Gottes anhaltend gelästert wird; "dein Reich komme", da er doch nichts mehr fürchtet als die Ankunft des Herrn; und "dein Wille geschehe", da er doch stets seinen und nicht den Willen Gottes tut?

Die vierte Unklarheit besteht in der Frage, ob diejenigen recht handeln, die zwar Unrecht nicht vergeben wollen, dann aber, um nicht vor Gott im Vater Unser zu lügen, die Worte auslassen "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Das nämlich taten nach Auskunft von Cassian, "Gespräche (Collationes)" 9, Kap. 22, einige für gewöhnlich, die er an dieser Stelle auch zu Recht tadelt.<ref> Johannes Cassian, Collat. IX 22: PL 49,797.</ref> Denn auch wenn sie diese Worte auslassen, so bitten sie doch auch dann noch vergebens, dass ihnen die Sünden vergeben werden, sagte der Herr doch so eindeutig: "Wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht vergebt, wird auch euer Vater euch eure Sünden nicht vergeben" (Mt 6,15).

Hinzu kommt noch, dass diejenigen, die weder Unrecht vergeben noch danach verlangen, dass Gott ihnen die Gnade schenke, mit deren Hilfe sie anfangen, Unrecht vergeben zu wollen, zwar nicht lügen, insofern sie den Satz "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" auslassen, dass sie aber dennoch lügen, wenn sie die übrigen Teile des Vater Unser aussprechen, wie wir kurz zuvor dargelegt haben.

SECHSTE BITTE: "Und führe uns nicht in Versuchung"

Es gibt zwei Auslegungen dieser Bitte. Die erste ist die von Hilarius und von Hieronymus im Kommentar zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums, von Ambrosius im 5. Buch "Die Sakramente (De sacramentis)", Kap. 5, von Cyrill die fünfte mystagogische Katechese, von Augustinus im Brief 121, Kap. 11, und von Cassian in den "Gesprächen (Collationes)" 9, Kap. 23.<ref> Hilarius, In Matthaeum XXXI n. 9: PL 9,1069; Hieronymus, In Matth. lib. 6, cap. 26, 41: PL 26, 206; Ambrosius, De Sacram. V 4,29 f.: PL 16,454 (473 f.); Cyrill von Jerusalem, Catech. 23,17: PG 33, 1121; Augustinus, Epist. 130 (121) 11,21: PL 33, 502; Johannes Cassian, Collationes IX 23: PL 49,799. </ref> Sie lehren, mit diesen Worten erbitte man von Gott nicht, dass wir nicht versucht werden, sondern dass wir vom Versucher nicht bezwungen werden. Die andere Auslegung ist die von Tertullian im Buch "Das Gebet (De oratione)", von Cyprian in der Predigt "Das Vater Unser (De oratione Dominica)", von Gregor von Nyssa die 5. Rede "Das Vater Unser (De oratione Dominica)" und der Kommentar zum 6. Kapitel des Matthäusevangeliums von Chrysostomus und Euthymius.<ref> Tertullian, De orat. 8: PL 1,1163 (1266); Cyprian, De dom. orat. 26: PL 4,537 (555); Gregor von Nyssa, De orat. dom., homo 5: PG 44,1192; Chrysostomus, In Matth. homo 19,6: PG 57, 282; Euthymius, In Matth. 6, 13: PG 129, 240.</ref> Sie wollen, dass man darum bitte, einfach nicht versucht zu werden.

Diese zweite Auffassung erscheint uns etwas wahrscheinlicher.

Denn entsprechend dem Sprachgebrauch der Schrift ist "nicht in Versuchung geführt zu werden" offensichtlich nicht, von der Versuchung nicht bezwungen zu werden, sondern nicht in Versuchung zu geraten. Was wir nämlich im Psalm 65, 11 lesen: "Du hast uns in die Falle geführt", ist ganz dasselbe wie wenn man gesagt hätte: "Du hast uns in Versuchung geführt." Und dennoch meint der Prophet nicht, er sei mit Gottes Erlaubnis von der Versuchung überwunden worden, sondern es sei nur zugelassen worden, versucht und gepeinigt zu werden, wie auch der hl. Augustinus selbst diese Stelle auslegt<ref> Augustinus, Enarr. in Psalm. 65,16: PL 36, 797.</ref> und wie der gesamte Psalm, wenn man ihn sich vor Augen führt, ausruft. Ähnlich ist jene Stelle des Apostels im ersten Korintherbrief 10,13: "Die Versuchung ergreift euch nicht, außer eine menschliche." Denn von der Versuchung ergriffen zu werden und in Versuchung geführt zu werden ist offenbar dasselbe. Trotzdem meint der Apostel nicht, die Korinther seien von einer menschlichen Versuchung bezwungen worden, sondern sie seien nur mit der Zulassung Gottes versucht worden.

Dazu kommt folgendes. Da die Versuchung, obwohl sie manchmal nützlich ist, wegen des zweifelhaften und ungewissen Sieges stets gefährlich ist, stellt es nicht nur eine Vermessenheit dar, sie anzustreben, sondern es ist auch Demut, sie von sich zu weisen und von Gott zu bitten, uns nicht in einen solchen Kampf zu führen.

Aber Jakobus sagt im Kapitel 1,2: "Bedenkt jede Freude, Brüder, wenn ihr in verschiedene Versuchungen geratet." Und David sagt im Psalm 25,2: "Prüfe mich, Herr, und versuche mich." Darauf erwidere ich folgendes. Obwohl man die Versuchung nicht anstreben darf, ist sie doch nicht nur tapfer, sondern mit Freude zu ertragen, wie Jakobus sagt. Was jedoch ertragen wird, wird weder geliebt noch erbeten. "Sie zu ertragen (so sagt Augustinus im 10. Buch der "Bekenntnisse [Confessi.ones]", Kap. 28), so lautet seine Weisung, nicht sie zu lieben. Niemand liebt, was er erträgt, auch wenn er das Ertragen lieben sollte. Denn obwohl er sich daran freut, dass er es erträgt, will er doch lieber, dass das nicht existiert, was er erträgt."<ref> Augustinus, Confessiones X 28, 39: PL 32,795-796.</ref> Ferner erhalten die Heiligen manchmal aufgrund einer göttlichen Offenbarung die Gewissheit des Sieges und bitten zu Recht darum, versucht zu werden oder werfen sich selbst den Gefahren und den Verfolgern entgegen. Solche Beispiele sind jedoch von allen zu verehren, nicht aber von allen nachzuahmen.

Weil aber das Ziel dieser Bitte in der Vermeidung zukünftiger Sünde besteht, könnten diese beiden Auffassungen der Väter so miteinander in Einklang gebracht werden, dass die erste das Ziel und die Absicht des Beters berücksichtigt, die zweite aber die Gebetsworte selbst. Denn wir beten darum, nicht in Versuchung geführt zu werden, damit wir nicht, von der Versuchung bezwungen, das Gesetz Gottes verletzen.

Aus dieser Bitte lernen wir aber zwei äußerst nützliche Warnungen (wie der hl. Cyprian mahnt<ref> Cyprian, De dom. orat. 25 und 27: PL 4,526 und 537 (554 und 555). </ref>): Ohne Gottes Hilfe sind wir offenbar völlig schwach und ohnmächtig. Weiterhin kann der Satan ohne die Zulassung Gottes die Diener Gottes nicht nur nicht zu Boden stürzen, sondern nicht einmal versuchen. Folglich dürfen wir uns weder unserer eigenen Kräfte rühmen noch die Macht Satans fürchten, wenn wir als treue und demütige Knechte allezeit auf Gottes Hilfe und Schutz hoffen.

SIEBTE BITTE: "Sondern erlöse uns von dem Bösen"

Alle griechischen Väter verstehen unter "dem Bösem" den Teufel, so Gregor von Nyssa, Cyrill, Chrysostomus, Euthymius und Theophylakt<ref> Gregor von Nyssa, De orat. dom., homo 5: PG 44, 1192; Cyrill von Jerusalem, Catech. 23, 18: PG 33, 1124; Chrysost., In Matth. homo 19,6: PG 57, 282; Euthymius, In Matth. 6,13: PG 129, 240; Theophylakt, In Matth. 6,11: PG 123, 205. </ref> an den oben angeführten Stellen. Dieses Verständnis stützt sich auf den Artikel, der zum Nomen hinzugefügt ist. So nämlich lesen sie "apo tou ponerou". Unter den Lateinern teilen dieselbe Auffassung Ambrosius, Chrysologus und Cassian.<ref> Ambrosius, De Sacram. V 4,29: PL 16,454 (473); Petrus Chrysologus, Sermones 67, 70, 71: PL 52,393,400,403; vgl. jedoch Sermo 72, e. 406; johannes Cassian, Collationes IX 23: PL 49,799 f. </ref> Cyprian, Augustinus, Rupert, Beda und die meisten übrigen Lateiner<ref> Cyprian, De dom. orat. 27: PL 4,537 (555); Augustinus, De serm. D. in monte II 9, 35: PL 34, 1284 f.; Augustinus, Enchir. 115: PL 40, 286; Augustinus, De verbis Domini 28 = Serm. App. 84,4: PL 39, 1909; Rupert von Deutz, In Matth. lib V 6: PL 168, 1434; Beda, In Matth. 6: PL 92,33. </ref> dagegen verstehen unter "dem Bösen" alle bösen Dinge und vor allem die Unglücksfälle des derzeitigen Lebens, in die wir aufgrund der Sünde Adams geraten.

Diese Auffassung bekräftigt die Autorität der Kirche, die beim Messopfer, nachdem das "Erlöse uns von dem Bösen" gesprochen ist, das folgende in der Art einer Erläuterung hat einfügen lassen: "Erlöse uns, Herr, wir bitten dich, von allem Übel, dem vergangenen, dem gegenwärtigen und dem zukünftigen, damit wir mit Hilfe deiner Barmherzigkeit für immer von unseren Sünden frei sind und sicher vor jeder Verwirrung." Dort betrifft das vergangene Übel die fünfte Bitte, das zukünftige die sechste Bitte und das gegenwärtige die siebte Bitte. Der Ausdruck "für immer von unseren Sünden frei" bezieht sich auf die fünfte und die sechste Bitte, und "sicher vor jeder Verwirrung" bezieht sich auf die siebte Bitte.

Der griechische Artikel unterstützt die erste Auffassung jedoch nicht sehr. Denn derselbe Begriff "poneros" mit Artikel wird nicht selten für eine böse Sache verwandt, wie in Röm 12,9: "Das Böse hassend und das Gute tuend." Im Griechischen steht für den Begriff "Böses (malum)" aber "to poneron". Und in Mt 5,37 heißt es: "Bei eurer Rede aber sei Ja Ja und Nein Nein. Was aber mehr ist, das ist vom Bösen," d. h. von der Verderbnis. Griechisch steht hier "ek tou ponerou".

Die griechischen Handschriften zu Mt 6,13 fügen nach den sieben Bitten noch folgende Worte hinzu<ref> Zu den Zusätzen bei Mt 6,3 in den griechischen Handschriften vgl. A. Merk, Novum Testamentum Graece et Latine, Rom 1951.</ref>: "Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen." Diese Schlussformel legen Chrysostomus, Theophylakt und Euthymius im Kommentar zur selben Stelle aus. Es ist aber sicher, dass diese Worte nicht aus dem Evangelientext stammen, sondern von den Griechen aufgrund der Gewohnheit, nach der sie diese Worte nach dem Vater Unser beim Messopfer sprechen. Denn auch die ältesten Lateiner, die auch des Griechischen mächtig waren, etwa Tertullian, Cyprian, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus, erwähnen diese Worte überhaupt nicht. Also sind sie offensichtlich ein Anhang zum Vater Unser bei den Griechen, so wie es den bei den Lateinern gibt: "Erlöse uns, Herr, wir bitten dich, usw.."<ref> Vgl. "Missale Romanum" im Kanon nach dem Gebet des Vater Unser.</ref>. Denn wie diese Worte bei uns nicht an das Vater Unser angeschlossen werden, so auch nicht bei den Griechen, wie es klar aus der Chrysostomusliturgie hervorgeht.<ref> Chrysostomusliturgie: Vgl. "Missam S. loannis Chrysostomi" (versio Erasmi): Opera (Ausgabe Venedig 1549), Bd. X, 28SA. </ref>

Doch das soll zum Vater Unser genügen.

Anmerkungen

<references />