Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift

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Schreiben
Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift

Päpstliche Bibelkommission
im Pontifikat von Papst
Franziskus
Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten
22. Februar 2014

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: VAS 196)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Fundament für das Leben der Kirche ist das Wort Gottes. Es wird überliefert in der Heiligen Schrift, im Alten und Neuen Testament. Nach dem Glauben der Kirche sind alle ihre Schriften inspiriert, haben Gott als Urheber, der für ihr Verfassen Menschen ausgewählt und eingesetzt hat. Weil sie von Gott inspiriert sind, teilen die Schriften der Bibel Wahrheit mit. Ihr ganzer Wert für das Leben und die Sendung der Kirche hängt von ihrer Inspiration und Wahrheit ab. Schriften, die nicht von Gott kommen, können nicht das Wort Gottes mitteilen, und Schriften, die nicht wahr sind, können nicht das Leben und die Sendung der Kirche begründen und beleben. Die Wahrheit der Schrift ist aber nicht immer leicht zu erkennen. Manchmal finden sich, wenigstens anscheinend, Gegensätze zwischen den biblischen Erzählungen und den Ergebnissen der Natur- und Geschichtswissenschaften. Diese scheinen dem zu widersprechen, was die biblischen Schriften behaupten, und scheinen ihre Wahrheit in Frage zu stellen. Es ist klar, dass diese Situation auch die biblische Inspiration betrifft. Wenn das, was die Bibel mitteilt, nicht wahr ist, wie kann sie dann Gott zum Urheber haben? Ausgehend von diesen Fragen hat die Päpstliche Bibelkommission sich bemüht, die Beziehung zwischen Inspiration und Wahrheit zu untersuchen und festzustellen, was die biblischen Schriften selber dazu sagen. Nur sehr selten sprechen sie direkt von der Inspiration (vgl. 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,20-21), aber sie verweisen ständig auf die Beziehung zwischen ihren menschlichen Verfassern und Gott und drücken so ihre Herkunft von Gott aus. Im Alten Testament zeigt sich diese Beziehung in verschiedener Weise; im Neuen Testament ist jede Beziehung zu Gott vermittelt durch die Person Jesu, der der Christus und der Sohn Gottes ist. Er, der in Person das Wort Gottes ist (vgl Joh 1,1.14), ist der Mittler für alles, was von Gott kommt.

Die Bibel behandelt viele und verschiedene Themen. Ein aufmerksames Lesen zeigt aber, dass ihr Hauptthema Gott und sein Plan für das Heil der Menschen ist. Die Wahrheit, die wir in der Heiligen Schrift finden, betrifft im Wesentlichen Gott und seine Beziehung zu den Menschen. Der klarste Ausdruck dafür sind die Worte Jesu: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6). Als das Mensch gewordene Wort Gottes (vgl. Joh 1,14) ist Jesus die vollkommene Wahrheit über Gott, offenbart Gott als den Vater und gibt Zugang zu ihm, der die Quelle allen Lebens ist. Die anderen Aussagen über Gott in den biblischen Schriften sind aufdas Wort Gottes, das in Jesus Mensch geworden ist, ausgerichtet und haben in ihm den Schlüssel zu ihrem Verständnis.

Nachdem die Kommission sich damit befasst hat, wie die biblischen Schriften die Inspiration, die Beziehung zwischen ihren menschlichen Verfassern und Gott, bezeugen und welche Wahrheit sie mitteilen, untersucht sie, als Beispiele, einige Texte, die vom historischen und vom ethischen und sozialen Standpunkt her problematisch erscheinen. Um auf die Schwierigkeiten, die sich hier stellen, zu antworten, ist es notwendig, die Texte in einer angemessenen Weise zu lesen und zu verstehen und dafür die Ergebnisse der modernen Wissenschaften zu beachten und zugleich dem Rechnung zu tragen, dass das Hauptthema der Bibel Gott und sein Heilsplan für die Menschen ist. Bei diesem Zugang zeigt es sich, dass die Zweifel, die sich gegen die Wahrheit und die Herkunft von Gott erheben, überwunden werden können.

Dieses Dokument der Päpstlichen Bibelkommission ist keine offizielle Erklärung des kirchlichen Lehramtes zu den angesprochenen Themen und will auch nicht eine vollständige Lehre zur Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift vorlegen. Es will die Ergebnisse mitteilen, die ein sorgfältiges exegetisches Studium des Zeugnisses der biblischen Texte im Hinblick auf ihre Herkunft von Gott und ihre Wahrheit erbracht hat. Diese Ergebnisse mögen von den anderen theologischen Disziplinen nach deren Gesichtspunkten ergänzt und vertieft werden.

Ich danke den Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommission für ihr geduldiges und kompetentes Studium und spreche den Wunsch aus: Diese Arbeit möge dazu beitragen, dass in der ganzen Kirche mit immer mehr Aufmerksamkeit, Dankbarkeit und Freude auf die Heilige Schrift gehört werde, auf das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten.

Rom, Fest der Kathedra Petri, 22. Februar 2014

Gerhard Kardinal Müller

Präsident

INSPIRATION UND WAHRHEIT DER HEILIGEN SCHRIFT

Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten

„Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.“ (Jes 55,10-11)

„Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat.“ (Hebr 1,1-2)

ALLGEMEINE EINLEITUNG

1. Die Bischofsynode von 2008 hatte das Thema Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. In seiner auf die Synode folgenden Apostolischen Exhortation Verbum Domini (Das Wort des Herrn) nimmt Papst Benedikt XVI. die Themen der Synode auf und vertieft sie. Er hebt im Besonderen hervor: „Sicher hat die theologische Reflexion Inspiration und Wahrheit immer als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der Heiligen Schriften betrachtet. Man muss jedoch sehen, dass es heute notwendig ist, das Erfassen dieser Wirklichkeiten in angemessener Weise zu vertiefen, um dem besser entsprechen zu können, was die Auslegung der heiligen Texte ihrer Natur nach verlangt. Im Hinblick darauf ist es mein dringender Wunsch, dass die Forschung auf diesem Gebiet Fortschritte mache und Frucht bringe für die Bibelwissenschaft und für das geistliche Leben der Gläubigen.“ (Nr. 19) Die Päpstliche Bibelkommission nimmt den Wunsch des Heiligen Vaters auf und möchte einen Beitrag leisten zum besseren Verstehen von Inspiration und Wahrheit, im klaren Wissen, dass das in besonderer Weise der Natur der Bibel und ihrer Bedeutung für das Leben der Kirche entspricht.

Die liturgische Versammlung ist der bedeutendste und feierlichste Ort für die Verkündigung des Wortes Gottes und ist auch der Ort, an dem alle Gläubigen der Bibel begegnen. Die Eucharistiefeier besteht aus zwei Hauptteilen: dem Wortgottesdienst und der eucharistischen Liturgie (vgl. Sacrosanctum Concilium, Nr. 56). Bei ihr versammelt sich die Kirche zur Feier des Pachamysteriums, um „dabei zu lesen, ‚was in allen Schriften von ihm geschrieben steht’ (Lk 24,27), die Eucharistie zu feiern, in der ‚Sieg und Triumph seines Todes dargestellt werden’, und zugleich ‚Gott für die unsagbar große Gabe Dank zu sagen’ (2 Kor 9,15), in Christus Jesus ‚zum Lob seiner Herrlichkeit’ (Eph 1,12). All das aber geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes.“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 6)

Die Gegenwart Jesu, Offenbarer Gottes des Vaters, in seinem Wort und seinem Heilswerk, und die Verbundenheit der Gläubigen mit ihm stehen im Mittelpunkt dieser Versammlung. Sie hat diesen einen Zweck, Jesus inmitten der Gemeinschaft der Glaubenden gegenwärtig zu machen und die Begegnung und die Verbindung mit ihm und mit Gott dem Vater zu fördern. Christus in seinem Paschamysterium wird durch die Lesung des Wortes Gottes verkündet und in der eucharistischen Liturgie gefeiert.

Der Wortgottesdienst und sein eucharistischer Kontext

2. Jede Woche am Sonntag, d.h. am Tag des Herrn, den die Kirche als ihren „Ur-Feiertag“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 106) betrachtet, wird die Auferstehung Christi mit besonderer Feierlichkeit und Freude gefeiert. An diesem Tag, an dem für die „Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 51), werden verschiedene Psalmverse gesungen und werden drei Abschnitte aus der Bibel vorgelesen; gewöhnlich wird einer aus dem Alten Testament, einer aus den übrigen Schriften des Neuen Testaments und einer aus den vier Evangelien genommen. Nach dem Lesen eines jeden der beiden ersten Abschnitte sagt der Lektor: „Wort des lebendigen Gottes“, und die Gläubigen antworten „Dank sei Gott“. Wenn er das Evangelium verkündet hat, sagt der Diakon oder Priester: „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus“, und das Volk antwortet: „Lob sei dir, Christus“. In diesem kurzen Dialog werdenzwei Kennzeichen des Lesens und des Hörens hervorgehoben. Der Vorleser unterstreicht die Wichtigkeit seines Tuns und fordert die Hörer auf, sich voll bewusst zu sein, dass das, was ihnen mitgeteilt wurde, wirklich das Wort Gottes, oder im dritten Fall, das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus ist, der in eigener Person das Wort Gottes ist (Joh 1,1-2). Die Gläubigen ihrerseits nehmen voll Dank das Wort auf, das Gott an sie richtet, und hören mit Lob und Jubel die Frohe Botschaft ihres Herrn.

Wenn diese Kennzeichen auch nicht immer voll verwirklicht sind, so ist der Wortgottesdienst ein besonderer Ort der gegenseitigenMitteilung: Gott in seiner Güte spricht in menschlichen Worten sein Volk an und dieses nimmt mit Dank und Lob das Wort Gottes auf. Im Wortgottesdienst und in besonderer Weise in der eucharistischen Liturgie wird das Paschamysterium Christi gefeiert, Höhepunkt und Vollendung der Verbindung Gottes mit der Menschheit. In ihm ereignet sich die Erlösung der Menschen und gleichzeitig die höchste und vollkommenste Verherrlichung Gottes. Diese Feier ist nicht ein äußerlicher Ritus, denn durch sie sollen die Gläubigen lernen, sich selber Gott darzubringen: „So sollen sie durch Christus, den Mittler, von Tag zu Tag zu immer vollerer Einheit mit Gott und untereinander gelangen, damit schließlich Gott alles in allem sei.“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 48) Dass Gott in der Heilsgeschichte sein Wort an die Menschen richtet und dass er zu ihnen seinen Sohn sendet, der sein fleischgewordenes Wort ist (Joh 1,14), hat den einen Zweck, den Menschen die Gemeinschaft mit ihm selber anzubieten.

Der Kontext des Studiums von Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift

3. Auf Grund dessen, was wir bisherüber das Wort Gottes im Wortgottesdienstund in Verbindung mit der Eucharistiefeier festgestellt haben, können wir sagen, dass wir dieses Wort in einem theologischen, christologischen, soteriologischen und ekklesiologischen Kontext hören. Gott bietet das Heil, definitiv und vollkommen, in seinem Christus an und bewirkt durch ihn die Gemeinschaft zwischen sich und seinen Geschöpfen, den Menschen, die durch seine Kirche repräsentiert werden. Dieser Ort, der für die Verkündigung des Wortes Gottes am meisten geeignet ist, gibt auch den besten Kontext, um ihreInspiration und Wahrheit zu studieren. Wie wir gesehen haben, wird nach der Verkündigung der biblischen Abschnitte immer ausdrücklich festgestellt, dass sie „Wort des lebendigen Gottes“ sind (oder: „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus“). Diese Feststellung kann in einem doppelten Sinn verstanden werden: vor allem als Wort, das vom lebendigen Gott kommt, aber auch als Wort, das vom lebendigen Gott spricht. Die beiden Bedeutungen sind aufs Engste miteinander verbunden. Gott allein kennt Gott; aus diesem Grundkann nur Gott in einer angemessenen und glaubwürdigen Weise von Gott sprechen. Daher kann nur ein Wort, das von Gott kommt, richtig von Gott sprechen. Die Feststellung „Wort des lebendigen Gottes“ lädt die Gläubigen ein, sich dessen bewusst zu sein, was sie hören, und es mit gebührender Aufmerksamkeit aufzunehmen. Sie sollen die Ehrfurcht und Dankbarkeit haben, die dem Wort, das vom lebendigen Gott kommt, gebührt, sie sollen mit ganzer Aufmerksamkeit zu verstehen und zu begreifen suchen, was dieses Wort über den lebendigen Gott mitteilt, und sie sollen in eine immer lebendigere Gemeinschaft mit diesem Gott eintreten.

Unser Text, der das Thema hat „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“, wird diese beiden Aspekte behandeln. Wo die Inspiration der Bibel erklärt wird, heißt es, dass alle ihre Bücher „Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind“ (Dei Verbum, Nr. 11). Bei unserer Untersuchung der Inspiration der Bibelbemühen wir uns also festzustellen, was die biblischen Schriften selber über ihre Herkunft von Gott sagen. Was die Wahrheit der Bibel angeht, müssen wir vor allem beachten, dass die Bibel, auch wenn sie sich mit vielen und verschiedenen Inhalten befasst, in Wirklichkeit dieses eine erstrangige und zentrale Thema hat: Gott selber und das Heil der Menschen. Es gibt viele andere Quellen und viele andere Wissenschaften, um zuverlässige Informationen zu Fragen aller Art zu erhalten; die Bibel, als Wort Gottes, ist die Autorität für die Kenntnis Gottes. Für das zweite Vatikanische Konzil und seine dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung ist deren Inhalt schlechthin: Gott selber und sein Heilsplan für die Menschen. Dieser Konzilstext sagt gleich zu Beginn: „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1,9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4).“ (Dei Verbum, Nr. 2) Die Bibel steht im Dienst der Weitergabe der Offenbarung (vgl. Dei Verbum, Nr. 7-10). Daher werden wir uns beim Studium der Wahrheit der Bibel auf die Frage konzentrieren: Was sagen die verschiedenen biblischen Schriften über Gott und seinen Heilsplan für die Menschen?

Die drei Teile des Dokumentes

4. Der erste Teil befasst sich mit der Inspiration der Heiligen Schrift, indem er ihre Herkunft von Gott untersucht. Im zweiten Teil geht es um die Wahrheit des Wortes Gottes, wobei die Botschaft über Gott und seinen Heilsplan im Vordergrund steht. Wir möchten erreichen, dass einerseits bei den Hörern und Lesern der Bibel das Bewusstsein wächst, dass dieses Wort von Gott kommt, und dass sie andererseits ihre Aufmerksamkeit auf das konzentrieren, was Gott uns über sich selber und seinen Heilsplan für uns Menschen mitteilen will. Wir sind eingeladen, in derselben Haltung, mit der wirdas österliche Geheimnis Christi als Geheimnis Gottes und unseres Heiles feiern, auch das Wort aufzunehmen, das Gott voll Wohlwollen und Liebe an uns richtet. Das Ziel ist, in Gemeinschaft mit den anderen Gläubigen Gottes Geschenk dankbar anzunehmen, dass wir nämlich hören und verstehen dürfen, was er uns über sich selber mitteilt, um die persönliche Beziehung mit ihm zu erneuern und zu vertiefen.

Der dritte Teil des Dokumentes beschäftigt sich mit einigen Herausforderungen, die aus der Bibel selber kommen, weil bestimmte Erscheinungen ihrem Anspruch, dass sie das Wort Gottes ist, zu widersprechen scheinen. Wir heben zwei Herausforderungen hervor, die sich dem Leser stellen. Die erste leitet sich von dem großen Fortschritt her, den das Wissen um die Geschichte, die Kultur und die Sprachen der Völker des Alten Orients in den letzten beiden Jahrhunderten gemacht haben; sie waren das Umfeld für Israel und seine heiligen Schriften. Nicht selten zeigen sich starke Gegensätze zwischen den Daten dieser Wissenschaften und dem, was man der biblischen Erzählung entnehmen kann, wenn man sie wie eine Chronik liest, die alle Vorgänge präzise berichtet, gar noch in genauer chronologischer Ordnung. Diese Gegensätze stellen eine erste Schwierigkeit dar und stoßen die Frage an, ob sich der Leser auf die historische Wahrheit der biblischen Erzählungen verlassen kann.

Eine andere Herausforderung ergibt sich daraus, dass nicht wenige biblische Texte voll von Gewalt sind. Als Beispiele nennen wir die Fluchpsalmen und den Befehl Gottes an Israel, ganze Völkerschaften zu vernichten. Die christlichen Leser werden von solchen Erzählungen abgestoßen und verwirrt. Und es gibt nicht-christliche Leser, die den Christen vorwerfen, in ihren heiligen Schriften schreckliche Abschnitte zu haben, und sie anklagen, eine Religion zu bekennen und zu verbreiten, diezur Gewalt aufruft. Der dritte Teil des Dokumentes will sich mit diesen Herausforderungen für die Interpretation befassen und will zeigen, wie einerseits der Fundamentalismus zu überwinden (vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, VAS 115, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993, I.F., S. 61-63) und andererseits der Skeptizismus zu vermeiden ist. Indem diese Hindernisse beseitigt werden, besteht die Hoffnung, dass der Weg frei wird zu einer reifen und angemessenen Aufnahme des Wortes Gottes.

Der Text will also einen Beitrag leisten, damit durch ein vertieftes Verständnis der Begriffe von Inspiration und Wahrheit das Wort Gottes von allen, in der liturgischen Versammlung und an jedem anderen Ort, in einer Weise gehört wird, die diesem einzigartigen Geschenk Gottes, in dem er sich selber mitteilt und uns Menschen zur Gemeinschaft mit ihm einlädt, immer mehr gerecht wird.

ERSTER TEIL: DAS ZEUGNIS DER BIBLISCHEN SCHRIFTEN ÜBER IHRE HERKUNFT VON GOTT

Einleitung

5. In einem ersten Abschnitt untersuchen wir, wie die dogmatische Konstitution des zweiten Vatikanischen Konzils Dei Verbum und die Apostolische Exhortation Verbum Domini Offenbarung und Inspiration verstehen – diese beiden Handlungen Gottes, deretwegen wir die Heilige Schrift als Wort Gottes bezeichnen können. Wir zeigen dann, wie die biblischen Schriften selbst ihre Herkunft von Gott kundtun; im Neuen Testament liegt die Besonderheit vor, dass es keine Beziehung zu Gott gibt, die nicht durch Jesus vermittelt ist. Abschließend werden wir über die rechten Kriterien nachdenken, nach denen das Zeugnis der biblischen Schriften über ihre Herkunft von Gott zu untersuchen ist.

Offenbarung und Inspiration nach Dei Verbum und Verbum Domini

Über die Offenbarung sagt Dei Verbum (DV): „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1,9), dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4).“ (Nr. 2) Gott offenbart sich in einer „Offenbarungsökonomie“ (vgl. DV, Nr. 2). Er tut sich kund in der Schöpfung: „Gott, der durch das Wort alles erschafft (Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich (vgl. Röm 1,19-20)“ (DV, Nr. 3; vgl. Verbum Domini [VD], Nr. 8). Gott offenbart sich vor allem im Menschen, den er „als sein Abbild“ (Gen 1,27; vgl. VD, Nr. 9) geschaffen hat. Die Offenbarung geschieht dann „in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind“ (DV, Nr. 2), in der Heilsgeschichte des Volkes Israel (DV, Nr 3.14-16), und erreicht ihren Höhepunkt „in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist“ (DV, Nr 2; vgl. DV, Nr 4.17-20). Über die trinitarische Dimension sagt Verbum Domini Nr. 20: „Der Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters wird angeboten durch den Sohn mit dem Geschenk des Beistandes (vgl. Joh 14,16), Geist des Vaters und des Sohnes, der uns ‚in die ganze Wahrheit führt’ (Joh 16,13)“.

Die Inspiration betrifft im eigentlichen Sinn die Bücher der Heiligen Schrift. Die Konstitution Dei Verbum Nr. 16 sagt von Gott, dass er „die Bücher beider Testamente inspiriert hat und ihr Urheber ist“ und führt dann genauer aus: „Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern“ (Nr. 11). Die Inspiration als Handeln Gottes betrifft also direkt die menschlichen Verfasser: sie sind persönlich inspiriert. Aber auch die von ihnen verfassten Schriften werden inspiriert genannt (DV, Nr. 11.14).

Die biblischen Schriften und ihre Herkunft von Gott

6. Wir haben gesehen, dass Gott der einzige Urheber der Offenbarung ist und dass die Bücher der Heiligen Schrift, die der Weitergabe der Offenbarung dienen, von ihm inspiriert sind. Gott ist der Urheber dieser Bücher (DV, Nr. 16), aber durch Menschen, die er auserwählt hat. Diese schreiben nicht nach Diktat, sondern sind „echte Verfasser“ (DV, Nr. 11), die ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten gebrauchen. Die Konstitution Dei Verbum, Nr. 11 erklärt nicht im Einzelnen, von welcher Art diese Beziehung zwischen den Menschen und Gott ist; in den Fußnoten 18-20 verweist sie auf eine traditionelle Erklärung, die von hauptsächlicher und instrumenteller Ursache spricht.

Wenn wir uns den biblischen Büchern zuwenden und untersuchen, was sie selber über die Inspiration sagen, stellen wir fest, dass in der ganzen Bibel nur zwei Schriften des Neuen Testamentes ausdrücklich von der göttlichen Inspiration sprechen und diese für Schriften des Alten Testamentes behaupten. In 2 Tim 3,16 heißt es: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“. Und 2 Petr 1,20-21 sagt: „Bedenkt vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“ Das seltene Vorkommen des Ausdrucks „Inspiration“ bringt es mit sich, dass wir unsere Untersuchungen nicht auf einen so eng begrenztes semantisches Feld beschränken können.

Wenn wir jedoch die biblischen Schriften näher betrachten, können wir als eine bedeutsame Tatsache feststellen, dass in ihnen fortwährend die Beziehung zwischen ihren Verfassern und Gott ausgedrückt wird. Dies geschieht auf verschiedene Weisen, von denen jede anzeigen kann, wie die jeweiligen Schriften von Gott herkommen. Unsere Untersuchungen werden die Aufgabe haben, in den Texten der Heiligen Schrift die Verweise auf die Beziehung zwischen den menschlichen Verfassern und Gott festzustellen und so die Herkunft dieser Bücher von Gott, mit anderen Worten ihre Inspiration, zu zeigen. Wir wollen also eine Art von Phänomenologie der Beziehung „Gott – menschlicher Verfasser“ darbieten, entsprechend den Modalitäten, mit denen diese Beziehung in den biblischen Schriften bezeugt wird; so wollen wir deren Qualität als Wort, das von Gott kommt, aufzeigen.In ihrem Dokument will die Bibelkommission nicht die Tatsache der Inspiration der biblischen Schriften beweisen; diese Aufgabe kommt der Fundamentaltheologie zu. Wir gehen von der Glaubenswahrheit aus, dass die Bücher der Heiligen Schrift von Gott inspiriert sindund sein Wort mitteilen. Unser Beitrag soll es sein, etwas besser die Natur der Inspiration zu klären, so wie es aus dem Zeugnis der biblischen Schriften selber hervorgeht.

Das Phänomen, dass die biblischen Bücher die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott und so ihre Herkunft von Gott bezeugen, können wir ihr „Selbstzeugnis“ nennen. Dieses besondere Zeugnis wird im Zentrum unserer Untersuchungen stehen.

7. Die kirchlichen Dokumente, die wir öfters zitiert haben (Verbum Domini und Dei Verbum), unterscheiden zwischen „Offenbarung“ und „Inspiration“ als zwei verschiedenen göttlichen Handlungen. Als fundamentales Handeln Gottes erscheint „die Offenbarung“, durch die er mitteilt, wer er selber und was das Geheimnis seines Willens ist (vgl. DV, Nr. 2), und zugleich den Menschen befähigt, diese Offenbarung zu empfangen. „Die Inspiration“ dagegen erscheint als das Handeln, durch das Gott bestimmte Menschen, die er erwählt hat, befähigt, seine Offenbarung schriftlich getreu weiterzugeben (vgl. DV, Nr. 11). Die Inspiration setzt die Offenbarung voraus und steht im Dienst der zuverlässigen Weitergabe der Offenbarung in den Schriften der Bibel.

Dem Zeugnis der biblischen Schriften können wir nur wenige Anzeichen entnehmen, die das besondere Verhältnis zwischen dem menschlichen Verfasser und Gott im Hinblick auf das Schreiben betreffen. Daher stellt die Phänomenologie, die wir darbieten wollen und die zugleich die Beziehung zwischen dem menschlichen Verfasser und Gott wie auch die göttliche Herkunft der schriftlichen Texte betrifft, einen ziemlich allgemeinen und vielfältigen Rahmen dar. Diese Situation ist der besonderen Natur des Zeugnisses der verschiedenen biblischen Bücher geschuldet; denn auf der einen Seite zeigen die Texte fortwährend die göttliche Herkunft ihres Inhaltes und ihrer Botschaft, auf der anderen Seite, sagen sie wenig oder nichts über die Art und Weise, wie sie geschrieben wurden, oder über sich selbst als schriftlich verfasste Dokumente. Daher erscheinen Offenbarung und ihre schriftliche Aufzeichnung (Inspiration) als ein einziger Prozess. Sehr oft wird davon in einer Weise gesprochen, dass das eine und das andere darunter verstanden wird. Jedoch, die einfache Tatsache, dass die Erklärungen, die wir zitieren, aus schriftlichen Texten kommen, macht sichtbar, dass ihre Autoren implizit behaupten, dass ihr Text die Offenbarungshandlungen Gottes abschließend ausdrückt und beständig festhält.

Die Schriften des Neuen Testaments und ihre Beziehung zu Jesus

8. Für die Schriften des Neuen Testamentes stellen wir eine besondere Situation fest: Sie zeigen eine Beziehung ihrer Verfasser zu Gott nur über die Person Jesu. Den Grund dafür drückt Jesus selber klar aus: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6); diese Aussage beruht auf der einzigartigen Kenntnis die der Sohn vom Vater hat (vgl. Mt 11,27; Lk 10,22; Joh 1,18).

Bedeutsam und lehrreich ist das Verhalten Jesu gegenüber seinen Jüngern. Die Evangelien beschreiben die Formung, die er ihnen gibt und in der sich beispielhaft zeigt, welche Beziehung zu Jesus und zu Gott wesentlich ist, damit die Worte eines Apostels oder die Schrift eines Evangelisten zum „Wort Gottes“ werden. Nach unseren Quellen hat Jesus selber nichts geschrieben und hat auch seinen Jüngern nichts diktiert. Was er getan hat, kann man so zusammenfassen: Er hat einige Männer gerufen, ihm zu folgen, sein Leben zu teilen, ihn bei seiner Tätigkeit zu begleiten, seine Person immer tiefer zu erkennen, im Glauben an ihn und in der Lebensgemeinschaft mit ihm zu wachsen. Das ist das Geschenk, das Jesus seinen Jüngern gegeben, und die Art und Weise, wie er sie vorbereitet hat, seine Apostel zu sein und seine Botschaft zu verkünden; ihr Wort ist von der Art, dass Jesus alle künftigen Christen als diejenigen kennzeichnet, „die durch ihr [der Apostel] Wort an mich glauben“ (Joh 17,20). Er sagt auch zu seinen Missionaren: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat.“ (Lk 10,16; vgl. Joh 15,20). Das Wort seiner Ausgesandten kann nur deswegen das Fundament für den Glauben aller Christen sein, weil es aus der engsten Verbindung mit Jesus kommt und das Wort Jesu ist. Die persönliche Beziehung zum Herrn Jesus, gelebt in einem bewussten und lebendigen Glauben an seine Person, ist das eigentliche Fundament jener „Inspiration“, die die Apostel fähig macht, mündlich und schriftlich, die Botschaft Jesu, die das „Wort Gottes“ ist, mitzuteilen. Entscheidend ist nicht das Mitteilen von Worten, die Jesus genauso ausgesprochen hat, sondern die Verkündigung seines Evangeliums. Ein typisches Beispiel dafür ist das Johannesevangelium, von dem es heißt, dass jedes Wort den Stil des Johannes zeigt und zugleich getreu mitteilt, was Jesus gesagt hat.

9. Es zeichnet sich hier, gerade vom Johannesevangelium her, eine innerste Verbindung ab zwischen der Natur der Beziehung zu Jesus und zu Gott („Inspiration“) und dem Inhalt der Botschaft, die als Wort Gottes („Wahrheit“) mitgeteilt wird. Die zentrale Botschaft Jesu heißt nach dem Johannesevangelium: Gott der Vater und seine grenzenlose Liebe zur Welt, geoffenbart in seinem Sohn (vgl. Joh 3,16); das entspricht dem, was Dei Verbum sagt: Gott und sein Heilsplan (Nr. 2). Es genügt nicht, diese Botschaft ins Gedächtnis aufzunehmen und mit dem Verstand zu begreifen; sie kann nur in einer intensiven, lebendigen und persönlichen Beziehung erfasst werden, d.h. in der Beziehung, für die Jesus seine Jünger herangebildet hat. Immer kann man formal richtig von Gott und seiner Liebe sprechen, aber nur im lebendigen Glauben an ihn und an seine Liebe kann man dieses sein Geschenk empfangen und davon Zeugnis geben. Wir stellen also fest, dass die zentrale Botschaft („Wahrheit“) und die Art sie aufzunehmen, um sie zu bezeugen („Inspiration“), sich gegenseitig bedingen. Es geht immer um die intensive und personale Lebensgemeinschaft mit dem Vater, die durch den Sohn geoffenbart wird, um die Lebensgemeinschaft, die das Heil ist.

Kriterien für das Feststellen der Beziehung zu Gott in den biblischen Schriften

10. Nach dem, was wir in den Evangelien festgestellt haben, ist der lebendige Glaube an Jesus als den Sohn Gottes das Hauptziel der Unterweisung, die Jesus seinen Jüngern gibt; in ihm drückt sich ihre grundlegende Beziehung zu Jesus und zu Gott aus. Dieser Glaube ist ein Geschenk des Heiligen Geistes (vgl. Joh 3,5; 16,13) und wird gelebt in einer innigen, bewussten und personalen Einheit mit dem Vater und dem Sohn (vgl. Joh 17,20-23). Durch diesen Glauben sind die Jünger mit der Person Jesu verbunden, der „der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist“ (Dei Verbum, Nr. 2), und empfangen die Inhalte ihres apostolischen Zeugnisses, ob sie es mündlich oder schriftlich geben. Weil es von Jesus kommt, dem Wort Gottes, kann auch ihr Zeugnis nur Wort sein, das von Gott kommt. Die personale Beziehung ‚Glaube’ (1) zu der Quelle, durch die Gott sich offenbart, (2) sind die beiden entscheidenden Faktoren dafür, dass die Worte und Taten der Apostel von Gott kommen.

Jesus ist „der Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters“ (Verbum Domini, Nr20), Höhepunkt, dem eine reiche „Ökonomie“ der Offenbarung Gottes vorausgeht. Wie wir schon erwähnt haben, offenbart sich Gott in der Schöpfung (DV, Nr. 3) und besonders im Menschen, den er als „sein Abbild“ (Gen 1,27) geschaffen hat. Er offenbart sich vor allem in der Geschichte des Volkes Israel „in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind“

(DV, Nr 2). Es zeichnen sich so verschiedene Weisen der Offenbarung Gottes ab, die in der Person Jesu zu ihrer Fülle und ihrem Höhepunkt kommen (Hebr 1,1-2).

Im Fall der Evangelien (und allgemein für die apostolischen Schriften) sind für die Herkunft von Gott die beiden Elemente entscheidend: lebendiger Glaube an Jesus (1), der der Höhepunkt der göttlichen Offenbarung ist (2). Für unsere Untersuchung der anderen biblischen Schriften auf ihre Herkunft von Gott können diese zwei Kriterien dienen: 1. Welcher persönliche Glaube an Gott (entsprechend der jeweiligen Phase in der Offenbarungsökonomie) und 2. welche Form der Offenbarung zeigen sich in den verschiedenen Schriften? Die jeweilige biblische Schrift kommt von Gott durch den lebendigen Glauben ihres Verfassers an Gott und durch die Beziehung, die dieser Verfasser zu einer bestimmten Form (oder zu verschiedenen Formen) der göttlichen Offenbarung hat. Nicht selten ist der Fall, dass eine biblische Schrift sich auf einen früheren inspirierten Text stützt und auf diese Weise an der Herkunft von Gott teilnimmt.

Mit diesen Kriterien lässt sich das Zeugnis der verschiedenen biblischen Schriften untersuchen und man kann sehen, wie, zum Beispiel, Gesetzestexte, Weisheitssprüche,prophetische Orakel, Gebete aller Art, apostolische Ermahnungen usw. von Gott kommen, wie also Gott durch die menschlichen Verfasser ihr Urheber ist.Es scheint, dass den Einzelfällen entsprechend die konkrete Art und Weise der Herkunft von Gott verschieden ist und dass sie nicht mit einem einfachen und gleichförmigen göttlichen Diktat verglichen werden kann. Was jedoch immer in gleicher Weise bezeugt wird, ist der persönliche Glaube des menschlichen Verfassers an Gott und seine Offenheit und sein Gehorsam gegenüber den verschiedenen Formen der göttlichen Offenbarung.

Auf diese Weise, indem wir die biblischen Schriften selbst studieren und ihrem Zeugnis über die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott nachgehen, versuchen wir konkreter zu zeigen, wie sich die Inspiration als Beziehung zwischen Gott, dem Inspirator und Urheber, und den Menschen, die er als echte Verfasser erwählt hat, darstellt.

Das Zeugnis ausgewählter Schriften des Alten Testaments

11. Wir haben einige repräsentative Schriften des Alten und des Neuen Testamentes ausgewählt, um zu zeigen, wie sich in den Texten selbst ihre Herkunft von Gott ausdrückt. Für das Alte Testament folgen wir der klassischen Einteilung in Gesetz, Propheten und Schriften (vgl. Lk 24,44) und habenfür die Untersuchung ausgewählt den Pentateuch, die Propheten und die historischen Bücher (die auch „frühere Propheten“ genannt werden), schließlich die Psalmen und das Buch Jesus Sirach.

Der Pentateuch

Die Idee eines göttlichen Ursprungs biblischer Texte wird in den Erzählungen des Pentateuch auf der Basis des Begriffs vom Schreiben, vom schriftlichen Festhalten entwickelt. So erhält Mose in besonders bedeutsamen Augenblicken von Gott den Auftrag, etwas schriftlich niederzulegen, zum Beispiel den Text der Bundeserneuerung (Ex 34,27); anderswo scheint er dem Sinn dieser Anweisungen zu entsprechen, wo er andere bedeutende Dinge schriftlich aufzeichnet (vgl. Ex 17,14; Num 33,2; Dtn 31,22), bis hin zur Aufzeichnung der ganzen Tora (vgl. Dtn 27,3.8; 31,9). Das Buch Deuteronomium hebt in besonderer Weise die spezifische Rolle des Mose hervor und zeigt ihn als inspirierten Mittler der Offenbarung und als autorisierten Ausleger des göttlichen Wortes. Davon ausgehend hat sich in harmonischer Weise die traditionelle Idee entwickelt, dass Mose der Verfasser des Pentateuch ist, dass die Bücher Mose nicht nur von ihm sprechen, sondern auch für seine Werke gehalten wurden.

Die zentralen Aussagen über das Sich-Mitteilen Gottes finden sich in der Erzählungen von der Begegnung Israels mit Gott am Gottesberg Sinai/Horeb (Ex 19 - Num 10; Dtn 4ff). Diese Erzählungen wollen in suggestiven Bildern die Idee ausdrücken, dass Gott der Ursprung des biblischen Zeugnisses ist. Man kann also sagen, dass das Fundament für die Auffassung der Bibel als Wort Gottes am Sinai gelegt wurde, weil Gott den Mose dort als den einzigen Mittler seiner Offenbarung bestellt hat. Es kommt Mose zu, die göttliche Offenbarung schriftlich festzuhalten, damit sie als Wort Gottes überliefert und aufbewahrt werden kann für die Menschen aller Zeiten. Das Geschriebene macht nicht nur die Weitergabe des Wortes möglich, sondern ruft auch die Frage nach dem menschlichen Verfasser hervor; im Fall der Bibel folgt daraus ihr Selbstverständnis, Wort Gottes in menschlichen Worten zu sein.Diese Idee (vgl. Dei Verbum, Nr. 12) wird in nuce schon in Ex 19,19 ausgedrückt, wo gesagt wird, dass Gott dem Mose „mit einer Stimme“ antwortete; so zeigt es sich, dass Gott „sich herablässt“ und sich menschlicher Sprache bedient, gerade auch gegenüber dem Mittler seiner Offenbarung.

12. Der göttliche Ursprung des geschriebenen Worteswird darüber hinaus in der Sinaierzählung in subtiler Weise vertieft. Der Dekalog scheint in diesem Zusammenhang ein einzigartiges und unvergleichliches Dokument zu sein. Er kann als Ausgangspunkt für die Idee vom göttlichen Ursprung der Heiligen Schrift (Inspiration) angesehen werden, weil als Text nur der Dekalog mit der Idee verbunden ist von Gott selber geschrieben zu sein (vgl. Ex 24,12; 31,18; 32,16; 34,1.28; Dtn 4,13; 9,1). Dieser Text, den Gott selbst auf zwei Steintafeln geschrieben hat, ist die Basis für den Begriff eines göttlichen Ursprungs der biblischen Texte. Die Pentateucherzählung entwickelt diesen Begriff in zwei Richtungen. Auf der einen Seite erscheint die besondere Autorität, die dem Dekalog zukommt gegenüber allen anderen Gesetzen und Weisungen der Bibel, auf der anderen Seite stellen wir fest, dass der Begriff „Schrift“ (verstanden als schriftlich festgehalten) in besonderer Weise mit dem Offenbarungsmittler Mose verbunden ist, so dass später „Mose“ und Pentateuch das gleiche bedeuten.

Was den ersten Aspekt angeht, nämlich dass der Dekalog von Gott selber geschrieben wurde, ist festzustellen, dass die Überlieferung und Rezeption dieses besonderen Textes sich in der biblischen Tradition unabhängig von dem materiellen Träger der zwei Steintafeln behaupten. Es sind nicht die Tafeln, auf die Gott geschrieben hat, die aufbewahrt und verehrt werden, sondern es ist der Text, den Gott geschrieben hat, um Teil der Heiligen Schrift zu werden (vgl. Ex 20; Dtn 5).

Die Zehn Gebote, die Gott aufgeschrieben und dem Mose übergeben hat, – und hier kommen wir zum zweiten Aspekt – verweisen auf die besondere Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, was die Heilige Schrift angeht. Mose wird zum Mittler eingesetzt nicht auf Grund eines göttlichen Planes, sondern Gott geht auf die Bitte der Menschen (Israel) ein, die einen Mittler verlangen. Nachdem Gott sich direkt an das Volk Israel gewendet hatte (vgl. Ex 19), bittet das Volk Mose um Vermittlung, da es die unmittelbare Begegnung mit Gott fürchtet (vgl. Ex 20,18-21). Gott geht auf den Willen des Volkes ein und setzt Mose als Mittler ein; mit ihm spricht er und teilt ihm im Einzelnen seine Weisungen mit (Ex 20,22-23,33). Mose schreibt schließlich diese Worte auf, weil Gott durch sie seinen Bund mit Israel schließt (Ex 24,3-8). Um das zu bestätigen, verspricht Gott, dem Mose die Tafeln zu geben, auf die er selber geschrieben hat (vgl. Ex 24,12). Es kann nicht klarer und tiefer ausgedrückt werden, dass die Heilige Schrift, die von einer Generation zur anderen durch die Glaubensgemeinschaft der Juden und Christen überliefert worden ist, ihren Ursprung von Gott hat, gerade auch wenn sie von Menschen verfasst wurde. Dieses Selbstzeugnis der Heiligen Schrift findet seine Vollendung, wenn am Ende des Pentateuchs behauptet wird, dass Mose selbst die Unterweisung aufgeschrieben hat, die er dem Volk Israel vor dem Betreten des gelobten Landes als Lebensprogramm für die Zukunft erteilt hat (Dtn 31,9). Nur wenn die Menschen sich von dem Wort der Heiligen Schrift, das an sie gerichtet ist, ansprechen lassen, können sie es erkennen und empfangen „nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gotteswort, das in euch, den Gläubigen, wirksam ist“ (1 Thess 2,13).

Die Prophetenbücher und die Geschichtsbücher

13. Sie sind mit dem Pentateuch die Teile des Alten Testaments, die am meisten betonen, dass ihr Inhalt von Gott kommt. Im Allgemeinen wendet sich Gott an sein Volk und an dessen Führer durch Menschen: durch Mose, den Urtyp der Propheten (Dtn 18,18-22), im Pentateuch und durch die Propheten in den Propheten- und Geschichtsbüchern. Wir wollen untersuchen, wie diese Bücher den göttlichen Ursprung ihres Inhaltes zeigen.

Die Prophetenbücher: Sammlungen dessen, was der Herr seinem Volk durch seine Boten gesagt hat

Sie präsentieren sich als Sammlungen dessen, was durch die „Autoren“, nach denen sie benannt sind, Gott seinem Volk gesagt hat. Diese Bücher erklären mit Nachdruck, dass ihr Inhalt von Gott kommt. Sie tun das durch verschiedene Ausdrücke, die die Rede einleiten oder unterteilen. Diese Ausdrücke behaupten oder setzen voraus, dass die Prophetenbücher Reden des Herrn sind und stellen klar, dass der Herr sich durch die Autoren der Bücher an sein Volk wendet. Ein guter Teil der Prophetenbücher wird dem Herrn ausdrücklich in den Mund gelegt. Dementsprechend präsentieren diese Bücher ihre Verfasser als Menschen, die der Herr mit einer Botschaft zu seinem Volk gesandt hat.

a. Die prophetischen Formeln

Bei zwei Dritteln der Prophetenbücher sprechen die Titel ausdrücklich davon, dass sie göttlichen Ursprungs sind; sie bedienen sich dafür der Wortereignisformel. Von einzelnen Unterschieden abgesehen kann die Formel in die Aussage zusammengefasst werden: „Das Wort des Herrn erging an …“; ihr folgt der Name des Propheten, der das Wort empfängt (so in den Büchern von Jeremia, Ezechiel, Hosea, Joel, Zefanja und Sacharja), und manchmal auch der Name der Adressaten (so in Haggai und Maleachi). Diese Titel erklären auch, dass der Inhalt dieser Bücher, ob er nun Gott oder den Propheten in den Mund gelegt wird, vollständig Wort Gottes ist. Die Titel der übrigen Prophetenbücher teilen mit, dass diese Visionen berichten, die ihre „Autoren“ (Jesaja, Amos, Obadja, Nahum, Habakuk) gehabt haben. Der Titel des Buches Micha stellt nebeneinander die Formel vom Ergehen des Wortes des Herrn und die Erwähnung der Vision. Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, kann im Kontext der Prophetenbücher nur der Herr selber die Ursache der Visionen sein. Dieser ist also der Urheber dieser Bücher.

Die Titel sind nicht der einzige Teil der Prophetenbücher, der diese als Wort Gottes bezeichnet. Die zahlreichen „prophetischen Formeln“, die sich im Text finden, tun dasselbe. Der häufigste Ausdruck, die „prophetische Formel“ schlechthin, heißt „So spricht der Herr“. Der Prophet präsentiert sich als Bote Gottes, indem er mit dieser Formel die Rede eröffnet. Er unterrichtet seine Hörer, dass die Rede, die er an sie richtet, nicht von ihm, sondern vom Herrn kommt.

Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen seien noch drei andere Formeln genannt, die sich in den Prophetenbüchern finden: „Wort des Herrn“, „so spricht der Herr/Gott“. Die erste heißt „Botenformel“ und leitet die Reden ein, die beiden anderen schließen sie ab. Sie fungieren als Unterschrift am Ende eines Textes und bezeugen, dass die vorausgehende Rede vom Herrn kommt.

b. Die Propheten: Boten des Herrn

14. Vier Prophetenbücher erzählen, wie der Herr die Autoren dieser Schriften zu seinen Boten gemacht hat: Jesaja (6,1-13), Jeremia (1,4-10), Ezechiel (1,3-3,11) und Amos (7,15). Die Sendungen von Jesaja und Ezechiel geschehen im Rahmen einer Vision. Wahrscheinlich gilt dasselbe für Jeremia. Die Erzählung der Sendung des Jesaja ist ein gutes Beispiel für diese Gattung, da sie ziemlich ausführlich und doch knapp ist. Im göttlichen Rat, an dem Jesaja durch die Vision teilnimmt, sucht der Herr einen Freiwilligen und fragt: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ und Jesaja antwortet: “Hier bin ich, sende mich!“ Der Herr nimmt das Angebot Jesajas an und sagt: „Geh und sag diesem Volk“. Es folgt die Botschaft des Herrn (Jes 6,8-10). Strukturiert durch die Verben „senden, gehen, sagen“ schließt die Erzählung mit der Rede des Herrn, die Jesaja dem Volk zu übermitteln hat. Dasselbe gilt von den drei anderen Erzählungen einer Prophetensendung, die wir oben genannt haben und die auch mit dem Befehl des Herrn schließen, seine Botschaft auszurichten (Ez 2,2-3, 3,4-11; Am 7,15). In der Erzählung der Sendung des Jeremia besteht der Herr darauf, dass sein Befehl unumstößlich ist (vgl. auch Am 3,8) und dass seine Botschaft genau übermittelt werden muss: „Aber der Herr erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden.“ (Jer 1,7; vgl. 1,17; 26,2.8, Dtn 18,18.20) Diese Erzählungen begründen die Rolle als Boten des Herrn, die die Prophetenbücher ihren jeweiligen Autoren zuerkennen, und begründen zugleich den göttlichen Ursprung ihrer Botschaft.

Die Geschichtsbücher: das Wort des Herrn wirkt unfehlbar und ruft zur Umkehr

a. Die Bücher Josua – Könige

15. In den Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige ergreift der Herr oft das Wort, so wie es in den Prophetenbüchern geschieht, zu denen diese Bücher nach der jüdischen Tradition gehören. Bei jeder Etappe der Eroberung des gelobten Landes sagt der Herr dem Josua, was er zu tun hat. In Jos 20,1-6 und 24,2-15 wendet er sich an das Volk durch Josua, der so seine Rolle als Prophet erfüllt. Im Buch der Richter spricht der Herr oder sein Engel oft zu den Führern, vor allem zu Gideon, oder zum Volk. Er handelt immer selber, außer in Ri 4,6-7 und 6,7-9, wo er sich der Prophetin Debora oder eines anonymen Propheten bedient, um sich an Barak bzw. an das ganze Volk zu wenden.

Dagegen wendet sich der Herr in den Büchern Samuel und Könige, von seltenen Ausnahmen abgesehen, immer durch Propheten an seine Adressaten. Seine Reden werden durch die gleichen Ausdrücke eingeleitet und gegliedert wie in den Prophetenbüchern. Unter den biblischen Schriften heben die Bücher Samuel und Könige am meisten die Propheten und ihre Tätigkeit als Boten des Herrn hervor. In einem großen Teil der Sprüche, die die Bücher Samuel und Könige berichten, kündet der Herr das Unheil an, das er über die Führer des Volkes kommen lässt, vor allem über den einen oder anderen Königund seine Dynastie oder über die Königreiche Israel (vgl. 1 Kön 14,15-16) und Juda (vgl. 2 Kön 21,10-15), weil sie von ihm verschiedene Gottheiten verehren. Nach den göttlichen Unheilsankündigungen wird gewöhnlich ihr Eintreten festgestellt. Zu einem guten Teil erscheinen die Bücher Samuel und Könige als eine Abfolge von Unheilsankündigungen und deren Erfüllung. Diese Abfolge hört erst auf mit der Zerstörung des Reiches Juda. Wo die Erzählungen von der babylonischen Eroberung (597-587 v. Chr.) eingeleitet werden, erklärt 2 Kön 24,2, dass die Zerstörung Judas das Werk des Herrn ist, der so verwirklicht, was er angekündigt hatte „durch seine Knechte, die Propheten“. Weil der Herr das erfüllt, was er angekündigt hat, ist sein Wort von zuverlässiger Wirksamkeit. Mit anderen Worten, es ist hauptsächlich der Herr, der in der Geschichte seines Volkes handelt; er kündigt an, was geschehen wird, und er lässt es eintreten.

Wie in den Texten, von denen wir gesprochen haben, so fasst auch 2 Kön 17,7-20 die Geschichte Israels und Judas in einer Folge von Reden des Herrn zusammen, die er an sie „durch seine Knechte, die Propheten“ gerichtet hat. Der Tenor der Reden ist jedoch verschieden. Der Herr kündet nicht Unheil für Israel und Juda an, sondern er mahnt sie zur Umkehr. Weil sie aber die Anrufe des Herrn stur ablehnen (VV. 13-14), verstieß er sie schließlich von seinem Angesicht.

b. Die Bücher der Chronik

16. Wie die Bücher Josua bis Könige so enthalten auch die Bücher der Chronik viele Reden des Herrn. Er spricht direkt zu Salomo ( 2 Chr 1,7.11-12; 7,12-22). Im Allgemeinen wendet er sich aber durch Mittler an den König oder an das Volk: die meisten von ihnen erhalten einen „prophetischen“ Titel, es gibt aber auch Mittler ohne Titel. Der erste Platz kommt Propheten wie Natan (1 Chr 17,1-15) zu und vielen anderen. Der Herr nimmt in seinen Dienst aber auch Seher wie Gad (vgl. 1 Chr 21,9-12) und Personen, die verschiedene Handwerke haben, oder sogar fremde Könige wie Necho (vgl. 2 Chr 35,21) und Kyrus (vgl. 2 Chr 36,23).

Die Bücher der Chronik nehmen die Vorstellungen vom Wort des Herrn auf, die sich in den Büchern Samuel und der Könige finden. Wie in diesen Büchern, aber vielleicht mit weniger Nachdruck, künden die Reden des Herrn Ereignisse an, deren Eintreten dann festgestellt wird (vgl. 1 Chr 11,1-3; 2 Chr 6,10; 10,15). Die Chronikbücher unterstreichen diese Rolle des Wortes des Herrn mit Bezug auf das babylonische Exil. Nach Chr 36,20-22 wird mit dem Exil und seinem Ende das erfüllt, was der Herr durch den Mund von Jeremia angekündigt hat (vgl. Jer 25,11-14; 29,10). Mit Ausdrücken, die von 2 Kön 17,13-14 verschieden sind, nimmt 2 Chr 36,15-16 das Motiv auf von den unablässigen Versuchen, die der Herr umsonst gemacht hat, um das Unheil von seinem Volk abzuwenden, indem er ihm seine Boten/Propheten sandte. Zum Schluss sei bemerkt, dass die Chronikbücher nicht den göttlichen Ursprung ihres Inhalts behaupten, aber indem sie sich auf prophetische Quellen beziehen (vgl. 2 Chr 36,12.15-16.21-22), scheinen sie diesen anzudeuten.

Die Prophetenbücher präsentieren sich insgesamt als Wort des Herrn. Dieses nimmt auch in den Geschichtsbüchern einen hervorragenden Platz ein. Beide Arten, vor allem aber die Geschichtsbücher betonen, dass das Wort des Herrn von unfehlbarer Wirksamkeit ist und zur Umkehr ruft.

Die Psalmen

17. Das Buch der Psalmenist eine Sammlung von Gebeten, die aus der persönlichen oder gemeinschaftlichen Erfahrung der Gegenwart und des Handelns Gottes kommen. Die Psalmen zeigen das Gebet Israels in den verschiedenen Epochen seiner Geschichte: zur Zeit der Könige, während des Exils, als Gott immer mehr als der König Israels anerkannt wird, schließlich nach dem Exil, zur Zeit des zweiten Tempels. Jeder Psalm gibt Zeugnis von einer lebendigen und starken Beziehung zu Gott, und auf dieser Basis können wir sagen, dass er von Gott kommt und von Gott inspiriert ist. Aus dem, was die Texte selber zeigen, kann man, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, wenigstens drei Arten der Beziehung erheben: a. die Erfahrung des Eingreifens Gottes im Leben der Glaubenden; b. die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Heiligtum; c. die Erfahrung Gottes als der Quelle aller Weisheit. Diese drei Arten der Beziehung zu Gott werden gelebt auf der Basis des Sinaibundes, der das Versprechen von der aktiven Gegenwart Gottes im täglichen Leben seines Volkes und im Tempel einschließt.

a. Die Erfahrung des Eingreifens Gottes im Leben der Glaubenden

Auf zwei Weisen erfahren die Beter die mächtige Hilfe Gottes: als Antwort auf ihren Hilferuf und als Hören von den großen Machttaten Gottes.

Wir nehmen das Gebet in Ps 30,9-13 als eines von vielen Beispielen, wo die Beter selber die Hilfe Gottes erfahren: „Zu dir, Herr rief ich um Hilfe, ich flehte meinen Herrn um Gnade an. … Höre mich Herr, sei mir gnädig! Herr, sei du mein Helfer! Da hast du mein Klagen in Tanzen verwandelt, hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet. Darum singt dir mein Herz und kann nicht verstummen. Herr, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.“

Eine Erfahrung, persönlich und zugleich gemeinschaftlich, des Herrn, der rettet, ist die inspirierende Kraft für die Bitt- und Lobpsalmen. Diese Erfahrung wird immer angedeutet, wenn nicht gar erzählt am Beginn (vgl. Ps 18,5-7; 30,2) oder am Ende (vgl. Ps 142,6-8) oder in der Mitte des Psalms (vgl. Sal 22,22; 85,7-9). Auf halbem Weg zwischen dem menschlichen Wort der Bitte und jenem des Lobes steht das Wort Gottes, das seine Verheißung und sein Handeln ausdrückt (vgl. Ps 30,12). Nachdem er es gehört hat, fühlt der Psalmist sich inspiriert, es den anderen zu erzählen. So wird das Wort erwartet, empfangen und gelobt nicht nur von einem Einzelnen, sondern vom ganzen Volk.

Die Beter hören die Wundertaten des Herrn, weil Gott zum Beter und zum ganzen Volk spricht durch die großen Taten, die er in der ganzen Schöpfung und in der Geschichte Israels vollbracht hat. Ps 19,2-5 erinnert an die Wundertaten Gottes in der Schöpfung und beschreibt, wie sie sprechen: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem anderen, eine Nacht tut es der anderen kund, ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde.“Es ist Aufgabe des Beters, diese Sprache zu hören, die von der „Herrlichkeit Gottes“ spricht (vgl. Ps 147,15-20), und sie in eigenen Worten auszudrücken.

Ps 105 erzählt die Werke des Herrn in der Geschichte Israels und fordert den Einzelnen und das Volk auf: „Denkt an die Wunder, die er getan hat, an seine Zeichen und an die Beschlüsse aus seinem Mund.“ (v. 5). In den geschichtlichen Psalmen werden diese „Wunder, die er getan hat“ berichtet, die auch „die Beschlüsse aus seinem Mund“ sind. Die Worte dieser Psalmen, obwohl sie von Menschen in menschlichen Worten formuliert werden, sind inspiriert vom machtvollen Handeln des Herrn. Diese Stimme des Herrn erklingt weiterhin im Heute des Beters und des Volkes. Es gilt, sie zu hören.

b. Die Erfahrung der machtvollen Gegenwart des Herrn im Bereich des Heiligtums

18. Als Beispiele nehmen wir die Ps 17 und Ps 50. Im ersten Text inspiriert die Erfahrung Gottes einen Gerechten, der fälschlicher Weise angeklagt ist, ein Gebet unbedingten Vertrauens an Gott zu richten; im zweiten Fall lässt diese Erfahrung die Stimme Gottes hören, die das verfehlte Verhalten des Volkes aufdeckt.

Der letzte Vers des Ps 17 drückt die sichere Hoffnung aus: „Aber ich werde in Gerechtigkeit dein Angesicht schauen, beim Erwachen mich satt sehen an deiner Gestalt.“ Auch zwei andere Gebete von Verfolgten enden auf ähnliche Weise. Ps 11,7 schließt mit der Behauptung: „Die Rechtschaffenen werden sein Angesicht schauen.“; und der vorletzte Vers von Ps 27 sagt: „Ich bin gewiss, zu schauen die Güte des Herrn im Land der Lebenden.“(V. 13; vgl VV. 4.8.9) Der Ausdruck „das Angesicht des Herrn“ bedeutet Gott selber, die Person Gottes seiner wahren und ganzen Wirklichkeit nach. Der andere Ausdruck „das Angesicht des Herrn schauen“ meint eine intensive, wirkliche und personale Begegnung mit Gott, nicht mit dem Organ des Sehens, aber in einer „Schau“ des Glaubens. Die unerschütterliche Hoffnung auf diese Erfahrung Gottes („ich werde schauen“ im Futur) und die Kenntnis Gottes, die sich in ihr ausdrückt, sind die Quelle für das ganze Gebet.

Ps 50 berichtet die Erfahrung einer Theophanie in der Tempelliturgie. Beim Erscheinen des Bundesgottes (vgl. 50,5) wiederholen sich die Phänomene vom Sinai, verzehrendes Feuer und Sturm (vgl. 50,3). Die Manifestation der Wirklichkeit Gottes und seiner Beziehung zu Israel („Ich bin Gott, dein Gott!“) führt zu der Anklage gegen das Volk: „Ich halte es dir vor Augen und rüge dich“ (50,21). Gott tadelt das Verhalten des Volkes: seine Beziehung zu Gott ist ausschließlich auf Opfer konzentriert (50,8-13)und seine Beziehung zum Nächsten widerspricht diametral den Bundesgeboten (50,16-22). Gott verlangt sein Lob, das Bittgebet in der Not (50,14-15.23) und das rechte Handeln gegenüber dem Nächsten (50,23). Der Psalm 50, im Herz des Psalters, nimmt die Formen der Propheten auf; er lässt nicht nur den Herrn sprechen, sondern jedes Bittgebet und jedes Lob Gottes werden als Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes interpretiert. Alles Gebet ist also „inspiriert“ von Gott.

c. Die Erfahrung Gottes, Quelle der Weisheit

19. Weisheit und Verstand sind ein VorrechtGottes (vgl. Ps 136,5; 147,5). Er ist es, der sie mitteilt („Im Geheimen lehrst du mich Weisheit“ Ps 51,8) und den Menschen weise macht, d.h. fähig, alle Dinge so zu sehen, wie Gott sie sieht. David besaß Weisheit und Verstand von dem Augenblick an, da Gott ihn rief, König Israels zu sein (vgl. Ps 78,72).

Die Furcht Gottes ist die Voraussetzung, um von Gott unterwiesen zu werden und die Weisheit zu empfangen. Im Anfangsteil von Ps 25 bittet der Beter eindringlich um die Unterweisung des Herrn („Zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine Pfade! Führe mich in deiner Treue und lehre mich!“ VV. 4-5); er stützt sich dabei auf die Bereitschaft Gottes, sie zu geben (vgl. VV. 8-9). Die Gottesfurcht ist das unerlässliche Verhalten, um die weisheitliche Belehrung Gottes zu erfahren: „Wer ist der Mann, der Gott fürchtet? Ihm zeigt er den Weg, den er wählen soll.“ (25,12) Denen, die ihn fürchten, zeigt Gott nicht nur den rechten Weg, sondern gibt ihnen eine viel umfassendere und tiefere Erleuchtung: „Die sind Vertraute des Herrn, die ihn fürchten; er weiht sie ein in seinen Bund“ (25,14); er schenkt ihnen eine Beziehung innigster Freundschaft und durchdringende Kenntnis des Bundes, den er am Sinai mit Israel geschlossen hat. Wir sehen also, dass die Beziehung zu Gott, die als Furcht Gottes bezeichnet wird, die inspirierende Quelle ist, aus der viele Weisheitspsalmen kommen.

Das Buch Jesus Sirach

20. In den Prophetenbüchern ist es Gott selber, der durch die Propheten spricht. Es sind verschiedene Weisen, in denen sich Gott an die Personen wendet, die er als seine Sprecher beim Volk Israel erwählt hat. In den Psalmen spricht der Mensch zu Gott, aber er tut es in seiner Gegenwart und in Ausdrucksformen, die eine innige Gemeinschaft mit Gott voraussetzen. In den Weisheitsbüchern dagegen sprechen Menschen zu Menschen; jedoch sind beide, der, der spricht, und der, der hört, tief verwurzelt in dem Glauben an den Gott des Volkes Israel. Im Alten Testament wird die Weisheit oft dem Geist Gottes zugeschrieben (vgl. Ijob 32,8; Weish 7,22; 9,17; auch 1 Kor 12,4-11). Diese Schriften werden Weisheitsbücher genannt, weil ihre Verfasser die Wege für ein menschliches Leben, das von der Weisheit geleitet wird, erforschen und aufzeigen. Bei ihrer Suche sind sie sich bewusst, dass die Weisheit eine Gabe Gottes ist, denn: „Nur einer ist weise, höchst ehrfurchtgebietend: der auf seinem Thron sitzt, der Herr“ (Sir 1,8). Beim Bestreben, die Arten der Beziehung zu Gott zu zeigen, die von diesen Schriften als Quelle und Fundament für das bezeugt werden, was ihre Verfasser lehren, haben wir unsere Untersuchung auf das Buch Sirach konzentriert, wegen seines synthetischen Charakters.

Von allem Anfang an ist der Verfasser sich dessen bewusst: „Alle Weisheit stammt vom Herrn, und ewig ist sie bei ihm“ (Sir 1,1). Schon in seinem Prolog hat der Übersetzer des Buches einen Weg angegeben, auf dem Gott dem Verfasser die Weisheit mitgeteilt hat: „So befasste sich mein Großvater Jesus sorgfältig mit dem Gesetz, mit den Propheten und mit den anderen von den Vätern überkommenen Schriften. Er verschaffte sich eine gründliche Kenntnis von ihnen und fühlte sich dann gedrängt, auch selbst etwas zu schreiben, um dadurch Bildung und Weisheit zu fördern.“ Das genaue und gläubige Lesen der Heiligen Schriften, in denen Gott zum Volk Israel spricht, hat den Verfasser mit Gott verbunden, ist die

Quelle seiner Weisheit geworden und hat ihn veranlasst, sein Werk zu schreiben. So zeigt sich klar eine Art und Weise, durch die das Buch von Gott kommt.

Das, was der Übersetzer im Prolog behauptet, wird vom Verfasser selber im Herzen des Buches bestätigt. Nachdem er das Lob der Weisheit auf sich selber berichtet hat (Sir 24,1-22), identifiziert er sie mit der Schrift des Mose: „Dies alles ist das Bundesbuch des höchsten Gottes, das Gesetz, das Mose uns vorschrieb als Erbe für die Gemeinde Jakobs“ (Sir 24,23). Sirach erläutert dann, was das Ergebnis seines Studiums des Gesetzesund die Wirkung seiner Schrift ist: „So strahle ich weiterhin Belehrung aus wie die Morgenröte, ich lasse sie leuchten bis in die Ferne. Weiterhin gieße ich Lehre aus wie Prophetenworte und hinterlasse sie den fernsten Generationen. Seht, nicht allein für mich habe ich mich geplagt, sondern für alle, die Weisheit suchen“ (Sir 24,32-34 vgl. 33,18). Die Weisheit, die alle, auch in Zukunft, in seiner Schrift finden können, ist die Frucht seines Studiums des Gesetzes und dessen, was ihn Gott durch die Prüfungen seines Lebens gelehrt hat (vgl. Sir 4,11.17-18). Er scheint ein Porträt seiner selbst zu geben, wenn er von dem spricht, „der sich der Gottesfurcht widmet und das Gesetz des Höchsten erforscht“ (38,34), und schreibt: „Er ergründet die Weisheit der Vorfahren und beschäftigt sich mit den Prophezeiungen“ (39,1). Als Ergebnis nennt er dann: „Wenn Gott, der Höchste es will, wird er mit dem Geist der Einsicht erfüllt. Er bringt eigene Weisheitsworte hervor, und im Gebet preist er den Herrn“ (39,6). Der Erwerb der Weisheit als Frucht des Studiums wird als Geschenk Gottes anerkannt und führt zum Lobpreis Gottes. Alles vollzieht sich in einer ständigen und lebendigen Einheit mit Gott. Der Verfasser behauptet nicht nur für sich, sondern für alle, dass die Furcht Gottes und die Beobachtung des Gesetzes der Zugang zur Weisheit ist: „Wer den Herrn fürchtet, handelt so, und wer am Gesetz festhält, erlangt Weisheit“ (15,1).

Im letzten Teil seines Werkes (44-50) befasst sich Sirach auf andere Weise mit der Überlieferung seines Volkes, indem er das Lob der Väter ausführt und das Handeln Gottes durch viele Menschen in der Geschichte Israels und zu seinen Gunsten beschreibt. Auch durch diese Übersicht zeigt er, wie seine Schrift aus der Beziehung zu Gott kommt. Im Besonderen sagt er über Mose: „Er ließ ihn seine Stimme hören und zu der dunklen Wolke herantreten. In seine Hand legte er die Gebote, die Lehre voll Leben und Einsicht, um Jakob seine Gesetze zu lehren und Israel seine Satzungen und Vorschriften“ (45,5). Er erwähnt viele Propheten und sagt über Jesaja: „Mit großer Geisteskraft schaute er die Zukunft und tröstete die Trauernden in Israel“ (48,24). Indem er das Gesetz und die Propheten meditierte, also das Wort Gottes hörte, war dieser Verfasser in Verbindung mit Gott, erlangte so die Weisheit und erwarb sich die Fähigkeit, sein Werk zu erstellen (vgl. Vorwort).

Im Schlussteil kennzeichnet Sirach den Inhalt seines Buches als „weise Bildung und passende Sinnsprüche“ (50,27). Er schließt dem eine Seligpreisung an: „Selig der Mann, der hierüber nachsinnt; wer es sich zu Herzen nimmt, wird weise. Wer danach handelt, hat Kraft zu allem; denn die Gottesfurcht ist ihr tiefster Inhalt“ (50,28-29). Die Seligpreisung verlangt, den Inhalt des Buches zu meditieren und zu praktizieren, und verspricht Weisheit und Gottesfurcht; das kann nur geschehen, wenn die Schrift von Gott kommt.

Abschluss

21. Nachdem wir eine Auswahl von Texten des Alten Testamentes behandelt haben, können wir eine Zusammenfassung versuchen. Obwohl die untersuchten Schriften verschieden sind nach Zeit und Ort der Abfassung, nach Inhalt und literarischem Stil, haben sie übereinstimmend eine einzige, große und fundamentale Botschaft: Gott spricht zu uns. In den vielfachen und verschiedenen geschichtlichen Umständen sucht Gott selber den Menschen, erreicht ihn und spricht zu ihm. Und die Botschaft Gottes, verschieden in der Form wegen den konkreten Umständen der Offenbarung, ist immer darauf aus, dass der Mensch in Liebe auf sie antworte. Diese großartige Absicht Gottes, macht die Schriften, die sie ausdrücken, voll von Gott. Sie lässt sie inspiriert und inspirierend sein, d.h. fähig, das Verstehen und die Leidenschaft der Glaubenden zu erleuchten und zu fördern. Der Mensch, der sich dessen bewusst wird, wird mit Staunen und Freude fragen: Dieser unaussprechliche Gott, der zu mir spricht, zu welchem Geschenk für mich wird er noch fähig und bereit sein? Die Verfasser des Neuen Testamentes sind Glieder des Volkes Israel, kennen die „Schriften“ ihres Volkes und anerkennen sie als inspiriertes Wort, das von Gott kommt. Sie zeigen uns, wie Gott sein Sprechen fortgesetzt hat, bis er in der Sendung seines Sohnes sein letztes und endgültiges Wort gesprochen hat (vgl. Hebr 1,1-2).

Das Zeugnis ausgewählter Schriften des Neuen Testaments

22. Als ein Kennzeichen dieser Schriften haben wir schon festgestellt, dass die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott immer über die Person Jesu geht. Einen besonderen Platz nehmen die vier Evangelien ein. Die Konstitution Dei Verbum sagt, dass „den Evangelien mit Recht ein Vorrang zukommt. Denn sie sind das Hauptzeugnis für Leben und Lehre des fleischgewordenen Wortes, unseres Erlösers“ (Nr. 18). Wir wollen dieser besonderenRolle der Evangelien Rechnung tragen. Daher legen wir einleitend dar, was ihnen gemeinsam ist, und zeigen dann, was den Synoptikern und was dem Johannesevangelium eigen ist. Von den anderen Schriftarten des Neuen Testaments wählen wir die wichtigsten aus und beschäftigen uns mit der Apostelgeschichte, mit den Briefen des Apostels Paulus, mit dem Hebräerbrief und der Apokalypse.

Die vier Evangelien

23. Sie unterscheiden sich von allen übrigen Büchern der Heiligen Schrift dadurch, dass sie direkt berichten „alles, was Jesus getan und gelehrt hat“ (Apg 1,1), und zugleich beschreiben, wie Jesus die Apostel unterwiesen hat, die das von ihm geoffenbarte Wort Gottes verkünden sollten. Indem die Evangelien die Person Jesu und seine Beziehung zu Gott und zugleich die Apostel mit der ihnen von Jesus verliehenen Ausbildung und Vollmacht darstellen, bezeugen sie die besondere Weise, auf die ihr Text von Gott kommt.

a. Jesus als Höhepunkt der Offenbarung Gottes für alle Völker

Die Evangelien zeigen wirkliche Verschiedenheit in manchen Einzelheiten der Erzählung und in gewissen theologischen Ausrichtungen, aber auch große Übereinstimmung in der Darstellung der Person Jesu und seiner Botschaft. Wir legen hier eine gewisse Zusammenfassung der Hauptpunkte vor.

Alle vier Evangelien präsentieren die Person und die Geschichte Jesu als Höhepunkt der biblischen Geschichte. Sie beziehen sich daher oft auf die Schriften des Alten Testaments, vor allem in der griechischen Übersetzung der Septuaginta, aber auch in den hebräischen und aramäischen Originaltexten. Sehr wichtig sind die zahlreichen Verbindungen, die die Evangelien aufzeigen zwischen Jesus und den Patriarchen, Mose und den Propheten als Personen, deren Erinnerung und Bedeutung in den Heiligen Schriften des Alten Testaments aufgezeichnet sind.

Die Evangelien bezeugen Jesus als die Erfüllung der Offenbarung des Gottes Israels,der Israel als sein eigenes Volk ruft, unterweist, bestraft und oft wiederherstellt; Israel ist von den anderen Völkern unterschieden, ist aber auch dafür bestimmt, ein Segen für alle Völker zu sein. Der Universalismus, der sich im Alten Testament abzeichnet, wird von ihnen entschieden vertreten und sie machen sichtbar, dass Gott sich in Jesus an das ganze Menschengeschlecht aller Zeiten wendet (vgl. Mt 28,20; Mk 14,9; Lk 24,47; Joh 4,42).

Die vier Evangelien, jedes auf seine Weise, behaupten, dass Jesus der Sohn Gottes ist, nicht nur im Sinn eines messianischen Titels, sondern als Ausdruck für eine Beziehung, einzigartig und ohne Vorgänger, zu dem himmlischen Vater, und dass er so in seiner Rolle als Erlöser und Offenbarer alle anderen Menschen überragt. Am ausdrücklichsten ist das dargelegt im Johannesevangelium, schon am Anfang im Prolog (1,1-18) und auch in den Kapiteln vom auferstandenen Herrn, in der Begegnung mit Thomas (20,28)und in der Schlussbemerkung über die unerschöpfliche Bedeutung seines Lebens und seiner Lehre (21,25). Dieselbe Botschaft findet sich im Markusevangelium in Form einer literarischen Inklusion: am Anfang wird erklärt, dass Jesus der Christus und der Sohn Gottes ist (1,1) und am Schluss bekennt der römische Hauptmann vom gekreuzigten Jesus: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (15,39). Denselben Inhalt bezeugen die beiden anderen synoptischen Evangelien, mit starken und ausdrücklichen Worten, in einem jubelnden Gebet, das Jesus an Gott als seinen Vater richtet (Mt 11,25-27; Lk 10,21-22). Jesus verwendet wahrhaft einzigartige Ausdrücke und behauptet nicht nur vollkommene Gleichheit und Vertrautheit zwischen Gott dem Vater und sich selber als dem Sohn, sondern sagt auch, dass diese Beziehung nur durch Offenbarung bekannt werden kann: nur der Sohn kann den Vater offenbaren und nur der Vater den Sohn.

Literarisch gesehen berichten die Evangelien einzelne Begebenheiten und lehrhafte Unterweisungen, in Wirklichkeit aber und ihrer letzten Bedeutung nach übermitteln sie eine Geschichte der Offenbarung und des Heiles. Sie stellen das Leben des menschgewordenen Sohnes Gottes dar, der aus den demütigen Umständen eines gewöhnlichen Lebens und durch die grausamen Erniedrigungen der Passion und des Todes hindurch die Erhöhung in Herrlichkeit erreicht. Auf diese Weise, indem sie die Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus mitteilen, zeigen die Evangelien einschlussweise, dass ihr Text von Gott herkommt.

b. Die Gegenwart und Ausbildung der Augenzeugen und Diener des Wortes

24. Jede Begebenheit der Evangelien hat ihr Zentrum in Jesus, der jedoch immer von Jüngern umgeben ist.Der Ausdruck „Jünger“ bezieht sich auf eine Gruppe von Personen, die Jesus nachfolgen und deren Zahl nicht präzisiert wird. Jedes Evangelium spricht in besonderer Weise von den „Zwölf“, einer Gruppe, die von Jesus namentlich ausgewählt wurde, ihn während seiner ganzen Tätigkeit begleitet und eine große Bedeutung hat. Die Zwölf stellen eine Gemeinschaft dar, die durch die Namen ihrer Mitglieder genau abgegrenzt ist. Jedes Evangelium berichtet, dass diese Gruppe von Jesus erwählt wurde (Mt 10,1-4; Mk 3,13-19; Lk 6,12-16; Joh 6,70); sie folgten Jesus, wurden Augenzeugen seiner gesamten Tätigkeitund wurden von ihm ausgesandt und mit Vollmacht ausgestattet (Mt 10,5-8; Mk 3,14-15; 6,7; Lk 9,1-2; Joh 17,18; 20,21). Ihre Zahl symbolisiert die zwölf Stämme Israels (Mt 19,28; Lk 22,30) und bedeutet die Fülle des Volkes Gottes, die durch ihre Aussendung zur Evangelisierung der ganzen Welt erreicht werden soll. Ihr Dienst übermittelt nicht nur die Botschaft Jesu an alle Menschen aller kommenden Zeiten, sondern erfüllt auch die Prophezeiung des Jesaja vom Emmanuel (7,14) und macht Jesus gegenwärtig in der Geschichte entsprechend seiner Verheißung: „Seid gewiss. Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20) Indem die Evangelien die besondere Formung der Zwölf berichten,zeigen sie die konkrete Art ihrer eigenen Herkunft von Jesus und von Gott.

Die synoptischen Evangelien

25. Sie präsentieren die Geschichte Jesu in einer Weise, dass sie keinen Raum lassen zwischen der Perspektive des Erzählers und dem Porträt, das er vonder Person Jesu, von seinem Leben und seiner Sendung zeichnet. Indem diese Evangelien die vielfachen Beziehungen Jesu zu Gott beschreiben, geben sie einschlussweise ihre eigene Beziehung zu Gott oder ihre Herkunft von Gott an, immer durch die Person Jesu und seine Rolle als Heiland und Offenbarer.

Nur Lukas leitet die zwei Schriften seines Werkes ein (Lk 1,1-4; vgl Apg 1,1), indem er seine Erzählung mit früheren Stadien der apostolischen Überlieferung verbindet. Er sieht sein Werk innerhalb des Prozesses des apostolischen Zeugnisses von Jesus und von der Heilsgeschichte; dieses Zeugnis hat begonnen mit den ersten Nachfolgern Jesu („Augenzeugen“), wurde verkündet in der ersten apostolischen Predigt („Diener des Wortes“) und wird jetzt in einer neuen Form weitergeführt durch das Evangelium des Lukas. Auf diese Weise gibt Lukas ausdrücklich die Beziehung seines Evangeliums zu Jesus, dem Offenbarer Gottes an und behauptet dass sein Werk die Autorität von Offenbarung hat.

Im Zentrum jedes Evangeliums finden wir Jesus mit seinen vielfältigen und einzigartigen Beziehungen zu Gott. Sie zeigen sich in den Begebenheiten des Lebens Jesu und in seiner Tätigkeit, aber auch in seiner Rolle für die Heilsgeschichte. In einem ersten Abschnitt befassen wir uns mit der Person und mit dem Wirken Jesu und in einem zweiten Abschnitt mit seiner Rolle in der Geschichte Gottes mit der Menschheit.

a. Jesus und seine einzigartige Beziehung zu Gott

26. Die Evangelien beleuchten auf verschiedene Weise die einzigartige Beziehung Jesu zu Gott. Sie präsentieren ihn als : a) den Christus, den Sohn Gottes in seiner privilegierten und einmaligen Beziehung zum Vater; b) als den, der vom Geist Gottes erfüllt ist; c) als den, der in der Macht Gottes handelt; d) als den, der mit der Autorität Gottes lehrt; e) als den, dessen Beziehung zum Vater durch seinen Tod und seine Auferstehung endgültig geoffenbart und bestätigt wird.

Jesus, der einzigartige Sohn Gottes des Vaters

Schon in den Kindheitsgeschichten, bei Matthäus und Lukas, wird klar Bezug genommen auf die göttliche Herkunft Jesu (Mt 1,20; Lk 1,35) und auf seine einzigartige Beziehung zum Vater (Mt 2,15; Lk 2,49).

Alle drei synoptischen Evangelien berichten Schlüsselereignisse des Lebens Jesu, bei denen er in direktem Austausch mit seinem Vater steht und der Vater seinerseits den göttlichen Ursprung der Identität und Sendung seines Sohnes bestätigt.

In jedem synoptischen Evangelium gehen der öffentlichen Tätigkeit Jesu seine Taufe und eine eindruckvolle Theophanie voraus. Die Himmel öffnen sich, der Geist steigt auf Jesus herab und die Stimme Gottes erklärt ihn als seinen geliebten Sohn (Mt 3,13-17; Mk 1,9-11; Lk 3,21-22). Nach diesem Beginn erzählen die Evangelien, dass der Geist ihn in die Wüste getrieben hat (Mt 4,1-11; Mk 1,12-13; Lk 4,1-13) zu einer Auseinandersetzung mit Satan (so wird an den Aufenthalt Israels in der Wüste erinnert) und dass er dann seine Tätigkeit in Galiläa begonnen hat.

Eine andere machtvolle Theophanie, die Verklärung Jesu, ereignet sich am Ende seiner galiläischen Tätigkeit, als er seinen Weg nach Jerusalem antritt, nahe den österlichen Geschehnissen. Wie bei der Taufe erklärt Gott der Vater: „Das ist mein geliebter Sohn“ (Mt 17,5 parr.) und betont ausdrücklich die Autorität, die ihm zukommt: „Auf ihn sollt ihr hören!“ Einige Elemente dieser Theophanie erinnern an das Sinaiereignis: der Gipfel des Berges, die Gegenwart von Mose und Elija, das Strahlen der Person Jesu, die Gegenwart einer Wolke, die sie mit ihrem Schatten bedeckt. Auf diese Weise werden Jesus und seine Sendung mit der Offenbarung Gottes am Sinai und mit der Heilgeschichte Israels verbunden.

Das Matthäusevangelium enthält einen einmaligen, offenbarenden Titel Jesu. Zusammen mit dem Eigennamen „Jesus“, den er durch den Satz interpretiert: „Denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (1,21), bringt Matthäus den Titel „Immanuel“ (1,23) und seine Bedeutung „Gott mit uns“ (vgl. Jes 7,14). So behauptet der Evangelist ausdrücklich die Gegenwart Gottes in Jesus und unterstreicht die Autorität, die daraus für sein Lehren und sein gesamtes Wirken folgt. Der Titel „Immanuel“ erscheint in einer gewissen Weise von Neuem in Mt 18,20, wo Jesus von seiner Gegenwart inmitten der Gemeinde spricht („Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“), und in Mt 28,20, der abschließenden Verheißung des auferstandenen Christus: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“

Jesus, erfüllt vom Geist Gottes

Alle synoptischen Evangelien berichten bei der Taufe die Herabkunft des Geistes Gottes auf Jesus (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22) und betonen, dass der Heilige Geist in seinem Handeln wirksam ist ( vgl. Mt 12,28; Mk 3,28-30). Besonders Lukas erwähntwiederholt den Geist, der Jesus bei seiner Sendung, zu lehren und zu heilen, antreibt (vgl. Lk 4,1.14.18-21). Der gleiche Evangelist berichtet, dass Jesus in einem Augenblick großer Erregung „vor Freude im Heiligen Geiste jubelte“ (10,21) und sagte: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde … Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand weiß, wer der Sohn ist, nur derVater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Lk 10,21-22; vgl. auch Mt 11,25-27).

Jesus handelt aus der Macht Gottes

27. Die einmalige Beziehung Jesu zu Gott zeigt sich auch in den Exorzismen und Heilungen. Bei allen drei Synoptikern, besonders aber bei Markus, kennzeichnen die Exorzismen das Wirken Jesu. Die Macht des Geistes Gottes, der in Jesus gegenwärtig ist, ist fähig, den bösen Geist auszutreiben, der die Menschen zerstören will (z.B. Mk 1,21-28). Der ZusammenstoßJesu mit Satan in den Versuchungen des Anfangs wird so fortgesetzt während seines Wirkens im siegreichen Kampf mit den bösen Mächten, die das menschliche Leiden verursachen. Dieselben dämonischen Mächte werden präsentiert mit einem angstvollen Wissen um die Identität Jesu als Sohn Gottes (z.B. Mk 1,24; 3,11; 5,7). Die „Macht“, die von Jesus ausgeht, ist Macht zum Heilen (vgl. Mk 5,30). Zahlreiche Erzählungen dieser Art finden sich in allen drei Synoptikern. Als die Gegner Jesus anklagen, seine Macht von Satan zu erhalten, verbindet seine Antwort das wunderbare Handeln mit der Kraft der Heiligen Geistes und mit der Gegenwart des Reiches Gottes: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Mt 12,28; vgl. Lk 11,20).

Die Gegenwart der Macht Gottes in Jesus zeigt sich in besonderer Weise, wo er seine Vollmacht auch gegenüber den Kräften der Natur ausübt.Die Erzählungen von der Stillung des Seesturms und vom Wandeln über das Wasser entsprechen Theophanien, bei denen Jesus göttliche Autorität über die chaotische Macht des Meeres ausübt und beim Wandeln über das Wasser den göttlichen Namen als seinen eigenen Namen ausspricht (Mt 14,27; Mk 6,50). Bei Matthäus werden die Jünger, die dabei sind, dazu geführt, dass sie Jesus als den Sohn Gottes bekennen (14,33). Die Erzählungen von der Brotvermehrung offenbaren in ähnlicher Weise die einzigartige Macht und Autorität Jesu (Mt 14,13-21; Mk 6,32-44; Lk 9,10-17; vgl. Mt 15,32-39; Mk 8,1-10). Diese Handlungen sind verbunden mit dem göttlichen Geschenk des Manna in der Wüste (Ex 16)und mit dem prophetischen Wirken von Elija und Elischa (1 Kön 17,8-16; 2 Kön 4,42-44). Zugleich wird mit den Worten und Gesten über den Broten und mit dem Überfluss an übrig gebliebenen Stücken auf die Eucharistiefeier der christlichen Gemeinde angespielt, bei der sich die heilbringende Macht Jesu sakramental entfaltet.

Jesus lehrt mit der Autorität Gottes

Die synoptischen Evangelien zeigen, dass Jesus mit einzigartiger Autorität lehrt. Bei der Verklärung verlangt die Stimme vom Himmel ausdrücklich: „Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören!“ (Mk 9,7; Mt 17,5;Lk 9,35). Die Zeugen des ersten Lehrens Jesu und seines ersten Exorzismus rufen in der Synagoge von Kafarnaum aus: „Was hat das zu bedeuten? Hier wird mit Vollmacht eine ganz neue Lehre verkündet. Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl“ (Mk 1,27). In der Bergpredigt (Mt 5,21-48) stellt Jesus voll Autorität sein Lehren Schlüsseltexten des Gesetzes gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist …. Ich aber sage euch“. Er bezeichnet sich als „Herr über den Sabbat“ (Mt 12,8, Mk 2,28; Lk 6,5). Die Vollmacht, die er von Gott erhalten hat, bezieht sich auch auf das Vergeben der Sünden (Mt 9,6, Mk 2,10; Lk 5,24).

Der Tod und die Auferstehung Jesu als letzte Offenbarung und Bestätigung seiner einzigartigen Beziehung zu Gott

28. Die Kreuzigung Jesus, ein äußerst grausames und schmachvolles Geschehen, scheint die Auffassung seiner Gegner zu bestätigen, die in ihm einen Gotteslästerer sehen (Mt 26,65; Mk 14,63). Sie verlangen vom Gekreuzigten, dass er vom Kreuz herabsteige und seine Behauptung beweise, der Sohn Gottes zu sein (Mt 27,41-43; Mk 15,31-32). Der Tod am Schandpfahl scheint zu beweisen, dass Gott sein Handeln und seine Ansprüche ablehnt. Aber nach den Evangelien drückt Jesus im Sterben seine innige Verbundenheit mit Gott dem Vater aus und nimmt dessen Willen an (Mt 26,39.42; Mk 14,36; Lk 22,42). Indem Gott der Vater Jesus von den Toten auferweckt (Mt 28,6; Mk 16,6; Lk 24,6.34), bestätigt er vollkommen und endgültig die Person Jesu und alle ihre Tätigkeiten und Ansprüche. Wer an die Auferweckung des gekreuzigten Jesus glaubt, kann nicht an seiner einzigartigen Beziehung zu Gott und an der Gültigkeit seines gesamten Wirkens zweifeln.

b. Jesus und seine Rolle in der Heilsgeschichte

29. Die Heiligen Schriften des Volkes Israel werden als Erzählung der Geschichte Gottes mit diesem Volk und als Wort Gottes angesehen. Die synoptischen Evangelien zeigen die Beziehung Jesu zu Gott auch dadurch, dass sie seine Geschichte als Erfüllung der Schriften werten. Diese Beziehung wird auch sichtbar durch seine Offenbarung am Ende der Zeiten.

Die Erfüllung der Schriften

Es ist wichtig zu sehen, dass Jesus nicht nur das Lehren von Mose und den Propheten vollendet, sondern dass er sich darüber hinaus in Person als die Erfüllung der Schriften präsentiert. Mt 2,15 stellt fest, dass Jesus als Kind den Weg Israels „aus Ägypten“ wiederholt (vgl. Hos 11,1). Voll des Heiligen Geistes (Lk 4,15) und nach dem Lesen aus Jesaja in der Synagoge von Nazareth schließt er das Buch und erklärt: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr soeben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,16-21). In ähnlicher Weise lässt er Johannes im Gefängnis ausrichten, dass das, was die Gesandten des Täufers sehen, die messianischen Prophezeiungen des Jesaja erfüllt (Mt 11,2-6, durch die Verbindung von Jes 26,19; 29,18-19; 35,6; 61,1). Der programmatische Anfang des Markusevangeliums nennt in den ersten Versen die Identität Jesu, nicht nur durch die erste Zeile, in der es heißt „Jesus, der Christus, der Sohn Gottes“ (1,1), sondern auch in den folgenden Versen, nach denen das Zeugnis der Propheten erfüllt ist, die den Herrn selber ankündigen und die Vorbereitung seines Kommens (1,2-3, mit Bezug auf Ex 23,20; Mal 3,1; Jes 40,3). Die Evangelisten präsentieren Jesus als Nachkommen Davids, sie sagen aber auch, dass er weiser ist als Salomo (Mt 12,42; Lk 11,31), mehr ist als der Tempel (Mt 12,6) und mehr als Jona (Mt 12,41, Lk 11,32). In der Bergpredigt tritt er als Gesetzgeber auf mit einer Autorität, die jene des Mose überragt (Mt 5,21.27.33.38.43).

Die Erfüllung der Geschichte durch die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit

Nach den synoptischen Evangelien zeigt sich die sehr enge Beziehung Jesu zu Gott nicht nur darin, dass Jesus die Erfüllung der Geschichte Gottes mit Israel ist, sondern auch darin, dass die Geschichte insgesamt durch die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit vollendet wird. In der apokalyptischen Rede (Mt 24-25; Mk 13; Lk 21) bereitet er seine Jünger vor auf die Mühsale der Geschichte nach seinem Tod und seiner Auferstehung und ermahnt sie treu und wachend zu sein bis zu seiner Wiederkunft. Sie leben in einer Zwischenzeit, die zwischen der Erfüllung der vorausgehenden Geschichte durch das Werk und den Weg Jesu und der endgültigen Erfüllung am Ende aller Zeiten liegt. Es ist die Zeit der Gemeinschaften, die an Jesus glauben, die Zeit der Kirche. Für diese Zwischenzeit haben die Christen die Zusicherung, dass der auferstandene Herr immer bei ihnen ist (Mt 28,20), auch durch die Kraft des Heiligen Geistes (Lk 24,49; vgl. Apg 1,8). Sie haben die Aufgabe, das Evangelium Jesu allen Völkern zu verkünden (Mt 26,13; Mk 13,10; Lk 24,47), sie zu Jüngern Jesu zu machen (Mt 28,19), die Jesus folgen. Ihr ganzes Leben und diese ganze Zeit spielt sich vor dem Horizont der Vollendung der Geschichte durch die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit ab.

c. Abschluss

30. Die synoptischen Evangelien zeigen die einzigartige Beziehung Jesu zu Gott in seinem ganzen Leben und Wirken; sie zeigen auch die einzigartige Bedeutung Jesu für die Erfüllung der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und für die endgültige Erfüllung der ganzen Geschichte. In Jesus offenbart Gott sich selber und seinen Heilsplan für alle Menschen, in Jesus spricht Gott zu allen Menschen, durch Jesus werden sie zu Gott geführt und mit ihm verbunden, durch Jesus erlangen sie das Heil. Indem sie Jesus, das Wort Gottes, bezeugen, werden die Evangelien selber Wort Gottes. Die Heiligen Schriften Israels haben die Natur, in Vollmacht von Gott zu sprechen und mit Sicherheit zu Gott zu führen. Der gleiche Charakter erscheint in den Evangelien; er führt zum Entstehen eines Kanons der christlichen Schriften, der sich mit dem Kanon der jüdischen Heiligen Schriften verbindet.

Das Johannesevangelium

31. Der Prolog des Evangeliums schließt mit der feierlichen Erklärung: „Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige Sohn, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (1,18). Die Darlegung dessen, was Jesus kennzeichnet (der einzige Sohn; Gott; innigste Gemeinschaft mit dem Vater), und seiner einzigartigen Fähigkeit, Gott zu kennen und zu offenbaren, findet sich nicht nur am Beginn des Evangeliums, sondern wird durch die ganze Schrift des Johannes bestätigt. Wer in die Beziehung zu Jesus eintritt und sich für sein Wort öffnet, empfängt durch ihn die Offenbarung des Vaters. Zusammen mit den anderen Evangelien betont auch das vierte die Erfüllung der Schriften durch das Werk Jesu und bestätigt so seine Zugehörigkeit zum Heilsplan Gottes. Es ist aber eine Besonderheit des Johannesevangeliums, einige spezifische Züge der Beziehung des Evangelisten zu Jesus anzugeben: a. Das Sehen der Herrlichkeit des einzigen Sohnes; b. Die ausdrückliche Augenzeugenschaft; c. Das Lehren des Geistes der Wahrheit für die Zeugen. Diese besonderen Züge, die den Evangelisten sehr eng mit der Person Jesu verbinden, verweisen auf die Herkunft seines Evangeliums von Gott.

a. Das Sehen der Herrlichkeit des einzigen Sohnes

Der Prolog sagt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (1,14). Nachdem er ausgeführt hat, dass das Wort Fleisch geworden ist und die Menschheit zur endgültigen Wohnung des Bundesgottes gemacht hat, spricht der Text sofort von einer tiefen personalen Begegnung mit dem fleischgewordenen Wort. In den johanneischen Texten bezeichnet „sehen“ (griechisch: theasthai) nicht ein momentanes und oberflächliches, sondern ein intensives und dauerhaftes Sehen, das mit Nachdenken, wachsendem Verstehen und gläubiger Zugehörigkeit verbunden ist. In Joh 11,45 wird als unmittelbares Objekt des Sehens angegeben „was Jesus getan hat“, nämlich die Auferweckung des Lazarus, und der Glaube an Jesus wird als Folge genannt. In Joh 1,14b wird sofort das Ergebnis des Sehens erwähnt, nämlich das gläubige Begreifen, das Erkennen des „einzigen Sohnes vom Vater“ (vgl. 1 Joh 1,1; 4,14). Der unmittelbare Gegenstand des Sehens ist Jesus, seine Person und Tätigkeit; in ihm ist das Wort Gottes während seines irdischen Daseins für die Menschen sichtbar geworden ist.

Der Verfasser schließt sich selber in eine Gruppe von aufmerksamen Zeugen ein („wir“), die durch das Sehen des Wirkens Jesu dazu gekommen sind, an ihn als den einzigen Sohn Gottes zu glauben. Die Augenzeugenschaft des Evangelisten und sein Glaube an Jesus als den Sohn Gottes sind die Basis für seine Schrift; indirekt ist daraus zu schließen, dass diese Schrift von Jesus und so von Gott kommt. Johannes ist Mitglied einer Gruppe von gläubigen Zeugen. Der erste Schluss seines Evangeliums (20,30-31) lässt es zu, diese Gruppe zu identifizieren. Der Evangelist spricht ausdrücklich von seiner Schrift („dieses Buch“) und von den „Zeichen“, die in ihm aufgeschrieben sind, und er sagt, dass Jesus sie „vor den Augen seiner Jünger getan“ hat. Die Jünger sind also die Gruppe dieser Augenzeugen, zu denen der Verfasser des vierten Evangeliums gehört.

b. Die ausdrückliche Augenzeugenschaft

32. Zweimal wird ausdrücklich betont, dass der Evangelist Augenzeuge dessen war, was er schreibt. Am Ende des Evangeliums lesen wir: „Dieser Jünger ist es, der all dies bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“ (21,24). Eine Gruppe („wir“) stellt den Jünger, der mit der in der vorausgehenden Erzählung genannten Person identifiziert wird, als zuverlässigen Zeugen und als Verfasser des ganzen Werkes vor. Es handelt sich um den „Jünger, den Jesus liebte“ (21,20), der auch bei anderen Gelegenheiten (13,23; 19,26; 20,2; 21,7) wegen seiner besonderen Nähe zu Jesus Zeuge seines Tuns war. So zeigt sich, wie dieses Evangelium von Jesus und von Gott kommt. Diejenigen, die sagen „wir wissen“, haben das Bewusstsein für eine solche Wertung qualifiziert zu sein. So anerkennt die glaubende Gemeinde diese Schrift, nimmt sie aufund empfiehlt sie.

In einem anderen Abschnitt geht es um den Augenzeugen für das Ausfließen von Blut und Wasser nach dem Tod Jesu: „Der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt“ (19,35). Entscheidend sind die Begriffe des Sehens, des Bezeugens, der Wahrheit und des Glaubens. Der Augenzeuge beteuert die Wahrheit seines Zeugnisses, mit dem er sich an eine Gemeinschaft („ihr“) wendet, und er fordert sie auf, seinen Glauben zu teilen (vgl. 20,31; 1 Joh 1,1-3). Der Glaube betrifft nicht nur das, was geschehen ist, sondern auch dessen Bedeutung, die durch zwei Zitate aus dem Alten Testament ausgesagt wird (vgl. 19,36-37). Aus dem Kontext wissen wir, dass der Lieblingsjünger, der beimKreuz Jesu stand und an den sich Jesus gewendet hat (19,25-27), dieser Augenzeuge ist. In Joh 19,35 wird also für den Tod Jesu unterstrichen, was in Joh 21,24 für alles im Johannesevangelium Berichtete ausgedrückt wird: Es ist geschrieben von einem Verfasser, der durch unmittelbare Erfahrung und durch seinen Glauben mit Jesus und Gott aufs engste verbunden war und der sein Zeugnis für eine Gemeinschaft von Glaubenden ablegt, die den gleichen Glauben mit ihm teilen.

c. Die Belehrung des Geistes der Wahrheit für die Zeugen

33. Das Zeugnis des Jüngers wird möglich durch die Gabe des Heiligen Geistes. In seiner Abschiedsrede (Joh 14-16) sagt Jesus den Jüngern: „Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis ablegen, weil ihr von Anfang an bei mir seid“ (15,26-27). Die Jünger sind Augenzeugen der ganzen Tätigkeit Jesu „von Anfang an“ (vgl. 1,35-51). Aber das Glaubenszeugnis, das dazu führt, an Jesus als den Christus und Sohn Gottes zu glauben (vgl. 20,31), wird gegeben in der Kraft des Geistes, der vom Vater ausgeht und von Jesus gesandt wird und die Jünger auf das Lebendigste mit Gott verbindet. Die Welt kann den Geist nicht empfangen (14,17), aber die Jünger empfangen ihn für ihre Sendung in die Welt (17,18). Jesus gibt genauer an, wie der Geist von ihm Zeugnis ablegt: „Er wird euch alles lehren und er wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (14,26) und „Er wird euch in die ganze Wahrheit führen“ (16,13). Das Wirken des Geistes ist ganz auf die Tätigkeit Jesu bezogen und hat die Aufgabe, zu einem immer tieferen Verständnis der Wahrheit zu führen, d.h. der Offenbarung Gottes des Vaters, die Jesus gebracht hat (vgl. 1,17-18). Das Zeugnis eines jeden Jüngers für Jesus wird nur wirksam durch den Geist. Dasselbe gilt für das vierte Evangelium, das sich als das Zeugnis präsentiert, das vom Lieblingsjünger Jesu geschrieben wurde.

Die Apostelgeschichte

34. Lukas wird nicht nur das Evangelium sondern auch die Apostelgeschichte zugeschrieben (vgl. Lk 1,1-4; Apg 1,1). Als Quelle für sein Evangelium gibt er ausdrücklich die an, „die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren“ (Lk 1,2), und deutet so an, dass sein Evangelium von Jesus herkommt, dem letzten und höchsten Offenbarer Gottes, des Vaters. Die Quelle für die Apostelgeschichte und ihre Herkunft von Gott gibt er nicht auf die gleiche ausdrückliche Weise an. Wir stellen jedoch fest, dass die Namen in der Apostelliste in Apg 1,13 und Lk 6,14-16 (mit Ausnahme von Judas) die gleichen sind und dass die Apostelgeschichte ihre Eigenschaft als Augenzeugen (Apg 1,21-22; 10,40-41) und ihre Aufgabe als Diener des Wortes (Apg 6,2; vgl. 2,42) hervorhebt. Lukas beschreibt also in der Apostelgeschichte die Tätigkeit derer, von denen er in Lk 1,2 spricht und die also die Quelle für seine beiden Werke darstellen.

Wir können voraussetzen, dass Lukas sich über ihr Wirken (Thema der Apostelgeschichte) mit derselben Sorgfalt (vgl. Lk 1,3) informiert hat, mit der er seine Nachforschungen zum Wirken Jesu angestellt hat.

Die unmittelbare persönliche Beziehung zu Jesus, die diese „Augenzeugen und Diener des Wortes“ hatten, ist also der wesentliche Grund für die Herkunft der Apostelgeschichte von Gott. Ihre Beziehung zu Jesus wird dann besonders sichtbar in ihren Reden und Handlungen, im Wirken des Heiligen Geistes und in der Auslegung der Heiligen Schriften. Die verschiedenen Elemente, die die Herkunft des Buches von Jesus und von Gott zeigen, werden wir im Einzelnen darstellen.

a. Die unmittelbare persönliche Beziehung der Apostel zu Jesus

Die Apostelgeschichte berichtet von der Verkündigung des Evangeliums durch die Apostel, besonders durch Petrus und Paulus.Am Anfang bietet Lukas die Liste mit Petrus und den anderen zehn Aposteln (Apg 1,13). Diese Elf sind der Kern der Gemeinschaft, der sich der auferstandene Herr offenbart (vgl. Lk 24,9.33), und sie bilden die Brücke zwischen dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte (vgl. Apg 1,13.26).

Die Gleichheit der Namen in den Listen von Lk 6,14-16 und Apg 1,13 unterstreicht die lange und intensive persönliche Beziehung eines jeden Apostels zu Jesus. Das ist ihr Privileg während des Wirkens Jesu und das macht sie zu Hauptpersonen in der Apostelgeschichte. Diese Apostel (Apg 1,2) sind auch die Gesprächspartner und Tischgenossen Jesu vor seiner Himmelfahrt (Apg 1,3-4). Ihnen hat er „die Kraft des Heiligen Geistes“ versprochen und sie hat er zu seinen Zeugen bestimmt „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Alle diese Angaben unterstützen die Annahme, dass der Inhalt der Apostelgeschichte auf Jesus und auf Gott zurückgeht.

Auch Paulus, die Hauptperson im zweiten Teil des Buches, ist gekennzeichnet durch seine unmittelbare persönliche Beziehung zu Jesus. Seine Begegnung mit dem auferstandenen Herrn wird dreimal erzählt und hervorgehoben (Apg 9,1-22; 22,3-16; 26,12-18). Paulus selber behauptet klar die göttliche Herkunft seines Evangeliums: „Ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen“ (Gal 1,12). Die „Wir-Abschnitte“ des Buches (Apg 16,10-18; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16) verweisen auf die Beziehung des Verfassers zu Paulus und durch Paulus zu Jesus.

b. Die Reden und Taten der Apostel

35. Das Wirken der Apostel, das in dem Buch berichtet wird, zeigt in vielfacher Weise ihre Beziehung zu Jesus.

Die Reden von Petrus (Apg 1,15-22; 2,14-36; 3,12-26; 10,34-43) und von Paulus (z.B. Apg 13,16-41) sind wichtige Zusammenfassungen des Lebens und Wirkens Jesu. Sie enthalten die grundlegenden Daten: seine Zugehörigkeit zu den Nachkommen Davids (13,22-23), seine Verbindung mit Nazareth (2,22; 4,10), sein Wirken, das in Galiläa beginnt (10,37-39).Besonders hervorgehoben werden sein Leiden und sein Tod, in den die Juden (2,23; 3,13; 4,10-11) und die Heiden (2,23; 4,26-27), Pilatus (3,13; 4,27; 13,28) und Herodes (4,27) verwickelt sind, wie auch seine Hinrichtung am Kreuz (5,30; 10,39; 13,29), sein Begräbnis (13,29) und seine Auferweckung durch Gott (2,24.32; usw.).

Wo es um die Auferstehung Jesu geht, wird das Handeln Gottes in seinem Gegensatz zum Tun der Menschen betont: „Ihr habt ihn ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt“ (2,23-24; vgl. 3,15; usw.). Gott hat Jesus zu seiner Rechten erhöht (2,33; 5,31) und hat ihn verherrlicht (3,13). So wird die sehr enge Beziehung Jesu zu Gott unterstrichen und zugleich die Herkunft des Erzählten von Gott. Die christologischen Titel des Lukasevangeliums finden sich auch in der Apostelgeschichte: Christus (2,31; 3,18), Herr (2,36; 11,20), Sohn Gottes (9,20; 13,33), Heiland (5,31;13,23). Sie drücken die Stellung und die Aufgabe aus, die Gott Jesus zugewiesen hat (vgl. 2,36; 5,31; 13,33).

Auch die Machttaten verbinden die Apostel mit Jesus. Die Wunder Jesu waren Zeichen für das Reich Gottes (Lk 4,18; 11,20; vgl. Apg 2,22; 10,38). Er hat diese Aufgabe den Zwölf anvertraut (Lk 9,1). Die Apostelgeschichte nennt allgemein „Wunder und Zeichen“ (2,43; 5,12; 14,3) als Werke der Apostel. Sie berichtet auch einzelne Wunder wie Heilungen (3,1-10; 5,14-16; 14,8-10), Exorzismen (5,16; 8,7; 19,12) und Totenerweckungen (9,36-42; 20,9-10). Die Apostel vollbringen diese Taten im Namen Jesu, mit seiner Kraft und Autorität (3,1-10; 9,32-35).

Das Wirken der Apostel ist ganz von Jesus bestimmt, kommt von ihm her und führt zurück zu ihm und zu Gott Vater. Die Apostelgeschichte betont auch die Kontinuität im Plan Gottes, der von Jesus erfüllt und in der Kirche weitergeführt wird. Besonders durch die Wunder sieht Lukas die Sendung der Apostel von Gott bestätigt, so wie es schon bei Mose (7,35-36) und bei Jesus (2,22) der Fall war.

c. Das Wirken des Heiligen Geistes

36. Die Beziehung der Apostel zu Jesus vollzieht sich auch durch den Heiligen Geist, den Jesus ihnen verheißen und gesandt hat und in dem sie ihr Werk ausführen.

Der auferstandene Herr verkündet „die Verheißung des Vaters“ (Apg 1,4; vgl. Lk 24,49), die Taufe „mit dem Heiligen Geist“ (Apg 1,5), „die Kraft des Heiligen Geistes“ (1,8). Am Pfingsttag kommt der Heilige Geist auf sie herab und „alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt“ (2,4), mit dem Geist, den der Vater verheißen und den Jesus, zur Rechten Gottes erhöht, ausgegossen hat (2,33). In diesem Geist geben „Petrus zusammen mit den Elf“ (2,14) kraftvoll das erste öffentliche Zeugnis für das Werk und die Auferstehung Jesu (2,14-41).

In dem Summarium vom Leben der Kirche in Jerusalem wird die Tätigkeit der Apostel so zusammengefasst: „Mit großer Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (4,33; vgl. 1,22; usw.); dieses Zeugnis geben sie im Heiligen Geist (4,8.31; usw.). Genauso wird das Wirken des Paulus dargestellt, der die Auferstehung Jesu verkündet (13,30.37) und voll des Heiligen Geistes ist (vgl. 9,17; 13,2.4.9).

d. Die Erfüllung des Alten Testaments

37. Das Lukasevangelium erzählt, wie der auferstandene Herr seinen Jüngern die Heiligen Schriften erklärte und sie verstehen ließ, dass sich in seinem Leiden, Tod und Auferstehung der Heilsplan Gottes erfüllte, der durch Mose, die Propheten und die Psalmen im Voraus verkündet worden war (Lk 24,27.44). In der Apostelgeschichte finden sich etwa 37 Zitate aus dem Alten Testament, größtenteils in den Reden von Petrus, Stephanus und Paulus vor einer jüdischen Hörerschaft. Indem sich die christlichen Prediger auf die inspirierten Texte beziehen und ihre Erfüllung in Jesus zeigen, erhalten ihre Worte eine analoge Qualität.

Mit den Schriften werden die Ereignisse des Lebens Jesus verbunden, die den eigentlichen Inhalt der Predigt darstellen, aber auch das Geschehen, das die Verkündigung begleitet. In seiner Pfingstpredigt erklärt Petrus die außerordentlichen Phänomene, die vom Kommen des Geistes verursacht werden (Apg 2,4-13.15), im Lichte der Prophezeiung von Joel 3,1-5. Am Ende des Buches interpretiert Paulus die Ablehnung seiner Botschaft durch die Juden Roms mit Bezug auf die Prophezeiung von Jesaja 6,9-10. Das, was am Anfang und am Ende der Tätigkeit der Apostel geschieht, wird mit dem prophetischen Wort Gottes verbunden. Diese Art von Inklusion kann zu der Auffassung führen, dass alles, was in diesem Buch geschieht und berichtet wird, dem Heilsplan Gottes entspricht.

Was die Inhalte der apostolischen Predigt angeht, beschränken wir uns auf wenige Beispiele. Petrus bekräftigt die Verkündigung der Auferstehung Jesu (2,24) mit dem Zitat von Psalm 16,8-11, der David zugeschrieben wird (Apg 2,29-32). Er begründet die Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes (2,33) mit Psalm 110,1, der ihm auch als Werk Davids gilt. Es gibt auch, in umfassender Weise, die Bezugnahmen auf alle Propheten, durch deren Mund Gott das Geschick Jesu vorausverkündet hat (vgl. 3,18.24; 24,14; 26,22; 28,23). Paulus stellt die Auferstehung Jesu als Erfüllung der Verheißung an die Väter dar und zitiert Psalm 2,7 (Apg 13,32-33).

Besonders die Apostelgeschichte bezeugt, wie die Urkirche nicht nur die jüdischen Schriften als Erbe übernommen hat, sondern auch die Sprechweise und die Theologie von der Inspiration; das zeigt sich an der Art, wie die Texte des Alten Testaments zitiert werden. So wird am Anfang (Apg 1,16) und am Ende des Buches (Apg 28,15) erklärt, dass der Heilige Geist durch die biblischen Verfasser und Texte gesprochen hat. Am Anfang wirddas Schriftwort gekennzeichnet als dasjenige, „das der Heilige Geist durch den Mund Davids im Voraus gesprochen hat“ (1,16; vgl. auch 4,25) und am Ende drücken sich die Worte des Paulus, die die zwei Bücher des lukanischen Werkes abschließen, in ähnlicher Weise aus und zitieren Jes 6,9-10: „Treffend hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesagt“ (28,25). Diese Art, sich auf den Heiligen Geist zu beziehen, der im biblischen Wort durch die menschlichen Verfasser spricht, wird von den Christen als Modell übernommen, nicht nur um die inspirierten jüdischen Schriften zu beschreiben, sondern auch um die apostolische Predigt zu charakterisieren. Die Apostelgeschichte präsentiert die Predigt der christlichen Missionare, besonders die des Petrus (4,8) und des Paulus (13,9), in analoger Weise zu der prophetischen Rede des Alten Testaments und zur Tätigkeit Jesu: es geht um Worte (mehr in mündlicher als in schriftlicher Form), die aus der Fülle des Geistes kommen.

e. Abschluss

38. Es ist der Apostelgeschichteeigen, dass sie die Tätigkeit der „Augenzeugen und Diener des Wortes“ beschreibt, die eine vielfältige Beziehung zu Jesus haben. Sie sind vor allem Zeugen der Auferweckung Jesu, die sie auf Grund der Begegnungen mit dem auferstandenen Herrn und in der Kraft des Heiligen Geistes bezeugen. Sie präsentieren die Geschichte Jesu als Erfüllung des göttlichen Heilsplans und beziehen sich dafür auf das Alte Testament, und sie sehen in dem gleichen Licht ihre eigene Tätigkeit. Alles, was erzählt wird, kommt von Jesus und von Gott. Auf Grund dieser klaren Eigenschaft des Inhalts der Apostelgeschichte kommt auch ihr Text von Jesus und von Gott her.

Die Briefe des Apostels Paulus

39. Paulus bezeugt die göttliche Herkunft der Schriften Israels, seines Evangeliums, seiner apostolischen Tätigkeit und seiner Briefe.

a. Paulus bezeugt den göttlichen Ursprung der Schriften

Paulus anerkennt die Autorität der Schriften, bezeugt ihren göttlichen Ursprung und sieht in ihnen Prophezeiungen des Evangeliums. Als Heilige Schriften (vgl. Röm 1,2) bezeichnet er die Bücher der jüdischen Tradition in griechischer Sprache. Nie fragt er nach ihrer Wahrheit oder Inspiration. Ihm als gläubigem Juden gelten sie als Zeugen des Willens und des Heilsplans Gottes für die Menschheit. Mit seinen Glaubensgenossen glaubt er an ihre Wahrheit, Heiligkeit und Einheit. Durch sie teilt Gott sich uns mit, spricht uns an und offenbart uns seinen Willen (Röm 4,23-25; 15,4; 1 Kor 9,10; 10,4.11).

Es muss sofort hinzugefügt werden, dass Paulus die Schriften liest und annimmt als Prophezeiungen von Christus und von unseren Zeiten (Röm 16,25-26), als Prophezeiungen des Heiles, das in und durch Jesus Christus angeboten wird, als Prophezeiungen des Evangeliums (Röm 1,2). Sie sind also auf Christus ausgerichtet und müssen so gelesen werden (2 Kor 3). Als Wort Gottes und Zeugnis für das Evangelium bestätigen sie die Einheit und Zuverlässigkeit des Heilplanes Gottes, der von Anfang an derselbe war (Röm 9,6-29).

b. Paulus bezeugt den göttlichen Ursprung seines Evangeliums

40. Im ersten Kapitel des Galaterbriefes gesteht Paulus, dass er wegen seines Eifers für das Gesetz die Kirche verfolgt hat, und bekennt, dass Gott in seiner unendlichen Güte ihm seinen Sohn geoffenbart hat (Gal 1,16; vgl. Eph 3,1-6). Für Paulus wird durch diese Offenbarung Jesus von Nazareth, den er vorher für einen Gotteslästerer und Pseudomessias hielt, zum auferstandenen Herrn, zum Messias in Herrlichkeit, zum Sieger über den Tod und zum Sohn Gottes. Im gleichen Brief erklärt er, dass sein Evangelium ihm offenbart wurde (Gal 1,12). Unter dem Evangelium sind die Hauptdaten des Weges und der Sendung Jesu, auf jeden Fall sein Tod und seine Auferstehung als Quellen des Heils, zu verstehen.

In Gal 1-2 teilt Paulus mit, dass die Beschneidung nicht zu seinem Evangelium gehört. Er erklärt also, dass es nach dem, was ihm offenbart wurde, nicht notwendig ist, sich beschneiden zu lassen und sich dem mosaischen Gesetz zu unterstellen, um Erbe der eschatologischen Verheißungen zu werden. Die Frage, ob die Christen nichtjüdischer Herkunft zu beschneiden sind, ist für Paulus nicht nebensächlich, sondern berührt den Kern des Evangeliums. Mit Entschiedenheit erklärt er, dass jeder, der sich beschneiden lässt, um sich dem mosaischen Gesetz zu unterwerfen und durch dieses die Gerechtigkeit zu erlangen, den Tod Christi am Kreuz für sich wirkungslos macht: „Ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen“ (Gal 5,2; vgl. 5,4; 2,21). Das Evangelium selber steht also auf dem Spiel, und zwar das Evangelium, das ihm geoffenbart wurde und also nicht geändert werden kann.

Wie zeigt Paulus in Gal 1-2, dass sein Evangelium, zu dem die Beschneidung nicht gehört, göttlichen Ursprungs ist? Er sagt zuerst, dass dieses Evangelium nicht von ihm selber kommen kann, da er sich ihm als Pharisäer heftig widersetzt hat und da er jetzt nicht aus geistigem Wankelmut das Gegenteil von dem verkündet, was er früher bekannt hat: alle seine Glaubensgenossen wussten, wie fest er in seinen Überzeugungen war (Gal 1,13-14). Er zeigt dann, dass sein Evangelium nicht von den anderen Apostel kommen kann, nicht nur weil er sie erst lange nach der Begegnung mit Christus besuchte, sondern auch weil er nicht zögerte, Petrus, dem bekanntesten der Apostel, entgegenzutreten, als dieser eine Position vertrat, die aus der Beschneidung einen Grund der Diskriminierung unter den Christen machte (Gal 2,11-14). Weil sein Evangelium ihm geoffenbart worden war, musste er selber dem gehorchen, was Gott ihm gezeigt hatte. So kann er am Beginn des Galaterbriefes sagen: „Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel“ (Gal 1,8; vgl. 1,9).

Warum hat Paulus den Offenbarungscharakter seines Evangeliums so sehr betont? Sein göttlicher Ursprung wurde tatsächlich von judaisierenden Missionaren bestritten, da ein apodiktisches Gotteswort des mosaischen Gesetzes die Beschneidung verlangte (Gen 17,10-14). Nach diesem Wort muss der, der das Heil erlangen will, zur Familie Abrahams gehören und muss sich dafür beschneiden lassen. In zwei von seinen Briefen, in denen an die Galater und an die Römer, muss Paulus daher beweisen, dass sein Evangelium nicht gegen die Schriften steht und nicht Gen 17,10-14 widerspricht, einem Wort, das keine Ausnahmen duldet. Paulus kann nicht sagen, dass dieses Wort nicht mehr gilt, da es von allen gläubigen Juden als verpflichtend angesehen wird. Er kann von ihm nicht absehen, er muss es auf andere Weise interpretieren, indem er sich auf andere Schriftstellen beruft (Gen 15,6 und Ps 32,1-2 in Röm 4,3.6), die die Norm angeben, nach der Gen 17,10-14auszulegen ist.

c. Das apostolische Wirken des Paulus und sein göttlicher Ursprung

41. Paulus musste auch auf der göttlichen Herkunft seines Apostolates bestehen, weil einige unter den Aposteln ihn angriffen und die Geltung seines Evangeliums in Frage stellten. Auch wenn er dem Auferstandenen begegnet war, so gehörte er nicht zur Gruppe derer, die mit Jesus gelebt hatten und Zeugen seines Lehrens, seiner Wunder und seines Leidens waren. Daher betont Paulus, dass der Herr ihn zum Apostel der Heiden auserwählt und berufen hat (Röm 1,5; 1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1). Daher erwähnt er in der langen Selbstdarstellung (2 Kor 10-13) die Offenbarungen, die er vom Herrn empfangen hat (2 Kor 12,1-4). Es geht nicht um eine rhetorische Übertreibung oder um eine fromme Lüge, die seinen Rang als Apostel hervorheben will, sondern es wird allein die Wahrheit bezeugt. In der Selbstdarstellung von 2 Kor 10-13 betont Paulus viel weniger die besonderen Offenbarungen, die er empfangen hat, und stellt mehr ins Licht die Leiden des Apostels für die Kirchen, denn die Kraft Gottes wird in den menschlichen Gebrechlichkeiten sichtbar. Wenn er von den Offenbarungen spricht, die er von Gott empfangen hat, tut er es nicht, um von den Kirchen bewundert zu werden, sondern um zu zeigen, dass die Kennzeichen des wirklichen Apostels seine Mühen und Leiden sind. Daher ist sein Zeugnis glaubwürdig.

Paulus hebt in Gal 2,7-9 auch hervor, dass bei seinem Besuch in Jerusalem Jakobus, Petrus und Johannes, die Apostel, die am meisten Autorität und Einfluss hatten, anerkannten, dass Gott ihn zum Apostel der Heiden bestellt hat. Paulus ist also nicht der einzige, der den göttlichen Ursprung seiner Berufung bezeugt, sie wurde auch von den damaligen kirchlichen Autoritäten anerkannt.

d. Paulus bezeugt den göttlichen Ursprung seiner Briefe

42. Paulus vertritt nicht nur den göttlichen Ursprung seines Apostolates und seines Evangeliums. Die Tatsache, dass ihm sein Evangelium offenbart wurde, garantiert nicht automatisch dessen richtige und zuverlässige Weitergabe. Daher nennt er gerade am Beginn seiner Briefe seine Berufung und seine apostolische Sendung; in Röm 1,1 definiert er sich z.B. auf diese Weise: „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen“. Er tritt dafür ein, dass seine Briefe sein Evangelium treu überliefern und will, dass sie von allen Kirchen gelesen werden (vgl. Kol 4,16).

Auch die disziplinären Anweisungen, die nicht direkt mit dem Evangelium verbunden sind, sollen von den Gläubigen der verschiedenen Kirchen wie ein Befehl des Herrn aufgenommen werden (1 Kor 7,17b; 14,37). Paulus beansprucht nicht für alle seine Aussagen die gleiche Autorität – das zeigt sein kasuistisches Vorgehen in 1 Kor 7 -, aber, da sie oft sein Evangelium erklären und begründen, präsentieren sich seine Ausführungen (vgl. Röm 1-11 und Gal 1-4) in gewisser Weise als eine neue und autoritative Auslegung des Evangeliums.

Der Hebräerbrief

43. Der Verfasser dieses Briefes beansprucht in keiner Weise apostolische Autorität, im Unterschied zu Paulus, der behauptet, sein Evangelium direkt von Christus empfangen zu haben (Gal 1,1.12.16).

Es gibt jedoch zwei Abschnitte von außerordentlicher Bedeutung: 1,1-2, wo der Verfasser die Geschichte der Offenbarung Gottes für die Menschen zusammenfasst und die enge Verbindung der göttlichen Offenbarung in den beiden Testamenten zeigt, und 2,1-4, wo er sich als Angehöriger der zweiten christlichen Generation präsentiert, als einer, der das Wort Gottes, die Botschaft vom Heil, nicht direkt vom Herrn Jesus empfangen hat, sondern durch die Zeugen Christi, von den Jüngern, die ihn selbst gehört haben.

a. Die Geschichte der Offenbarung Gottes

Am Anfang seines Schreibens stellt der Verfasser fest: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen in den Propheten; in der Endzeit dieser Tage aber hat er zu uns gesprochen in dem Sohn“ (Hebr 1,1-2). In diesem großartigen Anfangssatz umreißt er die gesamte Geschichte des Wortes, das Gott an die Menschen gerichtet hat. Der Abschnitt hat eine einmalige Bedeutung für das Thema “Offenbarung und Inspiration“ und verdient eine genaue Erklärung.

Hier wird feierlich eine grundlegende Tatsache ausgesprochen: Gott hat es unternommen, in eine persönliche Beziehung zu den Menschen einzutreten. Für diese Begegnung hat er selber die Initiative ergriffen: Gott hat gesprochen. Das Sprechen hat kein Objekt, sein Inhalt wird nicht angegeben. Aber es werden die Personen genannt, die zueinander in Beziehung stehen: Gott, die Väter, die Propheten, wir, der Sohn. Das Wort Gottes tritt hier nicht auf als Offenbarung einer Wahrheit, sondern als Mittel, um Beziehungen zwischen Personen herzustellen.

In der Geschichte des Wortes Gottes werden zwei Hauptphasen unterschieden. Die Wiederholung des Wortes „sprechen“ drückt offensichtlich Kontinuität aus und die Parallelität der beiden Sätze hebt die Ähnlichkeit der zwei Phasen hervor. Die Unterschiede geben jedoch die Verschiedenheit von Epoche, Vorgehensweise, Adressaten und Mittlern an.

Was die Epoche betrifft, so ist der rein chronologischen Angabe („einst“) eine komplexere gegenübergestellt. Der Verfasser verwendet den biblischen Ausdruck „Endzeit“, der unbestimmt die Zukunft angab (vgl. Gen 49,1), aber dann seine Bedeutung spezialisierte und die Zeit des endgültigen Eingriffes Gottes bezeichnete, „das Ende der Tage“ (Ez 38,16; Dan 2,28; 10,14). Diesem Ausdruck fügt der Verfasser die neue Bestimmung bei „in diesen Tagen“ (in denen wir leben). Von den Worten her eine minimale Präzisierung, die jedoch eine radikale Änderung der Perspektive ausdrückt. Im Alten Testament lag das entscheidende Eingreifen Gottes immer in einer dunklen Zukunft. Hier behauptet der Verfasser, dass das letzte Zeitalter bereits gegenwärtig ist, da mit dem Tod und der Auferstehung Christi ein neues Zeitalter begonnen hat (Apg 2,17; 1 Kor 10,11; 1 Petr 1,20). Wenn auch „diese Tage“ zum letzten Zeitalter gehören, so ist der letzte Tag noch nicht gekommen (vgl. Joh 6,39; 12,48); er nähert sich (10,25). Aber von jetzt an haben die Christen Anteil an den endgültigen Gütern, die für die letzten Zeiten verheißen sind (6,4-5; 12,22-24.28). Die Beziehung Gottes zu den Menschen hat ein anderes Niveau erreicht: der Schritt ist geschehen von der Verheißung zur Verwirklichung, von der Andeutung zur Erfüllung. Der Unterschied ist qualitativ.

Die Art, in der das Wort Gottes ergeht, ist nicht dieselbe in den zwei Perioden der Heilgeschichte. In den alten Zeiten ist sie charakterisiert durch die Vielfältigkeit: “viele Male“(oder wörtlicher: „in vielen Teilen“, „bruchstückhaft“) und „auf vielerlei Weise“. In dieser Vielfalt liegt ein Reichtum. Gott hat unermüdlich (vgl. Jer 7,13) Mittel und Wege gefunden, um uns zu erreichen: er gab Verheißungen, strafte die Rebellen, stärkte die Leidenden, gebrauchte alle möglichen Ausdruckformen wie erschreckende Theophanien, tröstliche Visionen, kurze Orakelsprüche, große Geschichtsbeschreibungen, Predigt der Propheten , liturgische Gesänge und Riten, Gesetze, Erzählungen. Die Vielfalt ist aber auch ein Zeichen für Unvollkommenheit (vgl. 7,24; 10,1-2.11-14). Gott hat sich nur zum Teil ausgesprochen. Als guter Pädagoge begann er damit, die elementaren Dinge auf leicht zugängliche Art auszudrücken. Er sprach von Erbe und Land, verhieß und verwirklichte die Befreiung seines Volkes, gab ihm zeitlich beschränkte Einrichtungen: eine Königsdynastie, ein erbliches Priestertum. Das alles war nur Andeutung.In der Schlussphase wurde das Wort Gottes vollständig gegeben, auf endgültige und vollkommene Weise. Die versprengten Reichtümer der vorausgehenden Epochen wurden zusammengefasst und zur Vollendung geführt in der Einheit des Christusmysteriums.

Dem Wechsel der Perioden entspricht ein Wechsel der Hörer des Wortes. In den alten Zeiten war es „an die Väter“ gerichtet im weiten Sinn, d.h. an das Gesamt der Generationen, die die Botschaft der Propheten empfingen (vgl. 3,9). Das endgültige Wort war „an uns“ gerichtet. Das Fürwort „wir“ schließt den Verfasser und seine Adressaten ein, aber auch die Ohrenzeugen (vgl. 2,3) und ihre Zeitgenossen.

Um von den Mittlern zu sprechen, verwendet der Verfasser eine eigenartige, wenig gebräuchliche Ausdrucksweise: Gott hat gesprochen „in“ den Propheten, „in“ dem Sohn; gewöhnlich heißt es „durch“ (Mt 1,22; 2,15; usw.; Apg 28,25). Der Verfasser kann die aktive Gegenwart von Gott selber in seinen Boten vor Augen gehabt haben. Das ist der einzige Sinn, der dem Ausdruck „in dem Sohn“ gerecht wird. Auf die Propheten im weiteren Sinn, d.h. auf alle, deren Auftreten die Bibel berichtet, folgt ein letzter Bote, der „Sohn“ ist. Der Platz, der für ihn am Ende des Satzes gewählt wird, konzentriert auf ihn alle Aufmerksamkeit. Kaum ist er genannt, so wird nur noch von ihm allein gesprochen (1,2-4). Die Begegnung Gottes mit den Menschen geschieht nur noch in ihm. Früher hat Gott „seine Knechte, die Propheten“ gesandt (Jer 7,25; 25,4; 35,15; 44,4). Sein jetziger Bote ist nicht mehr einfacher Knecht, sondern „der Sohn“. Als Gott durch die Propheten sprach, gab er sich zu erkennen, aber nur indirekt, durch eine Mittelsperson; jetzt geschieht die Begegnung mit dem Wort Gottes im Sohn. Wer jetzt spricht, ist nicht mehr nur ein Mensch, der von Gott verschieden ist, sondern eine göttliche Person, deren Einheit mit dem Vater mit den stärksten Formulierungen ausgedrückt wird, die der Verfasser finden kann: „der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens“ (1,3). Es hat Gott nicht genügt, sich an uns zu wenden, indem er unsere Sprache gebrauchte. In der Person Jesu Christi kam er, um unsere Existenz wirklich zu teilen und um nicht nur durch die Sprache der Worte zu sprechen, sondern auch durch die Sprache des geopferten Lebens und des vergossenen Blutes.

b. Die Beziehung des Verfassers zur Offenbarung des Sohnes

44. Nachdem er diesen Aspekt seiner Lehre: das Wort Gottes an die Menschen in den Propheten und im Sohn (1,1-14) behandelt hat, spricht der Verfasser sofort von der Verbindung mit dem Leben und nennt seine eigene Beziehung zum Sohn: „Darum müssen wir umso aufmerksamer auf das achten, was wir gehört haben, damit wir nicht vom Weg abkommen. Denn wenn schon das durch Engel verkündete Wort rechtskräftig war und jede Übertretung und jeder Ungehorsam die gerechte Vergeltung fand, wie sollen dann wir entrinnen, wenn wir uns um ein so erhabenes Heil nicht kümmern, das zuerst durch den Herrn verkündet und uns von den Ohrenzeugen bestätigt wurde? Auch Gott selbst hat dies bezeugt durch Zeichen und Wunder, durch machtvolle Taten aller Art und Gaben des Heiligen Geistes, nach seinem Willen“ (Hebr 2,1-4).

Die Christen sind eingeladen zu größerer Aufmerksamkeit für das gehörte Wort. Es genügt nicht, die Botschaft nur zu hören, man muss ihr mit dem ganzem Herzen und dem ganzen Leben anhangen. Wer sich das Evangelium nicht ernsthaft zu eigen macht, läuft Gefahr, vom Weg abzukommen (vgl. 2,1). Wer sich von Gott entfernt, kann sich nur verlieren und verloren gehen. Wer sich aber bemüht, der gehörten Botschaft anzuhangen, nähert sich Gott (vgl. 7,19) und findet das Heil.

Nachdem der Verfasser sein Thema eingeführt hat (vgl. 2,1), entwickelt er es in einem längeren Abschnitt (vgl. 2,2-4). Seine Überlegung gründet auf einem Vergleich zwischen den Engeln und dem Herrn. Das einzige gemeinsame Element in den zwei Teilen ist der Ausdruck

„verkündet von“. Das „Wort“ wurde verkündet von den Engeln; das „Heil“ begann verkündet zu werden vom Herrn.

Wo der Verfasser vom „Wort“ spricht, denkt er an das Bekanntgeben des Gesetzes am Sinai. Der Ausdruck „Heil“ überrascht; man erwartet einen Terminus der „Wort“ entspricht. Der Mangel an Parallelität ist reich an Bedeutung. Er zeigt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Im alten Bund gibt es nur ein „Wort“, ein äußeres Gesetz, das befiehlt und bestraft. Im neuen Bund wird wirkliches Heil angeboten. Welche Entschuldigung soll es für die geben, die das Heil ablehnen? Sie sind nicht nur unbelehrbar, sondern auch undankbar. Sie weisen nicht nur eine Forderung zurück, sondern verschließen sich der Liebe.

Ausführlich werden drei Kennzeichen des Heiles angegebenund es wird gezeigt, wie dieses den Verfasser und die Adressaten seiner Schrift erreicht: die Verkündigung des Herrn, das Wirken der ersten Jünger, das Zeugnis von Gott (vgl. 2,3b-4). Es ist das erste Kennzeichen des Heiles, dass der Anfang seiner Verkündigung durch den Herrn begann. Der Verfasser sagt nicht nur „beginnen“, sondern umschreibt dies feierlich mit „Anfang haben“. Vielleicht eine leise Anspielung auf Gen 1,1. Der Titel „Kyrios“, Herr, bezeichnet Christus, den Sohn, den Gott als den letzten Offenbarer gesandt hat (vgl. 1,2). Das Heil, das er offenbart, stellt den Höhepunkt des Heilswerkes Gottes dar. Die Verkündigung des Herrn kommt „zu uns“ (2,3; zum Verfasser und seinen Adressaten) durch das Wirken der Ohrenzeugen, d.h. der ersten Jünger Jesu. Gott, von dem alle Offenbarung und alles Heil ausgehen (vgl. 1,1-2), bestätigt das Wirken der Jünger durch Zeichen und Wunder und Gaben des Heiligen Geistes (vgl. Apg 5,12; Röm 15,19; 1 Kor 12,4.11; 2 Kor 12,12).

Nachdem der Verfasser die ganze Offenbarungsgeschichte zusammengefasst hat (1,1-2), zeigt er (2,1-4), dass er, und dementsprechend seine Schrift, mit dem Sohn und mit Gott durch das Wirken der Ohrenzeugen des Herrn verbunden ist.

Die Offenbarung des Johannes

45. Der Ausdruck „Inspiration“ kommt in dem Buch nicht vor, wohl aber die gemeinte Wirklichkeit, wo im Text die Beziehung einer direkten und engen Abhängigkeit von Gott erkennbar wird. Das finden wir im Prolog (1,1-3) und auch in 1,10 und 4,2, wo Johannes im Hinblick auf den Inhalt des Buches in einen besonderen Kontakt mit dem Geist kommt. In 10,8-11 wird seine prophetische Sendung für das „kleine Buch“ erneuert. Der abschließende liturgische Dialog unterstreicht die unberührbare Heiligkeit der Botschaft, die jetzt Buch geworden ist (22,18-19). Diese Abschnitte ermöglichen ein erstes Verständnis, wie die Inspiration in der Apokalypse gegenwärtig ist.

a. Die Herkunft des Textes von Gott nach dem Prolog (1,1-3)

Ein aufmerksames Lesen dieses Prologs zeigt uns auf interessante und genaue Weise den Weg, den der Text des Buches von der Ebene Gottes zur konkreten Ebene eines Buches nimmt, das in der liturgischen Versammlung gelesen werden kann.

Sofort am Anfang des Textes finden wir eine erste ausdrückliche Verbindung mit Gott: Die „Offenbarung“ kommt „von Jesus Christus“ (1,1a), aber er ist nicht ihr Ursprung. Das ist „Gott“, den wir nach dem ständigen Gebrauch des Neuen Testamentes als den “Vater“ verstehen können. Ausgegangen vom Vater und geschenkt vom Sohn, Jesus Christus, befindet sich die Offenbarung in innerster Verbindung mit Gott und ist und bleibt von ihm geprägt.

Von der göttlichen geht es auf die menschliche Ebene. Hier treffen wir Jesus Christus: Alles, was Gott Vater gehört, findet sich in ihm, dem lebendigen „Wort Gottes“. Wenn Jesus Christus sich an die Menschen wendet, erscheint er ihnen als absolut vertrauenswürdiger Zeuge, der als Sohn auf trinitarischer Ebene alles, was vom Vater kommt, in vollkommener Weise erfassen kann, und der als menschgewordener Sohn den Menschen alles in angemessener Weise mitteilen kann.

So kommt die Offenbarung in Berührung mit Johannes. Das geschieht auf besondere Weise: Der Vater drückt die Offenbarung durch Jesus Christus, der ihr Träger ist, in symbolischen „Zeichen“ aus. Diese werden von Johannes wahrgenommen, „gesehen“ und sie werden von ihm richtig verstanden durch die Vermittlung eines Engels, der sie erklärt. Johannes seinerseits drückt die Offenbarung, die er erhalten hat, in seiner Botschaft an die Gemeinden aus, und hier nun wird die Offenbarung ein geschriebener Text. Die Verbindung mit dem Vater und dem menschgewordenen Sohn, die den Text verursacht hat, bleibt diesem erhalten und wird seine bleibende Qualität. Wenn, in einem letzten Schritt, die geschriebene Offenbarung in der liturgischen Versammlung verkündet wird, nimmt sie die Form der Prophetie an.

b. Die Verwandlung des Johannes durch den Geist auf Christus hin (1,10; 4,1-2)

46. Am Beginn des ersten (1,4-3,22) und zweiten Teils (4,1-22,5) seines Buches gibt der Verfasser, der sich Johannes nennt, eine interessante Erläuterung zur Dynamik der Offenbarung. Sie hat ihren Ursprung im Vater, geht über Jesus Christus und kommt zu Johannes. Der Heilige Geist greift auf besondere Weise ein, verwandelt Johannes, erneuert seine Verbindung mit Jesus Christus, so dass er ihn besser kennt.

Das geschieht vor allem am Beginn des ersten Teils (1,10) und bezieht sich auf den ganzen Teil. Verbannt auf die Insel Patmos, mit den Gedanken und dem Herzen bei seiner Gemeinde im fernen Ephesus, erfährt Johannes „am Tag des Herrn“, dem Tag der liturgischen Versammlung, eine Berührung durch den Geist auf eine neue Weise: „Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen“. Das „ergriffen werden“ durch den Geist bewirkt in Johannes eine innere Verwandlung, die ihn, auch wenn sie nicht zu einem ekstatischen Zustand führt, befähigt, das komplexe symbolische Zeichen, das ihm gleich gezeigt wird, zu erfassen und zu deuten. Für Johannes folgt daraus eine neue existentielle Erfahrung – für seine Erkenntnis und für sein Gefühl – des auferstandenen Jesus Christus, von dem er beauftragt wird, eine geschriebene Botschaft an die sieben Gemeinden zu senden (vgl. 1,10b-3,22).

Diese besondere Verbindung mit dem Geist wird am Beginn (4,1-2) des zweiten Teils (4,1-22,5) erneuert: „Sogleich wurde ich vom Geist ergriffen“ (4,2) und sie bleibt unverändert bis zum Schluss. Diese neue Berührung durch den Geist geht wie die frühere darauf aus, Johannes innerlich zu verwandeln. Ihr geht ein Eingreifen Jesu Christi voraus, der Johannes auffordert, sich von der Erde in den Himmel zu begeben. In der Kraft dieses zweiten „vom Geist ergriffen werden“ wird Johannes fähig sein, die vielen „Zeichen“, die Gott ihm durch Jesus Christus geben wird, wahrzunehmen und sie angemessen im Text auszudrücken. Diese erneuernde Verbindung mit dem Geist wird wieder genannt an einigen Punkten, die für die Beziehung zu Jesus Christus besonders bedeutsam sind. Das geschieht in 17,3 vor der besonders komplexen Darstellung des Gerichts über die „große Hure“ (17,3-18,24), die, unter dem Einfluss des Dämon,den radikalsten Widerstand gegen die Werte Jesu Christi in der Geschichte leistet. Das große abschließende „Zeichen“ des himmlischen Jerusalems symbolisiert die unaussprechliche Liebesbeziehung zwischen dem Lamm und der Kirche, die zu seiner Frau geworden ist. Wenn dieses erscheint, wird Johannes wieder vom Geist ergriffen (21,10), der ihm das höchste Verstehen von Jesus Christus eröffnet. Diese vom Geist verursachte Steigerung, die das immer bessere Verstehen Jesu Christi betrifft, geht von Johannes auf seine Schrift über und ist darauf ausgerichtet, den Leser/Hörer zu erfassen.

c. Der Mensch wird einbezogen, um die prophetische Botschaft auszudrücken (10,9-11)

47. Aber wie entwickelt sich im Menschen diese Steigerung im Geist? Einen interessanten Hinweis finden wir in 10,9-11. Ein Engel, feierliche Manifestation Christi (vgl. 10,1-8), hält in der linken Hand ein „kleines Buch“, das eine Botschaft von Gott enthält, wahrscheinlich den noch ungestalteten Inhalt von Offb 11,1-13, und lädt Johannes ein, es zu nehmen: „Er sagte zu mir: Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wie Honig“ (10,9). Beim ersten Kontakt mit dem „kleinen Buch“ ist Johannes davon fasziniert und erfährt die unaussprechliche Süße des Wortes Gottes. Aber die Verzauberung durch das empfangene Wort muss der schmerzlichen Mühe seiner Assimilation weichen. Das Wort Gottes muss von der göttlichen Ebene auf die Ebene der menschlichen Mitteilung übergehen durch eine mühsame Erarbeitung von innen her, die den Verstand, das Gefühl und die kreativen literarischen Fähigkeiten von Johannes in Anspruch nimmt. Wenn diese anstrengende Phase zu Ende ist, wird Johannes fähig sein, das Wort Gottes zu verkünden, das nicht mehr im Rohzustand ist, sondern durch die mühevolle Ausarbeitung auch Menschenwort geworden ist.

d. Die Unantastbarkeit des inspirierten Buches (22,18-19)

48. Am Ende seiner Arbeit, wo er den verfassten Text „dieses Buch“ nennen kann (22,18.19), gibt der Verfasser, indem er alles in den Mund von Johannes legt, eine radikale Erklärung über die Unantastbarkeit dieses Buches ab.

Ausgehend von einigen Texten des Deuteronomiums (vgl. Dtn 4,2; 13,1; 29,19) steigert der Verfasser deren Radikalität: Das fertige Buch hat die Vollständigkeit, die Gott eigen ist, ihr kann nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden. Die fortlaufende Verbindung, die sie während ihres Entstehens mit Jesus Christus durch den Geist gehabt hat, hat der Botschaft des Buches eine ihr eigene Sakralität eingeprägt; etwas von Jesus Christus und von seinem Geist, könnten wir sagen, bleibt in ihr und befähigt den Text, seine Rolle als Prophetie zu erfüllen, die in das Leben eindringt und es verändern kann.

c. Eine erste Zusammenfassung über die Herkunft von Gott

49. Durch unsere Beobachtungen werden einige fundamentale Eigenschaften des Textes der Apokalypse sichtbar. Der Text hat einen eindeutig göttlichen Ursprung, da er direkt von Gott dem Vater und von Jesus Christus, dem Gott der Vater ihn gegeben hat, herkommt. Jesus seinerseits gibt ihn Johannes, indem er seinen Inhalt in symbolische „Zeichen“ fasst, die Johannes mit Hilfe eines Deuteengels verstehen kann. Diese anfängliche und direkte Verbindung des Textes mit Gott wird dann durch das ganze Buch hindurch unter dem besonderen Einfluss des Geistes aktiviert, der Johannes innerlich erneuert und wachsen lässt und ihn fortwährend zu einer tieferen Erkenntnis Christi führt.

Der Inhalt der Offenbarung geht nicht automatisch von der göttlichen Ebene, wo er entsteht und sich entwickelt, auf die menschliche Ebene über, wo er gehört wird. Der Übergang, der das Wort Gottes auch zum Wort des Menschen macht, verlangt von Johannes, nach einem Freudensprung beim ersten Kontakt mit dem Wort, eine mühevolle Ausarbeitung, die die Botschaft auf die menschliche Ebene bringt und sie verständlich macht. Dieser Übergang führt nicht zum Verlust des ursprünglichen Charakters; im ganzen Text, der niedergeschrieben und zum Buch geworden ist, bleibt eine Dimension der Sakralität, die die göttliche Ebene berührt. Diese Sakralität macht den Text absolut unantastbar – nichts kann hinzugefügt oder weggenommen werden – und aktiviert in ihm die Kraft der Prophetie, die ihn fähig macht, tief ins Leben einzugreifen.

Dieses Bündel von Eigenschaften, die immer verbunden bleiben müssen, lässt begreifen, wie der Verfasser der Apokalypse die Elemente dessen versteht, was wir heute Inspiration nennen: Es ist ein bleibendes Eingreifen von Gott dem Vater; es ist ein bleibendes und besonders vielseitiges und artikuliertes Eingreifen von Jesus Christus; es ist ein ebenfalls bleibendes Eingreifen des Heiligen Geistes; es ist ein Eingreifen des Deuteengels; es ist ein spezifisches Eingreifen von Johannes, wo es um die Verbindung des Textes mit den Menschen geht. Am Ende gelingt es diesem Text, Wort Gottes bei den Menschen, nicht nur seinen erleuchtenden Inhalt verständlich mitzuteilen, sondern ihn auch ins Lebendige ausstrahlen zu lassen. Der Text wird inspiriert und inspirierend sein.

Beeindruckend ist es, dass dieses letzte Buch des Neuen Testaments die höchste Zahl an Anspielungen auf das Alte Testament enthält und wie dessen Zusammenfassung erscheinen kann und dass es zugleich am genauesten und gut geordnet seine Herkunft von Gott, seine Inspiration bezeugt. Durch die Verbindung mit Christus wird eine neue Dimension sichtbar: Von Christus her wird auch das Alte Testament inspiriert und wirkt inspirierend.

Abschluss

50. Zum Abschluss des Teils über die Herkunft der biblischen Bücher von Gott (so verdeutlichen wir den Begriff der Inspiration) fassen wir zusammen, was sich zur Beziehung zwischen Gott und den menschlichen Verfassern gezeigt hat; wir heben besonders hervor, dass die Schriften des Neuen Testaments die Inspiration des Alten Testaments anerkennen und es von Christus her lesen. Wir wollen aber auch den Blick weiten und die bisher erreichten Ergebnisse ergänzen. Der synchronen Betrachtung wird eine kurze diachrone Übersicht über die literarische Entstehung der biblischen Schriften angefügt. Und das Studium der einzelnen Schriften soll durch einen Blick auf das Gesamt der in den Kanon aufgenommenen Schriften ergänzt werden. Dieser letzte Aspekt wird in zwei Teilen behandelt: Es werden die wenigen Hinweise auf einen Kanon der beiden Testamente, die sich innerhalb des Neuen Testaments finden, angeführt und es wird die Geschichte der Kanonbildung und der Rezeption der biblischen Bücher in Israel und in der Kirche umrissen.

Ein zusammenfassender Blick auf die Beziehung “Gott – menschlicher Verfasser“

51. In einigen biblischen Büchern wollten wir die Hinweise auf die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott feststellen, um zu zeigen, wie ihre Herkunft von Gott bezeugt wird. Auf diese Weise ist eine Art von biblischer Phänomenologie der Beziehung „Gott – menschlicher Verfasser“ entstanden. Nach einer kurzen Zusammenfassung des Behandelten heben wir einige Kennzeichen der Inspiration hervor und beschreiben abschließend, wie die inspirierten Bücher in rechter Weise aufgenommen werden sollen.

a. Kurze Zusammenfassung

In den Schriften des Alten Testaments wird die Beziehung der verschiedenen Verfasser zu Gott auf vielfältige Weise ausgedrückt. Im Pentateuch erscheint Mose als die Persönlichkeit, die Gott als einzigen Mittler seiner Offenbarung eingesetzt hat. In diesem Teil der Schrift finden wir die einmalige Behauptung, dass Gott selber den Text der zehn Gebote geschrieben und ihn Mose übergeben hat (Ex 31,18); so wird die direkte Herkunft dieses geschriebenen Textes von Gott bezeugt. Mose wird beauftragt andere Worte Gottes aufzuschreiben (Ex34,27) und wird schließlich der Mittler des Herrn für die ganze Torah (vgl. Dtn 31,9). Die prophetischen Bücher kennen verschiedene Formeln, um auszudrücken, dass Gott sein Wort inspirierten Boten mitteilt, die es dem Volk weitergeben sollen. Während im Pentateuch und in den prophetischen Büchern das Wort Gottes direkt von den von Gott erwählten Mittlern empfangen wird, liegt in den Psalmen und Weisheitsbüchern eine andere Situation vor. In den Psalmen hört der Beter das Wort Gottes, wie es vor allem in den großen Ereignissen der Schöpfung und der Heilsgeschichte Israels vernommen wird, aber auch in besonderen persönlichen Erfahrungen. Analog macht in den Weisheitsbüchern das meditative Studium des Gesetzes und der Propheten, beseelt von der Gottesfurcht, die verschiedenen Unterweisungen zu einer Lehre der göttlichen Weisheit.

Im Neuen Testament stellen die Person Jesu, sein Wirken und sein Weg, den Höhepunkt der göttlichen Offenbarung dar. Für alle Verfasser und alle Schriften des Neuen Testaments hängt jede Beziehung zu Gott von der Beziehung zu Jesus ab. Die synoptischen Evangelien bezeugen ihre Herkunft von Gott, indem sie Jesus und sein Offenbarungswerk darstellen. Das ist auch allen vier Evangelien gemeinsam, aber nicht ohne Besonderheiten. Matthäus und Markus identifizieren sich mit der Person und dem Werk Jesu; in erzählender Weise stellen sie sein Wirken und sein Leiden dar und seine Auferstehung als höchste göttliche Bestätigung aller seiner Worte und aller Aussagen über seine Identität. Lukas erklärt im Prolog seines Werkes, dass seine Erzählung ihre Basis in den Augenzeugen und Dienern des Wortes hat. Johannes gibt sich als Augenzeuge des Wirkens Jesu von Anfang an aus und belehrt vom Heiligen Geist und im Glauben an die Gottessohnschaft Jesu gibt er Zeugnis von dessen Offenbarungswerk.

Die anderen Schriften des Neuen Testaments bezeugen auf noch andere Weisen ihre Herkunft von Jesus und von Gott.Durch die enge Verbindung seiner beiden Werke (vgl. Apg 1,1-2) gibt Lukas zu verstehen, dass er in der Apostelgeschichte das nachösterliche Wirken jener Augenzeugen und Diener des Wortes berichtet, von denen er für die Darstellung des Wirkens Jesu in seinem Evangelium abhängt. Paulus bezeugt, dass er von Gott Vater die Offenbarung seines Sohnes erhalten hat (Gal 1,15-16) und dass er den auferstandenen Herrn gesehen hat (1 Kor 9,1; 15,8), und behauptet den göttlichen Ursprung seines Evangeliums. Der Verfasser des Hebräerbriefes hängt für seine Kenntnis des von Gott geoffenbarten Heils von den Ohrenzeugen der Verkündigung des Herrn ab. Schließlich beschreibt der Verfasser der Apokalypse auf genaue und differenzierte Weise, wie er die Offenbarung erhalten hat, die endgültig und unantastbar in seinem Buch enthalten ist: von Gott Vater durch Jesus Christus und ergriffen vom Heiligen Geist in Zeichen, die er mit Hilfe eines Deuteengels erfasst.

Wir finden also in den biblischen Schriften eine breite Skala von Zeugnissen über ihre Herkunft von Gott und können so von einer reichen Phänomenologie der Beziehung zwischen Gott und dem menschlichen Verfasser sprechen. Im Alten Testament vollzieht sich die Beziehung auf verschiedene Weisen mit Gott. Dagegen ist im Neuen Testament die Beziehung zu Gott immer vermittelt durch den Sohn Gottes, den Herrn Jesus Christus, in dem Gott sein letztes und endgültiges Wort gesprochen hat (vgl. Hebr 1,1-2). Schon in der Einleitung haben wir von der Schwierigkeit gesprochen, dass wir nicht klar zwischen Offenbarung und Inspiration, zwischen Mitteilung der Inhalte und göttlichem Beistand beim Schreiben unterscheiden können. Fundamental ist die göttliche Mitteilung und die gläubige Aufnahme der Inhalte, die vom göttlichen Beistand für das Schreiben begleitet wird. Ganz außergewöhnlich ist der Fall der zehn Gebote, die von Gott geschrieben und dem Mose übergeben werden (Ex 31,18); von besonderer Art ist auch der Fall der Apokalypse, wo ihr Entstehen von der göttlichen Mitteilung bis zum Niederschreiben im Einzelnen beschrieben wird.

b. Einige kennzeichnende Züge der Inspiration

52. Auf der Basis des Vorausgegangenen geben wir einige Charakterzüge der Inspiration an, die helfen können, den Begriff der biblischen Inspiration etwas genauer zu fassen.

Bei der Untersuchung der Anzeichen, in denen sich die Herkunft von Gott in den verschiedenen Schriften zeigt, haben wir festgestellt, dass im Alten Testament die lebendige Beziehung zu Gott und im Neuen Testament zu Gott durch seinen Sohn Jesus von fundamentaler Bedeutung ist. Diese Beziehung zeigt sich in verschiedenen Formen. Wir erinnern für das Alte Testament an die Form, mit der der Pentateuch die einmalige Beziehung des Mose zu Gott beschreibt, an die Form, die sich in den prophetischen Formeln ausdrückt, an die Form der Gotteserfahrung, die den Psalmen zu Grunde liegt, und an die Form der Gottesfurcht, die für die Weisheitsbücher kennzeichnend ist. In dieser lebendigen Beziehung empfangen und erkennen die Verfasser das, was sie in ihren Worten und Schriften mitteilen.

Im Neuen Testament hat die persönliche Beziehung zu Jesus die Form der Jüngerschaft, deren Kern der Glaube an Jesus als den Christus und als den Sohn Gottes ist (vgl. Mk 1,1; Joh 20,31). Die Beziehung zu Jesus kann unmittelbar (Johannesevangelium, Paulus) oder vermittelt (Lukasevangelium, Hebräerbrief) sein. Diese Beziehung, die für die Mitteilung des Wortes Gottes fundamental ist, wird auf besonders artikulierte und reiche Weise im Johannesevangelium sichtbar: Der Verfasser hat die Herrlichkeit des einzigen Sohnes, der vom Vater kommt (1,14) geschaut; er ist Augenzeuge des Weges Jesu (19,35; 21,24); er gibt sein Zeugnis belehrt vom Heiligen Geist (15,26-27). Hier zeigt sich auch der trinitarische Charakter der Beziehung zu Gott, der für einen inspirierten Verfasser des Neuen Testamentes wesentlich ist.

Nach dem, was die biblischen Schriften bezeugen, erscheint die Inspiration als eine besondere Beziehung zu Gott (oder zu Jesus), durch die er einem menschlichen Autor das zu sagen schenkt – durch den Heiligen Geist –, was er den Menschen mitteilen will. So wird das bekräftigt, was Dei Verbum (Nr. 11) sagt: Die Bücher sind geschrieben unter der Inspiration des Heiligen Geistes; Gott ist ihr Urheber, weil er einige Menschen auswählt und in Dienst nimmt und in ihnen und durch sie handelt; diese Menschen schreiben als wirkliche Verfasser.

Als ergänzende Kennzeichen haben sich bei unserem Studium gezeigt: 1. Fundamental ist das Geschenk der persönlichen Beziehung zu Gott (unbedingter Glaube an Gott, Gottesfurcht, Glaube an Jesus als den Christus, den Sohn Gottes). 2. In dieser Beziehung nimmt der Verfasser die verschiedenen Formen auf, in denen Gott sich offenbart (Schöpfung, Geschichte, Gegenwart Jesu von Nazareth). 3. In der Ökonomie der Offenbarung Gottes, die in der Sendung seines Sohnes Jesus ihren Höhepunkt hat, können sowohl die Beziehung zu Gott wie auch die Art der Offenbarung von verschiedener Art sein, je nach den Phasen und den Umständen der Offenbarung. Daraus kann man schließen, dass die Inspiration analog dieselbe ist für alle Verfasser der biblischen Bücher (wie Dei Verbum Nr. 11 sagt), dass sie aber variiert entsprechend der Ökonomie der göttlichen Offenbarung.

c. Die rechte Weise, die biblischen Bücher aufzunehmen

53. Beim Studium der Inspiration der biblischen Schriften haben wir das unermüdliche Bemühen Gottes gesehen, sich an sein Volk zu wenden, und ist uns auch der Geist begegnet, in dem diese Bücher geschrieben wurden.

Der liebevollen Zuwendung Gottes müsste eine tiefe Dankbarkeit entsprechen, die sich in einem lebendigen Interesse zeigt und in einer großen Aufmerksamkeit, das zu hören und zu verstehen, was Gott uns mitteilen will. Der Geist, in dem die Bücher geschrieben wurden, soll der Geist sein, in dem wir sie hören. Echte Jünger Jesu, zutiefst bewegt vom Glauben an ihren Herrn, haben die Bücher des Neuen Testaments geschrieben. Sie sollen von echten Jüngern Jesu (vgl. Mt 28,19) gehört werden, die vom lebendigen Glauben an ihn (vgl. Joh 20,31) durchdrungen sind. Und zusammen mit dem auferstandenen Herrn, nach der Unterweisung, die er seinen Jüngern gegeben hat (vgl. Lk 24,25-27.44-47) und von seiner Sichtweise her, sollen wir die Schriften des Alten Testaments lesen. Auch für das wissenschaftliche Studium der biblischen Schriften, das nicht neutral, sondern wahrhaft theologisch vorangeht, ist es wesentlich, mit der Inspiration zu rechnen. Das Kriterium für ein authentisches Lesen wird von Dei Verbum so angegeben: “Die Heilige Schrift muss in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde“ (Nr. 12). Die modernen exegetischen Methoden können den Glauben nicht ersetzen, aber wo sie im Rahmen des Glaubens angewendet werden, können sie für ein theologisches Verständnis der Texte sehr fruchtbar sein.

Die Schriften des Neuen Testaments bezeugen die Inspiration des Alten Testaments und geben ihm eine christologische Interpretation

54. Beim Studium der neutestamentlichen Schriften haben wir immer wieder festgestellt, dass sie sich auf die heiligen Schriften der jüdischen Tradition beziehen. Wir bringen hier einige Beispiele, die diese Beziehung zu Texten des Alten Testaments zeigen, und wir kommentieren abschließend zwei Abschnitte des Neuen Testaments, die das Alte Testament nicht nur zitieren, sonder ausdrücklich seine Inspiration behaupten.

a. Einige Beispiele

Matthäus zitiert die Propheten auf eine typische Weise. Wenn er von der Erfüllung der Verheißungen und Prophezeiungen spricht, schreibt er diese nicht dem Propheten zu (indem er schreibt: „Wie der Prophet sagt [gesagt hat]), sondern weist sie, ausdrücklich oder einschlussweise, Gott selber zu, indem er ein theologisches Passiv gebraucht: „Das alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was gesagt worden war vom Herrn, der durch den Propheten sprach“(Mt 1,22; vgl. 2,15.17; 8,17; 12,17, 13,35; 21,4); der Prophet ist das Werkzeug Gottes. Indem Matthäus das, was mit Jesus geschehen ist, als Erfüllung der alten Verheißung darbietet, gibt er dieser eine christologische Auslegung.

Das Lukasevangelium fügt hinzu, dass diese Auslegung von Jesus selber kommt, der sein Wirken beschreibt, indem er Worte von Jesaja (Lk 4,18-19) oder die prophetischen Gestalten von Elija und Elischa (Lk 4,25-27) verwendet. Mit der ganzen Autorität, die von seiner Auferstehung kommt, zeigt er, wie alle Schriften von ihm sprechen, von seinen Leiden und von seiner Herrlichkeit (Lk 24,25-27. 44-47).

Bei Johannes behauptet Jesus selber, dass die Schriften von ihm Zeugnis geben; das sagt er zu seinen Gesprächspartner, die die Schriften erforschen, um das ewige Leben zu erlangen (Joh 5,39).

Paulus, wie schon ausführlich gezeigt wurde, anerkennt ohne Zögern die Autorität der Schriften, bezeugt ihren göttlichen Ursprung und sieht in ihnen Prophezeiungen des Evangeliums.

b. Das Zeugnis von 2 Tim 3,15-16 und 2 Petr 1,20-21

55. In diesen beiden Briefen finden wir die einzigen ausdrücklichen Zeugnisse für die Inspiration der Schriften des Alten Testaments.

Paulus erinnert Timotheus an seine Erziehung im Glauben und sagt: „Du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können, damit du durch den Glauben an Christus gerettet wirst. Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,15-16). Die heiligen Schriften des Alten Testaments, gelesen im Glauben an den Christus Jesus, waren die Basis für die religiöse Unterweisung des Timotheus (vgl. Apg 16,1-3; 2 Tim 1,5) und trugen dazu bei, seinen Glauben an den Christus zu festigen. Paulus qualifiziert alle diese Schriften als „von Gott eingegeben“und sagt so, dass der Geist Gottes ihr Urheber ist.

Petrus gründet seine apostolische Botschaft (die „die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn“ verkündet: 2 Petr 1,16) auf seine eigene Augen- und Ohrenzeugenschaftund auf das Wort der Propheten. Er erwähnt (in 1,16-18) seine Gegenwart auf dem heiligen Berg der Verklärung, als er zusammen mit anderen Zeugen („wir“: 1,18) die Stimme Gottes des Vaters hörte: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“ (1,17). Er verweist dann auf das ganz sichere Wort der Propheten (1,19), von dem er sagt: „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet“ (1,20-21). Er spricht von allen Prophezeiungen, die sich in der Schrift finden, und sagt, dass sie sich dem Einfluss des Heiligen Geistes auf die Propheten verdanken. Es ist der gleiche Gott, dessen Stimme Petrus auf dem Berg der Verklärung gehört hat und der durch die Propheten gesprochen hat. Von diesem gleichen Gott, durch zwei Vermittlungen, kommt die apostolische Botschaft über Christus.

Wichtig für die Beziehung zwischen dem Altem Testament und dem apostolischen Zeugnis ist die Tatsache, die 2 Tim und 2 Petr gemeinsam ist, dass nämlich beide Autoren von dem Schriften sprechen, nachdem sie auf ihr eigenes apostolisches Wirken verwiesen haben. Paulus erwähnt zuerst sein Lehren und sein vorbildliches Leben (2 Tim 3,10-11) und dann die Bedeutung der Schriften (3,16-17). Petrus nennt seine Eigenschaft als Augen- und Ohrenzeuge der Verklärung (2 Petr 1,16-18) und bezieht sich dann auf die Propheten (1,19-21). Beide Texte zeigen, dass für die Christen der unmittelbare Kontext ihres Lesen und Auslegens der inspirierten Schriften (des Alten Testaments) das apostolische Zeugnis ist. Daraus ist zu schließen, dass auch dieses Zeugnis als inspiriert zu verstehen ist.

Die literarische Entstehung der biblischen Schriften und die Inspiration

56. Eine kurze diachrone Übersicht, die sich mit der literarischen Entstehung der biblischen Schriften befasst, zeigt, wie der Kanon der Schriften sich im Lauf der Geschichte Schritt für Schritt gebildet hat. Was das Alte Testament angeht, können diese Schritte so schematisiert werden:

- Aufschreiben von mündlichen Traditionen, von Prophetenworten, von Normensammlungen;

- Bildung von Sammlungen geschriebener Traditionen, die nach und nach Autorität erlangen, und als Ausdruck göttlicher Offenbarung anerkannt werden; so bei der Torah;

- Verbindung zwischen verschiedenen Sammlungen: Torah, Propheten, Weisheitsschriften.

Die ältesten Traditionen waren Gegenstand ständigen neuen Lesens und vielfältiger neuer Interpretationen. Das gleiche Phänomen zeigt sich auch innerhalb bestimmter literarischer Gruppierungen. So legen in der Torah die jüngeren Gesetzessammlungen eine Entwicklung und Interpretation der vorexilischen Gesetze vor; oder wir finden im Buch Jesaja die Spuren von aufeinander folgenden Entwicklungen und das literarische Bemühen um Vereinheitlichung.

Die späteren Schriften bieten eine Aktualisierung der alten Texte, wie zum Beispiel das Buch Jesus Sirach, das die Torah mit der Weisheit identifiziert.

Das Studium der neutestamentlichen Traditionen hat gezeigt, wie diese sich auf die Schriften des Judentums stützen, um das Evangelium Christi zu verkündigen. Es genügt daran zu erinnern, wie das Doppelwerk des Lukas, Evangelium und Apostelgeschichte, sich häufig auf die Torah, auf die Propheten und die Psalmen bezieht, um zu zeigen, dass Jesus die Schriften Israels „erfüllt“ hat (Lk 24,25-27.44).

Um den Begriff der Inspiration der Heiligen Schriften angemessen zu verstehen, muss diese Bewegung, die sich innerhalb der Schriften selbst abspielt, in Betracht gezogen werden.

Die Inspiration bezieht sich sowohl auf jeden einzelnen Text wie auch auf das Ganze des Kanons, der alt- und neutestamentliche Traditionen verbindet: Die alten Traditionen Israels wurden schriftlich überliefert, sie wurden neu gelesen, kommentiert, und schließlich im Licht des Christusmysteriums interpretiert, das ihnen ihren vollen und endgültigen Sinn gibt.

Wenn er den „Zusammenhängen“ und „Achsen“ im Inneren der Schrift folgt, kann der Leser die Art erfassen, mit der theologische Themen erweitert und entwickelt werden. Das kanonische Lesen der Bibel erlaubt es, die Entwicklung der Offenbarung zu zeigen, entsprechend einer zugleich diachronen und synchronen Logik.

Wir nennen nur ein Beispiel. Die Theologie der Schöpfung, die am Beginn des Buches Genesis verkündet wird, wird in der prophetischen Literatur weiterentwickelt. Das Buch Jesaja verbindet in Kapitel 43 Heil und Schöpfung, indem es das Heil Israels als eine Fortführung der Schöpfung versteht. Auch interpretieren die Kapitel 65-66 die erhoffte Wiedergeburt Israels als neue Schöpfung (Jes 65,17; 66,22). Diese Theologie wird weiter ausgearbeitet in den Psalmen und in der Weisheitsliteratur.

57. Im Neuen Testament kann man gegenüber den alttestamentlichen Traditionen eine „Beziehung der Erfüllung“ feststellen und auch diachrone Entwicklung und Neuinterpretation der Traditionen analog zu dem, was wir für das Alte Testament angegeben haben.

Für die Beziehung der Erfüllung zwischen neutestamentlichen Schriften und Traditionen des Alten Testament können wir das Johannesevangelium anführen, das in seinem Prolog Christus als das schöpferische Wort präsentiert. Dasselbe gilt für die Paulusbriefe, die die kosmische Bedeutung des Kommens Christi aufzeigen (1 Kor 8,6; Kol 1,12-20), und auch für die Apokalypse, die den Sieg Christi als eschatologische Erneuerung der Schöpfung beschreibt (Offb 21).

Das diachrone Studium der Bücher des Neuen Testaments zeigt, wie sie alte, manchmal vorliterarische, Traditionen aufgenommen haben, die das Leben und die liturgische Praxis der Urkirche widerspiegeln; der erste Korintherbrief z. B. zitiert ein altes Glaubensbekenntnis (15,3-5). Die Bücher des Neuen Testaments zeigen auch eine theologische und institutionelle Entwicklung in den ersten Gemeinden; so bezeugen die Briefe an Timotheus und Titus Ämterfunktionen und Unterscheidungsprozesse, die im Vergleich zu den ersten Paulusbriefen weiter entwickelt sind.

Dieser kurze diachrone Durchgang muss mit der Perspektive des synchronen Lesens verbunden werden. Der Bibelleser ist eingeladen den Kanon, der von dem Buch Genesis und der Apokalypse eingerahmt wird, als ein Ganzes zu begreifen, als eine einzige Erzählung, die von der Schöpfung bis zur Neuschöpfung durch Christus geht.

Die Inspiration der heiligen Schrift bezieht sich also auf jeden einzelnen Text und auf das Gesamt des Kanons. Zu sagen, dass ein biblisches Buch inspiriert ist, bedeutet also, anzuerkennen, dass es spezifischer und privilegierter Träger der Offenbarung Gottes an die Menschen ist und dass seine menschlichen Verfasser vom Geist bewegt wurden Glaubenswahrheiten auszudrücken in einem Text, der seinen historischen Ort hat und der von den gläubigen Gemeinden als normativ angenommen wurde.

Behaupten, dass die Schrift als ganze inspiriert ist, heißt anerkennen, dass sie einen Kanon darstellt, d.h. ein Gesamt von Schriften, die für den Glauben normativ sind und von der Kirche angenommen wurden. Die inspirierte Schrift ist der Ort einer unüberbietbaren Offenbarung, die mit einer Person, mit Jesus Christus, identifiziert wird; durch ihre Worte und Taten „erfüllt“ diese Person und „macht sie vollkommen“ die Traditionen des Alten Testaments, indem sie den Vater in vollem Maße offenbart.

Auf dem Weg zu einem Kanon aus zwei Testamenten

58. Der zweite Timotheus- und der zweite Petrusbrief haben eine besondere Bedeutung für einen ersten Entwurf des christlichen Kanons der Schriften. Sie verweisen auf den Abschluss eines Corpus der paulinischen und auch der petrinischen Briefe, blockieren jede spätere Zutat und bereiten für diese einen Abschluss des Kanons vor. Der Text des zweiten Petrusbriefes, im Besonderen, spielt auf einen Kanon aus zwei Testamenten und auf eine kirchliche Rezeption der Paulusbriefe an.Die Mehrheit der Exegeten betrachtet die beiden Briefe als „pseudoepigraphische“ Schriften, die den Aposteln zugeschrieben werden, aber tatsächlich von späteren Verfassern stammen. Das spricht aber nicht gegen ihre Inspiration und vermindert nicht ihre theologische Bedeutung.

a. Der Abschluss der Sammlungen von paulinischen und petrinischen Briefen

Beide Briefe schauen in die Vergangenheit zurück und betonen, dass das Lebensende der beiden Verfasser bevorsteht. Sie beziehen sich oft auf das „Erinnern“ und mahnen die Leser, die Lehre, die ihnen die Apostel in der Vergangenheit mitgeteilt haben, nicht zu vergessen und anzuwenden (vgl. 2 Tim 1,6.13, 2,2.8.14; 3,14; 2 Petr 1,12.15, 3,1-2).In dem Maß, in dem die beiden Briefe nachdrücklich auf den Tod der Verfasser verweisen, funktionieren sie tatsächlich als Abschluss für eine Sammlung der jeweiligen Briefe.

2 Tim verweist darauf, dass der Tod des Paulus bevorsteht; der Apostel, der von seinen Mitarbeitern verlassen ist und seinen Prozess beim kaiserlichen Gerichtshof verloren hat (vgl. 4,16-18), ist bereit, die Krone des Martyriums zu empfangen: „Denn ich werde nunmehr geopfert, und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten. Schon jetzt liegt für mich der Kranz der Gerechtigkeit bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird“ (4,6-8). Ähnlich spricht 2 Petr davon, dass der Herr den nahen Tod des Apostels geoffenbart hat: „Ich halte es nämlich für richtig, euch daran zu erinnern, solange ich noch in diesem Zelt lebe, und euch dadurch wach zu halten, denn ich weiß, dass mein Zelt bald abgebrochen wird, wie mir auch Jesus Christus, unser Herr, offenbart hat“ (1,13-15; vgl. 3,1).

Beide Briefe erscheinen als der letzte Brief des jeweiligen Verfassers, als sein Testament, das einen Schlusspunkt setzt für das, was er mitteilen wollte.

b. Hin zu einem Kanon der zwei Testamente

59. In 2 Petr 3,2 gibt der Verfasser den Zweck seiner zwei Briefe an: „Ihr sollt euch erinnern an die Worte, die von den heiligen Propheten im voraus verkündet worden sind, und an das Gebot des Herrn und Retters, das eure Apostel euch überliefert haben.“ Auch wenn der Text von Worten spricht, die die Propheten gesagt haben, denkt der Verfasser zweifellos an die prophetischen Schriften (vgl. 1,20). Der Ausdruck „das Gebot des Herrn und Retters“ bezeichnet nicht ein besonderes Gebot des Herrn, sondern hat dieselbe Bedeutung wie im vorausgehenden Abschnitt, in dem die „Kenntnis unseres Herrn und Retters Jesus Christus“ als „der Weg der Gerechtigkeit“ und als „das heilige Gebot, das ihnen überliefert worden ist“ bezeichnet wird (2,20-21). Der Ausdruck „Gebot“ (im Singular), der entsprechend zu „Torah“ geprägt ist, hat eine gleichsam technische Bedeutung und bezeichnet in 3,2, wo er mit einem doppelten Genitiv verbunden ist, die Lehre Christi, die von den Aposteln überliefert wurde, d.h. das Evangelium als die neue Heilsordnung.

Der Vers 2 Petr 3,2 hebt hervor die Propheten, den Herrn, die Apostel. So deutet sich der Kanon der zwei Testamente an, von denen das erste durch die Propheten bestimmt ist und das zweite von dem Herrn und Retter Jesus, der von den Aposteln bezeugt wird. Beide Testamente sind aufs Engste verbunden durch das Zeugnis für den Glauben an Christus (vgl 2 Petr 1,16-21; 3,1-2), das Alte Testament (die Propheten) durch die christologische Interpretation und das Neue Testament durch das Zeugnis der Apostel, das sich in ihren Briefen (besonders die von Petrus und Paulus) ausspricht, aber auch in den Evangelien, die sich auf die „Augenzeugen und Diener des Wortes“ stützen (Lk 1,2 ; vgl Joh 1,14).

Auch 2 Petr 3,15-16 ist wichtig für die Konzeption des Kanons aus zwei Testamenten und für seine Inspiration. Nachdem Petrus die Verzögerung der Parusie erklärt hat (3,3-14), spricht er von seiner Übereinstimmung mit Paulus: „Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm verliehenen Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist manches schwer zu verstehen, und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, verdrehen diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben“. Es wird hier von der Existenz einer Sammlung paulinischer Briefe gesprochen, die die Adressaten des Petrus erhalten haben. Die Aussage, dass Paulus „mit der ihm verliehenen Weisheit“ geschrieben habe, stellt ihn als inspirierten Verfasser vor. Die falschen Interpretationenvon schwierigen Stellen bei Paulus werden mit denen von den „übrigen Schriften“ gleichgestellt; so werden die Texte des Paulus und der Brief des Petrus, der durch sie bestätigt wird, an die Seite der „Schriften“ gestellt, die als prophetische Texte von Gott inspiriert sind (vgl. 1,20-21).

Die Rezeption der biblischen Bücher und die Kanonbildung

60. Die Bücher, die heute unsere Heiligen Schriften ausmachen, bestätigen sich nicht selber als „kanonisch“. Ihre Autorität muss auf Grund ihrer Inspiration von der Gemeinschaft anerkannt und angenommen werden, sei es die Synagoge oder die Kirche. Es ist also angebracht, den historischen Prozess dieser Anerkennung zu betrachten.

Jede Literatur hat ihre klassischen Bücher. Ein Klassiker kommt aus der Kultur eines bestimmten Volkes, gleichzeitig erweitert er die Sprache dieser Gemeinschaft und wird zum Modell für künftige Schriftsteller. Ein Buch wird zum Klassiker nicht durch die Verfügung einer Autorität, sondern dadurch, dass es von den Gebildeten eines Volkes als solcher anerkannt wird. Auch viele Religionen haben, wie man sagen kann, ihre Klassiker. In diesem Fall widerspiegeln die ausgewählten Schriften die Glaubensinhalte der Anhänger dieser Religionen, die darin die Quellen für ihre religiösen Praktiken finden. Das geschieht im Alten Orient, in Mesopotamien, und auch in Ägypten. Dasselbe Phänomen ist auch bei den Juden gegeben, die mit dem besonderen Bewusstsein, das auserwählte Volk Gottes zu sein, sich mit ihrer religiösen Tradition identifizierten. Unter den verschiedenen Schriften, die in ihren Archiven aufbewahrt wurden, wählten die Schriftgelehrten diejenigen aus, die heilige Gesetze, die Erzählung der Volksgeschichte, Prophetensprüche und die Sammlung von Weisheitsworten enthielten und in denen das jüdische Volk sich wiedererkennen und sich des Ursprungs seines Glaubens vergewissern konnte. Dasselbe geschah bei den Christen der ersten Jahrhunderte mit den apostolischen Schriften, die im Neuen Testament enthalten sind.

Die vorexilische Zeit

In der Bibelwissenschaft wird es für möglich gehalten, dass eine Auswahl von schriftlichen und mündlichen Traditionen, darunter Prophetensprüche und viele Psalmen, schon vor dem Exil begonnen hat. In Jer 18,18 heißt es: „Nie wird dem Priester das Gesetz ausgehen, dem Weisen der Rat und dem Propheten das Wort“. Die Reform des Joschija hatte als Grundlage das Bundesbuch (vielleicht das Deuteronomium), das im Tempel gefunden worden war (2 Kön 23,2).

Die nachexilische Zeit

Nach der Rückkehr aus dem Exil, unter persischer Herrschaft, können wir von den Anfängen eines Kanons sprechen: Gesetz, Propheten und Schriften (meist weisheitlicher Natur). Die aus Babylonien Zurückgekehrten mussten ihre Identität als Bundesvolk wiederfinden. Es war also notwendig die Gesetze zu kodifizieren, wie es auch von den herrschenden Persern verlangt wurde. Die Sammlung von historischen Erinnerungen verband sie mit dem vorexilischen Judäa, die Prophetenbücher dienten dazu, die Gründe der Deportation zu erklären, während Psalmen unersetzlich waren für den Kult im wiedererrichteten Tempel. Und da man glaubte, dass seit der Herrschaft des Artaxerxes (465-423 v. Chr.) die Prophetie aufgehört hatte und der Geist auf die Weisen übergegangen war (vgl. Josephus Flavius, Contr. Ap. 1,8,41; Ant. 13,311-313), wurden von gebildeten Schriftgelehrten verschiedene Weisheitsbücher verfasst. Sie bemühten sich, jene Bücher zu sammeln, die auf Grund von Alter, religiöser Verehrung und Autorität den Rückkehrern eine klare Identität geben konnten, auch gegenüber ihren neuen Beherrschern. Politische und soziale Motive sind also bei der anfänglichen Kanonbildung nicht ausgeschlossen. Wir können die Zeit von Nehemia als Gouverneur als terminus a quo der Kanonbildung ansehen. So informiert uns auch 2 Makk 2,13 darüber, dass Nehemia eine Bibliothek gegründet hat, indem er alle Bücher der Könige und der Propheten sammelte und alle Schriften Davids, wie auch die Briefe der Könige über die Weihegaben. Und wie zur Zeit des Joschija las der Schriftgelehrte Esra voll Autorität dem Volk das Buch mit dem Gesetz des Mose vor (Neh 8).

Die nachexilischen Schriftgelehrten beschränkten sich nicht darauf, die Bücher, die religiöse Autorität hatten, zu sammeln. Sie aktualisierten die Gesetze und die historischen Erzählungen, sie fügten Prophetenworte zusammen und versahen sie mit Interpretationen. Und aus verschiedenen Stoffen schufen sie ein Buch (z.B. das Buch Jesaja oder das Buch der Zwölf Propheten). Sie verfassten neue Psalmen und gaben den Weisheitsbüchern ihre Form. Sie vereinigten das Ganze unter den Namen von Mose, dem Gesetzgeber und Propheten, von David, dem Psalmensänger, und von Salomo, dem Weisheitslehrer. Ein so zusammengesetztes literarisches Corpus erwies sich als nützlich, um den Glauben zu stützen, auch gegenüber den kulturellen Herausforderungen der persischen und hellenistischen Zeit. Gleichzeitig begannen sie den Text der ältesten Bücher zu fixieren, so entwickelten sich Kanon und Text zusammen.

Die Zeit der Makkabäer

Ein neues Problem entstand als Antiochus IV alle heiligen Bücher der Juden zerstören ließ. Eine Neuorganisation wurde daher notwendig; das führt zum terminus ad quem der alttestamentlichen Epoche. In den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts v. Chr. klassifiziert Sirach bereits die heiligen Schriften als das Gesetz, die Propheten und die anderen Schriften (Vorwort). In Sir 44-50 greift er die Geschichte Israels auf von den Anfängen bis zu seiner eigenen Zeit und erwähnt in 48,1-11 ausdrücklich den Propheten Elija, in 48,20-25 Jesaja, in 49,7-10 Jeremia, Ezechiel und die Zwölf Propheten. Ungefähr fünfzig Jahre später informiert uns 1 Makk 1,56 dass die Seleukiden während der Verfolgung desAntiochus die Bücher des Gesetzes verbrannt haben; dagegen erfahren wir aus 2 Makk 2,14, dass Judas der Makkabäer die geretteten Bücher wieder gesammelt hat.

Im ersten Jahrhundert n. Chr. berichtet Josephus Flavius, dass 22 Bücherbei den Juden als heilig anerkannt werden (Contr. Ap. 1,37-43); sie enthalten Gesetze, Erzähltraditionen, Hymnen und Ratschläge. Die Zahl erklärt sich daraus, dass viele Bücher die in unseren Ausgaben getrennt sind (z.B. die Zwölf Propheten), als ein einziges Buch zählen. Die Zahl 22 kann auch Vollständigkeit ausdrücken, da sie der Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets entspricht. Heute neigt man dazu, den Abschluss des rabbinischen Kanons ins zweite Jahrhundert n. Chr. oder auch später zu datieren; er geschah aus Gründen, die das Judentum selber betreffen, wohl auch um sich von den Büchern des Neuen Testaments, die von den Christen als Heilige Schrift angesehen wurden, abzusetzen. Die frühere Unterscheidung zwischen einem palästinensischen Kanon von 22 Schriften und einem ausgedehnteren in der Diaspora findet heute wenig Zustimmung, besonders wegen der Textfunde von Qumran.

Der Kanon des Alten Testaments bei den Kirchenvätern

Bei den Kirchenvätern finden sich Unterschiede; manche traten für einen kurzen Kanon ein – wohl um mit den Juden einen Dialog führen zu können -, andere zählten auch die deuterokanonischen (auf Griechisch geschriebenen) Bücher zu denen, die die Kirche angenommen hat. Im Jahr 393, auf dem Konzil von Hippo, an dem Augustinus als einfacher Priester teilnahm, legten die Bischöfe Afrikas das öffentliche Lesen in der Mehrzahl der Kirchen oder in den Hauptkirchen als Kriterium fest und gaben so die Basis für die Rezeption der deuterokanonischen Schriften; diese setzte sich im Mittelalter endgültig durch.In der katholischen Kirche hat sich das Konzil von Trient für die Anerkennung des langen Kanons entschieden gegen die Reformatoren, die zu dem kurzen Kanon zurückgekehrt waren. Die Mehrzahl der orthodoxen Kirchen hat denselben Kanon wie die katholische Kirche; Unterschiede bestehen bei den altorientalischen Kirchen.

Die Bildung des Kanons des Neuen Testaments

61. Was die Abfassung der Bücher des Neuen Testaments angeht, stellen wir fest, dass ihr Inhalt anerkannt war, bevor sie geschrieben wurden; die Gläubigen nahmen ja die Predigt Christi und der Apostel an, bevor unsere heiligen Bücher verfasst wurden. Es genügt an das Vorwort des Lukas zu denken, wo er sagt, dass er mit seiner Schrift nichts anderes will, als durch den Bericht von der Geschichte Jesu ein „solides Fundament“ bieten für die Lehren, die Theophilus bereits erhalten hat. Auch wenn sie meistens Gelegenheitsschriften waren, entsprach es einem inneren Bedürfnis der christlichen Gemeinden, zum kerygma (Verkündigung) eine didache (schriftliche Unterweisung) hinzuzufügen. Anfangs wurden diese Schriften in den Gemeinden gelesen, an die sie gerichtet waren, wegen ihrer apostolischen Autorität wurden sie aber weitergegeben an andere Gemeinden. Ihre Aufnahme aus dem Grund, dass sie mit Autorität von Christus und den Aposteln sprachen, darf aber nicht identifiziert werden mit ihrer Rezeption als „Schrift“ gleichgestellt dem Alten Testament. Wir haben die Hinweise in 2 Petr 3,2.15-16 erwähnt, wir müssen aber bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts warten, bis die Überzeugung von der Ebenbürtigkeit allgemein geworden ist und die Bücher, die „Altes Testament“ genannt werden und die, die „Neues Testament“ heißen, auf die gleiche Stufe gestellt werden.

Während des ersten Jahrhunderts n. Chr. vollzog sich der Übergang von der Buchrolle zum Kodex (aus gebundenen Blättern, wie ein heutiges Buch); das förderte beträchtlich die Bildung von kleinen literarischen Einheiten, für die ein einziger Band reichte. Dies gilt vor allem für die Evangelien und die Paulusbriefe; jünger sind die Hinweise auf eine Sammlung der Johannesschriften und auf eine solche der katholischen Briefe.

Es wurde notwendig, die Sammlung der anerkannten Schriften abzugrenzen, als am Beginn des zweiten Jahrhunderts die Gnostiker anfingen, Werke zu verfassen, die den literarischenGattungen der Großkirche entsprachen (Evangelien, Apostelgeschichten, Briefe, Apokalypsen), und so ihre Lehren zu verbreiten. Man brauchte nun klare Kriterien, um die orthodoxen von den häretischen Schriften zu unterscheiden. Einige extreme judenchristlichen Gruppen, wie die Ebioniten, hätten gerne eine Verurteilung von Paulus gesehen, während die Montanisten den charismatischen Gaben eine übertriebene Bedeutung zumaßen. Einen entscheidenden Einfluss auf das Bewahren der Lehre des Paulus hatte Lukas mit seiner Apostelgeschichte, die großenteils das Wirken dieses Apostels und den Erfolg seiner Mission beschreibt. Auf seine Weise trug auch Markion zum Prozess der Rezeption der neutestamentlichen Schriften bei; seine Wahl, allein Paulus und Lukas als “kanonisch“ zu betrachten, rief eine Reaktion hervor, die dazu diente, ausdrücklich anzugeben, welche Schriften von den Christen schon verehrt wurden. Schrittweise behaupteten sich bestimmte Unterscheidungskriterien wie: das öffentliche und allgemeine Vorlesen, die Apostolizität im Sinne einer authentischen Überlieferung von einem Apostel her und vor allem die regula fidei (Irenäus), d.h. die Tatsache, dass eine Schrift der apostolischen Tradition, wie sie von den Bischöfen in allen Kirchen überliefert wurde, nicht widersprach. Dieser Katholizität gegenüber verfehlte sich Markion, der die apostolische Tradition auf die paulinische beschränkte und die petrinische, johanneische und judenchristliche vernachlässigte.

Vom Ende des zweiten Jahrhunderts an begannen Listen der Bücher des Neuen Testaments zu erscheinen. Allgemein wurden anerkennt die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und dreizehn Briefe von Paulus; ein Zögern zeigte sich gegenüber dem Hebräerbrief, den katholischen Briefen und der Apokalypse. In manchen Listen wurden der erste Klemensbrief, der Pastor des Hermas und einige andere Schriften hinzugefügt. Da sie aber nicht überall vorgelesen wurden, fanden sie keine Aufnahme in den Kanon. Auf der Basis eines allgemeinen Konsenses der Kirchen, der sich in zahlreichen Erklärungen des Lehramtes ausdrückte und von wichtigen Aussagen verschiedener lokalen Synoden bezeugt wurde, hat das Konzil von Hippo (393) den Kanon des Neuen Testaments festgelegt, der durch die dogmatische Definition des Konzils von Trient (1546) bestätigt wurde.

Im Unterschied zum Kanon des Alten Testaments werden die 27 Bücher des Neuen Testaments von Katholiken, Orthodoxen und Protestanten als kanonisch betrachtet. Die Rezeption dieser Bücher durch die Gemeinschaft der Glaubenden ist Ausdruck dafür, dass ihre göttliche Inspiration und ihre Qualität als heilige und normgebende Bücher anerkannt werden.

Wie schon erwähnt, hat die katholische Kirche den ‚langen’ Kanon des Alten Testaments und die 27 Bücher des Neuen Testament auf dem Konzil von Trient (D-S 1501-1503) endgültig und offiziell anerkannt. Die Definition war notwendig geworden, da die Reformatoren die deuterokanonischen Bücher aus dem überlieferten Kanon ausschlossen.

ZWEITER TEIL: DAS ZEUGNIS DER BIBLISCHEN SCHRIFTEN ÜBER IHRE WAHRHEIT

62. Im zweiten Teil unseres Textes wollen wir deutlich machen, wie die biblischen Schriften die Wahrheit ihrer Botschaft bezeugen. Nach der Einleitung werden wir in einem ersten Abschnitt zeigen, wie einige Bücher des Alten Testaments, in Vorbereitung der Offenbarung des Evangeliums (vgl. Dei Verbum [DV], Nr. 3), die von Gott geoffenbarte Wahrheit darstellen; in einem zweiten Abschnitt wollen wir das aufzeigen, was einige Schriften des Neuen Testaments über Jesus Christus sagen, der die Offenbarung Gottes vollendet (vgl. DV, Nr. 4).

Einleitung

Um diesen Teil einzuführen, zeigen wir zuerst, wie die Konstitution Dei Verbum die biblische Wahrheit versteht, und geben dann genauer an, auf welches Thema wir unsere Untersuchung der biblischen Schriften konzentrieren.

Die biblische Wahrheit nach der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum

63. Die Wahrheit des Wortes Gottes in den Heiligen Schriften ist aufs Engste verbunden mit ihrer Inspiration: Wenn Gott spricht, kann er nicht täuschen. Trotz dieses Grundsatzes machen manche Aussagen des heiligen Textes Schwierigkeiten. Dessen waren sich schon die Kirchenväter bewusst, und bis heute gibt es Probleme, wie die Diskussionen beim zweiten Vatikanischen Konzil zeigen. Im Folgenden soll der Begriff „Wahrheit“ geklärt werden, wie er von diesem Konzil verstanden wird.

Die Theologen hatten den Begriff „Irrtumslosigkeit“ auf die Heilige Schrift angewendet. Wenn er im absoluten Sinn verwendet wird, sagt der Begriff, dass es in der Bibel keinen Irrtum von irgendwelcher Art gibt. Auf Grund der fortlaufenden Entdeckungen im Bereich der Geschichte, der Philologie und der Naturwissenschaften und wegen der Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Bibel mussten die Exegeten erkennen, dass in der Bibel nicht alles so ausgesagt ist, wie es den Ansprüchen heutiger Wissenschaften entspricht; die biblischen Schriftsteller zeigen nämlich die Grenzen ihrer persönlichen Kenntnisse, abgesehen von den Grenzen ihrer Zeit und Kultur. Mit dieser Problematik musste sich das zweite Vatikanische Konzil auseinandersetzen, als es die dogmatische Konstitution Dei Verbum vorbereitete.

In Nr. 11 legt Dei Verbum die traditionelle Lehre dar: Der Kirche gelten „die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,19-21; 3,15-16), Gott zum Urheber haben“. Auf Einzelheiten, wie die Inspiration sich vollzieht, geht die Konstitution nicht ein (vgl. die Enzyklika von Papst Leo XIII Providentissimus Deus), sie sagt aber in derselben Nr. 11: „Da aber alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte. Daher ist jede Schrift, von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk’ (2 Tim 3,16-17)“.

Die Theologische Kommission, die mit der Ausarbeitung dieses Textes befasst war, hatte den Ausdruck „Heilswahrheit“ (veritas salutaris) aus dem Text genommen und die längere Formulierung eingefügt: „die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (veritatem quam Deus nostrae salutis causa Litteris Sacris consignari voluit). Die Erklärung der Kommission, dass sich der Ausdruck „um unseres Heiles willen“ auf „Wahrheit“ bezieht, bedeutet, dass beim Sprechen von der Wahrheit der Heiligen Schrift jene Wahrheit zu verstehen ist, die unser Heil betrifft. Das darf jedoch nicht in dem Sinn interpretiert werden, dass die Wahrheit der Heiligen Schrift nur jene Teile betrifft, die für Glauben und Sitten notwendig sind, unter Ausschluss der anderen (der Ausdruck veritas salutaris im vierten Schema wurde genau aus dem Grund abgelehnt, um eine solche Interpretation auszuschließen). Der Sinn der Formulierung „die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ ist vielmehr der, dass die Bücher der Heiligen Schrift, mit allen ihren Teilen, weil sie vom Heiligen Geist inspiriert sind und Gott als Urheber haben, die Wahrheit mitteilen wollen, die in Beziehung zu unserem Heil steht; das ist ja auch der Grund, warum Gott sich offenbart.

Um diese These zu bekräftigen zitiert DeiVerbum Nr. 11, über 2 Tim 3,16-17 hinaus, in der Fußnote 21 von Augustinus De Genesi ad litteram 2.9.20 und Epistula 82,3, wo er von der biblischen Lehre alles ausschließt, was nicht nützlich ist für unser Heil; und Thomas von Aquin, der sich auf das Zitat von Augustinus stützt, sagt in De Veritate q. 12, a. 2: Illa vero, quae ad salutem pertinere non possunt, sunt extranea a materia prophetiae („Die Dinge jedoch, die nicht das Heil betreffen können, gehören nicht zum Stoff der Prophetie“.)

64. Es geht also darum, zu begreifen, was „Wahrheit um unseres Heiles willen“ im Kontext von Dei Verbum bedeutet. Es genügt nicht, sich mit dem Begriff „Wahrheit“ in seinem gewöhnlichen Sinn zu befassen; da es um christliche Wahrheit geht, wird derBegriff bereichert durch die biblische Bedeutung von Wahrheit und auch von seinem Gebrauch in anderen Dokumenten des Konzils. Im Alten Testament ist Gott selber die höchste Wahrheit wegen der Festigkeit seiner Erwählungen, seiner Verheißungen und seiner Gaben; seine Worte sind wahrhaftig und sie verlangen vom antwortenden Menschen eine entsprechende Festigkeit bei der Aufnahme, im Herzen und in den Werken (vgl. z.B. 2 Sam 7,28; Ps 31,6). Die Wahrheit ist das Fundament des Bundes. Im Neuen Testament ist Christus selber die Wahrheit, weil er das menschgewordene Amen zu allen Verheißungen Gottes ist (vgl. 2 Kor 1,19-20) und weil er „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“ (Joh 14,6), indem er den Vater offenbart (vgl. Joh 1,18) und den Zugang zu ihm öffnet (vgl. Joh 14,6), der die Quelle allen Lebens ist (vgl. Joh 5,26; 6,57). Der Geist, den Christus gibt, ist der Geist der Wahrheit (Joh 14,17; 15,26; 16,13), der das Zeugnis der Apostel (Joh 15,26-27) und die Festigkeit unserer Glaubensantwort tragen wird. Die Wahrheit hat also eine trinitarische und vor allem eine christologische Dimension, und die Kirche, die sie verkündet, ist „die Säule und das Fundamentder Wahrheit“ (1 Tim 3,15). Offenbarer und Gegenstand der Wahrheit zu unserem Heil ist Christus, der im Alten Testament angekündigt wurde; die Wahrheit zeigt sich im Neuen Testament in seiner Person und im Reich, dem gegenwärtigen und eschatologischen, das von ihm angekündigt und eröffnet wird. Der Begriff der Wahrheit des zweiten Vatikanischen Konzils entfaltet sich gleichzeitig im trinitarischen, christologischen und ekklesiologishen Bereich (vgl. Dei Verbum, Nr. 2.7.8.19.24; Gaudium et spes, Nr. 3; Dignitatis humanae, Nr. 11): Der Sohn in Person offenbart den Vater, und seine Offenbarung wird mitgeteilt und bestätigt vom Heiligen Geist und überliefert in der Kirche.

Das Zentrum unseres Studiums der biblischen Wahrheit

65. Unser Studium des Themas „Wahrheit“ in einigen biblischen Schriften stützt sich auf die Lehre und Orientierung, die von Dei Verbum gegeben wird und die gerade umrissen wurde. Wir zitieren den Satz, mit dem diese Konstitution ihren ersten Abschnitt über die Offenbarung abschließt: „Die Tiefe, der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil der Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist (vgl. Mt 11,27; Joh 1,14.17; 14,6; 17,1-3; 2 Kor 3,16; 4,6; Eph 1,3-14)“ (Nr. 2). Es besteht kein Zweifel, dass die Wahrheit, die im Zentrum der Offenbarung, und konsequenterweise im Zentrum der Bibel als Werkzeug für die Übermittlung der Offenbarung (vgl. Dei Verbum, Nr. 7-10) ist, Gott und das Heil des Menschen betrifft. Es besteht auch keine Zweifel daran, dass die Fülle dieser Wahrheit sich durch und in Christus offenbart. Er ist in Person das Wort Gottes (vgl. Joh 1,1.14), das von Gott kommt und das Gott offenbart. Er sagt nicht nur die Wahrheit über Gott, sondern er ist die Wahrheit über Gott, er, der sagt: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9; vgl. 12,45). Das Kommen des Sohnes offenbart auch das Heil der Menschen: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn sandte, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).

Beim Studium der Wahrheit der biblischen Schriften wird sich unsere Aufmerksamkeit also auf diese beiden Themen konzentrieren, die aufs Engste miteinander verbunden sind: Was sagen die Schriften über Gott und was sagen sie über den Plan Gottes für das Heil der Menschen? Die Fülle der Offenbarung und der Wahrheit wird von Christus gebracht; aber sein Kommen wird vorbereitet durch die lang währende Offenbarung Gottes, die in den Schriften des Alten Testamentes bezeugt wird. Daher wollen wir auch hören, was diese Schriften über Gott und das Heil sagen, wohl wissend, dass die volle Bedeutung dessen, was sie bezeugen, in der Person und im Werk Christi geoffenbart wird. Nicht nur das Ziel, auch der Weg und die Vorbereitung sind ein wesentlicher Teil der Offenbarung Gottes.

Das Zeugnis ausgewählter Schriften des Alten Testaments

66. Aus dem großen Reichtum der Bibel haben wir einige repräsentative Bücher ausgewählt, mit Rücksicht auf die literarischen Gattungen und auf die Bedeutung der Texte. Zentrale Themen, die Gott und das Heil betreffen, werden untersucht nach ihrer Bezeugung in den Schöpfungserzählungen (Gen 1-2), in den Dekalogen, in den geschichtlichen und in den prophetischen Büchern, in den Psalmen, im Hohen Lied und in den Weisheitsbüchern. Auch wenn das Alte Testament die Vorbereitung ist auf den Höhepunkt der göttlichen Offenbarung in Christus, hat uns sein größerer Umfang und die reiche Verschiedenheit seiner Texte dazu veranlasst, eine größere Zahl von seinen Abschnitten zu untersuchen als von solchen des Neuen Testaments. Unsere Absicht ist es, zu zeigen, wie verschiedene Texte Gott und sein Heil offenbaren, und die Aufmerksamkeit und das Verständnis für dieses Thema zu steigern.

Die Schöpfungserzählungen (Genesis 1-2)

67. Die ersten Seiten der Bibel mit den sogenannten Schöpfungserzählungen (Gen 1-2) bezeugen den Glauben an Gott, der Ursprung und Ziel von allem ist. Als „Erzählungen von der Schöpfung“ zeigen sie nicht, „wie“ die Welt und der Mensch begonnen haben, sondern sprechen vom Schöpfer und von seinem Verhältnis zur Schöpfung und zu den Geschöpfen. Immer entstehen Missverständnisse, wenn diese alten Texte aus heutiger Perspektive gelesen und als Aussagen darüber betrachtet werden, „wie“ die Welt und der Mensch entstanden sind. Um der Absicht der biblischen Texte zu entsprechen, ist ein solches Lesen zu vermeiden, und ihre Aussagen dürfen nicht in Konkurrenz gesehen werden zu den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften. Diese stellen den Wahrheitsanspruch der Bibel nicht in Frage, da die Wahrheit der Schöpfungserzählungen den sinnvollen Zusammenhang der Welt als Werk Gottes betrifft.

Die erste Schöpfungserzählung (Gen 1,1-2a) beschreibt gerade durch ihre wohl geordnete Struktur nicht wie die Welt geworden ist, sondern wofür und wozu sie so ist, wie sie ist. Auf dichterische Weise, mit den Bildern seiner Zeit, sagt der Verfasser von Gen 1,1-2a, dass Gott der Ursprung des Kosmos und des Menschen ist. Der Schöpfergott, von dem die Bibel spricht, ist darauf aus, zu seinem Geschöpf in Beziehung zu treten; sein Schaffen, wie es die Bibel beschreibt, unterstreicht diese Beziehung. Indem Gott den Menschen „als sein Bild“ schafft und ihm die Aufgabe anvertraut, sich um die Schöpfung zu kümmern, zeigt Gott seinen fundamentalen Heilswillen.

Die wesentlichen Bestimmungen menschlicher Existenz stehen im Mittelpunkt der Darstellung von Gen 1, die ihren Höhenpunkt in der anthropologischen Aussage, dass der Mensch „Bild Gottes“, d.h. sein Stellvertreter in der Schöpfung ist, findet. Nach der Erzählung ist das erste Werk Gottes die Zeit (Gen 1,3-5), die durch den Wechsel von Licht und Finsternis dargestellt wird. Damit wird aber nicht beschrieben, was Zeit ist. Mit der Verteilung der Schöpfungswerke auf sechs Tage soll nicht als Glaubenswahrheit behauptet werden, dass die Welt tatsächlich in sechs Tagen entstanden ist, während Gott am siebten Tag geruht hat; es soll vielmehr mitgeteilt werden, dass die Schöpfung eine Ordnung und ein Ziel hat. Der Mensch kann und soll sich in diese Ordnung einfügen und erkennen, dass die Zeit, die Gott im Wechsel von Arbeit und Ruhe für ihn geordnet hat, ihm nahelegt, sich als Geschöpf zu begreifen, das seine Existenz dem Schöpfer verdankt.

Durch die einzelnen Schöpfungswerke wird gezeigt, was die Schöpfung ist und was ihr Zweck ist. Die ganze Erzählung ist, wie schon gesagt, auf den Menschen ausgerichtet. So will sie nicht die Kategorie des Raumes physikalisch definieren, sondern den Raum als „Lebensraum“ des Menschen fassen und in seiner Bedeutung für den Menschen erschließen. Der sogenannte „Herrschaftsauftrag“ (Gen 1,28) ist ein bildlicher Ausdruck, der die Verantwortung des Menschen für den Lebensraum, der für ihn zusammen mit denTieren und Pflanzen bestimmt ist, ausdrückt.

Die beiden Schöpfungserzählungen (Gen 1,1-2,4a und Gen 2,4b-25) sind die Einleitung zum kanonischen Ganzen der jüdischen und auch der christlichen Bibel. Unter Verwendung verschiedener Bilder wollen sie dieselbe Wahrheit aussagen: Die geschaffene Welt ist ein Geschenk Gottes und der Plan Gottes zielt auf das Wohl des Menschen (vgl. Gen 2,18),wie, unter anderem, der häufige Gebrauch des Wortes „gut“ (vgl. Gen 1,4-31) zeigt.Die Menschen sind so in eine „Beziehung des Geschaffenseins“ zu Gott hineingestellt; dieser Ursprung, der ganz und gar Geschenk Gottes ist, verlangt die Antwort des Menschen.

Die Dekaloge (Ex 20,2-17 und Dtn 5,6-21)

68. Die beiden Dekaloge (Ex 20,2-17 und Dtn 5,6-21) leiten verschiedene Gesetzessammlungen ein, die sich in den Büchern Exodus, Levitikus und Numeri (Ex 19,1- Num 10,10) und im Buch Deuteronomium (Dtn 12-26) befinden. Die beiden Texte haben die Form einer Rede des Herrn (JHWH), der sich an Israel wendet. Diese literarische Form verleiht den Texten eine stark ausgeprägte Autorität. Sie verbinden eine Zusammenfassung des Glaubens Israels (Ex 20,2 = Dtn 5,6), die sich auf die Erzählungen von Exodus bezieht, mit dem Gesamt der kultischen und ethischen Vorschriften. Die Dekaloge haben Vieles gemeinsam und gleichzeitig eine je eigene theologische Ausrichtung: Der Dekalog in Ex 20 entwickelt hauptsächlich eine Theologie der Schöpfung, während der Dekalog in Dtn 5 mehr eine Theologie des Heils hervorhebt.

Da sie hoch entwickelte theologische Synthesen sind, werden die beiden Dekaloge als „Zusammenfassungen“ der Torah betrachtet und bieten theologische Schlüssel für deren richtige Interpretation.

a. Der literarische Aufbau der beiden Dekaloge

Die Einleitung der Dekaloge (Ex 20,2 = Dtn 5,6) definiert den Herrn (JHWH) als den Gott, der Retter ist in der Geschichte: Der Gott Israels offenbart sich durch das Werk der Rettung, das er für Israel vollbringt. Diese erzählende Darstellung des Gottes Israels als des Retters seines Volkes fasst den ganzen ersten Teil des Buches Exodus zusammen: Die Formel der Selbstvorstellung des Herrn in Ex 3,14: „Ich bin der ‚Ich-bin-da’“ leitet die lange Erzählung der Befreiung Israels ein (Ex 4-14). Der Herr offenbart seine wahre Identität, indem er seinem Volk das Geschenk der Rettung bringt. Die Gabe Gottes ist also das Fundament für die gesetzlichen Vorschriften der Dekaloge. Diese Gabe besteht in der Befreiung Israels, das in Ägypten versklavt ist. Die Gesetze der Dekaloge geben die Formen an, in denen Israel auf das Geschenk Gottes antworten soll: Israel, von Gott befreit soll nun den Weg der Freiheit antreten, indem es den Götzen und dem Bösen abschwört (vgl. dazu Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns, VAS 184, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2009, Nr. 20).

Der erste Abschnitt des Textes entwickelt die Verbote des Götzendienstes und der Herstellung von Bildern (Ex 20,3-7 = Dtn 5,7-11). Den Götzen abschwören heißt dem exklusiven Kult des Herrn zustimmen und einen endgültigen Bund mit ihm annehmen: Der Herr ist der einzige Retter des Volkes, der einzige wahre Gott.

Die beiden positiven Gebote des Dekalogs betreffen den Sabbat und das Ehren der Eltern (Ex 20,8-12 und Dtn 5,12-16). Der Sabbat kann definiert werden als das „Heiligtum Gottes“ in der Zeit und in der Geschichte; indem Israel den Sabbat hält, zeigt es, dass nur der Herr der Geschichte der Menschen Sinn geben kann.

Der letzte Abschnitt des Textes betrifft die rechte Beziehung zum Nächsten (Ex 20,13-17 und Dtn 5,17-21). Der Verzicht auf jede Art von Übervorteilung des Nächsten ist die notwendige Bedingung für den Aufbau einer echten Gemeinschaft und soll den Sieg der Bruderliebe über die Gewalt bezeugen.

b. Kommentar und theologische Folgen

69. Die Dekaloge zeigen Israel den Weg des Gehorsams gegenüber dem Gesetz, das Gott am Sinai (Horeb) geoffenbart hat. Das göttliche Projekt appelliert an die Menschen, im Rahmen des Bundes zu antworten (Ex 24,7-8; Dtn 5,2-3).

Die Gesetze, die in der Torah auf die Dekaloge folgen, entwickeln deren Inhalt. Das Verbot des Götzendienstes ist das Leitmotiv des Deuteronomiums, während der Appell zu einem Leben in Bruderliebe im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) behandelt wird und in der Einladung zur Nächstenliebe aufgipfelt, die dem Mitglied der Volksgemeinschaft Israels und dem bei ihnen lebenden Fremden gilt (Lev 19,18.34).

Die Dekaloge zeigen die Art, wie Gott der Schöpfer sich auch als Retter in der Geschichte offenbart und jedes Mitglied der Gemeinschaft einlädt, seinerseits auf diese Logik der Rettung einzugehen und eine anspruchvolle Gemeinschaftsethik ins Werk zu setzen.

Die beiden Texte bieten einen Schlüssel für die Interpretation der ganzen Torah und stellen schließlich einen echten „Katechismus“ für Israel dar. Dieser Katechismus leitet die Israeliten an, ihren Glauben an den einen wahren Gott zu behaupten und die Herausforderungen der Geschichte anzugehen, sich für ein Leben in brüderlicher Gemeinschaft einzusetzen und auf die Strategien von Macht und Gewalt zu verzichten. Die Dekaloge bezeugen eine Wahrheit, die Gott selbst betrifft (er als der Schöpfer und Retter) und eine Wahrheit, die die Formen eines rechten und gerechten Lebens betrifft. Die Beziehung zum Gott Israels zeigt sich als untrennbar von der Beziehung zum Nächsten, der sich als der Ort erweist, an dem sich die Treue der Gläubigen zur geoffenbarten Wahrheit bewährt.

Die geschichtlichen Bücher

70. Die Erzählung der Geschichte Israels nimmt viele Bücher der Bibel, besonders die sogenannten geschichtlichen Bücher (Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, 1 und 2 Chronik, Esra, Nehemia, 1 und 2 Makkabäer) ein. Sie zeigt klar, dass es sich nicht um eine Geschichtsschreibung im modernen Sinn handelt und dass es nicht um eine möglichst genaue Chronik der Ereignisse der Vergangenheit geht. Jeder Versuch, die biblische Geschichte aus moderner Perspektive zu interpretieren, setzt sich der Gefahr aus, die Texteabseits von ihrer Aussageabsicht zu lesen und ihren vollen Sinn zu verfehlen.

Die biblische Darstellung der Geschichte entwickelt sich harmonisch auf der Grundlage der Schöpfungstheologie, wie sie auf den ersten Seiten der Bibel dargestellt wird (vgl. oben), als ein Zeugnis der Erfahrung Gottes und als Darlegung, dass Gott auch in der Geschichte für das Heil der Menschen handelt (Jos 24). Dementsprechend will die biblische Geschichtsschreibung zeigen, dass der Heilswille Gottes sinnvoll und ganz auf das Wohl der Menschen ausgerichtet ist. In der biblischen Geschichte werden nicht nur positive Ereignisse erzählt, sondern es wird gezeigt, wie Gott, bei dem widersprüchlichen Verhalten der Menschen, seinen unveränderlichen Willen beweist, das Heil der Menschen zu verwirklichen. So offenbart die biblische Geschichte (Ri 6,36; 2 Sam 22,28) Gott als den „Retter“.

Die Beziehung Gottes zu den Menschen wird in der biblischen Erzählung dargestellt als eine Geschichte von „Bünden“, angefangen bei dem Bund mit Noach für die ganze Menschheit und fortgeführt mit den Bünden, die die Geschichte Israels kennzeichnen. Der Bund, den Gott seinem Volk in der Person Abrahams anbietet und der am Sinai feierlich abgeschlossen wird, wird im Lauf der Geschichte vom Volk unablässig übertreten; allein der Treue Gottes ist es zu verdanken, dass er „ewig“ genannt wird.

So stellt sich das theologische Programm der Geschichtsschreibung Israels vor allem als Theo-Logie im wörtlichen Sinn dar: Es will die Treue Gottes zeigen in seiner Beziehung zu den Menschen. Das wird bestätigt durch die Ankündigung eines neuen Bundes in Jer 31,31. Es ist der Bund des Gottes, der sein Volk durch die Geschichte hindurch zum Heil bei ihm und mit ihm führt.

Die prophetischen Bücher

71. Die biblische Prophetie bezeugt in besonderer Weise die Offenbarung Gottes, da das menschliche Wort der Propheten ausdrücklich mit dem Wort Gottes selber zusammenfällt: „So spricht der Herr“ ist eine typische Formel dieser Literatur. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Offenbarung ist es, dass sie sich in der menschlichen Geschichte zeigt, in Ereignissen, die einer glaubwürdigen Chronologie angehören,in Worten die an konkrete Persönlichkeiten gerichtet sind, von Menschen, deren Name, Herkunft und Zeit bekannt ist. Der ewige Plan Gottes, mit den Menschen einen Bund der Liebe zu schließen (vgl. Dei Verbum, Nr. 2), wird den Propheten mitgeteilt (Am 3,7) und wird von ihnen Israel und den Völkern verkündet, so dass allen die authentische Wahrheit Gottes und der Geschichte bekannt sei.

Aus dem unerschöpflichen Reichtum des prophetischen Wortes, Zeichen der unendlichen Weisheit Gottes, heben sich einige Züge ab, die in besonderer Weise dazu beitragen, das Angesicht des wahren Gottes zu offenbaren und den Glauben an ihn zu fördern.

a. Der treue Gott

Die Propheten folgen aufeinander in der Geschichte entsprechend der Verheißung des Herrn: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen, und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage“ (Dtn 18,18). Das Charisma des Mose (Dtn 18,15) wird in der Reihe der Propheten auf die übertragen, die durch ihr Auftreten Zeugen der Treue Gottes zu seinem Bund(Jes 38,18-19; 49,7) werden, Zeugen einer Güte, die sich auf tausend Geschlechter erstreckt (Ex 34,7; Dtn 5,10; 7,9; Jer 32,18). Der Gott, der Ursprung der menschlichen Geschichte ist, der Vater, von dem alles Leben ausgeht, lässt nicht im Stich (Jes 41,17; Hos 11,8), vergisst nicht seine Geschöpfe (Jes 44,21; 54,10; Jer 31,20): „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht“ (Jes 49,15).

Die Propheten, die vom Herrn unermüdlich gesendet werden (Jer 7,13.25; 11,7; 25,3-4 usw.), sind die Stimme voll Autorität, die an die nie fehlende Gegenwart des wahren Gottes im Durcheinander der menschlichen Geschichte erinnern (Jes 41,10; 43,5; Jer 30,11); sie verkünden: „Du wirst Jakob deine Treue beweisen und Abraham deine Huld, wie du unseren Vätern geschworen hast in den Tagen der Vorzeit“ (Mi 7,20).

Die Wahrheit desHerrn ist daher dem Felsen (Jes 26,4) zu vergleichen, der absolut zuverlässig ist (Dtn 32,4); wenn jemand sich fest an seine Worte hält, kann er fest und beständig bleiben (Jes 7,9), ohne Furcht, sich zu verlieren (Hos 14,10).

b. Der gerechte Gott

72. Indem er sich offenbart, fordert der treue Gott Treue, verlangt der heilige Gott, dass, wer in seinen Bund eintritt, heilig sei, wie er heilig ist (Lev 19,2), und der gerechte Gott will, dass jeder dem Weg der Gerechtigkeit folgt, der durch das Gesetz vorgezeichnet ist (Dtn 6,25). Die Propheten sind im Lauf der Geschichte die Herolde der vollkommenen Gerechtigkeit - jener, die von Gott vollbracht wird (Jes 30,18; 45,21; Jer 9,3; 12,1; Zef 3,5), und jener, die er bei den Menschen verlangt (Jes 1,17; 5,7; 26,2; Ez 18,5-18; Am 5,24). Sie erinnern nicht nur an die Weisungen des Herrn und erklären ihren Sinn, sondern brandmarken auch mutig jede Abweichung vom Weg des Guten bei Einzelnen und bei Völkern. So rufen sie zur Umkehr, indem sie die gerechte Strafe für die begangenen Vergehen androhen, und sie kündigen die unvermeidliche Katastrophe jenen an, die in ihrem verkehrten Sinn die göttliche Mahnung nicht hören wollen (Jes 30,12-14; Jer 6,19; 7,13-15).

Hier zeigt es sich, ob das prophetische Wort wahr ist, im Gegensatz zu dem billigen Trost der falschen Propheten, die, ohne Rücksicht auf die pflichtgemäßen moralischen Forderungen des Gesetzen, den Frieden ankündigen, wenn das Schwert des Gerichtes droht (Jer 6,14; 23,17; Ez 13,10), das Volk mit falschen Verheißungen betrügen (Jes 9,14-15; Jer 27,14; 29,8-9; Am 9,10; Sach 10,2) und so die Fortdauer der Bosheit begünstigen. „Die Propheten, die vor mir und vor dir – sagt Jeremia zu dem (falschen) Propheten Hananja - je

gelebt haben,weissagten Krieg, Unheil und Pest gegen viele Länder und mächtige Reiche“ (Jer 28,8). Das authentische Wort des Herrn sagt also, dass die Sündigkeit der Welt vom gerechten Gott in der Geschichte offenbart wurde durch das Erleiden der Strafe. Der Weg durch die Demütigung und den Tod wird von den Propheten als die notwendige Bestrafung erklärt, die dazu führt, die Sünde anzuerkennen (Jer 2,19) und in demütiger Buße auf die Vergebung zu warten (Joel 2,12-14).

c. Der barmherzige Gott

73. Ein guter Teil der prophetischen Literatur hat einen drohenden Ton, ähnlich dem des Jona in Ninive (Jona 3,4), weil sie das Unheil ankündigt „über alles Fleisch“ (Ez 21,8-9) und nicht nur vom Verschwinden des Reiches Israel spricht (Jer 5,31; Hos 10,15; Am 8,2), sondern das Ende der Welt ankündigt (Jer 4,23-26; 45,4; Ez 7,2-6; Dan 8,17). Dieser katastrophale Ausblick könnte auf den Gedanken bringen, dass Gott nicht treu zu seiner Verheißung steht: „Ach Gebieter und Herr, wahrhaftig, schwer hast du getäuscht dieses Volk und Jerusalem. Du sagtest: Heil werdet ihr finden! Und nun geht uns das Schwert an die Kehle“ (Jer 4,10); „Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer und deine Macht, dein großes Mitleid und dein Erbarmen?“ (Jes 63,15).

Auf diese Klage, Gebet eines Volkes im Exil, antworten die Propheten und verkünden Trost für Israel (Jes 40,1): Das, was als Ende erscheinen konnte, verwandelt sich durch die Macht des Schöpfers in einen neuen Ursprung (Jer 31,22; Ez 37,1ff; Hos 2,16-17); das, was als Zusammenbruch erschien, wird Anfang einer wunderbaren Realität, denn die Sünde, die die Katastrophe verursacht hatte, wird von der Barmherzigkeit des Vaters endgültig vergeben(Jer 31,34; Ez 16,63; Hos 14,5; Mi 7,19).

Die Propheten sprechen von der radikalen Wende in der Geschichte Israels (Jer 30,3.18; 31,23; Ez 16,53; Joel 4,1; Am 9,14; Zef 3,20) und in der Geschichte der ganzen Welt, wenn sie einen neuen Himmel und eine neue Erde ankündigen (Jes 65,17; 66,22; Jer 31,22). Die göttliche Vergebung, die begleitet wird von einem unerhörten Reichtum geistlicher Gaben (Jer 31,33-34; Ez 36,27: Hos 2,21-22; Joel 3,1-2) und die sich zeigt in einer außergewöhnlichen Blüte des Volkes, das wieder alle seine Institutionen hat (Jes 54,1-3; 62,1-3; Jer 30,18-21; Hos 14,5-9), konnte als Abschluss der Geschichte vom Menschengeist weder vorhergesehen noch ausgedacht werden. Der Herr sagt durch Jesaja: „Von jetzt an lass ich dich etwas Neues hören, etwas Verborgenes, von dem du nichts weißt. Eben erst kam es zustande, nicht schon vor langer Zeit. Zuvor hast du nichts erfahren davon, damit du nicht sagst: Das habe ich längst schon gewusst“ (48,6-7). Der Herr offenbart durch die Propheten seine Pläne, die alles menschliche Begreifen unendlich übersteigen (Jes 55,8-9); und im wirkmächtigen Erscheinen seiner Gnade zeigt Gott die Vollkommenheit seiner Wahrheit und vollendetden Sinn der Geschichte.

Dieses Wort der Verheißung ist wahrhaftig, denn es erfüllt sich (Dtn 18,22; Jes 14,24; 45,23; 48,3; Jer 1,12; 28,9): „Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe“ (Jes 55,10-11). Das einzigartige und epochale Ereignis bringt einen ewigen Bund hervor (Jes 55,3; Jer 32,40; Ez 16,60). Aus ihm entspringt das Lob Gottes als letzte Wirkung des Heiles: „Herr, du bist mein Gott, ich will dich rühmen und deinen Namen preisen. Denn du hast wunderbare Pläne verwirklicht, von fernher zuverlässig und sicher“ (Jes 25,1).

Die an Christus glauben, wissen sich als Söhne der Propheten und der Verheißung (Apg 3,25), an die das trostvolle Wort des Heiles gesandt wurde (Apg 13,26): Im Kreuz und in der Auferstehung des Herrn Jesus sehen sie, anbetend, das volle Erscheinen des treuen, gerechten und barmherzigen Gottes.

Die Psalmen

74. Die Gebete der Psalmen setzen voraus und zeigen diese wesentliche Wahrheit über Gott und das Heil: Gott ist nicht ein unpersönliches absolutes Prinzip, sondern eine Person, die hört und antwortet. Jeder Israelit weiß, dass er sich in jeder Situation seines Lebens an ihn wenden kann, in der Freude und im Schmerz. Gott hat sich geoffenbart als der gegenwärtige Gott (vgl. Ex 3,14), der den Beter kennt und mit lebendigstem Interesse und voll Wohlwollen auf ihn hört.

Von den verschieden Kennzeichen Gottes, die in den Psalmen bezeugt werden, wollen wir zwei erwähnen: Gott offenbart sich (a) als mächtiger Beschützer und (b) als der Gerechte, der den Sündern in einen Gerechten verwandelt. Gott ist also immer derjenige, der die Menschen rettet.

a. Der allmächtige Gott: Ps 46

Die Gegenwart und das Wirken Gottes sind in Ps 46 durch den Satz gekennzeichnet: „Der Herr der Heerscharen ist mit uns“ (VV. 8.12). Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Psalms wird die GegenwartGottes betont, der „für uns“ und „mit uns“ ist (VV. 2.8.12). Mit seiner Macht beherrscht er die Natur (VV. 2-7), verteidigt Israel und schafft Frieden (VV. 8-12).

Die Macht Gottes beherrscht die Natur: Gott der Schöpfer

Mit Ruhe begegnet das Bundesvolk den Umwälzungen in der Natur: „Gott ist uns Zuflucht und Stärke, ein bewährter Helfer in allen Nöten. Darum fürchten wir uns nicht, wenn die Erde auch wankt, wenn Berge in die Tiefe des Meeres stürzen, wenn seine Wasserwogen tosen und vor seinem Ungestüm die Berge erzittern“ (VV. 2-4). Gott beherrscht die chaotischen Kräfte. Auch wenn sie die Festigkeit Zions angreifen, die heilige Stadt „kann nicht wanken“ (V. 6a), denn „Gottist in ihrer Mitte“ (V. 6a) und „Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht“ (V. 6b).

Die Macht Gottes verteidigt sein Volk und schafft Frieden: Gott der Retter

Die Erklärung „Der Herr der Heerscharen ist mit uns“ erscheint als Antwort auf den Angstschrei des Volkes, das von Feinden umgeben ist: „Steh auf und hilf uns!“ (Ps 44,27). Gott wird „Zuflucht und Stärke“ (Ps 46,2) und „Burg“ (VV. 8.12) genannt, um die Macht anzuzeigen, mit der er seine Getreuen schützt, die in Zion versammelt sind. Alle sind eingeladen, ihn zu erkennen: „Kommt und schaut die Taten des Herrn“ (V. 9). Der Psalm nennt dann diese Taten: „Er setzt den Kriegen ein Ende bis an die Grenzen der Erde, er zerbricht die Bogen, zerschlägt die Lanzen, im Feuer verbrennt er die Schilde“ (V. 10). Der Herr selber wendet sich an die Gläubigen und sagt: „Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin, erhaben über die Völker, erhaben auf Erden“ (V. 11). Die Feinde müssen aufhören zu kämpfen, müssen den Herrn anerkennen und seine universale Majestät, die alle Völker und die ganze Erde überragt. Das machtvolle Eingreifen Gottes für Zion hat eine universale Bedeutung: Er bringt Frieden nicht nur für die Stadt Gottes (V. 5), sondern für alle Nationen, für die ganze Erde (V. 11).

b. Der gerechte Gott: Ps 51

75. In diesem Psalm ist das Sündenbekenntnis mit der Bitte verbunden. Die entscheidende und bewegende Macht, die in der Mitte des ersten und zweiten Teils genannt wird, ist die Gerechtigkeit Gottes: „So behältst du recht mit deinem Urteil, rein stehst du da als Richter“ (V. 6); „Befreie mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit“ (V. 16; vgl. V. 21). Die heilschaffende Gerechtigkeit Gottes wirkt im sündigen Menschen, nicht nur indem sie seine Schulden tilgt und ihn reinigt, sondern auch indem sie ihn gerecht macht und verwandelt. Das ganze Wirken des gerechten Gottes kommt aus seiner Liebe, die treu und barmherzig ist.

Der gerechte Gott liebt den Sünder

Von seiner Liebe bewegt macht Gott den Sünder gerecht. Der Psalm beginnt mit der Bitte: „Gott sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!“ (51,3). Der Beter ruft die Huld und das Erbarmen Gottes an.

Das Wort „Huld“ (hesed) ist ein Grundbegriff für die Theologie der Psalmen und des Bundes (sehr häufig im Alten Testament, besonders in den Psalmen); es benennt die Haltung Gottes gegenüber dem Beter, die Güte, Großzügigkeit und Treue einschließt. Oft wird in den Psalmen die Huld fast wie eine Person präsentiert: „Deine Huld und Wahrheit mögen mich immer behüten!“ (Ps 40,12); Gott sendet sie vom Himmel (Ps 57,4; vgl. 61,8; 85,11; 89,15), damit sie den Glaubenden begleite, ihm wie einem Freund folge (Ps 23,6), ihn umgebe (Ps 32,10) und ihn sättige (Ps 90,14). Sie ist wichtiger als selbst das Leben: „Deine Huld ist besser als das Leben“ (Ps 63,4; vgl. 42,9; 62,13). Die Huld Gottes wird dem Sünder trotz seiner Sünde nicht entzogen (vgl. Ps 77,9), weil Gott ihn wie ein Vater liebt. Die Huld veranlasst die Gerechtigkeit Gottes, den Sünder gerecht zu machen.

Der zweite Begriff „Erbarmen“ (rehem) (vgl. Ps 40,12; 69,17 und andere) kommt häufig im Zusammenhang mit der Buße vor (vgl. Ps 25,6; 79,8) und wird gewöhnlich im Plural (rahamim) verwendet. Er verweist auf den „Mutterschoß“, das Symbol für instinktive und radikale Liebe. Gott bekennt, dass er mit dem Menschen noch inniger verbunden ist als eine Mutter mit ihrem eigenen Sohn (vgl. Jes 49,15). Deshalb sagt der Psalmist: „Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, du bist langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ps 86,15).

Die beiden Begriffe, die in einem gewissen Sinn zwei Seiten der Liebe Gottes (väterlich und mütterlich) beschreiben, sind auch verbunden: „Denk an dein Erbarmen, Herr, und an die Taten deiner Huld; denn sie bestehen seit Ewigkeit“ (Ps 25,6; vgl. 103,13)Gott liebt den Menschen, auch wenn er ein Sünder ist, wie eine Mutter ihren Sohn liebt, mit einer Liebe, die nicht Frucht von Verdiensten, sondern völlig unverdient ist, mit einer Liebe, die allein aus seinem innersten Herzen kommt. Zugleich liebt er ihn wie ein Vater, mit großmütiger und treuer Liebe. Die beiden Dimensionen der Liebe Gottes, die sich am Beginn von Ps 51 finden, sind wie zwei Maßstäbe seiner Gerechtigkeit, die den Sünder gerecht macht. Der Gott, der voll Huld und Erbarmen ist (V. 3; vgl. V. 20), ist zugleich der Gott, der richtet (v. 6; vgl. V. 16).

Die Gerechtigkeit Gottes rechtfertigt, verwandelt den Sünder in einen Gerechten

76. Gott wendet sich dem Sünder zu und geht mit ihm eine lebendige und tiefe Beziehung ein, die von der Gerechtigkeit inspiriert ist. Dieser Prozess vollzieht sich in verschiedenen Etappen:

- Das Mitleid oder die liebevolle Güte: „Gott sei mir gnädig nach deiner Huld“ (V. 3). Hier wird das Wort „gnädig sein“ (hanan) (vgl. Ps 4,2; 6,3 und andere) verwendet, das ein gnädiges „Herabneigen“ des Herrschers zu seinem Untergebenen ausdrückt. Wer gegen Gott rebelliert hat und in seinen Augen abscheulich geworden ist, bittet um sein Mitleid. Dieses wird ihn aus dem größten Elend herausholen, aus der Sünde.

- Die innere Belehrung: „Lauterer Sinn im Verborgenen gefällt dir, im Geheimen lehrst du mich Weisheit“ (V. 8). Gott wirkt im Gewissen des Sünders, das von der Sünde verdunkelt ist, schenkt ihm das Licht der Wahrheit, das ihn die Sünden erkennen lässt, und den Glanz seiner Weisheit, die ihm die Augen für das rechte Verhalten öffnet.

- Das Urteil der Gnade, das Vergebung mitteilt. Der Sünder, eingeschlossen in das Reich der Sünde, anerkennt: „Du hast Recht mit deinem Urteil“ (V. 6). Nach den Bitten: „Tilge, wasche, reinige“ (VV. 3-4; wiederholt in VV. 9.11) heißt es in fester Hoffnung: „Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge all meine Frevel!“ (V. 11). Befreit von der Besessenheit durch die Sünde bittet er: „Sättige mich mit Entzücken und Freude!“ (V. 10; vgl. Jes 66,14).

- Die neue Schöpfung. Der Sünder bittet Gott um eine neue Schöpfung: „Erschaffe mir, Gott, ein neues Herz“ (V. 12). Nach dieser fundamentalen Bitte verlangt der Beter dreimal, den Geist zu empfangen: „einen beständigen Geist“, „deinen heiligen Geist“, „einen willigen Geist“ (VV. 12.13.14). Er bittet um eine bleibende innere Erneuerung, für die die Gegenwart des Geistes Gottes entscheidend ist; aus ihm kommt die „Freude des Heiles“ (V. 14).

- Der Wille zum Zeugnis. Von Gott erneuert will der Mensch seine Erfahrung allen mitteilen, die dessen bedürfen: „Ich lehre Abtrünnige deine Wege“ (V. 15). Er will sie vor allem jene Weisheit lehren, die Gott ihm innerlich mitgeteilt hat.

- Die Öffnung für Freude und Lob. Neugeschaffen fühlt sich der Büßer von Freude erfüllt, die er im Lob ausdrücken will: „Meine Zunge wird jubeln über deine Gerechtigkeit. Herr, öffne mir die Lippen, und mein Mund wir deinen Ruhm verkünden“ (VV. 16-17; vgl. Ps 35,28; 71,24).

- Die Entsprechung von „deine Gerechtigkeit“ und „dein Lob“ in den letzten Versen erlaubt den Schluss, dass Gott in seiner Gerechtigkeit nicht Furcht einflößt;im Gegenteil, gerade und allein Gott, bewogen von seiner väterlichen und mütterlichen Liebe, bewirkt die Rechtfertigung des Sünders, schafft ihn neu und schenkt ihm Glück, indem er ihn von der Unterdrückung durch die Sünde befreit.

Das Hohelied

77. Es überrascht, dass das Hohelied in die jüdische Bibel aufgenommen wurde (unter den fünf Rollen); es hat ja einen sehr eigenen Inhalt. Als inspirierter Text anerkannt und eingefügt in den christlichen Kanon hat es eine originelle christologische Auslegung gefunden. Das Lied ist eine Dichtung, die die Liebe als Fülle menschlicher Erfahrung feiert, jene Liebe, die im gegenseitigen Suchen und in der personalen Gemeinschaft von Mann und Frau besteht. Das Suchen und die Gemeinschaft enthalten eine faszinierende und unendliche Dynamik, die zwei Menschen, einen Hirten und eine junge Frau, in König und Königin, in ein königliches Paar, verwandelt.

Das Lied feiert auf poetische Weise die menschliche Liebe, echte Liebe, in ihrer körperlichen und geistigen Dimension. Das geschieht aber auf eine Weise, die offen ist für eine geheimnisvolle und theologische Dimension. Der Text ist gekennzeichnet durch seine ‚Vieldeutigkeit’: Der menschlichen Liebe als erster Bedeutung fügen sich weitere Bedeutungen an, die aber in der ersten verwurzelt sind; diese ist sozusagen das Symbol für jede andere Form der Liebe.

Die erste weitere Bedeutung betrifft die Liebe Gottes zu jedem Menschen. Das Gedicht, gegründet auf die Aussage „Gott schuf den Menschen als sein Bild“ (Gen 1,27), besingt die leidenschaftliche Liebe eines Mannes und einer Frau als Bild der leidenschaftlichen personalen Liebe Gottes. Die Liebe Gottes für jeden Menschen (vgl. Weish 11,26) hat in sich alle Kennzeichen der männlichen Liebe (als Bräutigam, Ehemann, Vater) und zugleich der weiblichen Liebe (als Braut, Ehefrau, Mutter). Die echte menschliche Liebe ist ein Symbol, durch das sich der Schöpfer den Menschen als der Gott offenbart, der Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,7.8.16). Mit vielen Symbolen zeigt das Buch, dass Gott Quelle der menschlichen Liebe ist: Er schafft sie, er nährt sie, er lässt sie wachsen, er gibt ihr die Kraft, den anderen (die andere) zu suchen und mit ihm (ihr) zu leben und mit der Familie und weiteren Gemeinschaften in vollendeter Gemeinsamkeit. Daher enthält jede menschliche Liebe (in sich, nicht nur als Bild) einen göttlichen Keim und göttliche Dynamik. Im Kennen und Leben der Liebe kann also Gott entdeckt und erkannt werden. Vermittelt durch die menschliche Liebe werden der Mann und die Frau von der Liebe Gottes erreicht (vgl. 1 Joh 4,17). Und wer in der Liebe bleibt, tritt ein in die Gemeinschaft mit Gott (vgl. 1 Joh 4,12).

Die zweite weitere Bedeutung betrifft die Liebe Gottes zu dem Volk des Bundes (vgl. Hos 1-3; Ez 16 und 23; Jes 5,1-7; 62,5; Jer 2-3). Diese wird neu aktualisiert und findet ihre Erfüllung in der Liebe Christi zur Kirche. Christus präsentiert sich oder wird präsentiert als Bräutigam in verschiedenen Texten (Mk 2,19; Joh 3,29; 2 Kor 11,2; Eph 5,25.29; Offb 19,7.9; 21,2.9) und die Kirche wird dargestellt als seine Braut (Offb 19,7.9), die mit der eschatologischen Vollendung zu seiner Frau wird (Offb 21,9). Die Liebe Christi zur Kirche ist für das Heil der Menschen so wichtig und fundamental, dass das Johannesevangelium Jesu Wirken bei der Hochzeit zu Kana als Anfang seiner Zeichen (2,11), seiner gesamten Tätigkeit darstellt. Jesus offenbart sich als der wahre Bräutigam (3,29), der für alle guten Wein in Fülle besorgt und jene Liebe offenbart, die er „bis zur Vollendung“ erweisen wird (13,1; vgl. 10,11.15; 15,13, 17,23.26).

Die Weisheitsbücher

78. Auch die Weisheitsschriften zeigen charakteristische Züge des Schöpfergottes, im Besonderen den barmherzigen und unerforschlichen Gott. Der Schöpfer ist der barmherzige Gott, der die Sünden der Menschen vergibt, wenn sie umkehren. Er ist aber auch geheimnisvoll und unerforschlich; die Menschen müssen ihre Grenzen als Geschöpfe anerkennen und in Treue ihren Weg gehen, ohne dass sie die Gründe für sein Tun in der Geschichte erfassen können. Wir heben hier einige Züge hervor, die die Lehre der Weisheitsbücher über Gott kennzeichnen: Sie wollen den Menschen zum festen Glauben an Gott führen und in ihm die „Furcht des Herrn“ wecken, d.h. eine tiefe Ehrfurcht, die sich der unermesslichen Distanz zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen bewusst ist (Koh 3,10-14).

Das Buch der Weisheit und das Buch Jesus Sirach: die Menschenliebe Gottes

a. Das Buch der Weisheit

79. Die Menschenliebe Gottes (11,15-12,27) zeigt sich bei den sogenannten Plagen, die die Ägypter trafen, indem die Strafen Gottes und seine Erziehung auf neue Weise interpretiert werden. Der Gott des Bundes und Herr der Schöpfung (16,24-29; 19,6-21) greift immer wieder in die Heilsgeschichte ein und kümmert sich um sein Volk und um jeden „Gerechten“ (vgl. 3,1-4,19). Er belohnt und straft (vgl. 4,20-5,23, 11,1-5) und behandelt alle mit Langmut, um sie zur Umkehr zu führen (12,8-18; vgl. Röm 2,3-4; 2 Ptr 3,9) und um den Gerechten zu erziehen, dass er mit Milde urteilt (12,19-22).

Der Verfasser erinnert daran, dass Gott beim Auszug aus Ägypten die Feinde des Volkes nur mäßig gestraft hat, und erklärt die Gründe für sein Verhalten. Obwohl klar ist: „Für deine allmächtige Hand, die aus ungeformtem Stoff die Welt gestaltete hat, wäre es keine Schwierigkeit gewesen“, hart zu strafen (11,17), gilt aber: „Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie sich bekehren“ (11,23; vgl. Ps 103,8-12; 130,3-4; Ex 34,6-7). Die Mäßigung gegenüber Ägypten (11,15-12,2) ist nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern Gott hat so gehandelt aus seinem „Erbarmen gegenüber allen“ und weil er die Menschen zur Umkehr führen will, so dass sie von ihrer Bosheit ablassen und zum Glauben an Gott kommen: „Darum bestrafst du die Sünder nur nach und nach; du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr“ (12,2). Die Allmacht Gottes offenbart sich nicht in großer Gewalt, sondern im Erbarmen. Die Macht Gottes ist nicht Ursprung des Gerichts, sondern der Vergebung (vgl. Sir 18,7-12; Röm 2,4). Gottes Allmacht ist selbst der Grund für sein Mitleid. Das Erbarmen Gottes zeigt sich in der Art, wie er die Bewohner des Landes straft (12,8): Er behandelt sie mit Wohlwollen und Milde (vgl. 11,26), weil sie schwache Menschen sind (vgl. Ps 78,39). Wenn Gott beim Strafen langmütig war und ihnen vergeben hat, dann nicht aus Ohnmacht oder aus Unkenntnis ihrer Frevel (12,11).

Der Verfasser bleibt hier nicht stehen, sondern bietet eine der schönsten Einsichten des ganzen Alten Testaments: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. […] Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens“ (11,24.26). Für Gott ist es unmöglich, das, was er selber geschaffen hat, nicht zu lieben, weil sein unvergänglicher Geist in allen Dingen ist (vgl. 1,7; 12,1). Gott hat alles geschaffen, um es zu retten; er hat Mitleid mit allen, damit sie umkehren, und will keines von seinen Geschöpfen vernichten (11,26).

Die Liebe Gottes zeigt sich sogar im frühen Tod des Gerechten. Er liebt den Gerechten wegen seiner Tugenden, wegen seines tadellosen Lebens (Weish 4,9) und er nimmt ihn aus dieser verkehrten Welt, damit er nicht verdorben werde: „Er gefiel Gott und wurde von ihm geliebt; da er mitten unter Sündern lebte, wurde er entrückt“ (4,10; vgl. Gen 5,24; Sir 44,16; Hebr 11,5).

Die Liebe Gottes für seine Geschöpfe ist nicht statisch, sondern dynamisch und zeigt sich im Handeln. Dass die Geschöpfe am Leben bleiben und dass ihr vielfältiges, aktives und geheimnisvolles Sein erhalten bleibt, ist der handgreifliche Beweis für die tätige Liebe Gottes.

b. Das Buch Jesus Sirach

80. Auch Jesus Sirach hat einen wachen Sinn für die Größe Gottes, in Allmacht und Erbarmen. Er spricht von Gott voll Begeisterung und Staunen. Gott ist allmächtig und in seiner Vorsehung gibt er dem Schriftgelehrten die Weisheit (37,21; 39,6) und den ihr folgenden Erfolg (10,5) und schenkt dem Armen Reichtum (11,12-13.21); von ihm kommt auch für jeden die Bestimmung zum Tod (41,4). An der Seite der Größe Gottes steht sein Erbarmen: „Wer kann seine gewaltige Größe beschreiben und die Taten seines Erbarmens aufzählen?“ (18,5). Wegen der Schwäche des Geschöpfes, das aus Fleisch und Blut, aus Erde und Asche gemacht ist, ist Gott langmütig mit dem Menschen und gießt über „alle Menschen“ (18,13; Weish 11,21-12,18; Ps 145,9) sein Erbarmen aus (18,11). Diese Nachsicht Gottes soll den Menschen nicht verantwortungslos machen, sondern zur Umkehr rufen: „Wende dich zum Herrn, lass ab von der Sünde, bete vor ihm und beseitige das Ärgernis. Kehre zum Höchsten zurück und wende dich ab vom Bösen“ (17,25-26).

Das Buch Ijob und das Buch Kohelet: die Unerforschlichkeit Gottes

a. Das Buch Ijob

81. Dieses Buch, eingerahmt von einem doppelten Prolog (1,1-2,13) und einem doppelten Epilog (42,7-17), besteht aus einem langen Dialog, der von einem „bekannten“ Gott zur Offenbarung eines unvorhersehbaren und geheimnisvollen Gottes führt.

Ijob hatte sehnsüchtig nach der Gegenwart des Herrn verlangt (9,32-35; 13,22-24; 16,19-22; 23,3-5; 30,20), hatte von ihm eine Antwort beansprucht (31,35), weil er mit ihm direkt seinen Fall diskutieren wollte. Aber es war ein Irrtum, sich vor Gott zu stellen und mit ihm auf gleicher Ebene verhandeln zu wollen. Indem Ijob gegen die Art des Handelns Gottes protestiert und von ihm Rechenschaft über dessen Kriterien fordert, hat er sich in gewisser Weise seinem Schöpfer gleich gemacht. Für ihn ist es aber unmöglich die unendlichen Höhen des Allmächtigen zu erreichen, dessen Vollkommenheit für den menschlichen Geist ohne Zugang ist (11,7). Um die göttliche Transzendenz, die alles menschliche Begreifen übersteigt,lebendig und poetisch auszudrücken, werden Himmel, Unterwelt, Erde und Meer als Symbole kosmischer Höhe, Tiefe, Länge und Breite angeführt, die jedoch von der Unermesslichkeit Gottes überragt werden (11,8-9). Die Tiefe des göttlichen Geheimnisses lässt den Menschen unwissend und ohnmächtig zurück (vgl. Am 9,1-4, Jer 23,24; Dtn 30,11-14; Eph 3,18.21). Alle Menschen können mit Händen die Grenzen der menschlichen Größe greifen; schon die Propheten haben die getadelt, „die in ihren eigenen Augen weise sind und sich selbst für klug halten“ (Jes 5,21, vgl. Jes 10,13; 19,12; 29,14, Jer 8,8-9; 9,22-23; Ez 28).

Obwohl Gott nie auf eine Frage Ijobs geantwortet hat, hält er am Ende eine sehr schöne Rede (38-41). In einer großartigen Theophanie, in Gestalt eines Sturmes, ergreift er endlich das Wort, nicht um denen, die vorher gesprochen hatten, zu antworten, sondern um Ijob einem Verhör zu unterwerfen und ihn auf das Geheimnis Gottes zu verweisen. In seiner Rede folgen rasch aufeinander viele Fragen, verbunden mit ausführlichen Beschreibungen. Gott gibt Ijob seine Unwissenheit und seine Grenzen als Geschöpf zu verstehen, während die Weisheit des Schöpfers ohne Grenzen ist (vgl. 28). Allen Fragen des Herrn liegt eine klare Aussage zu Grunde: Gott ist gegenwärtig in seiner Schöpfung, die in ihrer unendlichen Vielfalt ein Geheimnis für den Menschen bleibt. Die Kriterien menschlichen Urteilens sind den Geheimnissen der Schöpfung nicht gewachsen.

Ijob hatte Gott gekannt „vom Hörensagen“ (42,5), nach dem traditionellen Modell einer Theologie, die auf dem engen Vergeltungsprinzip beruhte. Nach der langen Rede Gottes, kennt er Gott endlich auf eine angemessenere Weise. Am Ende seines Streites bekennt er: „Ich habe erkannt, dass du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt. Wer ist es, der ohne Einsicht den Rat verdunkelt? So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind“ (42,2-3). Ijob hat seinen Platz gefunden und konnte die Größe Gottes und die Unzugänglichkeit seiner Allmacht entdecken. Seine Begegnung mit Gott hat ihm die Eitelkeit seines Anspruchs, gegen Gott einen Prozess anzustrengen, enthüllt. Er bleibt ein leidender Mensch, aber ohne Ansprüche. Am Ende findet er sich selber; er findet sich als Staub; so wird er wahrer und menschlicher (42,6).

Ijob begreift, dass der Mensch die Pläne Gottes nicht erkennen kann, und erfasst auch, dass seine Augen Gott selbst gesehen haben in seinemWirken in der Welt (42,5). Indem er das Universum und die Menschheit mit den Augen Gottes sieht, kann er seine verfehlte Perspektive eingestehen, dass er zu weit gegangen ist; daher sagt er: „Ich widerrufe“ (42,6a). Die Weisheit besteht für ihn jetzt im Bekenntnis, dass Gott als gerecht erkannt werden kann, ohne ihn ganz zu verstehen; der Mensch kann an ihn glauben, ohne „vom Anfang bis zum Ende“ (Koh 3,11) den Sinn seines Handelns zu kennen. Gott bleibt für die Menschen ein unergründliches Geheimnis.

b. Das Buch Kohelet

82. Auch der Verfasser dieses Buches beschäftigt sich mit der Unerforschlichkeit des Handelns Gottes. Aus dem Blickwinkel der Weisen (8,16-17) macht er sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, soweit er in der Welt, auf der Erde und unter der Sonne gesehen werden kann. Der Weise will die Bedeutung der Mühen der Menschen verstehen (8,16) und stellt fest: „Ich sah ein, dass der Mensch […] das Tun Gottes in seiner Gesamtheitnicht ergründen kann, das Tun, das unter der Sonne getan wurde. […] Selbst wenn der Weise behauptet, er erkenne – er kann es doch nicht ergründen“ (8,17; vgl. Ijob 42,3). Kein Mensch kann ändern, was Gott zu seiner Zeit vollbringt (vgl. 1,15; 3,1-8.14; 6,10; 7,13). Gott hindert den Menschen daran, dass er das Werk Gottes verstehe (7,13-14; vgl. Ijob 9,2-4). Kohelet nimmt das Thema in 11,5 wieder auf, wo das Werk Gottes als unverstehbar beschrieben und mit dem Geheimnis der Schwangerschaft im Mutterleib verglichen wird. Der Mensch kennt den Sinn des Lebens nicht, aber im Willen Gottes hat alles Geschaffene seinen Ort und seine Zeit (3,11). Das Geheimnis des Wirkens Gottes ist unzugänglich, unauslotbar und unverständlich für den Menschen, der auf Grund seiner eigenen Erfahrung nach dem Sinn sucht. Das Wirken Gottes und Gott selber, der Schöpfer, bleiben für die Menschen ein unergründliches Geheimnis.

Abschluss

83. Das Zeugnis der biblischen Weisheit zeigt allen als authentische Wahrheit über Gott, dass er barmherzig und dass er für die Menschen ein unergründliches Geheimnis ist. Die Menschenliebe Gottes führt den Menschen zu Umkehr und Glauben, während die Unergründlichkeit Gottes ihn die Größe des Schöpfers und die eigene Begrenztheit erkennen lässt, ihn zur „Furcht des Herrn“ führt und zur Beobachtung seiner Gebote.

Wir stellen fest, dass die Zugänge zur Wahrheit über Gott im Buch der Weisheit und im Buch Jesus Sirach einerseits und bei Ijob und Kohelet andererseits sehr verschieden sind. Nach den beiden ersten Büchern kann die Wahrheit mit dem Verstand und/oder durch die Kenntnis der Torah erreicht werden. Dagegen bestehen Ijob und Kohelet auf der menschlichen Unfähigkeit, das Geheimnis Gottes und seines Wirkens zu verstehen: Es bleibt nur das Vertrauen, das die Gläubigen zu Gott selber haben, auch wenn sie die Logik dessen, was in der Welt geschieht, nicht verstehen.

Das Neue Testament ändert den Horizont des Nachdenkens und zeigt, dass die Wahrheit über Gott über das Verständnis, das sie in der Weisheit Israels erreicht hat, hinausgeht und in der Person Jesu voll und endgültig offenbar wird.

Das Zeugnis ausgewählter Schriften des Neuen Testaments

84. Im Neuen Testament können wir auf Grund ihrer literarischen Eigenart die Evangelien, die Apostelbriefe und das Buch der Offenbarung unterscheiden. Nach dieser Unterteilung legen wir die Wahrheit dar, die von diesen Schriften bezeugt wird.

Die Evangelien

Unter den Büchern der christlichen Bibel kommt den Evangelien als schriftlichem Zeugnis vom Höhepunkt der göttlichen Offenbarung ein hervorragender Platz zu. In ihnen finden wir die Selbstoffenbarung Gottes, des Vaters, durch seinen Sohn, der Mensch geworden ist, gelebt und gelitten hat, gestorben ist und durch seine Auferstehung unsere menschliche Natur zur göttlichen Herrlichkeit erhoben hat. Die dogmatische Konstitution Dei Verbum sagt: „Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil der Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus“ (Nr. 2). Daraus schließt die Konstitution: „dass unter allen Schriften, auch unter denen des Neuen Bundes, den Evangelien mit Recht ein Vorrang zukommt. Denn sie sind das Hauptzeugnis für Leben und Lehre des fleischgewordenen Wortes, unseres Erlösers“ (Nr. 18). Derselbe Konzilstext (Nr. 18) betont den apostolischen Ursprung der vier Evangelien: Die Apostel als „Augenzeugen und Diener des Wortes“ (Lk 1,2) und ihre Schüler verbinden durch das schriftliche Zeugnis der Evangelien die Kirche mit Christus selber.

Die Dogmatische Konstitution Dei Verbum unterstreicht auch den historischen Charakter der Evangelien: Sie „überliefern zuverlässig, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat“ (Nr. 19). Sie beschreibt dann den Prozess, der zur Abfassung der vier Evangelien geführt hat: Diese dürfen nicht als symbolische, mythische oder poetische Schöpfungen anonymer Verfasser ausgegeben werden, sondern berichten zuverlässig die Ereignisse des Lebens und Wirkens Jesu. Es wäre verfehlt, eine genaue Entsprechung zwischen jedem einzelnen Element des Textes und den Einzelheiten der Vorgänge zu behaupten, denn das entspricht nicht der Natur und Absicht der Evangelien. Die verschiedenen Faktoren, die die Erzählungen beeinflussen und zwischen ihnen Unterschiede schaffen, verhindern nicht eine glaubwürdige Darstellung der Ereignisse. Nicht richtig ist auch die Annahme einer Diskontinuität zwischen Jesus und den Traditionen, die ihn bezeugen, oder die Annahme des fehlenden Interesses und der Unfähigkeit, ihn in angemessener Weise darzustellen. Die Evangelien gewähren also eine wahrhaftige Verbindung mit dem wirklichen Jesus.

Die synoptischen Evangelien

85. Wir untersuchen zuerst in den synoptischen Evangelien und dann im Johannesevangelium, welche Wahrheit Christus über Gott und das menschliche Heil offenbart. Da eine vollständige Darstellung nicht möglich ist, müssen wir uns mit einigen Hinweisen begnügen.

a. Die Wahrheit über Gott

Jesus sagt in Mt 11,27 (Lk 10,22): „Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.“ Jesus behauptet eine exklusive Beziehung des gegenseitigen Erkennens zwischen ihm und Gott. Gott kennt Jesus als seinen eigenen Sohn (Mt 3,17, 17,5; Lk 3,22; 9,35), und Jesus kennt Gott als seinen eigenen Vater, mit dem ihn eine absolut einzigartige Beziehung verbindet. Diese Kenntnis des Vaters ist das Fundament für die einmalige Fähigkeit Jesu, Gott zu offenbarenund sein wahres Angesicht bekannt zu machen. Seine Offenbarung Gottes als des Vaters schließt immer die Offenbarung seiner selbst als des Sohnes ein. Von dieser einzigartigen Fähigkeit Jesu leitet sich die Hauptaufgabe seiner Sendung ab, die Offenbarung Gottes. Nicht nur die Worte, auch die Werke und der ganze Weg Jesu offenbaren Gott und verlangen eine ständige und wache Aufmerksamkeit für diese Offenbarung.

Jesus offenbart Gott als den Vater seiner Hörer besonders ausdrücklich im Matthäus-evangelium. Das geschieht speziell in der Bergpredigt (Mt 5-7). Hier sagt Jesus seinen Hörern, dass ihr Vater weiß, was sie brauchen, schon bevor sie ihn bitten (6,8), und er lehrt sie, sich an Gott zu wenden und ihn „Vater unser im Himmel“ (6,9) zu nennen. Er unterweist sie über die Fürsorge des Vaters, die das ängstliche Sorgen der Menschen überflüssig macht (6,25-34). Der Vater, der gütig ist zu den Guten und den Bösen (5,45) ist Vorbild für ihr Handeln: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (5,48). Jesus sagt: „Nur wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist“ (7,21), befindet sich auf dem richtigen Weg und kann dem Verderben entgehen (vgl. 7,24-27). Die Hörer Jesu sind „das Licht der Welt“ (5,14) und haben die Aufgabe, durch ihre guten Werke den Vater so bekannt zu machen, dass die Menschen „euren Vater im Himmel preisen“ (5,16). Mit der Offenbarung des Vaters gibt Jesus zugleich die Sendung, den Vater bekannt zu machen.

Bei seiner Offenbarung des Vaters im Lukasevangelium hebt Jesus vor allem seine Barmherzigkeit gegenüber den Sündern hervor. Auf wunderbare Weise drückt er diese Eigenschaft Gottes aus im Gleichnis von dem Vater, der zwei Söhne hat und den verlorenen voll Mitleid und Freude aufnimmt und den anderen, der zu Hause geblieben ist, zu gewinnen sucht (15,11-32). Mit diesem Gleichnis erklärt und rechtfertigt Jesus sein eigenes Verhalten zu den Sündern (vgl. 15,1-10). Bei dem Geschehen mit dem Zöllner Zachäus sagt er abschließend: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren war“ (19,10). So zeigt er den Kern seiner Sendung und offenbart den Willen und das Handeln Gottes, des Vaters.

Programmatisch und bedeutsam ist die Art, mit der Markus den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu beschreibt: „Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (1,14-15). Der Inhalt der Verkündigung ist gekennzeichnet als „das Evangelium Gottes“, die gute Botschaft, die von Gott kommt und von Gott spricht. Jesus kommt als der Offenbarer Gottes, und seine Offenbarung ist gute Botschaft.Er verkündet, dass das Reich Gottes nahe gekommen ist. Die Wirklichkeit des „Reiches Gottes“ ist im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu bei den synoptischen Evangelien. Jesus offenbart und hebt hervor das königliche Herrschen Gottes, seine Hirtensorge für die Menschen, sein aktives und machtvolles Eingreifen in die menschliche Geschichte. Durch seine ganze Tätigkeit führt Jesus aus und erklärt er diese Wahrheit über Gott.

b. Die Wahrheit über das menschliche Heil

86. Der Mensch ist Geschöpf Gottes; für ihn ist Jesus, der Sohn Gottes ein immer gültiges Vorbild, was die Dankbarkeit, den Gehorsam und die Offenheit gegenüber Gott, dem Vater, angeht, der die Quelle allen Heils ist.

Die Heilung von Kranken und die Befreiung von Besessenen machen einen wesentlichen Teil des Wirkens Jesu aus. Matthäus stellt die gleiche Zusammenfassung an den Anfang (4,23) und an das Ende (9,35) der großen Eröffnung der Tätigkeit Jesu (5,1-9,34), die in ihrem zweiten Teil eine Reihe von machtvollen Taten Jesu berichtet (8,1-9,34). In der Zusammenfassung werden zwei Werke Jesu genannt: Die Verkündigung des Evangeliums vom Reich und das Heilen von „allen Krankheiten und Leiden im Volk“ (4,23). Durch diese Tätigkeit wird das Leiden und die Not der Menschen sichtbar, wie auch die großmütige und mächtige Fähigkeit Jesu, dieses Elend zu überwinden. Der Bote des Reiches Gottes bringt wirksam das Heil des Leibes und zeigt das Erbarmen Gottes für sein leidendes Geschöpf und seinen Willen, dieses zu retten. Diese Tätigkeit Jesu wird begeistert aufgenommen; Matthäus berichtet: „Sie brachten alle Kranken mit den verschiedensten Gebrechen und Leiden zu ihm, Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie alle“ (4,24).In vielen Erzählungen wird sichtbar, dass Jesus die Heilung nicht aufdrängt, sondern den Glauben derer, die zu ihm kommen, verlangt (vgl. 8,10; 9,22.28; 15,28). Am Ende seines Besuchs in Nazareth heißt es: „Und wegen ihres Unglaubens tat er dort nur wenige Wunder“ (13,58).

Die Heilungen sind real und haben eine große Bedeutung, aber sie sind nicht der Hauptzweck des Wirkens Jesu. Schon vor der Geburt Jesu erklärt der Engel dem Josef die Bedeutung dieses Namens: „Du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (1,21). Das größte Elend der Menschen sind nicht die Krankheiten, sondern die Sünden, d.h. ihre gestörte und zerbrochene Beziehung zu Gott und zum Nächsten. Die Menschen sind unfähig, selber aus diesem Elend heraus zu kommen, sie brauchen einen mächtigen Retter, der sie mit Gott versöhnt. Der Name „Jesus“ bedeutet „der Herr rettet“: In der Person seines Sohnes Jesus hat Gott den Retter Israels und der ganzen Menschheit gesandt. Jesus geht auf die Sünder nicht als Richter zu, sondern als Arzt, voll Erbarmen, um sie zu heilen, und er ruft sie zur Umkehr (9,12-13). Er ist gekommen, „um sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (20,28 vgl. Mk 10,45). Sein Blut ist „das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (26,28). Das Opfer seines Lebens besiegelt den neuen und endgültigen Bund Gottes mit Israel und mit der Menschheit, die Versöhnung Gottes mit den Menschen. Sie ist ein unverdientes Geschenk Gottes. Es hängt von der freien Entscheidung der Menschen ab, ob sie die Einladung Gottes annehmen und gerettet werden oder sie zurückweisen und verloren gehen (vgl. 22,1-13; 25,1-13.14-30).

Das Lukasevangelium beschreibt eindringlich, von welcher Art die Rettung ist, die Gott durch seinen Sohn schenkt. Bei der Geburt Jesu teilt der Engel des Herrn mit: „Ich verkünde euch eine große Freude: […] euch ist der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr“ (2,10-11). Der Evangelist beschreibt in seinem Werk die Tätigkeit und den Weg Jesu bis zu seiner Kreuzigung. Auf sie folgt eine vielfache Verhöhnung des Retters und Christus, der nicht fähig ist, sich selbst zu retten (23,35-39). Am Ende jedoch bereut einer der Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt sind (23,33), seine bösen Taten und bekennt seinen Glauben an Jesus und an das Reich, das er verkündet hat (23,40-42). Und Jesus antwortet ihm: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (23,43). Jesus verspricht dem reumütigen Verbrecher die Fülle des Heils, d.h. die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, die die Vergebung der Sünden und die Überwindung des Todes einschließt. Die Erscheinungen des auferstandenen Jesus (24,1-53) zeigen und bekräftigen, dass der Christus in seine Herrlichkeit eingegangen ist (24,26) und dass er tatsächlich der Retter ist, der dem gekreuzigten Verbrecher das Heil schenkt.

Der universale Charakter des Heils, das Jesus verkündet und verwirklicht hat, soll noch betont werden. Seine Sendung richtet sich zuerst an das Volk Israel (Mt 15,24; vgl. 10,6), ist aber für alle Völker bestimmt. Sein Evangelium soll der ganzen Welt verkündet werden (Mt 24,14, 26,13; vgl. Mk 14,9), und seine Jünger sollen zu allen Völkern gehen (Mt 28,19; vgl. Lk 24,47). Gott hat Jesus gesandt als Retter der ganzen Menschheit.

Das Johannesevangelium

87. Wir finden in diesem Evangelium eine sehr enge Verbindung zwischen der Wahrheit über Gott und der Wahrheit über das Heil der Menschen. In Joh 3,16 sagt Jesus: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ Gott sendet seinen Sohn, um die Menschen zu retten, aber durch diese Sendung macht er sich selber bekannt, indem er seine Beziehung zum Sohn und seine Liebe zur Welt offenbart. Für die Menschen wird so eine innere Verbindung zwischen ihrer Kenntnis Gottes und ihrem Heil sichtbar. Jesus sagt vom ewigen Leben, in dem das vollendete Heil besteht: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (17,3). Der Mittler ist Jesus, Wort Gottes und menschgewordener Sohn Gottes (1,14). Er offenbart den Vater (1,18) und bringt das Heil der Menschen; oder besser, indem der den Vater offenbart, offenbart er das Heil. Wir wollen die Rolle Jesu von drei Seiten her in den Blick nehmen: Die Beziehung des Sohnes zum Vater; die Beziehung des Sohnes und Retters zu den Menschen; der Zugang der Menschen zum Heil.

a. Die Beziehung des Sohnes zum Vater

88. Fundamental und am meisten kennzeichnend für die Beziehung zwischen Sohn und Vater ist ihre vollkommene Einheit: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30) und „Der Vater ist in mir und ich bin im Vater“ (10,38; vgl. 17,21.23). Diese Einheit wird gelebt als innerstes gegenseitiges Erkennen und Lieben: „Der Vater kennt mich und ich kenne den Vater“ (10,15); der Vater liebt den Sohn (3,35; 5,20; 10,17; 15,9; 17,23.24.26) und der Sohn liebt den Vater (14,31).

Es sei gleich angefügt, dass die Einheit, Kenntnis und Liebe, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn kennzeichnen, Fundament und Vorbild sind für die Beziehung zwischen dem Sohn und den Menschen. Jesus betet und er bittet den Vater: „Alle sollen eins sein. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein“ (17,21; vgl. 17,22-23). Jesus stellt sich selbst als den guten Hirten vor und sagt: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne“ (10,14-15). Auch für die Liebe behauptet er den gleichen Zusammenhang: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! […] Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe!“ (15,9.12; vgl. 13,34). Die Liebe des Sohnes kommt von der Liebe des Vaters her, und die Liebe der Jünger soll in der Liebe verwurzelt sein, die sie vom Sohn erfahren haben, und sie soll die gleiche Qualität und Intensität haben. Der Ursprung von allem ist immer der Vater. Was der Sohn mitteilt, kommt vom Vater und macht den Vater bekannt; es ist nicht nur Geschenk vom Vater, sondern auch Wahrheit über den Vater und wird zum Vorbild für das Handeln der Menschen.

Die vollkommene Einheit von Vater und Sohn bedeutet nicht eine Identität der Aufgaben. Der Sohn erhält alles vom Vater; Jesus sagt, dass er besonders das Leben, die Werke und die Worte vom Vater empfängt: „Wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben“ (5,26; vgl. 6,57). Auch für die Werke hängt der Sohn vom Vater ab: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn“ (5,19). Oft sagt Jesus, dass seine Lehre und seine Worte vom Vater kommen: „Er, der mich gesandt hat, bürgt für die Wahrheit, und was ich von ihm gehört habe, das sage ich der Welt. […] Ich sage nur das, was mich der Vater gelehrt hat“ (8,26.28; vgl. 7,16). Jesus schließt seine gesamte öffentliche Tätigkeit mit dieser Erklärung ab: „Was ich gesagt habe, habe ich nicht aus mir selbst, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und reden soll. Und ich weiß, dass sein Auftrag ewiges Leben ist. Was ich also sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat“ (12,49-50).

Es ist klar, dass diese vielfältige Abhängigkeit des Sohnes vom Vater auf das Heil ausgerichtet ist. Kraft des Lebens, das er in sich selber hat, wird der Sohn, nach dem Willen des Vaters, die Toten am letzten Tag auferwecken (6,39-40). Die Worte, die er vom Vater gehört hat, sind die Lehre, die Jesus den Menschen mitteilt (vgl. 7,16; 17,8.14). Die Werke, die er vom Vater gelernt hat, sind die Zeichen, die den Kern seiner Tätigkeit ausmachen und die, im Evangelium aufgeschrieben und überliefert, das Fundament sind für den Glauben der künftigen Generationen (20,30-31). So wird deutlich, dass wir uns nicht mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn befassen können, ohne die Bedeutung dieser Beziehung für das Heil der Menschen in Betracht zu ziehen; es wird klar, dass die Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn zuinnerst heilsbedeutsam ist.

Nach dem, was wir bisher gesehen haben, ist es unmöglich, den Vater und den Sohn und ihre innerste gegenseitige Beziehung vom Heilswerk des Sohnes zu trennen. Im Johannesevangelium spricht Jesus nie vom Vater ohne den Sohn zu erwähnen und nie vom Heil der Menschen ohne die Beziehung von Vater und Sohn zu nennen. Er sagt: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (14,9; vgl. 12,45) und „Das ist der Wille meines Vaters, dass alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (6,40). Die Wahrheit über Gott und die Wahrheit über das menschliche Heil sind untrennbar miteinander verbunden.

b. Die Beziehung des Sohnes und Retters zu den Menschen

89. Über das Bisherige hinaus bestimmt das Johannesevangelium noch genauer das Heilswerk des Sohnes und das Heil der Menschen. Johannes der Täufer stellt Jesus bei seinem ersten öffentlichen Auftreten mit diesen Worten vor: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“ (1,29; vgl. 1,36; Mt 1,21). Die Samariter erfassen: „Er ist wirklich der Retter der Welt“ (4,42). Fundamental für das Heilswerk Jesu ist seine Erhöhung am Kreuz. Besonders in seinen Aussagen, die mit „Ich bin“ anfangen, offenbart Jesus die verschiedenen Seiten seiner Heilsbedeutung.

Schon in seinem Gespräch mit Nikodemus sagt er: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat“ (3,14-15). Und später stellt er fest: „Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, werdet ihr erkennen, dass Ich es bin“ (8,28); d.h. sie werden ihn in seiner wahren Identität als die Gegenwart Gottes erfassen. Jesus sagt dann von sich, der am Kreuz erhöht ist: „Ich werde alle an mich ziehen“ (12,32). Er wird „das Samenkorn sein, das in die Erde fällt“ und das durch sein Sterben „viele Frucht bringt“ (12,24). Seine Erhöhung am Kreuz ist zugleich seine Verherrlichung (vgl. 12,23.28; 17,1.5). Denn in ihr geschieht die volle Offenbarung seiner Liebe zum Vater, die sich im Ja zu seiner Sendung und zum Willen des Vaters äußert (14,31; vgl. 4,34), und zugleich wird in ihr die grenzenlosen Liebe des Vaters geoffenbart, die sich in der Sendung und Hingabe des Sohnes für das Heil der Welt (3,16) zeigt. Jesus nimmt die Stunde an, die der Vater ihm bestimmt hat, und geht in seiner Liebe zu den Seinen bis zum Äußersten, „bis zur Vollendung“ (13,1). Sein letztes Wort, vor seinem Tod am Kreuz, lautet: „Es ist vollbracht“ (19,30). Mit seinem Sterben am Kreuz hat Jesus das Werk vollbracht, das der Vater ihm zum Heil der Menschen aufgetragen hat: er hat geoffenbart nicht nur in Worten sondern auch in Werken seine Liebe und die Liebe des Vaters zu den Menschen.

Als der, der vom Vater gesandt ist und von ihm alles empfangen hat, offenbart Jesus die Heilsbedeutung seiner Person besonders in den Worten, die mit „Ich bin“ anfangen. Dieser Ausdruck ist im Licht der Offenbarung Gottes für Mose: „Ich bin der ‚Ich bin da’“ (Ex 3,14) zu verstehen. Mit ihm drückt Jesus aus, dass in ihm Gott, der Vater, gegenwärtig ist und er konkretisiert zugleich die heilvolle Wirkung dieser Gegenwart. Ohne jeden Zusatz verwendet Jesus den Ausdruck „Ich bin“ dreimal: Als er über das Wasser geht (6,20); für sich, der am Kreuz erhöht ist (8,28) und inder feierlichen Erklärung: „Amen, Amen ich sage euch, ehe Abraham wurde, bin ich“ (8,58); immer behauptet er seine heilvolle Gegenwart, die auf seiner vollkommenen Einheit mit dem Vater beruht. Siebenmal jedoch ist der Ausdruck „Ich bin“ durch einen Zusatz ergänzt, der sich auf eine grundlegende Realität des menschlichen Lebens bezieht. Wir können die Bedeutung dieser Worte nur kurz andeuten.

Im ersten dieser Worte sagt Jesus: „Ich bin das Brot des Lebens“ (6,35.48.51). Es sei gleich angefügt, dass das Wort „Leben“ sich noch ausdrücklich in zwei weiteren von diesen Aussagen (11,25; 14.5) findet und dass es in allen eingeschlossen ist. Das irdische Leben ist das fundamentale Gut, das die Grundlage für alle anderen Güter ist. Jesus offenbart das ewige Leben, das in der lebendigen und vollkommenen Gemeinschaft mit Gott besteht (vgl. 17,3), das höchste aller Güter ist, das vollendete Heil. Das Wort Jesu über das Brot enthält drei doppelte Aussagen: 1. Brot erhält euch im irdischen Leben. Von mir empfängt ihr das ewige Leben. 2. Ihr hängt vom Brot (Nahrung) ab, um überhaupt leben zu können; ohne Brot ist das Leben zu Ende. Ihr hängt von mir für das ewige Leben ab; ihr könnt es euch nicht selber geben. 3. Ihr müsst das Brot essen, um leben zu können, wer nicht isst, stirbt. Ihr müsst an mich glauben, um das ewige Leben zu haben; wer nicht glaubt, geht zugrunde.

Die anderen Worte, mit denen Jesus die Natur seiner Person ausdrückt, sind ähnlich strukturiert wie das Wort vom Brot und haben dieselbe Bedeutung für das Heil. Sie sind oft mit einem seiner Zeichen (Wunder) verbunden und/oder finden sich in einer seiner großen Reden; der Kontext klärt ihre Bedeutung.

Das nächste von diesen Worten heißt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (8,12; vgl. 9,5; 12,35). Es ist sehr gefährlich, ohne Licht im Finstern zu gehen. Jesus kennt das wahre Ziel (vgl. 8,14), den Vater, und er geht auf dem richtigen Weg (vgl. 14,6) und zeigt ihn den Jüngern. Mit dem folgenden Wort: „Ich bin die Tür“ (10,7.9) sagt Jesus, dass er der Zugang zu den Schafen ist (10,7): Die wahren und echten Hirten des Volkes Gottes sind nur diejenigen, die Jesus beauftragt hat und die in seinem Namen kommen (vgl. 21,15-17). Jesus ist auch die Tür für die Schafe: Nur durch ihn finden die Gläubigen im Überfluss gute Nahrung für ein Leben in Fülle (10,10). Zu dem gleichen Vorstellungsbereich gehört das andere Wort Jesu: „Ich bin der gute Hirte“ (10,11.14); es hebt hervor die wache Fürsorge Jesu für die Seinen, die bis zur Hingabe des eigenen Lebens geht und die von gegenseitiger Vertrautheit gekennzeichnet ist (10,14-18).

Das Wort „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (11,25) drückt die Rolle Jesu für die Überwindung des Todes aus. Im folgenden Wort sagt er: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (14,6). Es nennt die Stellung Jesu für den Zugang zu Gott, dem Vater, der die einzige Quelle des Lebens und des Heiles ist; nur durch ihn ist es möglich, den Vater zu erreichen, den Vater zu kennen, am Leben des Vaters teilzuhaben.

Das letzte von diesen Worten: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (15,5; vgl. 15,1) fasst die Beziehung zwischen Jesus und den Menschen zusammen: Nur wenn sie im Weinstock bleiben, können die Reben leben und Frucht bringen. Die Frage: Was müssen also die Menschen tun, um mit Jesus verbunden zu bleiben? führt zum nächsten Abschnitt.

c. Der Zugang der Menschen zum Heil

90. Im Gleichnis vom Weinstock nennt Jesus zwei Arten der Verbindung mit sich, seine Worte und seine Liebe: „Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben…“ (15,7) und: „Bleibt in meiner Liebe!“ (15,9). Die Worte Jesu umfassen die ganze Offenbarung, die er gebracht hat. Sie haben ihren Ursprung im Vater (vgl. 14,10; 17,8) und sie bleiben in dem, der sie dadurch annimmt, dass er an Jesus glaubt (vgl. 12,44-50). Und das ist der Kern des Glaubens: „ Glaubt mir, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist“ (14,11). In der Liebe Jesu bleibt der, der sie voll Dankbarkeit und Vertrauen annimmt und auch sein Gebot beobachtet: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ (15,12; vgl. 13,34). An Jesus glauben, an seine Worte und an seine Liebe, und die anderen lieben: Das sind die Wege, um in ihm zu bleiben, um in Verbindung zu sein mit ihm, der der Weinstock d.h. die Quelle allen Lebens und allen Heils ist (vgl. 1 Joh 3,23).

Im Zusammenhang mit dem letzten „Ich bin“-Wort sagt Jesus: „Ich habe euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“ (15,15). Seine Beziehung zu den Jüngern entspricht seiner Beziehung zum Vater, ist ganz persönlich, vertraut und herzlich. In dieser Beziehung zu bleiben macht das ewige Leben aus, das von Jesus geoffenbarte Heil. Mit welcher Intensität Jesus diese Gemeinschaft wünscht, das zeigt er am Ende seines großen Gebetes zum Vater; vom „ich bitte“ (17,9.15.20) geht er über zum „ich will“ und sagt: „Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind,wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich geliebt hast schon vor der Erschaffung der Welt“ (17,24).

Dass die Offenbarung Gottes konzentriert auf Gott selbst und auf das Heil der Menschen (vgl. Dei Verbum, Nr. 2) ist, zeigt sich besonders klar im Johannesevangelium.

Die Briefe des Apostels Paulus

91. Die Schriften von Paulus sind die ältesten im Neuen Testament. Sie berichten die Wahrheit, die Gott Israel offenbart hat und die mit der Sendung des Sohnes Gottes, Jesus Christus vollendet und über die Grenzen des auserwählten Volkes hinaus verkündet wurde, so dass „nicht mehr Jude ist noch Grieche“ (Gal 3,18). Im Unterschied zu den Evangelien, die alle jünger sind als seine Briefe, befasst sich Paulus nicht so sehr mit der Vergangenheit, sondern mit der Verwirklichung und der Zukunft des Lebens in Christus bei den christlichen Gemeinden, die er und andere gegründet haben und die durch den gleichen Glauben und die gleiche Liebe verbunden sind.

Die historischen Erinnerungen an Jesus sind in den Paulusbriefen sehr begrenzt. In ihnen fehlen auch die Titel, die die Evangelisten dem irdischen Jesus zuteilen (Meister, Rabbi, Prophet, Sohn Davids, Menschensohn), und es herrschen die Titel vor, die den Auferstandenen direkt benennen, wie Herr (Phil 2,11), Christus (mit der Tendenz, als Eigenname Jesu verwendet zu werden vgl. Röm 5,6.8; usw.), Sohn Gottes (Röm 1,4; Gal 4,4; usw.), Bild Gottes (2 Kor 4,4) und andere. Der Tod und die Auferstehung des Herrn und ihre Auswirkungen für das Heil nehmen fast ausschließlich das persönliche und pastorale Interesse des Paulus in Anspruch.Er lebt „im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Daher kämpft er entschieden gegen diejenigen, die „die Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5) entstellen, und widersetzt sich sogar dem „Kephas“ (Gal 2,11). In einem gewissen Sinn fängt Paulus dort an, wo die Evangelien aufhören.

Das Zeugnis des Paulus über Gott und das Heil der Menschen wollen wir in vier Schritten darlegen: a. Paulus kennt die Offenbarung von seiner Berufung und von der Tradition der Kirche her; b. Gott offenbart sich im gekreuzigten und auferstandenen Christus; c. Das Heil wird empfangen und gelebt in der Kirche, dem Leib Christi; d. Die Fülle des Heils besteht in der Auferstehung mit Christus.

a. Paulus kennt die Offenbarung durch seine Berufung und die Tradition der Kirche

92. Indem Paulus seine besondere Berufung mit dem verbindet, was in der Kirche, die er zuvor heftig verfolgt hatte ( 1 Kor 15,9; Gal 1,13, Phil 3,6), verkündet und gelebt wird, wahrt er die Kontinuität mit der Tradition und dem Glauben, die den Kirchen gemeinsam sind. Obwohl er sich bewusst ist, die Wahrheit des Evangeliums persönlich und in einer besondern Offenbarung empfangen zu haben (Gal 1,11-17; 1 Kor 15,8), spürt er die Notwendigkeit, sie mit allen anderen christlichen Gemeinden zu verbinden. Die Beziehung des Paulus zu den Gläubigen in Christus ist nicht nur die eines Vaters, der gibt (1 Kor 4,15; Gal 4,19), sondern auch und vor allem die von einem, der seinen Vorgängern viel zu verdanken hat und von ihnen mit Handschlag anerkannt wird (Gal 2,9). Zwischen Jesus und der apostolischen Tätigkeit des Paulus liegen ungefähr zwanzig Jahre kirchlichen Lebens, das sich in Jerusalem, in Samaria, in Damaskus und in Antiochia in Syrien entwickelt hat. In dieser Zeit hat der Glaube an Jesus im Geist und im Herzen der ersten Christen immer tiefer Wurzel geschlagen und hat bald seine ursprüngliche Identität gefunden, auch wenn es zu weiteren Klärungen kam. Paulus hat dieser Entwicklung und diesen Gemeinden viel zu verdanken. Er betont zwar nachdrücklich, dass die Berufung, die er direkt von Christus empfangen hat, genügt, um sein Evangelium authentisch zu machen, und dass er nicht auf die Anerkennung der Apostel vor ihm angewiesen ist (Gal 1,11-17). Er sieht aber auch die Dringlichkeit, die von ihm empfangene Offenbarung mit dem gemeinsamen Erbe zu verbinden; so besucht er Kephas (Gal 1,18) und vergleicht seine Predigt, um zu vermeiden, „dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin“ (Gal 2,2). Er hebt die Bedeutung seines apostolischen Wirkens hervor („mehr als alle habe ich mich abgemüht“ 1 Kor 15,10), beeilt sich aber auch zu erklären: „Ob nun ich oder die anderen, so verkünden wir und so habt ihr geglaubt“ (1 Kor 15,11).

Er lehnt jede Form eines lokalen Separatismus ab, der sich von den anderen Gemeinden absetzt, und fragt die Korinther: „Ist etwa das Gotteswort von euch ausgegangen? Ist es etwa nur zu euch gekommen?“ (1 Kor 14,36). Es gibt so viele Spaltungen in der Kirche von Korinth: Kleine Gruppen, die sich, auch polemisch, auf verschiedene kirchliche Persönlichkeiten berufen (Kapitel 1-4); Feiern des Herrenmahles mit Klassenunterschieden (11,17-34); Wettstreit um höhere Charismen (Kapitel 12-14). Diese Situation der Spaltung zeigt, wie wichtig der Anfangsgruß des Paulus ist: „An die Kirche Gottes, die in Korinth ist […] berufen als Heilige mit allen, die den Namen Jesu Christi, unseres Herrn, überall anrufen, bei ihnen und bei uns“ (1,2). Zu Recht wird diese Gemeinde, die von soviel Zwietracht bedroht ist, von Paulus ermahnt, das fundamental Verbindende nicht zu vergessen: den ungeteilten Christus (1,13), die Taufe durch den einen Geist (12,13), die Eucharistie (10,14-17; 11,23-34), die Liebe (8,1; 13; 16,24).

b. Gott offenbart sich im gekreuzigten und auferstandenen Christus

93. Der Tod des Sohnes Gottes am Kreuz ist das Herz der geoffenbarten Wahrheit, die von Paulus verkündet wird (1 Kor 2,1-2). „Das Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18) steht gegen die Erwartungen der Juden und Griechen (1,22-23). Dem Rühmen der Griechen, die auf ihre „Weisheit“ stolz sind, stellt er die „Torheit“ des Kreuzes gegenüber (1,23). Paulus widersetzt sich auch dem Legalismus der Galater: Nichts darf zu Christus hinzugefügt werden, auch nicht das Gesetz, das Gott als Element der Vorbereitung gegeben und das Christus zur Vollendung gebracht und überwunden hat.

Es überrascht, dass Paulus sich gegenüber der Selbstgenügsamkeit der Korinther nicht auf die Auferstehung beruft, die das Ärgernis des Kreuzes glänzend ausgeglichen hätte. Obwohl die Auferstehung eine einzigartige Bedeutung in seinem Evangelium hat (nutzlos sind Predigt und Glaube ohne die Auferstehung 1 Kor 15,14), wollte Paulus gegenüber dem triumphalistischen Gehabe der Korinther daran erinnern, dass der Weg nach Ostern über Golgota führt. Wir sollten beachten, wie Paulus, wo er sich auf den Gekreuzigten bezieht, das Partizip des Perfekt (estauromenos: 1,23, 2,2; Gal 3,1) verwendet, um anzuzeigen, wie sehr Christus, auch wenn er schon verherrlicht ist, fortfährt, der Gekreuzigte zu sein. Es ist also klar, dass Gott sich endgültig durch das Ärgernis des Kreuzes Christi offenbart und dass er ein Gott der Gnade ist, der die Schwachen, Sünder und Fernen bevorzugt. Er ist gegenwärtig und wirkt dort, wo man es sich nicht vorstellen würde: in Jesus von Nazaret, der zum Tod am Kreuz verurteilt ist.

Aber „der Tod hat keine Macht mehr über ihn“ (Röm 6,9). Hier sollten wir nicht übersehen, dass Paulus die Auferstehung nie ohne das Kreuz nennt. Zwischen dem Gekreuzigten und Auferstandenen besteht absolute Identität, die Kontinuität wird nicht unterbrochen zwischen„Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ und „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen“, nämlich den Namen „Herr“ (kyrios: Phil 2,8-9.11). Wenn man nur auf den Gekreuzigten schaute, fände man keinen Unterschied zwischen Jesus und den beiden Verbrechern, die mit ihm verurteilt wurden, oder zwischen ihm und dem gekreuzigten Spartakus. Wenn man, andererseits, nur auf den Auferstandenen schaute, käme man zu einer abstrakten und entfremdenden Religion, die den Weg des Kreuzes vergessen hat, der zu durchschreiten ist, bevor man zur Herrlichkeit kommt. Es war auf jeden Fall die Begegnung mit Christus, dem Sieger über den Tod, die Paulus die Lebensbedeutung des Gekreuzigten begreifen ließ, und nicht umgekehrt. Das war möglich auf Grund der persönlichen Erfahrung des Apostels (Gal 1,15-16; 1 Kor 15,8) und auf Grund der Vermittlung der Kirche (1 Kor 11,23; 15,3: „Ich habe euch überliefert, was auch ich empfangen habe“).

c. Das Heil wird empfangen und gelebt in der Kirche, dem Leib Christi

94. Die fundamentale und einmalige Harmonie zwischen Verschiedenheit und Einheit in den christlichen Gemeinden hat Paulus dazu bewogen, das Bild vom „Leib“ zu verwenden, um die Geheimnisse der Kirche Christi tiefer zu erfassen. Diese Sichtweise findet sich im Neuen Testament nur bei Paulus (1 Kor 12,12-27; Röm 12,4-5). Sie wird beträchtlich weiter entwickelt im Brief an die Kolosser (1,18.22.24; 2,9-19) und in dem an die Epheser (2,15-16; 4,4.12-16, 5,28-33), die nach der Meinung vieler Exegeten einer späteren „paulinischen Schule“ angehören.

Wenn Paulus von den Christen als vom „Leib Christi“ spricht, geht er über einen bloßen Vergleich hinaus: Die Glieder Christi sind eine einzige Sache mit ihm, die Kirche ist Leib „in ihm“. Sie ist nicht das Ergebnis aus der Summe der Einzelnen und aus ihrer Zusammenarbeit, denn sie besteht schon, bevor ihr die einzelnen Glieder eingefügt werden. Daher ist auch das Ergebnis nicht etwas Neutrales (hen), sondern Personales (heis):„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid einer (heis) in Christus Jesus“ (Gal 3,28).

Diese Aussage lehrt: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen“ (1 Kor 12,13). Paulus hatte den Gebrauch dieses Bildes gleichsam angekündigt, als er die Quelle dieser Einheit hervorhob: „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott. Er bewirkt alles in allen“ (1 Kor 12,4-6). So wird unterstrichen, wie sehr die Unterschiede, die in der Einheit der Kirche harmonisiert sind, die ursprüngliche göttliche Einheit widerspiegeln, in der sie verwurzelt sind. Das zeigt auch der kostbare Schlusssegenvon 2 Kor 13,13: „Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ Dieser Wunsch des Paulus beginnt nicht mit Gott, dem Vater, sondern mit Jesus Christus, weil nur er uns in das trinitarische Geheimnis eingeführt hat (Röm 8,39). Zum Schluss sollten wir auch die Aufgabe des Heiligen Geistes beachten, Gemeinschaft zu schaffen; ihm kommt es zu, durch die Jahrhunderte hindurch das Werk des Heiles zu verwirklichen: „Jesus Christus hat uns freigekauft, damit den Heiden der Segen Abrahams durch ihn zuteil wird, und wir so aufgrund des Glaubens den verheißenen Geist empfangen“ (Gal 3,14). So sind alle mit demselben Geist getränkt (1 Kor 12,13) und bilden eine brüderliche Gemeinschaft, verschieden und einmütig. Das unschätzbare Geschenk dieser Einheit, die sogar die antike Trennung zwischen „Juden und Griechen“ (Röm 10,12; 1 Kor 1,24; 12,13; Gal 3,28) überwand, verpflichtet zum Wandel „in einem neuen Leben“ (Röm 6,4), „nach dem Geist, der neu ist“ (Röm 7,6), so dass gilt: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17).

d. Die Fülle des Heiles bestehtin der Auferstehung mit Christus

95. Die Einheit mit Christus, die mit den anderen Gläubigen im Leib Christi, der Kirche, gelebt wird, ist nicht auf das irdische Leben beschränkt. Paulus sagt im Gegenteil: „Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen“ (1 Kor 15,19).Im längsten Kapitel aller seiner Briefe (1 Kor 15,1-58) sucht er die Auferstehung der Christen, die von der Auferstehung Christi herkommt, zu begründen und zu erklären. Ganz entschieden sagt er: „Christus ist von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen […] in Christus werden alle lebendig gemacht werden“ (1 Kor 15,20.22). Der Glaube an die Auferstehung mit Christus, an die ewige Lebensgemeinschaft mit ihm und mit dem Vater ist das Fundament und der Horizont der Verkündigung des Paulus. Er hat einen tiefen Einfluss auf das gegenwärtige irdische Leben, macht fähig, seine Schwierigkeiten und Leiden zu ertragen in dem Wissen, „dass im Herrn eure Mühe nicht vergeblich ist“ (1 Kor 15,58). In seinem ältesten Brief erklärt der Apostel den Thessalonichern: „Gott wird durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen“(4,14); er sagt das, „damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben“ (4,13).

Paulus gibt keine Beschreibung dieses Lebens; er sagt nur: „Wir werden immer beim Herrn sein“ (1 Thess 4,17; vgl. 2 Kor 5,8). Er sieht in diesem Glauben und in dieser Hoffnung eine große Kraft, um zu trösten und zu ermutigen, und sagt am Schluss den Thessalonischern: „Tröstet also einander mit diesen Worten!“ (4,18). Wo er auf seinen eigenen Tod blickt, versichertPaulus: „Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein – um wie viel besser wäre das!“ (Phil 1,23). Bei Christus sein, der beim Vater ist, d.h. die endgültige, vollendete Lebensgemeinschaft mit ihm und, in ihm, mit allen Gliedern seines Leibes, erscheint als die Fülle des Heiles (vgl. 1 Kor 15,28; auch Joh 17,3.24).

Die Offenbarung des Johannes

a. Einleitung. Eine geoffenbarte, besondere und faszinierende Wahrheit

96. Die in der Apokalypse geoffenbarte Wahrheit wird bezeichnet als „Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat“ (1,1). Im Verlauf des Buches wird sie genauer bestimmt als eine schöpferische und heilschaffende Initiative, die im Inneren Gottes entstanden ist und außerhalb von Gott, auf der Ebene des Menschen, verwirklicht wird. Für die Verwirklichung dieses Planes sind Gott selber, Jesus Christus und das inspirierte Wort Gottes am Werk. Dem Gegenstand dieses schöpferisch-heilschaffenden Planes können wir einen spezifischen Namen geben: Es handelt sich um das Reich Gottes, das, von Gott entworfen, die ganze Schöpfung umfasst, sich in der menschlichen Geschichte durch Christus und die Christen entwickelt und, vom Wort Christi vorangetrieben und getragen, seine eschatologische Vollendung im Wunder des Neuen Jerusalem (vgl. 21,1-22,5) erreicht.

Die Entwicklung des Reiches Gottes in der Geschichte vollzieht sich auf dialektische Weise: Es gibt eine radikale Opposition, die zu einem erbitterten Kampf führt, zwischen der „Herrschaft Christi“, zu der Christus und seine Nachfolger gehören, und der „Herrschaft des Irdischen“ des Bösen, die vom Dämon inspiriert und aktiviert wird und darauf aus ist, ein Gegenreich zum Reich Gottes zu schaffen. Das Ende des Kampfes wird das endgültige Verschwinden aller Vorkämpfer des Bösen sein und die volle Verwirklichung des Reiches Gottes im Bereich „eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ (21,1). Dann wird eine Stimme vom Thron des Reiches Gottes ausgehen und feierlich erklären: „Seht die Wohnung Gottes bei den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (21,3-4). Das ist die schönste Beschreibung des verwirklichten Reiches Gottes.

Der Verfasser der Apokalypse hat einen wachen Sinn für den konkreten Menschen im Allgemeinen und besonders für die ungeheuren Schwierigkeiten, die dem Christen in den feindlichen Initiativen der „Herrschaft des Irdischen“ begegnen. Das veranlasst ihn, für das Reich Gottes zu unterstreichen, dass es ganz sicher verwirklicht wird. Es wird auf der Erde Wirklichkeit werden, d.h. im Bereich des Menschen, und zwar mit der ganzen Fülle, mit der es auf der höchsten Ebene, bei Gott, geplant wurde.

Wir haben so einerseits das Reich Gottes seinem ganzen Gehalt nach und dann nach seiner konkreten Entwicklung. Beide Aspekte ergänzen sich und geben ein überzeugendes und einheitliches Bild des Reiches Gottes und seines Werdens. Das ist die geoffenbarte Wahrheit, die für die Apokalypse typisch ist. Wir wollen sie jetzt im Einzelnen sehen.

b. Das Reich Gottes verwirklicht nach dem Heilsplan des Schöpfers

97. Die ersten Vorkommen von „Reich“, schon am Beginn des Buches, zeigen uns eine instruktive Szene: Die liturgische Versammlung wendet sich an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, den sie als gegenwärtig und nahe erfährt, und sprichttief bewegt ihren Dank für die von ihm empfangenen Geschenke aus: „Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen“ (1,5-6). Von Jesus Christus geliebt erkennt der Christ,dass er von ihm zu einem Reich Gottes in Christus gemacht wird. Es ist ein Reich im Werden, schon begonnen, aber noch nicht vollendet. Zwischen dem Christen und Jesus Christus besteht eine gegenseitige Zugehörigkeit der Liebe, mit einer priesterlichen Verantwortung des Christen, die ihn zum Mittler zwischen Gott, Christus und den Menschen macht.

Aber noch vor dieser Erklärung der liturgischen Versammlung finden wir einen Bezug auf das Reich im entgegengesetzten Sinn. Wo er der Versammlung den trinitarischen Segen erteilt, fügt Johannes hinzu: „…und von Jesus Christus; er ist der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde“ (1,5). Neben Gott und Christus erscheint ein Gegenkönigtum: Die „Könige der Erde“ bezeichnen in der Apokalypse (vgl. 6,15; 17,2; 18,3.9; 19,19) Machtzentren der „Herrschaft des Irdischen“ gegen das Reich Gottes. Zwischen den Christen, die schon zum Reich Gottes gehören und dem Gegenreich des Bösen entsteht ein Gegensatz, der sie als seine Priester dazu bringen wird, der siegreichen Opposition von Christus, dem Lamm, an die Seite zu treten und sie zu unterstützen (5,6-10).

Christus, das Lamm, hat die Aufgabe, die Entwicklung des Reiches Gottes in der Geschichte zu leiten. Mit einem Begriff aus dem vierten Evangelium (vgl. Joh 1,29.36) wird er feierlich als „Lamm“ vorgestellt; er hat nicht nur die Fähigkeit, „die Sünde der Welt hinwegzunehmen“, sondern auch die Macht, alles Böse, das vom Dämon verursacht wird, zu besiegen und auszulöschen und, positiv, den Menschen, die ihm angehören wollen, seinen Heiligen Geist mitzuteilen (vgl. 5,6). Ihm vertraut der himmlische Vater feierlich seinen schöpferischen Heilsplan vom Reich an (vgl. 5,7). Und das Band der Liebe, das Christus mit den Christen verbindet, die als sein begonnenes Reich zu ihm gehören, wächst und entwickelt sich mit dem schrittweisen Vorangehen ihres Zusammenwirkens.

Der Verfasser der Apokalypse neigt dazu, dieses Band der Liebe sehr stark hervorzuheben, und behandelt es, seinem Stil entsprechend, nach dem Modell der Liebe zwischen zwei Verlobten. So wächst zwischen Christus und denen, die an seinem Reich Anteil haben, eine gegenseitige Liebe, die die Frische, Radikalität, die umwerfende Kraft und Zartheit einer „ersten Liebe“ (2,4-5), einer „eifersüchtigen Liebe“ (3,19) hat. Jesus Christus verlangt sie in absoluter Weise (2,4-5). Es wird deutlich, dass das Reich Gottes, das er errichten soll, ein Reich der Liebe sein muss.

Das Band der gegenseitigen Liebe zwischen Jesus und den Seinen entwickelt sich parallel zu ihrer Zusammenarbeit bei der Überwindung des Bösen und beim Einpflanzen des Guten; sie ist ausgerichtet auf die größtmögliche Verwirklichung, mit der verbunden ist, dass die Christen in ihrer Liebe zu Jesus von der Verlobung zur Hochzeit weitergehen. Indem der Verfasser die gegenwärtige Ebene des Konflikts zwischen der „Herrschaft Christi“ und der „Herrschaft des Irdischen“ verlässt, schaut er, mit jubelnder Freude, die volle Verwirklichung des Reiches Gottes und hört eine himmlische Stimme, die ihm sagt: „Jetzt ist er da der rettende Sieg, die Macht und das Reich unseres Gottes und die Vollmacht seines Christus“ (12,10). Obwohl sie den gewaltigen Druck des Bösen kennt und davon sprechen wird, besteht die Apokalypse auf diesem positiven Abschluss der Geschichte. Der Gedanke an das vollendete Reich Gottes überwältigt sie und in einer ihrer schönsten Doxologien drückt sie sich enthusiastisch aus: „Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung. Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen. Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes, und seine Frau hat sich bereit gemacht. Sie durfte sich kleiden in strahlend reines Leinen. Das Leinen bedeutet die gerechten Taten der Heiligen“ (19,6-8). Über die „gerechten Taten“ ihres Mitwirkens mit Christus fällt der Blick auf die Christen als die Verlobte, die ihr Hochzeitskleid anfertigt. Die „Hochzeit des Lammes“ wird stattfinden, wenn kraft des vereinten Einsatzes Christi und der Seinen das Böse in der Welt und alle, die Böses tun, vernichtet sind und wenn dieser Einsatz allen das neue Leben in Christus mitgeteilt hat. Die Christen werden durch das Wirken Gottes Christus so lieben können, wie Christus sie geliebt hat und liebt. Die „Verlobte“ wird dann zur „Frau“ geworden sein.

Das ist das Wunder des Neuen Jerusalem, des vollendeten Reiches Gottes. Die Christen, die jetzt nicht mehr mit dem Werden des Reiches Gottes befasst sind, werden an ihm voll Anteil haben und werden es in seiner Fülle genießen. So sagt es der glanzvolle Schluss (22,1-5). In der Mitte des Neuen Jerusalem steht ein einziger Thron, für „Gott und das Lamm“ (22,1c). Vom Thron geht aus „ein Strom von Wasser des Lebens, klar wie Kristall“ (22,1ab), Symbol für den Heiligen Geist. Der Strom fließt und lässt wachsen und sich entwickeln „den Baum des Lebens“ (22,2c), nicht mehr als eine einzige Pflanze (vgl. 2,7 und Gen 2,9; 3,22.24), sondern „hüben und drüben“ vom Fluss (22,2b) wie einen Wald des Lebens. Auf Grund der Beteiligung von Gott, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, vollzieht sich, wie wir sagen können, eine „trinitarische Überflutung“ mit Leben und Liebe in unendlichem Maß, die die Menschen erfasst. Und die Menschen, die glücklich sind, voll und ganz Reich zu sein und ohne Grenzen lieben zu können, werden nicht mehr „brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit“ (22,5). Der große Plan vom Reich Gottes ist damit verwirklicht.

c. Die Verwirklichung des Reiches in „Wahrhaftigkeit“

98. Die große offenbarte Wahrheit der Apokalypse, die auf das Reich Gottes konzentriert ist, wird aufgenommen und tiefer entwickelt an den zehn Stellen mit dem Ausdruck „wahrhaftig“. Sie sind verbunden mit der offenbarten Wahrheit des Reiches Gottes und verdeutlichen und unterstreichen den engsten Zusammenhang zwischen dem Plan im Inneren Gottes und seiner Verwirklichung außerhalb Gottes, in der konkreten menschlichen Geschichte. Und hier setzt die Hoffnung des Christen an, der auf dem Weg ist. Trotz all des scharfen Druckes des Bösen sind das „Reich unseres Gottes und die Vollmacht seines Christus“ (12,10)weit davon entfernt, ein sich auflösender Traum zu sein, sondern werden in ihrer ganzen Wirklichkeit sichtbar werden.

Die Wahrhaftigkeit Gottes, des Vaters

Der Ausdruck „wahrhaftig“ wird viermal für Gott, den Vater, verwendet. Beim ersten Mal betrifft er ihn persönlich. Die Märtyrer, die schon in direkter Verbindung mit Gott sind, stellen die fortwährende Gegenwart des Bösen in der Welt fest, wenden sich an Gott mit einer entscheidenden, emotionsgeladenen Frage und schreien laut: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (6,10). Die Märtyrer, die Gott direkt schauen, bemerken seine Allmacht, die ihn zum „Herrn“ von allem macht; sie sehen ihn als den „Heiligen“, der im radikalen Gegensatz zum Bösen steht, mit dem unwiderstehlichen Drang, es zu beseitigen; sie sehen Gott als den „Wahrhaftigen“ mit einer absoluten Übereinstimmungzwischen allem, was er in sich selber ist, und seinem Handeln in der Geschichte und verstört fragen sie ihn, wie lange sein Handeln sich noch verzögert. Gott antwortet und versichert ihnen: Sein Handeln zur Überwindung des Bösen wird unfehlbar eintreten, aber wird sich, entsprechend seinem Plan, schrittweise verwirklichen. Inzwischen erhalten die Märtyrer sofort einen direkten Anteil an der Auferstehung Christi, symbolisiert durch das „weiße Kleid“ (6,11), das ihnen gegeben wird.

Was wir sehen, wird bestätigt und erklärt, wo der Ausdruck „wahrhaftig“ auf die Handlungen bezogen ist, durch die Gott seinen Plan in der Geschichte voranbringt. Es geht um die „Wege“(15,3) und um die „Urteile“ (16,7; 19,2), die Gott in Berührung bringen mit dem menschlichen Werden und die als „wahrhaftige“ höchste Übereinstimmung zwischen Gott in sich und seinem ganzen Handeln garantieren.

Die Wahrhaftigkeit, die Christus eigen ist

99. Wo das Geschenk, das den Plan des Reiches Gottes betrifft, von Christus an die Menschen geht, wird dreimal der Ausdruck „wahrhaftig“ (3,7.14; 19,9) eingefügt und er trägt zu einem besseren Verstehen des Reiches selbst und seines Werdens bei.

Beim ersten Vorkommen stellt sich Jesus vor als „der Heilige, der Wahrhaftige“ (3,7) und stellt sich so auf die gleiche Ebene mit dem Vater, zu dem die Märtyrer gerufen haben: „Du bist der Heilige und Wahrhaftige“ (6,10). Als „Heiliger“ besitzt Jesus wie der Vater die Fülle der Gottheit. Wo der Vater und Jesus in die menschliche Geschichte eintreten, werden beide mit dem Titel „Wahrhaftiger“ qualifiziert, im Sinn einer vollkommenen Übereinstimmung zwischen ihrer Gottheit und ihrer Beteiligung an der Geschichte. Ihre Berührung mit den Menschen, nach dem großen Plan Gottes, vollzieht sich nicht auf einer niedrigeren Ebene.

Mit Blick auf Jesus Christus, der mit den Menschen befasst ist, wird eine andere Seite seiner Gegenwart in der konkreten Geschichte sichtbar: Er ist der Zeuge für den Vater. Als „lebendiges Wort“ sieht er direkt den Vater in seiner Unermesslichkeit, als „fleischgewordenes Wort“ ist er in enger Verbindung mit dem Menschen und begreift ihn bis auf den Grund. So kann sein Zeugnis den unendlichen Reichtum des Vaters, den er sieht, in die Reichweite derMenschen bringen, so wie sie sind und wo sie sind. Wenn er sich selber bestimmt als „der treue und wahrhaftige Zeuge“ (3,14), unterstreicht er, dass sein „treues“ Zeugnis vollständig dem unendlichen Reichtum des Vaters entspricht und zugleich in engem Kontakt mit dem Menschen ist. Mit der Wertung „wahrhaftig“ wird darüber hinaus erklärt, wie Jesus Christus bei seinem Zeugnis die Fülle seiner Gottheit und seiner Menschheit einsetzt. Der unendliche Reichtum des Vaters, der sich so in Jesus Christus offenbart, gibt der geoffenbarten Wahrheit vom großen Plan des Reiches Gestalt und Dichte. Er offenbart den Reichtum und schenkt ihn.

In dem bewegten Zusammenhang, der Christus und die Seinen im Einsatz sieht gegen die Herrschaft des Irdischen, um das Böse auszurotten und das Gute einzupflanzen, wird Christus „der Treue und Wahrhaftige“ (19,11) sein; so wird seine Treue zumPlan des Vaters und der volle Einsatz seiner Gottheit und seiner Menschheit ausgedrückt, um diesen zu verwirklichen. Einige Seiten dieser Wahrhaftigkeit werden genannt und unterstrichen: Was ihn bewegt, ist eine brennende Liebe („Augen wie Feuerflammen“; 19,12) zum Vater und zu den Menschen; er gibt sein Leben, um seine Sendung zu erfüllen (er trägt ein „blutgetränktes Gewand“; 19,13a); sein Name ist zunächst unbekannt, ist sein Geheimnis (19,12c). Wenn er aber durch sein Wort (das „scharfe Schwert“, das aus seinem Mund kommt; 19,15) all denen, die ihn aufnehmen, eine Spur von sich selber eingeprägt hat, dann wird sein Name bekannt und wird öffentlich genannt: „das Wort Gottes“ (19,13). Dieses „Wort Gottes“, alles überragend und lebendig, das Jesus Christus in sich hat und das er als das fleischgewordene Wort (vgl. Joh 1,1.14) ist, wird durch sein Wort, das er an die Menschen richtet, in alle, die ihn aufnehmen, gleichsam eingeprägt und gibt ihnen das von Christus bestimmteneue Leben. Alles wird am Ende ihm gleichgestaltet, dem geschenkten Wort.

Die Wahrhaftigkeit der inspirierten und inspirierenden Worte

100. Beim ersten der drei Vorkommen von „wahrhaftig“ für Worte (19,9) sagt der Deuteengel zu Johannes: „Diese Worte Gottes sind wahrhaftig.“ Die inspirierten Worte, die wir in der Apokalypse finden, sind im Grunde alle Worte Gottes; sie gehen über und verdichten sich in Jesus Christus, dem lebendigen Wort Gottes; von Jesus Christus werden sie durch den Geist zu den Menschen hin ausgestrahlt und erreichen sie. Sie werden „wahrhaftig“ genannt, weil sie fähig sind, den ganzen Reichtum Christi und Gottes, den sie in sich haben, zum Menschen, der sie aufnimmt, zu tragen und ihm zu schenken.

Das zweite Vorkommen ist komplizierter formuliert. Es wechseln ab ein direktes Eingreifen Gottes, eine Wiederaufnahme der Rede durch den Deuteengel, und ein neues abschließendes Eingreifen Gottes: „Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu. Und er [der Deuteengel] sagte: Schreibe es auf, denn diese Worte sind zuverlässig und wahrhaftig. Er [Gott auf seinem Thron] sagte zu mir: Sie sind in Erfüllung gegangen. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende“ (21,5-6). Die feierliche Aussage Gottes, der auf dem Thron sitzt und der das Prinzip ist, das die ganze Entwicklung der offenbarten Wahrheit und auch das ganze Werden des Reiches bestimmt, zeigt die Absicht, die ihn ständig bewegt: Er will allem, angefangen beim Menschen, das neue Leben in Christus einprägen. Der Deuteengel unterstreicht dann den Wert, der schriftlich festzuhalten ist: Alle „diese Worte“ Gottes (vgl. 19,9), angefangen bei den zuletzt gesprochenen, sind „zuverlässig“, sie entsprechen ganz der Absicht Gottes, der sie durch Jesus Christus für den Menschen bestimmt. Da sie einen dynamischen Inhalt haben, der ganz mit den Forderungen Gottes und den Strebungen des Menschen übereinstimmt, werden sie „wahrhaftig“ genannt als die, die das ganz neue Leben in Christus bringen und mitteilen können.

Wenn das eschatologische Ziel erreicht ist, können die Worte Gottes in der Apokalypse als „erfüllt“ betrachtet werdenDie Tatsache wird von Gott feierlich ausgesagt; er ist der menschlichen Geschichte so nahe, dass er gleichsam mit ihrem Anfang und mit ihrer Vollendung zusammenfällt. Im Bogen der Zeit, der zwischen „Alpha“ und „Omega“, „Anfang“ und „Ende“ gespannt ist, haben die Worte Gottes ihren Ort, „in ihrem Werden“: Dynamisch entwickeln sie und strahlen aus ihren Inhalt, der Christus betrifft. Und durch diese Worte, die ergehen, macht Gott „alles neu“.

Für die inspirierten Worte kommt „wahrhaftig“ zum dritten Mal vor auf der letzten Seite des Buches. Noch einmal erklärt der Deuteengel: „Diese Worte sind zuverlässig und wahrhaftig“ (22,6). Zur Bedeutung der vollständigen Übereinstimmung mit der Absicht Gottesund der vollen Verpflichtung Gottes, durch Christus seine Gottheit für den Menschen einzusetzen, kommt hier der Bezug auf das Buch, das auf seiner letzten Seite angekommen ist und der liturgischen Versammlung vorgelesen wurde. Die inspirierten Worte, in rechter Weise aufgenommen, wirken inspirierend in dem, der sie aufnimmt, denn sie bringen Christus und pflanzen ihn ein, den Neuen, der neu macht.

So schließt sich der Kreis. Alles geht von Gott, dem Vater, aus und kommt über Jesus Christus. Er, das lebendige Wort des Vaters, wird gesandtes und geschenktes Wort, d.h. ein Wort, das dem Inhalt nach von ihm selbst ausgeht, die Menschen erreicht und ihnen sein neues Leben einpflanzt. Von der Verbindung mit Christus aus, die sich so in den Menschen formt und entwickelt und die in ihnen stufenweise zu einer unaussprechlichen Einheit mit Jesus Christus, dem lebendigen Wort, führt, wird der himmlische Vater erreicht.

Abschluss

101. Der Leser der Heiligen Schrift kann nur tief beeindruckt sein, wie Texte, die nach literarischer Form und historischem Bezug so verschieden sind, zu einem einzigen Kanon gehören und eine gemeinsame Wahrheit ausdrücken, die sich in der Person Christi voll entfaltet.

a. Die theologischen Aussagen des Alten Testaments

Das Studium der verschiedenen Teile des Alten Testaments hat den außerordentlichen Reichtum der Formen gezeigt, in denen sich Gott in der Geschichte offenbart. Die Schriften bezeugen, dass Gott auf vielen Wegen mit den Menschen in Verbindung treten will.

- Das Werk der Schöpfung zeigt den Willen Gottes, ein Gott „für den Menschen“ zu sein. Gott offenbart sich in einer Schöpfung, die er selber als „gut“ (für den Menschen) definiert (Gen 1,31), wobei auch hervorgehoben wird, dass dieses Werk sofort mit dem Bösen konfrontiert ist (Gen 3,1-24).

- Gott offenbart sich auch in der besonderen Geschichte des Volkes Israel durch vielfache heilschaffende Eingriffe - Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei (Ex 14), Befreiung vom Götzendienst (Ex 20; Dtn 5) – und durch die Gabe des Gesetzes, das Israel zu einem Leben erzieht, das für die Liebe zum Nächsten offen ist (Lev 19).

- Die prophetische Literatur wertet das Wort der Propheten als inspiriert (Einleitung zu den Büchern, Botenformel, Orakelformeln). Die Worte der Propheten drücken die Forderungen Gottes an das Volk in den Wechselfällen der Geschichte aus und offenbaren die Treue des Herrn trotz der Schuld Israels.

- Die Weisheitsbücher zeigen die Konflikte zwischen der besonderen Offenbarung, die Israel geschenkt wurde, und den antiken Kulturen und ihrer Suche nach Wahrheit. Gemeinsam ist den weisheitlichen Traditionen, dass sie die Weisheit Israels als hervorragenden Ausdruck der geoffenbarten Wahrheit darstellen. Besonders in der hellenistischen Zeit sucht die Weisheit Israels, konfrontiert mit den philosophischen Systemen der Griechen, ein zusammenhängendes Gedankensystem vorzulegen, das den moralischen und theologischen Wert der Torah betont und die Zustimmung des Herzens und des Verstandes hervorrufen will.

- Die Hymnen, besonders die Psalmen, verbinden die vorher genannten Dimensionen zu einem Ganzen: Der Psalter feiert Gott als den Schöpfer und Retter, Gott, der in der Geschichte gegenwärtig ist, Gott als Quelle der Wahrheit und er lädt die Gläubigen zugleich ein zueinem Leben in Treue, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit.

b. Die theologischen Aussagen des Neuen Testaments

102. Die Schriften des Neuen Testaments haben die gemeinsame Absicht, den Leser zur Begegnung mit Christus zu führen, der „Offenbarer des Vaters“, Quelle des Heils und Enthüllung aller Wahrheit ist. Das gemeinsame Ziel verfolgen sie auf verschiedenen Wegen.

- Die synoptischen Evangelien, deren Verfasser sich auf direkte historische Zeugnisse stützen, zeigen, wie Jesus von Nazaret alle Erwartungen Israels „erfüllt“ hat: Er ist der Messias, der Sohn Gottes, der Mittler des Heils. Gesalbt mit dem Heiligen Geist eröffnet er durch seinen Tod und seine Auferstehung die neuen Zeiten, das Reich Gottes.

- Das Johannesevangelium führt aus, dass Christus die Fülle des Wortes Gottes ist; den Jüngern wurde dieses Wort geoffenbart und ihnen wird das Geschenk des Geistes verheißen.

- Die Paulusbriefe beanspruchen die Autorität eines Apostels, der auf Grund seiner persönlichen Erfahrung Christi das Evangelium unter den Heiden verkündigt und in neuen Begriffen das Werk Christi den Kulturen seiner Zeit mitteilt.

- Nach der Apokalypse ist Jesus, der das inspirierte Wort empfängt und weitergibt (vgl. 1,1) das höchste Geschenk des Vaters. Es besteht eine vollständige Übereinstimmung zwischen dem Plan des Reiches, das Gott will, und seiner Verwirklichung in der Geschichte der Menschen durch Christus. Wenn alle inspirierten Worte verwirklicht sein werden, indem das Böse in der Geschichte vernichtet und das Wunder Christi in ihr eingepflanzt ist, wird Gott feierlich von diesen Worten sagen: „Sie sind in Erfüllung gegangen“ (21,6).

c. Die Notwendigkeit und Art und Weise eines kanonischen Zugangs zur Schrift

103. Die dogmatische Konstitution Dei Verbum (Nr. 12) und die postsynodale Ermahnung Verbum Domini (Nr. 40-41) führen aus, wie nur ein Zugang, der dem kanonischen Ganzen der Schrift Rechnung trägt, ihren vollen theologischen und geistlichen Sinn entdecken kann. Jede biblische Tradition muss in ihrem kanonischen Aussagekontext interpretiert werden; das macht es möglich die diachronen und synchronen Verbindungen mit dem Ganzen des Kanons aufzuzeigen. Der kanonische Zugang zeigt auch die Beziehungen zwischen den Traditionen des Alten und des Neuen Testaments.

Über die vorher beschriebene Verschiedenheit hinaus bezieht sich der Kanon auf eine einzige Wahrheit, Christus, den das apostolische Zeugnis als den Sohn Gottes, den Offenbarer des Vaters und Retter der Menschen bekennt. Der ganze Kanon hat in dieser Aussage seinen Höhepunkt, zu dem alle Elemente, die ihn ausmachen, „hinstreben“. Mit anderen Worten, der Kanon der Schriften ist der angemessene Kontext für die Interpretation aller Traditionen, die ihm angehören: Durch die Einfügung in den Kanon erhält jede einzelne Tradition einen neuen Aussagekontext, der ihren Sinn bestimmt.

Diese „kanonische Logik“ gibt von den Beziehungen zwischen Neuem und Altem Testament Rechenschaft: Die neutestamentlichen Traditionen sprechen von „Notwendigkeit“ und „Erfüllung“, um die Weise auszudrücken, in der sich das Leben und Werk Christi auf die Traditionen des Alten Testaments beziehen (vgl. Mt 26,54; Lk 22,37; 24,44). Der Inhalt der Schrift, um wahrhaftig zu sein, muss sich mit Notwendigkeit erfüllen, und diese Erfüllung hat sich voll verwirklicht in Leben, Tod und Auferstehung Christi (Joh 13,18;19,24; Apg 1,16). Die Person Christi gibt sehr verschiedenen Traditionen ihren letzten Sinn; das sehen wir, etwa, in Lk 24,25-27.44-47, wo Jesus selber zeigt, wie seine persönliche Geschichte den Traditionender Torah, Propheten und Psalmen Sinn gibt. Die Person Christi entspricht den Erwartungen Israels und vollendet die Offenbarung Gottes. Christus „fasst zusammen“ die Hauptgestalten des ersten Bundes und verbindet sie: Er ist der Knecht Gottes, der Messias, der Mittler des neuen Bundes, der Retter.

Auf der anderen Seite drückt Christus auf eine letzte und unüberbietbare Weise die Wahrheit aus, die offenbart und schrittweise entfaltet wurde in den Schriften des ersten Bundes. Die Wahrheit Christi ist niedergelegt in den neutestamentlichen Schriften, die auf untrennbare Weise das Augenzeugnis der ersten Jünger und die Aufnahme, die dieses Zeugnis im Geist durch die ersten christlichen Gemeinden gefunden hat, miteinander verbinden.

Was sagt nun diese Wahrheit über Gott und das menschliche Heil, die das Zentrum der Offenbarung Gottes ausmacht und ihren letzten und endgültigen Ausdruck in Jesus Christus erreicht? Die Antwort finden wir im Handeln Jesu. Er offenbart den Gott, der Vater, Sohn und Heiliger Geist ist (Mt 28,19), den Gott, der vollkommene Gemeinschaft in sich selber ist und lebt. Jesus ruft seine Jünger zur Lebensgemeinschaft mit sich selbst in der Nachfolge (Mt 4,18-22) und beauftragt sie, die Menschen aller Völker zu seinen Jüngern zu machen (Mt 28,19). Er spricht seinen größten Wunsch aus und bittet: „Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen“ (Joh 17,24). Das ist also die Wahrheit, die in und durch Jesus geoffenbart wird: Gott ist in sich selber Gemeinschaft und Gott bietet den Menschen die Gemeinschaft mit sich selber an durch seinen Sohn (vgl. Dei Verbum, Nr. 2). Die Inspiration und ihr trinitarischer Charakter, den wir bei den Verfassern des Neuen Testaments erkannt haben, erscheint als der angemessene Weg für die Mitteilung dieser trinitarischen Wahrheit. Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift entsprechen sich.

So gibt der Kanon der Schriften Zugang zu der Dynamik, mit der Gott sich persönlich den Menschen durch Propheten, biblische Schriftsteller und zuletzt durch Jesus von Nazaret mitteilt, und zugleich zu dem Prozess, in dem die Gemeinschaften der Glaubenden diese Offenbarung im Geist aufnehmen und ihren Inhalt schriftlich aufzeichnen.

DRITTER TEIL: DIE AUSLEGUNG DES WORTES GOTTES UND IHRE HERAUSFORDERUNGEN

Einleitung

104. In der Einleitung zum zweiten Teil, der das Zeugnis der biblischen Schriften von der Wahrheit betrifft, haben wir ausgeführt, wie Dei Verbum die biblische Wahrheit versteht und haben besonders den Satz erklärt „die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (Nr. 11). Wir haben festgestellt, dass die Wahrheit, die die Bibel mitteilen will, Gott selbst und seinen Heilsplan für die Menschen betrifft.

Jetzt befassen wir uns wieder mit der Wahrheit der Heiligen Schrift, aber von einer anderen Seite her. In der Bibel finden wir Widersprüche, historische Ungenauigkeiten, unwahrscheinliche Erzählungen und, im Alten Testament, moralische Vorschriften und Verhaltensweisen, die der Lehre Jesu nicht entsprechen. Was ist die Wahrheit dieser Abschnitte der Bibel? Sicher handelt es sich hier um Herausforderungen für die Auslegung des Wortes Gottes.

Hinweise auf eine Antwort finden wir in der Konstitution Dei Verbum. Der Konzilstext sagt, dass die Offenbarung Gottes in der Heilsgeschichte durch Ereignisse und Worte geschieht, die sich gegenseitig ergänzen (Nr. 2). Er stellt auch fest, dass das Alte Testament „Unvollkommenes und Zeitbedingtes“ (Nr. 15) enthält und macht sich die Lehre des Johannes Chrysostomus von der „Herablassung der ewigen Weisheit“ (Nr. 13) zu eigen. Vor allem beruft er sich aufdie „literarischen Gattungen“ (Nr. 12) mit Bezug auf die Enzyklika Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII (EB 557-562).

Das letzte Element wollen wir vertiefen. Auch heute unterscheidet sich die Wahrheit eines Romans von der eines Physiklehrbuchs. Es gibt verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben; sie muss nicht immer eine genaue Chronik sein. Ein lyrisches Gedicht drückt nicht das aus, was sich in einem epischen Gedicht findet usw. Diese Feststellung gilt auch für die Literatur des Alten Orients und der hellenistischen Welt. In der Bibel finden wir verschiedene literarische Gattungen, die in diesem kulturellen Bereich verwendet wurden: Gedicht, Prophezeiung, Erzählung, Gleichnis, Hymnus, Glaubensbekenntnis usw. – jede hat ihre eigene Weise, die Wahrheit auszudrücken.

Die Erzählungen von Gen 1-11, die Traditionen über die Patriarchen und die Eroberung des Landes Israel, die Geschichten über die Könige bis hin zum Aufstand der Makkabäer enthalten sicher geschichtliche Wahrheiten, wollen aber nicht eine chronikartige Geschichte des Volkes Israel bieten. Die Hauptperson in der Heilsgeschichte ist nicht Israel und sind auch nicht andere Menschen, sondern ist Gott. Die biblischen Geschichten sind von Theologie bestimmte Erzählungen. Ihre Wahrheit, die im vorausgehenden Teil für einige Texte erhoben wurde, wird den erzählten Geschehnissen entnommen, vor allem aber der didaktischen, paränetischen und theologischen Absicht des Verfassers; dieser hat die alten Überlieferungen gesammelt und hat das Material aus den Archiven der Schriftgelehrten bearbeitet, um eine prophetische oder weisheitliche Einsicht weiterzugeben und eine für seine Generation entscheidende Botschaft mitzuteilen.

105. Auf der anderen Seite kann eine „Heilsgeschichte“ nicht ohne einen geschichtlichen Kern bestehen, wenn eswahr ist, dass Gott sich „in Wort und Tat, die innerlich miteinander verknüpft sind“ (Dei Verbum, Nr. 2), offenbart. Und wenn die Inspiration für das ganze Alte und Neue Testament „mit allen ihren Teilen“ (Nr. 11) gilt, können wir keinen Teil aus der Erzählung ausscheiden. Der Exeget muss sich bemühen, den Sinn eines jeden Satzes zu ermitteln im Kontext der ganzen Erzählung und mit den verschiedenen Methoden, die in dem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche, VAS 115, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993 angeführt sind.

Wenn auch eine diachrone Untersuchung der Texte notwendig ist, um die verschiedenen Neuinterpretationen eines Spruches oder einer Erzählung zu erfassen, findet sich der wahre Sinn eines Textes in seiner letzten Form, die in den Kanon der Kirche aufgenommen wurde. Die Neuinterpretation kann auch die Form der Allegorisierung älterer Texte haben. So können gewisse Erzählungen und Psalmen, die von der Vernichtung und vom Hass der Feinde sprechen und die vom Geist des Neuen Testaments weit entfernt sind, auch wenn man die Unvollkommenheit der Offenbarung im Alten Testament in Rechnung stellt, für die Generation, an die sie gerichtet wurden, einen paränetischen Sinn haben.

Es ist klar, dass diese Überlegungen nicht alle Schwierigkeiten lösen. Doch kann auch nicht geleugnet werden, dass Dei Verbum mit dem Ausdruck „die Wahrheit … um unseres Heiles willen“ (Nr. 11) die biblische Wahrheit auf die göttliche Offenbarung konzentriert, die Gott selber und das Heil der Menschen betrifft. Auch hat das Betonen der literarischen Gattungen der schwierigen Arbeit der Exegeten einen größeren Raum eröffnet. Die folgenden Beispiele wollen das zeigen.

Erste Herausforderung: Historische Probleme

106. Wir befassen uns nur mit einigen problematischen Texten aus dem Alten und dem Neuen Testament. Die Abschnitte sind von verschiedener Natur, aber für sie alle, wenn auch in Formen und aus Gründen, die verschieden sind, stellt sich die Frage: Was ist von dem, was erzählt wird, tatsächlich geschehen? In welchem Maß können und wollen dieses Texte wirklich geschehene Tatsachen bezeugen? Was wollen sie mitteilen? Die besondere Problematik eines jeden Textes wird in seinem Abschnitt gezeigt.

Der Abrahamszyklus (Genesis)

Der größte Teil der Exegeten nimmt an, dass die Endredaktion der Erzählungen von den Patriarchen, vom Auszug, von der Eroberung und der Richterzeit nach dem babylonischen Exil, in der Perserzeit stattfand. Im Abrahamszyklus sind die Erzählungen, die die Geschichte dieses Patriarchen vor allem durch das Berichten von Verheißungen mit den anderen Patriarchenüberlieferungen verbinden, jünger und gehen über den Horizont, der ursprünglich auf Clangeschichte beschränkt war, hinaus. Eine Erzählung wie die von Gen 15 – wesentlich für die Lehre des Paulus von der Rechtfertigung allein durch Glauben, ohne die Werke des mosaischen Gesetzes (vgl. Röm 4) – beschreibt, wie ihre Redaktionsgeschichte zeigt, die Ereignisse nicht genau auf die Weise, in der sie stattfanden. Aber wenn so die Sachlage ist, was kann man dann vom Glauben Abrahams und von der Beweisführung des Paulus sagen, die ihre für sie notwendige Schriftbasis zu verlieren scheint?

Als Erstes gilt, dass die Erzählungen von den Patriarchen, vom Auszug und der Eroberung nicht aus dem Nichts kommen. Jedes Volk hat das Bedürfnis, seinen Ursprung für sich und die anderen zu kennen und auszusagen, seine Herkunft nach Zeit und Ort. Wie die Völker in ihrer Umgebung haben die Israeliten des 5.-4. Jahrhunderts v. Chr. angefangen, ihre Vergangenheit aufzuschreiben. Diese Erzählungen nahmen alte Überlieferungen auf, nicht nur um zu sagen, dass sie wie die anderen Völker eine mehr oder weniger reiche Vergangenheit haben, sondern auch um diese mit Hilfe ihres Glaubens zu interpretieren und zu werten.

107. Was wusste man zu dieser Zeit über Abraham und die Vorfahren? Wohl dass sie Hirten waren, die aus Mesopotamien kamen und als Nomaden von Weide zu Weide zogen je nach den Jahreszeiten, Regenfällen und der Aufnahme in den durchzogenen Gebieten. Das Denken der nachexilischen Schriftsteller nährte sich von der Erinnerung an die Verbannung und von ihrer Bedeutung für den Glauben ihrer Gemeinschaft. Sie hatten begriffen, dass die Exilsgeneration etwas erlebt hatte, was der Erfahrung der Patriarchen ähnlich war: Sie hatte ja ihr Land verloren und ihre politischen und religiösen (Tempel) Einrichtungen und musste in ein fremdes Land gehen und dort in Sklaverei leben. Es war eine dramatische Situation, die sie dazu verpflichtete, aus dem Glauben und der Hoffnung zu leben. Da sie das verloren hatten, was die Identität eines Volkes ausmacht, nämlich ihr Land und ihre überkommenen Institutionen, hätten die Verbannten verschwinden müssen; sie überlebten aber als Volk dank ihres Glaubens. Diese radikale Erfahrung bestimmte ihr Gebet und ihre relecture der Vergangenheit.

Wenn der oder die biblische(n) Erzähler die göttlichen Verheißungen und die Glaubensantwort des Abraham (Gen 15) beschreiben, verweisen sie bestimmt nicht auf Tatsachen, die über die Jahrhunderte hinweg absolut sicher überliefert worden wären. Es war viel mehr ihre eigene Glaubenserfahrung, die sie so schreiben ließ, wie sie geschrieben haben, um die umfassende Bedeutung der vergangenen Ereignisse darzulegen und ihre Mitbürger einzuladen, an die Macht und Treue Gottes zu glauben, der es ihnen und ihren Vorfahren ermöglicht hat, oft dramatische geschichtliche Zeiten durchzustehen. Mehr als die konkreten Tatsachen zählt deren Interpretation, der Sinn, der im Heute der relecture sichtbar wird. Die Bedeutung einer historischen Periode, die mehrere Jahrhunderte gedauert hat,kann nur mit der Zeit in Form einer theologischen Erzählung oder eines hymnischen Gedichtes erfasst und niedergeschrieben werden. In ihrem lebendigen Glauben an Gott haben die biblischen Schriftsteller nachgedacht über die Tatsache, dass ihr Volk viele Jahrhunderte überlebt hat trotz der großen moralischen Gefährdungen und der schrecklichen Katastrophen, mit denen es konfrontiert war, und auch über die Rolle, die Gott und der Glaube an ihn für dieses Überleben hatten; daraus konnten sie schließen, dass es auch in den Anfängen ihrer Geschichte so gewesen war. Man darf also Gen 15 nicht wie eine Chronik lesen, sondern wie die Beschreibung des normativen, von Gott gewollten Verhaltens – eine Norm, die die biblischen Schriftsteller radikal gelebt haben und die sie so ihrer Generation und den zukünftigen Generationen weitergeben konnten.

Um die Wahrheit der alten biblischen Erzählungen richtig zu werten, muss man sie so lesen, wie sie geschrieben wurden und wie Paulus selber sie gelesen hat: „Das aber geschah an ihnen [den Israeliten], damit es uns als Beispiel dient; uns zur Warnung wurde es aufgeschrieben, uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat“ (1 Kor 10,11).

Der Durchzug durch das Meer (Exodus 14)

108. Die Erzählung vom Durchzug der Israeliten durch das Meer ist ein wesentlicher Teil der Lesungen, die für die christliche Feier der Osternacht vorgeschrieben sind. Die Erzählung beruht auf einer alten Tradition, die an die Befreiung des Volkes aus der Sklaverei erinnert. Die mündliche Tradition wurde niedergeschrieben und war Gegenstand von vielfachen neuen Lesungen; schließlich wurde sie in die Erzählung des Exodus und in die Torah eingefügt. In diesem Rahmen wird die Befreiung Israels wie eine neue Schöpfung dargestellt. Wie Gott die Welt geschaffen hat und das Meer vom trockenen Land trennte, so hat er das Volk Israel „geschaffen“, indem er einen Weg bahnte durch das Meer zum trockenen Land. Die Erzählung verbindet also eng eine alte Tradition mit einer theologischen Interpretation, die sich auf die Theologie der Schöpfung stützt.

Die Wahrheit der Erzählung liegt dann nicht nur in der Tradition, an die sie erinnert – eine Befreiungserzählung, die für Israel, das sich im babylonischen Exil nach Freiheit sehnt, ganz aktuell ist – sondern auch in ihrer theologischen Interpretation. Der biblische Text verbindet also untrennbar eine alte Erzählung, die von Generation zu Generation überliefert wurde, und die Aktualisierung, die nach und nach vorgelegt wurde. Die Aktualisierung spiegelt die Lage der Verfasser von Ex 14, als der Text komponiert wurde. Neben der Schöpfungstheologie entwickelt die Erzählung eine Theologie der Rettung und stellt den Gott Israels dar als den Retter, der sein Volk aus der Unterdrückung befreit, und Mose als den Propheten, der das Volk einlädt, Vertrauen in die heilschaffende Macht seines Gottes zu haben: „Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der Herr euch heute rettet“ (Ex 14,13). Wie der Herr in den alten Zeiten sein Volk zu beschützen wusste, so ist er in jeder Situation fähig, es zu hüten und ihm Rettung zu schaffen. Die Exoduserzählung hat nicht zuerst die Absicht, einen Bericht von Ereignissen der Vergangenheit zu geben nach Art eines geschichtlichen Dokumentes, sondern will an eine Tradition erinnern, die bezeugt, dass Gott heute so wie gestern an der Seite seines Volkes gegenwärtig ist, um es zu retten.

Diese Erfahrung und Hoffnung von Rettung, wie sie in Ex 14 ausgedrückt ist, gehört auch zu einer liturgischen Tradition mit der Erzählung vom Pascha (Ex 12,1-13,16), die ihr vorausgeht. Die christliche Liturgie der Osternacht zeigt, wie die Erzählung von Ex 14 ihre „Erfüllung“ in Jesus Christus findet, in dessen Auferstehung Gott, der Schöpfer und Retter, sich seinem Volk auf endgültige und unüberbietbare Weise geoffenbart hat.

Die Bücher Tobit und Jona

109. Das Buch Tobit gehört nicht zur hebräischen, aber zur griechischen Bibel; das Dekret des Konzils von Trient über den Kanon schließt es unter den geschichtlichen Büchern des Alten Testaments ein (D-S 1502). Dagegen findet sich das Buch Jona unter den Zwölf Propheten (auch Kleine Propheten genannt) der hebräischen Bibel. Beide Bücher erzählen eine Reihe von Ereignissen, bei denen man fragen kann, ob sie sich wirklich ereignet haben.

Das Buch Tobit

Der Tod von sieben Ehemännern derselben Frau vor dem Vollzug der Ehe (3,8-17) ist ein so unwahrscheinlicher Vorgang, dass er allein schon darauf hinweist, dass die Erzählung eine literarische Fiktion ist. Das erklärt auch die zahlreichen Anachronismen: Tobit stellt sich vor als einer der Israeliten, die nach Ninive deportiert wurden, und zugleich als Beobachter des deuteronomistischen Gesetzes (1,1-22); er „prophezeit“ auch die Zerstörung von Ninive, die Verwüstung von Judäa und Samaria, den Brand und Wiederaufbau des Tempels (14,4-5).

Es handelt sich um eine religiöse volkstümliche Erzählung mit lehrhafter und erbaulicher Absicht, die daher zum Bereich der weisheitlichen Tradition gehört. Der literarische Aufbau folgt dem bekannten Schema – verdoppelt durch die Parallele zwischen Tobit und Sara – vom Verhalten des Gerechten, der von der Not getroffen wird, zum Herrn betet und vom Herrn gerettet wird.

Das Eingreifen des bösen Dämons Aschmodai kommt aus der biblischen Tradition, die Satan und seine Engel in unserer Welt handeln und großes Unheil verursachen sieht. Das führt uns dazu, das Werk unter der literarischen Gattung der Erzählungen einzureihen, die menschliche und übermenschliche Hauptpersonen haben. Im Unterschied zu vielen anderen Erzählungen dieser Art wird im Buch Tobit das Eingreifen des Dämons ganz nüchtern berichtet. Der Dämon Aschmodai ist eine fiktive Person; nicht fiktiv ist aber die Fähigkeit des Teufels, den Menschen zu schaden, besonders wenn sie sich mühen, in Treue zu Gott zu leben.

Dementsprechend ist der Engel Raphael eine fiktive Person, nicht fiktiv ist aber, in Übereinstimmung mit wiederholten und nachdrücklichen biblischen Überlieferungen und ihrer Annahme durch die Kirche, die Fähigkeit von Wesen wie er, denen zu Hilfe zu kommen, die den Namen des Herrn anrufen.

Das Buch Tobit ist ein Manifest, das die tradionellen Übungen der jüdischen Frömmigkeit loben will: das Gebet, das Fasten und das Almosengeben (12,8-9); die Werke der Barmherzigkeit, besonders das Begraben von Toten (12,13) und das Lob- und Dankgebet, das Gottes herrliche Werke verkündet (12,6.22). Eine besondere Seite des Buches ist die Nachdrücklichkeit, mit der es auf dem Gebet besteht um Heiligung des ehelichen Lebens und um Hilfe in seinen Gefahren (8,4-9).

Das Buch Jona

110. Dass das Buch Jona unter den Schriften der Zwölf Propheten überliefert wurde, ist ein Hinweis darauf, dass die Hauptperson des Buches schon sehr früh für einen wirklichen Propheten (vgl. 2 Kön 14,25) gehalten wurde. Die Erzählung setzt voraus, dass er geschichtlich in die assyrische Herrschaft einzuordnen ist, bevor die Babylonier und Meder Ninive im Jahr 612 v. Chr. zerstört haben. Eine solche Wertung scheint dadurch bestätigt zu werden, dass Jesus selbst das auffallendste Ereignis dieser Erzählung nennt, die drei Tage unddrei Nächte des Propheten im Bauche des Fisches, als ein Zeichen, das seine Auferstehung im Voraus darstellt (Mt 12,39-41; Lk 11,29-30; Mt 16,4).

In der Erzählung finden sich jedoch nicht nur Einzelheiten, sondern auch strukturierende Elemente, die wir nicht für historische Ereignisse halten können, und die uns dazu führen, den Text als literarische Erfindung mit tiefen theologischen Inhalten zu verstehen.

Einige unwahrscheinliche Einzelheiten, wie z. B. dass Ninive eine sehr große Stadt war, für deren Durchquerung man drei Tage brauchte (3,3), können als Übertreibungen betrachtet werden. Bei den strukturierenden Elementen ist unwahrscheinlich der Fisch, der Jona verschlingt, ihn drei Tage und drei Nächte lebendig in seinem Bauch hat und ihn dann ausspeit (2,1.11), und auch die behauptete einmütige Bekehrung von Ninive (3,5-10), von der es, im übrigen, in den assyrischen Dokumenten keine Spur gibt.

Von den theologischen Themen der Erzählung wollen wir zwei unterstreichen: 1) Der Inhalt einer prophetischen Botschaft ist kein unwiderrufliches Dekret (3,4), sondern eine Ankündigung, die entsprechend der Antwort ihrer Adressaten modifiziert wird (4,2-11). 2) Das Judentum nach dem Exil war von einer Spannung gekennzeichnet zwischen einerseits versöhnlichen und universellen und andererseits abgeschlossenen und ausschließenden Tendenzen. Das wird klar sichtbar in dem Gegensatz zwischen den Büchern Rut, Jona, Tobit auf der einen und den Büchern Haggai, Sacharja, Esra, Nehemia und den Chroniken auf der anderen Seite. Esra und Nehemia machten es möglich, die jüdische Identität aufrechtzuerhalten, indem sie sich gegen jede Art von Vermischung mit dem Heidentum stellten, vor allem gegen die Mischehen (Esra 9-10; Neh 10,29-31). Es verlor sich aber nicht vollständig ein eher offener und universalistischer Geist, der sich auf alte Traditionen der Patriarchen und Propheten berufen konnte. Das Buch Rut reagiert gegen das Verbot der Mischehen, indem es eine Fremde, die Moabiterin Rut (1,4-19) als Ahnfrau Davids (4,17) darstellt. Jona geht weiter in seinem Universalismus, indem er die bösen und verhassten Assyrer, die das Reich Israel zerstörten und seine Bewohner deportierten und die auf ihre grausamen Kriegsbräuche stolz waren, zu den Adressaten einer prophetischen Botschaft macht, die sie zur Bekehrung befähigt.

Die Kindheitsevangelien

111. Nur Matthäus (1-2) und Lukas (1,5-2,52) haben ihrem Werk ein sogenanntes „Kindheitsevangelium“ vorangestellt, in dem sie den Ursprung und die Anfänge des Lebens Jesu darstellen. Ihre Erzählungen zeigen große Unterschiede und enthalten außergewöhnliche Geschehnisse wie etwa die jungfräuliche Empfängnis Jesu. Das führt zur Frage nach ihrer Geschichtlichkeit. Wir werden darlegen, wo diese Erzählungen verschieden sind und wo sie übereinstimmen, und wir werden versuchen, ihre Botschaft zu bestimmen.

a. Die Unterschiede

Matthäus stellt an den Anfang einen Stammbaum (1,1-17), der von dem, den Lukas nach der Taufe Jesus bringt (3,23-38), sehr verschieden ist. Josef wird mitgeteilt, dass Jesus durch das Wirken des Heiligen Geistes empfangen wurde (1,18-25). Jesus wird in Betlehem in Judäa geboren (2,1), das die Heimat von Maria und Josef zu sein scheint. Er wird von den Sterndeutern besucht und angebetet, die von einem Stern geführt werden und sich der Todesgefahr, die von König Herodes droht, nicht bewusst sind (2,1-11). Nach einer Unterweisung im Traum kehren sie auf einem anderen Weg nach Hause zurück (2,12). Josef wird von einem Engel des Herrn im Traum unterrichtet und flieht mit dem Kind und seiner Mutter nach Ägypten (2,13-15) vor dem Kindermord in Betlehem (2,16-18). Nach dem Tod des Herodes kehren Josef und Maria mit dem Kind aus Ägypten zurück und lassen sich in Nazaret nieder, wo Jesus aufwächst (2,19-23).

Lukas unterscheidet sich davon durch das Erwähnen von Johannes dem Täufer und durch die parallelen Erzählungen über Johannes und Jesus; sie betreffen die Ankündigung ihrer Geburt (1,5-25.26-38) und ihre Geburt samt Beschneidung und Namensgabe (1,57-79; 2,1-21). Maria und Josef wohnen in Nazaret (1,26) und wegen der Steuerfeststellung des Quirinius begeben sie sich nach Betlehem (2,1-5). Dort wird Jesus geboren (2,6-7) und von Hirten besucht, denen der Engel des Herrn seine Geburt verkündet hat (2,8-20). Nach den Vorschriften des Gesetzes wird das Kind dem Herrn im Tempel von Jerusalem dargestellt und von Simeon und Anna aufgenommen (2,22-40). Mit zwölf Jahren kommt Jesus wieder zum Tempel (2,41-52).

Keine Erzählung des Matthäus findet sich bei Lukas und umgekehrt. Es gibt auch beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden Evangelien. Nach Matthäus wohnen Maria und Josef vor der Geburt Jesu in Betlehem und nur nach der Flucht nach Ägypten und einer besonderen göttlichen Aufforderung ziehen sie nach Nazaret. Nach Lukas wohnen sie in Nazaret; die Steuerfeststellung führt sie nach Betlehem, und von dort kehren sie, ohne Flucht nach Ägypten, nach Nazaret zurück. Es ist schwierig, diese Unterschiede zu erklären. Auf der anderen Seite verweisen sie auf die gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Evangelisten; das macht ihre Übereinstimmungen umso bedeutsamer.

b. Die Übereinstimmungen

112. Matthäus und Lukas berichten beide die folgenden Einzelheiten. Maria, die Mutter Jesu, ist mit Josef verlobt (Mt 1,18; Lk 1,27), der aus dem Hause Davids stammt (Mt 1,20; Lk 1,27). Die beiden leben vor der Empfängnis Jesu, die durch den Heiligen Geist verursacht wird (Mt 1,18.20; Lk 1,35), nicht zusammen. Josef ist nicht der leibliche Vater Jesu (Mt 1,16.18.25; Lk 1,34). Der Name Jesu (Mt 1,21; Lk 1,31) und die Bedeutung Jesu für das Heil (Mt 1,21; Lk 2,11) werden von einem Engel mitgeteilt. Jesus wird zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem geboren (Mt 2,1; Lk 2,4-7; 1,5) und wächst in Nazaret auf (Mt 2,22-23; Lk 2,39.51). Diese Grunddaten, die die Personen, die Orte und die Zeit betreffen, sind den beiden Evangelisten gemeinsam. Besonders wichtig ist es, dass sie in der jungfräulichen Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist übereinstimmen; sie schließt aus, dass Josef der leibliche Vater Jesu ist.

c. Die Botschaft

113. Die Kindheitsevangelien von Matthäus und Lukas sind Einleitung zu ihrem ganzen Werk und zeigen, wie das, was im Leben und Wirken Jesu geschieht, bereits in seinen Anfängen grundgelegt ist. Durch die verschiedenen Erzählungen und Titel, die Jesus zugewiesen werden, zeigen sie die Beziehung Jesu zu Gott, seine Aufgabe als Retter, seine universale Rolle, seine Bestimmung zum Leiden und seine Verwurzelung in der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel.

Matthäus stellt Jesus als den Sohn Gottes vor (2,15), in dem Gott gegenwärtig ist und dem der Name “Immanuel“, “Gott mit uns“ zukommt (1,23). Gott bestimmt den Namen “Jesus“, der das Programm seiner Heilsaufgabe ausdrückt: “er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (1,21). Jesus ist der Christus aus dem Hause Davids (1,1.16-17; 2,4), “der Hirt meines Volkes Israel“ (2,6; vgl. Mi 5,1), der letzte und endgültige König, den Gott seinem Volk schenken wird. Das Kommen der Sterndeuter zeigt, dass die Sendung Jesu über Israel hinausgeht und alle Völker betrifft (2,1-12).Die Todesgefahr, die vom König, unter dem Jesus geboren wird, ausgeht (2,1-18) und unter seinem Nachfolger andauert (2,22), lässt das Leiden und den Tod Jesu vorausahnen. Die Verwurzelung Jesu im Volk Israel ist in der ganzen Erzählung gegenwärtig und zeigt sich aufs deutlichste im Stammbaum (1,1-17) und in den vier Erfüllungszitaten (1,22-23; 2,15.17-18.23; vgl. 2,6).

Bei Lukas finden wir ähnliche Aussagen, wenn auch die Ausdrucksweise und die Akzente verschieden sind. Jesus wird “Sohn Gottes“ genannt (1,35; vgl. 1,32), und als erstes und zugleich einziges Wort in der Kindheitsgeschichte sagt er im Tempel: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (2,49).Der Engel des Herrn verkündet den Hirten: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr“ (2,11). Mit dem “Messias des Herrn“ (2,26) ist “das Heil“ (2,30) gekommen, “die Erlösung Jerusalems“ (2,38). Das Betonen der Verbindung Jesu mit David (1,26.69; 2,4.11) erreicht seinen Höhepunkt in der Ankündigung des Engels: „Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben“ (1,32-33). Die universale Bedeutung seines Kommens spricht Simeon aus: Das Heil, das mit Jesus kommt, ist “vor allen Völkern“ (2,31) und Jesus ist “Licht, das die Heiden erleuchtet“ (2,32). Simeon weist auch auf die Schwierigkeiten der Sendung Jesu hin und nennt ihn “ein Zeichen, dem widersprochen wird“ (2,34). Alles, was erzählt wird, vollzieht sich im Rahmen des religiösen Lebens Israels: Am Beginn steht ein Opfer im Tempel (1,5-22) und am Ende eine Wallfahrt zum Tempel (2,41-50); das Gesetz des Herrn wird treu beobachtet (2,21-28).

114. Beide Evangelisten berichten die jungfräuliche Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist und schreiben den Beginn seines Lebens ausschließlich dem Wirken Gottes zu, ohne das Handeln eines menschlichen Vaters. In Mt 1,20-23 wird die Mitteilung seiner Empfängnis durch den Heiligen Geist mit seiner Heilsaufgabe verbunden: Derjenige, der sein Volk von seinen Sünden erlösen wird, es mit Gott versöhnt und der “Gott mit uns“ ist, hat einen göttlichen Ursprung. Der Retter und die Rettung kommen allein von Gott, sind das Geschenk seiner Gnade. In Lk 1,35 wird als Folge der jungfräulichen Empfängnis angegeben: „Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ In der jungfräulichen Empfängnis manifestiert sich seine Beziehung zu Gott. Insofern er “heilig“ ist, gehört er ganz und gar zu Gott, auch seiner menschlichen Existenz nach ist Gott allein sein Vater. Sowohl für seine Beziehung zu Gott, wie auch für seine Aufgabe als Retter der Menschen hat die jungfräuliche Empfängnis Jesu ihren tiefen Sinn.

Mit Blick auf die Unterschiede und Übereinstimmungen in den beiden Kindheitsgeschichten kann man sagen, dass die heilbringende Offenbarung in allem besteht, was die Person Jesu, seine Beziehung zu Gott und seine Beziehung zur Geschichte Israels und der Welt betrifft; es ist Einleitung und Verdeutlichung seines Heilswerkes, das dann in den Evangelien berichtet wird. Die Unterschiede, die zum Teil erklärt werden können, betreffen Dinge, die im Vergleich mit der beiden Evangelien gemeinsamen zentralen Gestalt Jesu, dem Sohn Gottes und Retter der Menschen, zweitrangig sind.

Die Wundererzählungen

115. Im Alten und Neuen Testament werden außergewöhnliche Ereignisse erzählt, die nicht dem entsprechen, was normaler Weise geschieht; sie gehen über die menschlichen Fähigkeiten hinaus und werden einem besonderen Eingreifen Gottes zugeschrieben. Schon lange wird der historische Charakter dieser Erzählungen in Frage gestellt, sei es von der Naturwissenschaft, sei es von bestimmten philosophischen Auffassungen her. Nach der modernen Wissenschaft geschieht alles, was sich in dieser Welt ereignet, nach unveränderlichen Regeln, den sogenannten “Naturgesetzen“. Alles folgt diesen Gesetzen, und es ist kein Raum für außergewöhnliche Ereignisse. Verbreitet ist auch die philosophische Auffassung, dass Gott zwar die Welt geschaffen hat, dass er aber in das, was in ihr geschieht und sich nach diesen Regeln vollzieht, nicht eingreift. Demnach kann es außergewöhnliche Ereignisse, die von Gott verursacht werden, nicht geben; den Erzählungen, die solche Geschehnisse berichten, kann also keine historische Wahrheit zukommen.

Wir wollen die Wundererzählungen im Alten und Neuen Testament in den Blick nehmen und ihre Bedeutung innerhalb ihres literarischen Kontextes untersuchen. Die Erzählungen im Neuen Testament führen die Traditionen des Volkes Israel weiter und zeigen, dass die rettende Macht Gottes, desSchöpfers, in Jesus Christus ihre ganze Fülle erreicht.

a. Wundererzählungen im Alten Testament

116. Die Bücher des Alten Testaments sind durchdrungen vom Glauben an den Gott, der alles geschaffen hat, ständig in der Welt wirkt und jedes Wesen in seiner Existenz und seinem Leben erhält. Der Glaube des Volkes Israel sieht die Schöpfung mit allen ihren Wundern als Wirkung des Handelns Gottes; ob es um gewöhnliche oder außerordentliche Dinge geht, alles ist ein einziges, großes Wunder. Alles ist eine Glaubensbotschaft, die gut zusammengefasst wird in den Worten: „Er allein tut große Wunder, denn seine Huld währt ewig“ (Ps 136,4).

Dieser Glaube wird in Hymnen wie Ps 104 und Sir 43 (vgl. Gen 1) ausgedrückt, die von Dankbarkeit, Freude und Lobpreis gekennzeichnet sind. Auf den Ps 104, der Gott, dem Schöpfer, geweiht ist, folgt der Ps 105, der die Macht und Treue Gottes in der Geschichte des Volkes Israel feiert. Gott, der alles geschaffen hat und in seiner Schöpfung wirkt, handelt auch in der Geschichte (vgl. Ps 106.135.136). Sein Handeln offenbart sich als besonders wunderbar und außergewöhnlich bei der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei und bei der Führung in das gelobte Land. Mose, von Gott beauftragt und befähigt, vollbringt die Wundertaten, von denen das Buch Exodus und viele andere Texte (darunter auch Ps 105,26-45) sprechen. Klar zu sehen ist der große Einfluss, den der Vorgang der Befreiung Israels auf seine Traditionen bis hin zu der relecture in Weish 15,14-19,17 gehabt hat. Es scheint aber nicht möglich zu sein, mit Sicherheit zu bestimmen, welche Geschehnisse sich tatsächlich ereignet haben. In diesen Traditionen wird daran erinnert, wird ausgedrückt und anerkannt, dass Gott in der Geschichte handelt und dass er mit Macht und Treue sein Volk geführt und gerettet hat.

b. Die Wunder Jesu

117. Alle vier Evangelien berichten eine Reihe von außerordentlichen Taten, die Jesus vollbracht hat. Die häufigsten sind Krankenheilungen und Exorzismen. Es werden auch drei Totenerweckungen (Mt 9,18-26; Lk 7,11-17; Joh 11,1-44) und einige “Naturwunder“ berichtet: das Stillen des Sturmes (Mt 8,23-27), das Gehen Jesu auf dem Wasser (Mt 14,22-33), die Vermehrung von Broten und Fischen (Mt 14,13-21) und die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2,1-11). Wie das Lehren in Gleichnissen gehört auch das Vollbringen außerordentlicher Taten zum Wirken Jesu und wird auf vielfältige Weise bezeugt. Diese Erzählungen sind der ursprünglichen Überlieferung vom Wirken Jesu nicht später beigefügt.

Bedeutsam sind die Ausdrücke, mit denen die Evangelien diese Taten bezeichnen. Obwohl sie vom Staunen des Volkes angesichts des Wirkens Jesu berichten (vgl. Mt 9,33; Lk 9,43; 19,17; Joh 7,21) verwenden sie keinen Ausdruck, der unserem “Wunder“ (“Tat, die Verwunderung hervorruft“) entspricht. Die Synoptiker sprechen von “Machttaten“ (dynameis) und Johannes von “Zeichen“ (semeia). Dieser terminologische Unterschied ist sehr bedeutsam. Bei allen außergewöhnlichen Taten Jesu wird unmittelbar eine Notsituation (Krankheit, Gefahr usw.) überwunden. Jesus betont aber, dass dieses außerordentliche Geschehen nicht alles ist. Mt 11,20 berichtet: „Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Machttaten gewirkt hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bekehrt haben“ (vgl. Lk 10,13). Es genügt nicht, den Wundertäter zu bewundern und ihm zu danken; notwendig ist die Bekehrung zu seiner Botschaft.

In den synoptischen Evangelien steht das Reich Gottes im Zentrum der Verkündigung Jesu (vgl. Mt 4,17; Mk 1,15; Lk 4,43). Die Machttaten sollen vor Augen stellen und bestätigen, dass die heilschaffende Macht dieses Reiches sich wirklich genähert hat und gegenwärtig ist. Jesus sagt über sein Wirken: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Mt 12,28; vgl. Lk 11,20). Diese Taten sollen durch ihre Verschiedenheit nicht nur die verschiedenen Seiten der rettenden Macht des Reiches Gottes zeigen, sie sollen auch die Identität Jesu offenbaren. Nach der Stillung des Seesturms fragen die Jünger: „Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?“ (Mk 4,41). Die Frage von Johannes dem Täufer: „Bist du der, der kommen soll?“ wird angestoßen „von den Taten Christi“ (Mt 11,2-3). Jesus antwortet auf die Frage, indem er seine Machttaten aufzählt (Mt 11,4-5).

Bei Johannes heißen die außerordentlichen Taten Jesu “Zeichen“: sie sollen also auf eine andere Wirklichkeit verweisen. Über die erste von diesen Taten, die Verwandlung von Wasser in Wein, sagt der Evangelist: „So machte Jesus den Anfang seiner Zeichen, in Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn“ (2,11). Die Herrlichkeit Jesu offenbaren, die in seiner Beziehung zu Gott besteht und „die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ ist (1,14), und die Jünger zum Glauben an Jesus führen, das ist Sinn und Zweck der Zeichen. Oft ist mit ihnen eine Unterweisung Jesu, die eine besondere Seite seiner Bedeutung für das Heil ausdrückt, verbunden. In der Brotvermehrung (6,1-58) offenbart sich Jesus als “das Brot des Lebens“ (6,35.48.51), in der Blindenheilung (9,1-41) als “das Licht der Welt“ (9,5; vgl. 8,12; 12,46) und in der Auferweckung des Lazarus (11,1-44) als “die Auferstehung und das Leben“ (11,25). Im ersten Schluss seines Evangeliums hebt Johannes die Bedeutung der Zeichen Jesu hervor und wendet sich direkt an seine Leser: „Diese (Zeichen) sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (20,31). Die Jünger Jesu sind Augenzeugen (20,30), und alle anderen hängen von ihrem Zeugnis ab. Die bezeugten und aufgeschriebenen Zeichen haben den Zweck, zum Glauben an Jesus zu führen, der nicht vage ist, sondern klar bestimmt als Glaube an ihn als den Christus, den Sohn Gottes, und so zum Leben zu führen, das er schenkt.

Häufig verwendet Johannes auch den Ausdruck “Werke“ (erga), um die außergewöhnlichen Taten Jesu zu bezeichnen. Nach der Heilung eines Kranken am Sabbat (5,1-18) erklärt Jesus (5,19-47), wie sein Handeln von dem Gottes, des Vaters, abhängt: „Die Werke, die mein Vater mir übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Vater gesandt hat“ (5,36; vgl. 10,25.37-38; 12,37-43). Der Ausdruck “Werke“ betont eine andere Eigenschaft der Taten Jesu. Sie sind “Zeichen“ für die Menschen, sie sind aber “Werke“, die dem Wirken Gottes, des Vaters, entsprechen; deshalb sind sie ein Zeugnis dafür, dass Gott, der Vater, Jesus gesandt hat.

118. Es sei schließlich das Ziel und der Höhepunkt aller Zeichen und aller Werke Jesu genannt: seine Auferstehung. Sie ist nicht mehr ein sichtbares Zeichen und sie ist das Werk Gottes, denn „Gott hat ihn von den Toten auferweckt“ (Röm 10,9; vgl. Gal 1,1 usw.). Niemand hat die Auferstehung Jesu gesehen, aber sie wird den Jüngern, die ihre Zeugen sind (vgl. Apg 10,41), durch die Erscheinungen des auferstandenen Herrn bekannt. Der Zweck der Zeichen und Werke Jesu war es, seine Beziehung zu Gott und seine Heilsaufgabe für die Menschen zu offenbaren, die Aufgabe nämlich, ihnen in ihrem Elend zu helfen und das Leben zu schenken. Das alles wird durch seine Auferstehung zur Vollendung gebracht. Sie offenbart und bestätigt die innigste Verbindung Jesu mit Gott, sie bedeutet die Überwindung aller Krankheiten und des Todes und sie verwirklicht den Übergang zum vollkommenen Leben in der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Paulus verkündet die Auferstehung Jesu in der Überzeugung, „dass der, welcher Jesus, den Herrn, auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und uns zusammen mit euch (vor sein Angesicht) stellen wird“ (2 Kor 4,14).

Die Ostererzählungen

119. Was die historische Wahrheit der Ostererzählungen angeht, entstehen Schwierigkeiten aus den vielen Unterschieden, die sich auf der Ebene der Fakten kaum vereinbaren lassen.

Die Auferstehung selber wird in keinem Text des Neuen Testaments beschrieben; sie ist den menschlichen Augen entzogen und gehört ausschließlich zum Geheimnis Gottes. Wir haben aber zwei Arten von Ostererzählungen, die das, was nach der Auferstehung geschehen ist, berichten: Sie betreffen den Besuch der Frauen am Grab Jesu und die verschiedenen Erscheinungen des auferstandenen Herrn, der sich den von ihm gewählten Zeugen als der Lebendige gezeigt hat (vgl. auch 1 Kor 15,3-8). Der Besuch am Grab ist das einzige Ostergeschehen, das auf ähnliche Weise in allen vier Evangelien berichtet wird, wenn auch mit vielen Unterschieden, was die Einzelheiten angeht.

Wir wollen vor allem drei Unterschiede in den Blick nehmen, die sich, neben anderen, in den vier Erzählungen finden: a. Nur Mt 28,2 erwähnt ein Erdbeben, bevor er von der Ankunft der Frauen am Grab Jesu spricht. b. Nur Mk 16,8 nennt die Flucht, den Schrecken und das Schweigen der Frauen nach der Begegnung mit dem himmlischen Boten. c. Nach den Synoptikern (Mt 28,5-7; Mk 16,6-7; Lk 24,5-7) wird die Botschaft von der Auferstehung Jesu den Frauen von einem oder zwei Boten Gottes mitgeteilt; nach Joh 20,14-17 erfährt Maria von Magdala direkt von Jesus selber, dass er lebt, auch wenn sie zuvor zwei Engel im Grab gesehen hat (Joh 20,12-13).

a. Das Erdbeben

120. Wenn nur Mt 28,2 ein Erdbeben berichtet, so bedeutet das nicht, dass die anderen Evangelien, die es nicht erwähnen, dieses leugnen. Ein solcher Schluss wäre nicht gültig, da er sich allein auf einen Beweis e silentio stützt. Auf der anderen Seite scheint ein “Erdbeben“ zum theologischen Stil von Matthäus zu gehören. Nur er erwähnt ein Erdbeben zusammen mit anderen außergewöhnlichen Ereignissen nach dem Tod Jesu (27,51-53) und nennt es als Grund dafür, dass der Hauptmann und seine Soldaten erschrecken und die Gottessohnschaft des gekreuzigten Jesus bekennen. Hier ist zu berücksichtigen, dass bei den Theophanien des Alten Testaments das Erdbeben eine von den Erscheinungen ist, in denen sich die Gegenwart und das Wirken Gottes kundtun (vgl. Ex 19,18; Ri 5,4-5; 1 Kön 19,11; Ps 18,8; 68,8-9; 97,4; Jes 63,19). In der Apokalypse zeigt das Erdbeben symbolisch eine Erschütterung an, die die “Herrschaft des Irdischen“ zum Einsturz bringt; diese steht für eine Welt, die ohne Gott und gegen ihn errichtet ist und an einem bestimmten Punkt zusammenbricht (vgl. Offb 6,12; 11,13; 16,18).

Es ist also wahrscheinlich, dass Matthäus dieses “literarische Motiv“ benützt. Indem er das Erdbeben erwähnt, will er unterstreichen, dass der Tod und die Auferstehung Jesu keine gewöhnlichen Ereignisse sind, sondern “umstürzende“ Vorgänge, durch die Gott handelt und das Heil der Menschen verwirklicht. Der besondere Sinn des Handelns Gottes muss dem Kontext des Evangeliums entnommen werden: Der Tod Jesu vollendet die Vergebung der Sünden und die Versöhnung mit Gott (vgl. Mt 20,28; 26,28), und in seiner Auferstehung besiegt Jesus den Tod, tritt in das Leben mit Gott, dem Vater, ein und erhält Macht über alles (vgl. Mt 28,18-20). Der Evangelist spricht also nicht von einem Erdbeben, dessen Stärke nach einer bestimmten Skala gemessen werden kann, sondern will die Aufmerksamkeit seiner Leser auf Gott richten und das hervorheben, was am Tod und der Auferstehung Jesu das Wichtigste ist, ihre Beziehung zur heilschaffenden Macht Gottes.

b. Das Verhalten der Frauen

121. Ähnlich verhält es sich mit Mk 16,8, wo die Frauen mit Entsetzen und Flucht auf die Botschaft von der Auferstehung reagieren: „Da verließen sie das Grab und flohen, denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ Die anderen Evangelisten berichten nichts von diesem Verhalten. Wie das Erdbeben eines der Phänomene ist, die die Manifestation der Macht Gottes begleiten, so ist es üblich, dass die Menschen mit Furcht auf sie reagieren. Das Markusevangelium hat die Eigenart, über die Reaktion der Anwesenden, die Natur der Ereignisse, an denen sie teilgenommen haben, auszudrücken (vgl. 1,22.27; 4,41; 5,42 usw.). Die stärkste und markanteste dieser Reaktionen ist jene, die Markus von den Frauen berichtet, nachdem sie die Osterbotschaft des göttlichen Boten gehört haben. Durch ihre Reaktion unterstreicht der Evangelist, dass die Auferstehung des gekreuzigten Jesus die größte Offenbarung der heilschaffenden Macht Gottes ist. Er teilt nicht nur das Ereignis als solches mit, sondern zeigt auch seine Bedeutung für die Menschen und die Wirkung, die es auf sie hat.

c. Die Quelle der Osterbotschaft

122. Die Quelle der Osterbotschaft wird von den Evangelien verschieden angegeben. Nach den Synoptikern (Mt 28,5-7; Mk 16,6-7; Lk 24,5-7) erhalten die Frauen, die zum Grab Jesu gehen und es leer finden, von einem oder zwei himmlischen Gesandten die Botschaft von der Auferstehung Jesu. Nach Joh 20,1-2 findet Maria von Magdala das Grab leer vor, geht zu den Jüngern und sagt ihnen: „Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat.“ Noch zweimal wiederholt sie diese Erklärung des leeren Grabes (20,13.15) und erst, nachdem ihr der auferstandene Herr selber erschienen ist (20,14-17), bringt sie den Jüngern die Botschaft von seiner Auferstehung (20,18). Man kann fragen, ob Matthäus, Markus und Lukas bei der Entdeckung des leeren Grabes die richtige Erklärung dieses Phänomens vorwegnehmen; im Gegensatz zu ihr steht jene, die Maria von Magdala gibt und die aus menschlicher Sicht die einzige mögliche ist (20,2.13.15; vgl. Mt 28,13). Indem die Synoptiker diese richtige Erklärung in den Mund eines himmlischen Boten legen, wird sie als übermenschliche Erkenntnis gewertet, die nur von Gott kommen kann. Die eigentliche Quelle dieser Erklärung ist aber der Auferstandene selber, der sich den von ihm bestimmten Zeugen zeigt. Zweifellos sind die Erscheinungen Jesu das sicherste Fundament für den Glauben an seine Auferstehung (vgl. auch 1 Kor 15,3-8).

Die Unterschiede in den vier Erzählungen vom Besuch der Frauen am Grab Jesu lassen sich auf der historischen Ebene kaum ausgleichen; sie sind aber ein Ansporn, sie in angemessener Weise zu verstehen. Die Untersuchung der drei wichtigsten Unterschiede – Erdbeben, Flucht der Frauen, Herkunft der Osterbotschaft – hat einen gemeinsamen Sinn gezeigt, dass sie nämlich von Gott Zeugnis geben und von dem entscheidenden Eingreifen seiner Heilsmacht in der Auferstehung Jesu. Diese Ergebnis befreit einerseits von dem Zwang, in jeder Einzelheit der Erzählung – nicht nur der Ostergeschichten, sondern der ganzen Evangelien – eine genaue, chronikartige Angabe sehen zu müssen, und ist andererseits ein Ansporn, offen und aufmerksam zu sein für den theologischen Sinn, der sich nicht nur in den Verschiedenheiten, sondern in allen Einzelheiten der Erzählung findet.

d. Der ’theologische Wert der Evangelien’

123. Verbreitet ist die Auffassung, dass die Evangelien eine Chronik von Tatsachen sind, von denen die Zeugen einen genauen Bericht geben. Richtig an dieser Meinung ist ihr Ausgangspunkt, nämlich die Überzeugung, dass der christliche Glaube nicht eine geschichtslose Spekulation ist, sondern auf wirklich geschehenen Ereignissen beruht. Gott handelt in der Geschichte und ist auf hervorragende Weise gegenwärtig und wirksam in der Geschichte seines fleischgewordenen Sohnes. Aber eine Auffassung, die in den Evangelien nur eine Art von Chronik sieht, kann ihren theologischen Sinn aus dem Blick verlieren und ihren ganzen Reichtum gerade als Wort, das von Gott spricht, vernachlässigen. Die Päpstliche Bibelkommission hat schon in ihrer Instruktion über die historische Wahrheit der Evangelien Sancta Mater Ecclesia (1964) gesagt: „Die neuen Studien zeigen, dass das Leben und die Lehre Jesu nicht einfach berichtet wurden, allein mit dem Zweck, sie in Erinnerung zu bewahren, sondern dass sie “gepredigt“ wurden, um der Kirche die Grundlage des Glaubens und der Sitten zu bieten; daher soll der Exeget, indem er sorgsam die Zeugnisse der Evangelisten untersucht, in der Lage sein, mit tieferem Eindringen den unvergänglichen theologischen Wert der Evangelien zu zeigen, und ins volle Licht rücken, wie notwendig und wichtig die Interpretation der Kirche ist“ (EB 652).

Wir müssen also der Tatsache Rechnung tragen, dass die Evangelien nicht nur Chroniken von den Ereignissen des Lebens Jesu sind, sondern dass die Evangelisten, in narrativer Weise, auch den theologischen Wert dieser Ereignisse ausdrücken wollen. Das bedeutet, dass sie in allem, was sie erzählen, nicht nur die Absicht haben, Daten für eine Chronik zu berichten, sondern auch einen “theologischen Kommentar“ zu dem Berichteten geben wollen, um seine theologische Bedeutung auszudrücken, d.h. die Beziehung zu Gott hervorzuheben.

Mit anderen Worten: In den Evangelien ist fundamental und vorherrschend die Absicht, Jesus, den Sohn Gottes und Retter der Menschen, zu verkünden; man kann diese Absicht “theologisch“ nennen. Der Bezug auf konkrete Fakten, den wir in den Evangelien antreffen, fügt sich in den Rahmen dieser theologischen Verkündigung ein. Daraus folgt, dass die theologischen Aussagen über Jesus einen direkten und normativen Wert haben, während den rein historischen Elementen eine untergeordnete Funktion zukommt.

Zweite Herausforderung: Ethische und soziale Probleme

124. Auch andere, unter sich verschiedene, biblische Texte stellen eine Herausforderung für die Interpretation dar. Es sind solche, die ganz unmoralisches Verhalten, voll Hass und Gewalt, berichten oder die anscheinend für soziale Verhältnisse eintreten, die heute als ungerecht gelten. Diese Texte können für die Christen selbst ein Ärgernis sein und sie verwirren. Manchmal werden sie auch von Nicht-Christen beschuldigt, ein heiliges Buch und eine Religion zu haben, die Unmoral und Gewalt lehrt. Aus diesem schwierigen Bereich wollen wir für das Alte Testament die Frage nach der Gewalt, die sich in der Weihe zur Vernichtung und in den Fluchpsalmen stellt, behandeln; und für das Neue Testament wollen wir uns mit der sozialen Stellung der Frau nach den Briefen Pauli befassen.

Gewalt in der Bibel

125. Eines der großen Hindernisse, um die ganze Bibel als inspiriertes Wort Gottes anzunehmen, sind Gewalt und Grausamkeit, besonders im Alten Testament, die in vielen Fällen Gott selber befiehlt, in vielen anderen Inhalt der Gebete an den Herrn sind und auch vom Verfasser Gott direkt zugeschrieben werden.

Das ungute Gefühl eines heutigen Lesers soll nicht minimalisiert werden. Es hat manche dazu gebracht, diese alttestamentlichen Texte zu tadeln und sie als überholt und für den Glauben schädlich anzusehen. Die katholische Kirche hat die pastoralen Auswirkungen des Problems gesehen und hat verfügt, dass in der kirchlichen Liturgie ganze Abschnitte der Bibel nicht gelesen und dass die Verse, die die Sensibilität der Christen verletzen, systematisch weggelassen werden. Man könnte, zu Unrecht, daraus ableiten, dass ein Teil der Heiligen Schrift nicht inspiriert ist, da er konkret nicht „nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16) ist.

Es ist daher unerlässlich, einige Richtlinien für die Interpretation anzugeben, die einen angemessenen Zugang zur biblischen Tradition erlauben, besonders was diese problematischen Texte angeht; auf jeden Fall sind diese im Zusammenhang der ganzen Schrift, also im Licht der Botschaft von der Feindesliebe (Mt 5,38-48) zu interpretieren.

Die Gewalt und die Gegenmittel des Gesetzes

126. Von ihren ersten Seiten an zeigt die Bibel das Auftreten von Gewalt in der menschlichen Gesellschaft (Gen 4,8.23-24; 6,11.13); ihre Ursache ist die Ablehnung Gottes, die sich als Götzendienst äußert (Röm 1,18-32). Die Heilige Schrift klagt an und verurteilt jede Art von Gewalttätigkeit, von der Sklaverei bis zu den Bruderkriegen, von den Angriffen auf einzelne Personen bis zu den staatlichen Systemen der Unterdrückung, sei es bei den Völkern oder innerhalb Israels (Am 1,3-2,16). Wenn es die schrecklichen Folgen des verkehrten Herzens vor die Augen der Menschen stellt (Gen 6,5; Jer 17,1), hat das Wort Gottes eine prophetische Aufgabe; es lädt ein, das Böse zu erkennen, um es zu vermeiden und zu bekämpfen.

Um die Kenntnis des Guten, das zu tun ist, zu fördern (Röm 3,20) und den Prozess der Umkehr zu unterstützen, verkündet die Schrift das Gesetz Gottes, das gleichsam ein Damm gegen die Ausbreitung der Ungerechtigkeit ist. Die Torah des Herrn zeigt aber nicht nur den Weg der Gerechtigkeit, dem jeder folgen soll, sie schreibt auch die Maßnahmen vor, die gegen den Schuldigen zu ergreifen sind, so dass das Böse ausgetilgt wird (Dtn 17,12; 22,21.22.24 usw.), die Opfer entschädigt werden und der Friede gefördert wird. Man kann solche Maßnahmen nicht als gewalttätig kritisieren. Die Strafe ist notwendig, weil sie nicht nur die Bosheit und Gefährlichkeit des Verbrechens zeigt, sondern auch eine gerechte Vergeltung ist, die Besserung des Schuldigen beabsichtigt und durch die Furcht vor der Strafe der Gesellschaft und dem Einzelnen hilft, sich vom Bösen abzuhalten. Die Strafe ganz abschaffen würde bedeuten, die Freveltat zu dulden und ihre Komplizen zu werden. Das Strafsystem das durch das sogenannte “Talionsgesetz“ (“Aug um Auge, Zahn um Zahn“: Ex 21,24; Lev 24,20; Dtn 19,21) geregelt wird, stellt so eine sinnvolle Weise dar, das bonum commune zu verwirklichen. Auch wenn es wegen Elementen des Zwangs und der Vergeltung unvollkommen ist, wird dieses System, mit den notwendigen Anpassungen, von den gesetzlichen Vorschriften einer jeden Zeit und eines jeden Landes übernommen, weil es auf einem gerechten Verhältnis zwischen Schuld und Strafe, zugefügtem und erlittenem Schaden gründet. An der Stelle einer willkürlichen Rache wird das Maß einer gerechten Reaktion auf die böse Tat festgelegt.

Man kann einwenden, dass einige Strafen, die in den Gesetzbüchern des Alten Testaments vorgesehen sind, unerträglich grausam erscheinen (wie die Prügelstrafe [Dtn 25,1-3] oder die Verstümmelung [Dtn 25,11-12]); auch wird heute die Todesstrafe, die für die schwersten Verbrechen vorgesehen ist, weithin abgelehnt. Der Bibelleser muss in diesen Fällen einerseits die historische Bedingtheit der biblischen Gesetzgebung erkennen, die von einem besseren Verständnis der Strafmaßnahmen und mehr Respekt vor den unveräußerlichen Rechten der Person überwunden wird; andererseits können die alten Vorschriften dazu dienen, dass sie das Gewicht bestimmter Verbrechen anzeigen und auch die Notwendigkeit, geeignete Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Bösen zu ergreifen.

Wenn in der Heiligen Schrift Gott und dem menschlichen Richter Äußerungen des Zorns beim Ausüben der strafenden Gerechtigkeit zugeschrieben werden, geht es nicht um ein falsches Verhalten; es ist notwendig, dass das Böse nicht ungestraft bleibt, und es ist gut, dass die Opfer unterstützt und entschädigt werden. Auf der anderen Seite erinnert die Schrift, auch im Alten Testament, beim Blick auf Gott als dem Garanten der Gerechtigkeit immer wieder an seine große Geduld (Ex 34,6; Num 14,18; Ps 103,8 usw.) und besonders an seine ständige Bereitschaft, dem Schuldigen zu verzeihen (Jes 1,18; Jona 4,11); die Verzeihung wird gewährt, wenn wahre Reue sichtbar wird (Jona 3,10; Ez 18,23). Gott, der mit der notwendigen Strenge Milde und die Aussicht auf Verzeihung verbindet, wird von der Bibel dem Menschen, der für die Gerechtigkeit und den sozialen Frieden verantwortlich ist, zum Vorbild gegeben.

Die Weihe zur Vernichtung

127. Wir lesen besonders im Buch Deuteronomium, dass Gott Israel befiehlt, die Landesbewohner zu entfernen und sie der Vernichtung zu weihen (Dtn 7,1-2; 20,16-18). Der Befehl wird von Josua treu ausgeführt (Jos 6-12) und am Beginn der Monarchie zu Ende gebracht (1 Sam 15). Was hier erzählt wird, ist sehr problematisch, noch mehr als alle Kriege und Massaker, von denen das Alte Testament spricht; daraus das Programm einer nationalistischen Politik zu machen und die Gewalt gegen andere Völker zu rechtfertigen, ist auf jeden Fall und vollständig abzulehnen, weil es den Sinn der Bibel auf den Kopf stellt.

Von vornherein muss gesagt werden, dass diese Erzählungen nicht den Charakter eines historischen Berichts haben; in einem wirklichen Krieg fallen die Mauern einer Stadt nicht beim Blasen von Trompeten zusammen (Jos 6,20) und man sieht auch nicht, wie in der Wirklichkeit das Land friedlich durch das Los verteilt werden kann (Jos 14,2). Auch wird die Norm des Deuteronomiums, die das Vernichten der Landesbewohner befiehlt, zu einem historischen Zeitpunkt aufgeschrieben, als diese Völkerschaften im Land Israel nicht mehr vorhanden waren. Es ist also notwendig, die literarische Form dieser Erzähltraditionen genau zu untersuchen. Wie schon die besten Schrifterklärer der patristischen Zeit vorgeschlagen haben, ist das Epos von der Eroberung des Landes als eine Art von Gleichnis anzusehen, das Persönlichkeiten von symbolischer Bedeutung zeigt. Die Weihe zur Vernichtung verlangt eine Auslegung, die nicht wörtlich ist, wie im Übrigen auch der Befehl Jesu, sich die Hand abzuhauen und ein Auge auszureißen, wenn sie Ärgernis verursachen (Mt 5,29; 18,9).

Es bleibt die Aufgabe, eine Orientierung zu geben für das Lesen dieser schwierigen Seiten. Ein erster umstrittener Aspekt dieser literarischen Tradition betrifft die Eroberung, verstanden als Entfernen der Bewohner eines Landes, um sich an ihrer Stelle anzusiedeln. Es überzeugt sicher nicht, sich auf das Recht Gottes zu berufen, der bei der Zuteilung des Landes seine Erwählten bevorzugen kann (Dtn 7,6-11; 32,8-9), denn so wird der legitime Anspruch der einheimischen Völkerschaften missachtet. Andere und überzeugendere Wege der Erklärung bietet der biblische Text an. Die Erzählung führt den Konflikt von zwei Gruppen vor, die ein verschiedenes ökonomisches und militärisches Gewicht haben; die Bewohner des Landes sind sehr mächtig (Dtn 7,1; vgl. auch Num 13,33; Dtn 1,28; Am 2,9 usw.), während die Israeliten schwach und wehrlos sind. Es wird also nicht, als ideales Modell, der Sieg des Starken, sondern im Gegenteil der Triumph des Kleinen erzählt, in Übereinstimmung mit einer „Figur“, die in der ganzen Bibel bis hin zum Neuen Testament gut bezeugt ist (vgl. Lk 1,52; 1 Kor 1,27). Das zeigt ein prophetisches Lesen der Geschichte an, das im Sieg der Sanftmütigen in einem “heiligen“ Krieg die Verwirklichung des Reiches des Herrn auf der Erde sieht. Nach dem biblischen Zeugnis sind die Landesbewohner vor Gott der schlimmsten Verbrechen schuldig (Gen 15,16; Lev 18,3.24-30; 20, 23; Dtn 9,4-5 usw.); zu ihnen gehört das Töten der eigenen Söhne in pervertierten Riten (Dtn 12,31; 18,10-12). Die Erzählung zeigt also den Vollzug des göttlichen Gerichts in der Geschichte. Josua erweist sich als “Knecht des Herrn“ (Jos 24,29; Ri 2,8), indem er die Aufgabe übernimmt, die Gerechtigkeit auszuführen; seine Siege werden immer dem Herrn und seiner übermenschlichen Macht zugeschrieben. Das literarische Motiv des Gerichts über die Völker beginnt so in den Erzählungen vom Ursprung, wird aber, wie sich bei den Propheten und in den apokalyptischen Schriften zeigt, auf die verschiedenen Völker ausgedehnt, wenn immer ein Volk – auch Israel – von Gott als strafwürdig beurteilt wird.

In diesem Rahmen ist auch “die Weihe zur Vernichtung“ und ihre genaue Durchführung durch die Getreuen des Herrn zu verstehen. Diese Norm wird inspiriert von einem sakralen Verständnis des Bundesvolkes (Dtn 7,6), das auch durch extreme Verhaltensweisen seine radikale Verschiedenheit von den Heiden ausdrücken muss. Gott befiehlt sicher nicht eine Gewalttat, die durch religiöse Motive gerechtfertigt wäre, er verlangt aber einer Pflicht der Gerechtigkeit zu gehorchen, analog der Verfolgung, Verurteilung und Hinrichtung von einem, der eines Kapitalverbrechens schuldig ist, sei es ein einzelner oder ein Kollektiv. Mit einem Verbrecher Erbarmen zu haben und ihn zu verschonen wird als Akt des Ungehorsams und der Ungerechtigkeit betrachtet (Dtn 13,9-10; 19,13.21; 25,12; 1 Sam 15,18-19; 1 Kön 20,42). Auch in diesem Fall ist also der scheinbar gewalttätige Akt als Sorge, das Böse zu beseitigen und so das Gemeinwohl zu wahren, zu interpretieren. Diese literarische Richtung wird von anderen – darunter die sogenannte priesterliche Tradition – korrigiert, die im Hinblick auf die gleichen Tatsachen Formen eines ausdrücklichen Pazifismus anregen. Daher müssen wir den ganzen Vorgang der Eroberung als eine Art von Gleichnis verstehen, dem analog, was wir in bestimmten Gleichnissen der Evangelien vom Gericht lesen (Mt 13,30; 41-43.50; 25,30.41 usw.). Sie ist aber auch – es sei wiederholt – mit anderen Seiten der Bibel zusammen zu nehmen, die Gottes Erbarmen und seine Vergebung als Horizont und Ziel des historischen Handelns des Herrschers aller Welt und als Modell des rechten Handelns der Menschen verkünden.

= Das Gebet um Vergeltung

128. Gewalt wirkt besonders deplatziert, wenn sie im Gebet auftritt: Genau das geschieht im Buch der Psalmen, wo wir Ausbrüche des Hasses und Bitten um Vergeltung finden, die der Liebe zu den Feinden, die Jesus seine Jünger lehrt (Mt 5,44; Lk 6,27.35), radikal widersprechen. Auch wenn es klug ist, von der Liturgie alles auszuschließen, was Ärgernis bereitet, sind einige Hinweise angebracht, die den Gläubigen helfen, dass sie auch heute, wie in der Vergangenheit, dem ganzen Erbe des Gebetes Israels mit Verständnis begegnen.

Um die schwierigen Aussagen der Psalmen zu erklären, ist es am wichtigsten, ihr genus litterarium zu verstehen; das bedeutet, die Aussageweisen, die wir dort finden, nicht wörtlich zu nehmen. In den Bitt- und Klagegebeten eines Verfolgten erscheint oft das Motiv des “Verfluchens“, der leidenschaftlichen Bitte an Gott, er möge Heil schaffen, indem er die Feinde vernichtet. In manchen Psalmenwird diese Dimension der Vergeltung betont oder ist geradezu vorherrschend (wie in Ps 109). Wenn die Formulierungen des Psalmisten gemäßigt sind (wie Ps 35,4: „In Schmach und Schande sollen alle fallen, die mir nach dem Leben trachten“), können sie leichter ins Gebet integriert werden. Problematisch und unerträglich werden brutale Bilder wie in Ps 143,12: „Vertilge in deiner Huld meine Feinde“ oder in Ps 137,8-9: „Tochter Babel […] wohl dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert“. Wir wollen im Folgenden drei Aspekte in den Blick nehmen.

a. Der Beter: der leidende Mensch

129. Die literarische Form der Klage bedient sich übertriebener und verzweifelter Ausdrücke, sei es beim Beschreiben des Leidens, das immer extrem ist (Ps 22,17-18: „Sie durchbohren mir Hände und Füße. Man kann all meine Knochen zählen“; Ps 69,5: „Zahlreicher als die Haare auf meinem Kopf sind die, die mich grundlos hassen“), sei es bei der Bitte um Abhilfe, die immer schnell und radikal sein soll. Grund dafür ist die Tatsache, dass ein solches Gebet die Emotionen eines Menschen ausdrückt, der sich in einer dramatischen Situation befindet; seine Gefühle können nicht abgeklärt sein und seine Worte gleichen einem Schreien (Ps 22,2). Auf jeden Fall sind die verwendeten Ausdrücke als Bilder zu verstehen: „den Frevlern die Zähne zerbrechen“ (Ps 3,8; 58,7) heißt „der Lüge und Habgier der Gewalttätigen ein Ende setzen“; „ihre Kinder am Felsen zerschmettern“ meint „die böse Macht, die das Leben zerstört, so austilgen, dass sie in Zukunft nicht neu entstehen kann“ usw. Wer die Psalmen betet, benützt die Worte, die eine andere Person unter anderen Umständen geschrieben hat; er muss sie daher immer umsetzen, um sie auf sein eigenes Leben anzuwenden. Eine solche Aktualisierung wird besser gelingen, wenn jemand das Klagegebet nicht als Ausdruck (nur) seiner persönlichen Situation nimmt, sondern als schmerzerfüllte Stimme aller Opfer der menschlichen Geschichte, als Schrei der Martyrer (Offb 6,10), die Gott bitten, er möge das gewalttätige “Tier“ für immer verschwinden lassen.

b. Die Bitte: “Befreie uns vom Bösen!“

130. Das Fluchgebet ist nicht eine magische Handlung, die direkt auf die Feinde wirkt. Der Beter vertraut Gott die Aufgabe an, jene Gerechtigkeit zu schaffen, die sonst niemand auf der Erde verwirklichen kann. Darin liegt ein Verzicht auf die persönliche Rache (Röm 12,19; Hebr 10,30) und es drückt sich das Vertrauen auf ein Handeln des Herrn aus, das der Schwere der Situation angemessen ist und mit der Natur Gottes übereinstimmt. Die Ausdrücke des Betersscheinen Gott die Art seines Handelns zu diktieren; aber, richtig verstanden, sprechen sie nur den Wunsch aus, das Böse möge verschwinden, so dass die Demütigen Zugang zum Leben haben. Es wird gebetet, dass das in der Geschichte geschehe als Offenbarung des Herrn (Ps 35,27; 59,14; 109,27) und im Hinblick auf die Umkehr der Gewalttätigen (Ps 9,21; 83,18-19). Die Verfolgung des Beters wird manchmal als Angriff gegen Gott gesehen (Ps 2,2; 83,3.13), oft begleitet von der Verachtung des Herrn (Ps 10,4.13; 42,4; 73,11).

c. Die Feinde des Beters

131. Wenn die Feinde des Beters identifiziert werden sollen, geht es nicht nur um ein exegetisches Tun, das zeigt, auf welche historischen Personen und Umstände der Verfasser anspielt. Die Situation, die in den Klagepsalmen beschrieben wird, folgt meistens festen Mustern, die Sprache ist konventionell und oft gewollt bildlich, so dass sie auf verschiedene Umstände und Personen angewendet werden kann. Es braucht also einen “prophetischen“ Akt, eine Auslegung im Geiste, um sehen zu können, wie die Worte des Psalmisten sich auf das konkrete Leben dessen beziehen, der den Klagepsalm betet, und um zu erkennen, wer in dieser Situation der bedrohende Feind ist (wie in Apg 4,23-30).

Die Identifikation des Feindes macht Fortschritte, wenn sie entdeckt, dass es nicht nur um den geht, der das physische Leben oder die Würde der Person angreift, sondern viel mehr um den, der dem geistlichen Leben des Beters nachstellt (Mt 10,28). Wer sind die feindlichen Mächte, denen der Glaubende sich stellen muss? Wer oder was ist der “brüllende Löwe“ (Ps 22,14; 1 Petr 5,8) oder “die Zunge der giftigen Schlange“ (Ps 140,4), die ohne Ruhe zu hassen sind (Ps 26,5; 139,21-22) und deren Vernichtung von Gott erbeten wird (Ps 31,18)? „Unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut“ schreibt Paulus (Eph 6,12); vom “Bösen“, der “Legion“ ist, bittet der Beter, befreit zu werden wie in einem Exorzismus durch das machtvolle Erbarmen Gottes. Und wie bei jedem Exorzismus sind die Worte hart, weil sie die absolute Feindschaft zwischen Gott und dem Bösen, zwischen den Söhnen Gottes und der Welt der Sünde (vgl. Jak 4,4) ausdrücken.

Die soziale Stellung der Frauen

132. Einige biblische, besonders paulinische, Abschnitte laden zum Nachdenken darüber ein, was im Kanon des Alten, aber auch des Neuen Testaments ewig gültig ist und was, weil es an eine Kultur, eine Zivilisation oder die Kategorien einer bestimmten Zeit gebunden ist, zu relativieren wäre. Die Stellung der Frau nach den Briefen von Paulus lässt eine solche Frage stellen.

a. Die Unterordnung der Frau unter ihren Mann

In den Briefen an die Kolosser (3,18), Epheser (5,22-33) und an Titus (2,5) verlangt Paulus von den Ehefrauen, dass sie sich ihren Männern unterordnen, und folgt damit den griechischen und jüdischen Bräuchen seiner Zeit, nach denen die soziale Stellung der Frauen niedriger war als die der Männer. Diese Mahnung scheint Gal 3,28 außer Acht zu lassen, wo erklärt wird, dass es in der Kirche keine Unterschiede geben darf, weder zwischen Juden und Griechen, noch zwischen Freien und Sklaven und auch nicht zwischen Männern und Frauen.

In den Abschnitten an die Epheser und Kolosser wird die Unterordnung der Ehefrauen nicht mit damaligen sozialen Normen begründet, sondern mit dem Handeln des Mannes, das aus der agape kommt, die ihr Modell in der Liebe Christi zu seinem Leib, der Kirche, hat. Dennoch wurde Paulus angeklagt, er berufe sich auf dieses erhabene Beispiel, um die Unterordnung der Frau leichter aufrecht zu erhalten, er unterwerfe so die Christen weltlichen Werten – mit anderen Worten er entferne sich vom Evangelium.

Auf diese Einwürfe wird geantwortet, dass Paulus nicht so sehr auf der Unterordnung der Frauen bestehe - die Ausführungen dazu sind sehr kurz – sondern vielmehr auf der Liebe, die der Mann seiner Frau schuldet, einer Liebe, die für Paulus nicht nur die Bedingung für die Gemeinschaft und Einheit des Ehepaares, sondern auch für die Unterordnung und Achtung der Frau gegenüber ihrem Mann ist. Die Überlegenheit der sozialen Stellung des Mannes, welche die erste Begründung darstellt (Eph 5,23), ist am Ende der Beweisführung vom Horizont ganz verschwunden. Unabhängig von der Rolle, die in der damaligen Gesellschaft für die Ehegatten festgelegt war, ist darauf zu achten, wie Paulus das Verhalten des Mannes erneuern will. Auch darf die Unterordnung der Frau unter den Mann nicht von Eph 5,21 getrennt werden, wo Paulus sagt, dass alle Gläubigen „sich einander unterordnen“ sollen.

Aber eine Schwierigkeit bleibt. Was nützt es, ein Modell zu benützen, das sich an Christus und der Kirche orientiert, wenn nicht ausgesprochen wird, dass der niedere Rang der Frau in der Kirche keine Rolle spielt, weil alle Gläubigen die gleiche Würde und den einen und einzigen Herrn haben, Christus? Es ist auszuschließen, dass Paulus sich mit weltlichen Werten kompromittieren konnte. Er schlägt nicht neue soziale Modelle vor, sondern, ohne die Ordnungen seiner Zeit zu ändern, lädt er ein, die sozialen Beziehungen und Regeln, die zu seiner Zeit, im ersten Jahrhundert, als dauerhaft und unveränderlich galten, von inner her so zu gestalten, dass sie im Einvernehmen mit dem Evangelium gelebt werden können.

Heute, viele Jahrhunderte später, kann man es bedauern, dass Paulus in seinen Briefen nicht klar die soziale Gleichstellung der gläubigen Ehegatten gefordert hat, aber sein Vorgehen war wohl das zu seiner Zeit einzig mögliche; sonst hätte man das Christentum anklagen können, die soziale Ordnung zu untergraben. Auf der anderen Seite hat aber seine Mahnung an die Ehemänner nichts von ihrer Aktualität und Gültigkeit verloren.

b. Das Schweigen der Frauen bei den kirchlichen Versammlungen

133. Auch 1 Kor 14,33-35 verursacht Schwierigkeiten, weil Paulus von den Frauen verlangt, bei den Versammlungen zu schweigen: „Wie es in allen Gemeinden der Heiligen üblich ist, sollen die Frauen in den Versammlungen schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden. Sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz es fordert. Wenn sie etwas wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre Männer fragen, denn es gehört sich nicht für eine Frau, vor der Gemeinde zu reden.“ Diese Verse scheinen 1 Kor 14,31 zu widersprechen („ihr könnt alle prophetisch reden“) und 1 Kor 11,5, wo von Frauen gesprochen wird, die in den Versammlungen prophetisch reden. Aber die Aussagen von 1 Kor 14,33-35 müssen in ihrem Kontext belassen werden, d.h. in ihrer Beziehung zu den vorausgehenden Versen über das Prophezeien verstanden werden. Paulus will sicher nicht sagen, dass die Frauen kein Recht haben, prophetisch zu reden (vgl. 11,5), sondern dass sie in der Versammlung (V. 29) das prophetische Sprechen ihrer Männer nicht werten und beurteilen dürfen. Die Prinzipien, die einem solchen Verbot zu Grund liegen, sind jene des Respekts, der Eintracht unter den Ehegatten und der guten Ordnung in den Versammlungen. Diese Prinzipien gelten auch heute noch; doch hängt ihre Anwendung natürlich von der Stellung der Frauen in denjeweiligen Zivilisationen und Kulturen ab. Das Schweigen der Frauen ist für Paulus kein absolutes Prinzip, sondern ein Mittel, entsprechend der Situation in den damaligen Versammlungen. Auch heute dürfen wir die Prinzipien und ihre Anwendung, die immer vom sozialen und kulturellen Kontext bestimmt wird, nicht verwechseln.

c. Die Rolle der Frau in den Versammlungen

134. Schwieriger und weniger vertretbar, wenn sie als absolutes Prinzip verstanden wird, ist die Art, wie 1 Tim 2,11-15 die geringere Stellung der Frau im sozialen und kirchlichen Bereich rechtfertigt: „Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gesetz. Sie wird aber dadurch gerettet werden, dass sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie in Glaube, Liebe und Heiligkeit ein besonnenes Leben führt.“ Der Kontext ist wieder jener der kirchlichen Versammlungen von Männern und Frauen. Paulus verlangt von den Frauen nicht, dass sie schweigen, und er hindert sie nicht, prophetisch zu reden; das Verbot betrifft nur das Lehren und die Charismen des Leitens. Die Idee ist mehr oder weniger die gleiche wie in den vorherigen Fällen: Das Lehren und Leiten war damals den Männern vorbehalten, und Paulus will, dass diese soziale Ordnung, die damals als naturgemäß galt, respektiert wird (vgl. schon 1 Kor 11,3: „der Mann ist das Haupt der Frau“).

Es ist aber nicht so sehr dieser Gedanke, der Schwierigkeiten macht – er kann ja, wie oben ausgeführt, der Kultur und der Gesellschaft, in der man lebt, angepasst werden - , als vielmehr die Weise seiner Begründung durch eine problematische Auslegung der Erzählungen von Gen 2-3: die Reihenfolge der Schöpfung (der Mann hat einen höhere Stellung, weil er vor der Frau erschaffen wurde; vgl. Gen 2,18-24) und der Sündenfall der Frau im Paradies. Die Auslegung, die 1 Tim von Gen 3 gibt, findet sich schon in Sir 25,24 und in anderen Schriften (z. B. in der jüdischen apokryphen Schrift Leben von Adam und Eva oder in der griechischen Übersetzung der Mose-Apokalypse). Die Frau hat sich von der Schlange verführen lassen, hat gesündigt und ist schuld am Tod des ganzen Menschengeschlechtes; daher soll sie bescheiden sein und nicht den Mann beherrschen wollen. Diese Auslegung ist deutlich von der Art beeinflusst, in der man damals die soziale Stellung von Mann und Frau verstanden und gerechtfertigt hat. Sie ist aber nicht vereinbar mit 1 Kor 15,21-22 und Röm 5,12-21, wo die Schuld an Sünde und Tod dem Mann zukommt. Und sie spiegelt eine kirchliche Situation, in der man autoritative Argumente brauchte, um den Frauen zu antworten, die sich darüber beklagten, dass sie die oben erwähnten Rollen in den kirchlichen Versammlungen nicht ausüben konnten. Es ist deutlich, dass diese Auslegung von Gen 2-3 durch die Zeitverhältnisse des ersten Jahrhunderts bedingt ist. Die korrekte Auslegung einer Bibelstelle – hier Gen 2-3 – muss aber immer die Aussageabsicht des Textes erfassen und respektieren.

Abschluss

135. Die Behauptung, dass die Bibel das Wort Gottes mitteilt, scheint durch nicht wenige Bibelstellen widerlegt zu werden. Wir haben zwei Arten von Texten behandelt: Erzählungen, die unwahrscheinlich erscheinen und vor einer ernsthaften kritisch-historischen Untersuchung anscheinend nicht bestehen können, und Texte, die unmoralische Verhaltensweisen nicht nur vorschlagen, sondern verlangen oder die der sozialen Gerechtigkeit widersprechen. Wir wollen die Ergebnisse der Untersuchungen kurz zusammenfassen undeinige Konsequenzen formulieren, damit das Lesen der Bibeltexte ihnen angemessener und ihr Verstehen richtiger ist..

a. Kurze Zusammenfassung

Die Untersuchung von vier Erzählungen des Alten Testaments hat gezeigt, dass ein Lesen, das nur an den wirklich geschehenen Fakten interessiert ist, die Aussageabsicht und den Inhalt dieser Texte nicht verstehen kann. Im Fall von Gen 15 und Ex 14 können die erzählten Geschehnisse von der Geschichtswissenschaf tnicht bestätigt werden. Für die Erzähler dieser Texte ist es ein historisches Faktum, dass ihr Volk viele Jahrhunderte überlebt hat, und für sie ist, in ihrer Situation und nach ihrer Erfahrung (Exilszeit), ihr Glaube an Gott entscheidend. Ihre Erzählungen bezeugen, dass der unbedingte Glauben an Gott und an seine unbegrenzt heilschaffende Macht die fundamentale Einstellung ist. Im Fall von Tobit und Jonastellen wir fest,dass Texte, die keine tatsächlich geschehenen Vorgänge berichten, durchaus reich an lehrhafter und theologischer Bedeutung sind.

Bei den Erzählungen des Neuen Testaments hat es sich gezeigt, dass das Interesse für die geschehenen Tatsachen nicht genügt, sondern dass es eine große Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Erzählten braucht. In den Kindheitsevangelien können nicht alle erzählten Einzelheiten historisch verifiziert werden; klar behauptet wird die jungfräuliche Empfängnis Jesu. Diese Erzählungen sind Einleitung zum Rest der jeweiligen Schrift und zeigen die Hauptkennzeichen der Person und des Werkes Jesu. Die Wunder (Machttaten, Zeichen) finden sich in allen Traditionen vom Wirken Jesu. Ihre Bedeutung besteht nicht nur darin, dass sie außergewöhnliche Taten sind. In den synoptischen Evangelien zeigen sie die heilbringende Gegenwart des Reiches Gottes in der Person und im Werk Jesu; bei Johannes offenbaren sie die Beziehung Jesu zu Gott und führen zum Glauben an Jesus (vgl. auch Mt 8,27; 14,33). Die Ostererzählungen machen, gerade auch wegen ihrer Unterschiede, deutlich, dass sie nicht einfach chronikartige Berichte sind, und wecken das Interesse für die theologische Bedeutung des Erzählten.

Die Erklärung der Weihe zur Vernichtung und des Gebetes um Vergeltung hat diese Texte in ihren historischen und literarischen Kontext gestellt und hat ihren Sinn und ihre Nützlichkeit besser verstehen lassen. Die Ausführungen über die soziale Stellung der Frauen in den Paulusbriefen hat herausgestellt, dass es notwendig ist, zwischen den Prinzipien des rechten christlichen Verhaltens und ihrer Anwendung im kulturellen und sozialen Kontext einer Zeit zu unterscheiden.

b. Einige Konsequenzen für das Lesen der Bibel

136. Für einen ersten Blick scheinen viele erzählende Texte der Bibel den Charakter einer Chronik zu haben, die das berichtet, was tatsächlich geschehen ist. Diesem Eindruck entspricht eine Weise des Bibellesens, die in allen erzählten Vorgängen Ereignisse sieht, die genauso real geschehen sind. Diese Art des Lesens scheint einen Zugang zum Inhalt der Bibel zu bieten, der einfach, unmittelbar und für alle möglich ist und zu klaren und sicheren Ergebnissen führt.

Dagegen scheint das Lesen der Bibel, das den modernen Wissenschaften (Geschichtsschreibung, Philologie, Archäologie, Kulturanthropologie usw.) Rechnung trägt, das Verstehen der biblischen Texte kompliziert zu machen und weniger sichere Resultate zu bringen. Wir können uns aber den Erfordernissen unserer Zeit nicht entziehen und können die Texte der Bibel nicht außerhalb ihres historischen Kontextes interpretieren: wir müssen sie in unserer Zeit und mit unseren Zeitgenossen und für sie lesen. Der Weg, dem dieses Dokument folgt, kann zeigen, wie die Suche nach der Bedeutung der Texte, die über das Bestreben, nur wirklich geschehene Tatsachen festzustellen, hinausgeht, zu einem tieferen und genaueren Verständnis ihres Sinnes führt.

Es besteht die Gefahr – und sie ist sorgfältig zu vermeiden -, dass man daraus, dass die biblischen Erzählungen keine Chronik von Tatsachen sind, den Schluss zieht, dass alles in ihr Erfindung und Produkt von menschlichen Ideen und Glaubensvorstellungen ist. Gott offenbart sich in der Geschichte: „Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Wort und Tat, die innerlich miteinander verknüpft sind“ (Dei Verbum, Nr. 2). Aufgabe der Bibel ist es, diese Taten und Worte zu überliefern. Aufgabe einer ernsthaften und angemessenen Auslegung der Bibel ist es, auf diese Taten und Worte zu achten und ihren Sinn zu verstehen.

Die Weihe zur Vernichtung und ähnliche Texte zeigen ein anderes wichtiges Element für das Lesen der Bibel. Diese berichtet die Geschichte der Offenbarung Gottes und zugleich die Geschichte der geoffenbarten Moral. Wie die Offenbarung Gottes so erreicht auch die Offenbarung des rechten menschlichen Verhaltens in Jesus seine Fülle. Wie man nicht in jedem Abschnitt der Bibel die volle Offenbarung Gottes finden kann, so auch nicht die vollkommene Offenbarung der Moral. Deshalb dürfen die einzelnen Abschnitte der Bibel nicht isoliert und verabsolutiert werden, sondern müssen, im Rahmen eines kanonischen Lesens der Heiligen Schrift, in ihrer Beziehung zur Fülle der Offenbarung in der Person und im Werk Jesu gewertet und verstanden werden. Sehr nützlich ist aber auch das tiefe Verständnis dieser Texte, wenn sie in sich und für sich selber genommen werden; so zeigt sich der Weg, den die Offenbarung in der Geschichte zurückgelegt hat.

Fundamental wichtig ist es, dass die Orientierung und Suche des Lesers der Heiligen Schrift, auf das ausgerichtet ist, was sie über Gott und das Heil der Menschen sagt. Wenn er so vorgeht, wird er nicht immer ein vollständiges Verständnis des gelesenen Textes erreichen, er wird aber die Wahrheit der Bibel immer besser erkennen und in der geistlichen Weisheit wachsen, die der Weg zur vollen Gemeinschaft mit Gott ist.

ALLGEMEINER ABSCHLUSS

137. Die katholische Kirche hat feierlich und normativ (Konzil von Trient, EB 58-60) den Kanon der heiligen Bücher angenommen und so die fundamentalen Maßstäbe für ihren Glauben festgelegt. Sie hat ausdrücklich festgestellt, welche Texte als „unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben“ (Dei Verbum, Nr. 11) zu gelten haben und für die Formung eines jeden Gläubigen und der ganzen christlichen Gemeinschaft unerlässlich sind (vgl. 2 Tim 3,15-16). Wenn auf der einen Seite klar ist, dass diese Schriften von menschlichen Verfassern stammen, die ihnen ihreje eigene literarische Genialität eingeprägt haben, wird ihnen auf der anderen Seite eine besondere göttliche Qualität zuerkannt, die von den heiligen Texten auf verschiedene Weise bezeugt wird und von den Theologen im Lauf der Geschichte verschieden erklärt wurde.

138. Die Päpstliche Bibelkommission wurde aufgefordert, sich mit diesem Thema zu befassen. Sie sieht ihre Aufgabe nicht darin, eine Lehre der Inspiration vorzulegen, wie sie gewöhnlich in einem Traktat der systematischen Theologie präsentiert wird. Sie will in diesem Dokument zeigen, wie die Heilige Schrift selber den göttlichen Ursprung ihrer Schriften bezeugt und sich zur Botin der Wahrheit Gottes macht. Wir bleiben im Bereich des Glaubens und nehmen das als Wort Gottes an, was die Kirche als solches bezeichnet; in diesem Wort wollen wir die Elemente aufzeigen, die das Verständnis und die Annahme dieses göttlichen Erbes wachsen lassen.

139. Die Heiligen Schriften stellen ein Ganzes dar, denn alle Bücher „mit allen ihren Teilen“ (Dei Verbum, Nr. 11) sind inspirierter Text und haben Gott selber „zum Urheber“ (Nr. 11). Obwohl die Kirche anerkannt hat, dass jedes Wort des heiligen Textes, im Zusammenhang mit allen anderen, Wort Gottes ist, hat sie immer die Vielfalt in der Art dieser Schriften, die einem einzigen göttlichen Ursprung widersprechen könnte, gesehen.

Die Unterscheidung von Altem und Neuem Testament ist das sichtbarste Zeichen für die bedeutenden Verschiedenheiten im Innern der Bibel. In den alten christlichen Basiliken gab es zwei Ambonen für das Lesen der heiligen Texte. Sie sollten den Unterschied und die gegenseitige Ergänzung zwischen den beiden Testamenten ausdrücken, beide notwendig, um das eine Ereignis der endgültigen Offenbarungim Geheimnis des Herrn Jesus Christus zu bezeugen. Auch wir haben in unserem Beitrag die Eigenart eines jeden der beiden konstitutiven Teile der Heiligen Schrift respektiert und wollten sichtbar machen, dass ihre Verschiedenheit nicht nur nicht stört, sondern das wahrhaftige Zeugnis von dem einzigen Wort Gottes bereichert.

Im Innern der beiden großen Teile ist auch die Verschiedenheit der literarischen Gattungen, der theologischen Kategorien, der anthropologischen und soziologischen Zugänge evident. Gott hat tatsächlich „auf vielerlei Weise“ (Hebr 1,1) gesprochen nicht nur in den alten Zeiten, sondern auch nach dem Kommen des Sohnes, der in Fülle den Vater geoffenbart hat (vgl. Joh 1,18). Es schien also notwendig, in diesem Dokument durch verschiedene Untersuchungen die reiche Vielfalt der Aussagen zu zeigen, alle von dem festen Willen beseelt, die göttliche Wahrheit auszudrücken.

Die Herkunft der Heiligen Schrift von Gott

140. Die Gemeinschaft der Glaubenden lebt von einer Tradition; sie weiß sich aufgebaut auf das Hören des Wortes Gottes, das in einigen Büchern aufgeschrieben ist. Diese sind ihr als normativ übergeben und tragen das Kennzeichen ihrer Autorität in sich selber.

Diese war vor allem garantiert durch die Autorität ihrer Verfasser; nach einer alten und ehrwürdigen Tradition waren sie als von Gott gesandt und mit dem Charisma der Inspiration begabt anerkannt. So wurde durch Jahrhunderte hindurch bis in die moderne Zeit das Verfassen des Pentateuch ohne jede Frage und im Ganzen Mose zugeschrieben und die verschiedenen Propheten- und Weisheitsbücher, wurden, wenn eine Titelangabe fehlte, bekannten Autoren (wie David, Salomo, Jeremia usw.) zugeteilt.

In gleicher Weise wurde für die Schriften des Neuen Testaments angenommen, dass sie aus dem Kreis der Apostel kamen. Heute können wir diese Ansicht früherer Zeiten auf Grund übereinstimmender literarischer und historischer Untersuchungen nicht mehr aufrecht erhalten. Die Exegese hat mit überzeugenden Argumenten gezeigt, dass die verschiedenen biblischen Schriften nicht nur das Werk des Verfassers sind, der im Titel angegeben oder von der Tradition als solcher angesehen wird. Die literarische Geschichte der Bibel verlangt eine Vielzahl von Eingriffen und das Zusammenwirken verschiedener, meist anonymer Autoren in einer oft langen und mühsamen Redaktionsgeschichte. Diese notwendige Annahme, was den literarischen Ursprung der heiligen Schriften angeht, steht nicht im diametralen Gegensatz zu der traditionellen Auffassung, die manchmal zu schnell der hermeneutischen Naivität bezichtigt wird. Die Kirche hat in geduldiger und strenger Arbeit der Unterscheidung, die sich über Jahrhunderte hinzog, immer angenommen, dass sie die Schrift als inspiriert anerkennen kann, die mit dem Glaubensgut übereinstimmt, das von der Glaubensgemeinschaft fest und treu gehütet und von denen, die Gott als Hirten und Führer der Gläubigen eingesetzt hat, garantiert wird. Der Geist, der in der Kirche am Werk war, hat es mit der durch ihn geschenkten Einsicht ermöglicht, das, was authentische göttliche Mitteilung war, von Texten, die lügnerisch oder unbedeutend waren, zu trennen. So wurde in bestimmten Fällen ein Text, der dem Titel nach von einem inspirierten Autor stammte, zurückgewiesen, während eine Schrift, die nicht durch den Namen eines anerkannten Autors garantiert war, jedoch seinen unverwechselbaren Charakter zeigte, mit Verehrung aufgenommen. Mit einer außergewöhnlichen Wahrnehmung der Wahrheit der Offenbarung hat die Kirche sich selber in der gehorsamen Anerkennung des Wortes Gottes, von dem sie lebt, begründet.

Die Übereinstimmung mit dem Wort

141. Die Kirche gründet ihre Unterscheidung auf die lebendige Erfahrung des Herrn Jesus, die sie in dem Wort der Zeugen, die ihn gekannt und in ihm die Vollendung der göttlichen Offenbarung erkannt haben, empfangen hat. Von dem her, was die Apostel und Evangelisten verkündet haben, hat sich stufenweise der Kanon der heiligen Bücher gebildet, und die Kirche hat in ihren verschiedenen Bezeugungen den Charakter der authentischen Wahrheit gesehen, weil sie mit dem Zeugnis über den Sohn Gottes übereinstimmten. Nicht weil sie sich mit dem Anspruch präsentierte, das Wort Gottes zu sein, verdiente es eine Schrift, in den liturgischen Versammlungen als Fundament für das Glauben vorgelesen zu werden, sondern weil sie in ihrem Sprechen mit dem Wort übereinstimmte und eine angemessene Auslegung dieses Wortes war. Und diese Übereinstimmung ist es, trotz der Verschiedenheit des Ausdrucks und der Vielfalt der Theologie, die auf den Seiten dieses Dokuments durch die Untersuchung der verschiedenen Selbstzeugnisse der Bücher der Heiligen Schrift gezeigt werden soll.

Diese Übereinstimmung ist nicht auf eine generelle Konvergenz in einigen fundamentalen Lehren beschränkt. Es käme so der Respekt für die verschiedenen Perspektiven, für den unersetzlichen ergänzenden Beitrag eines jeden Teils, für die literarische Geschichte dieser Bücher, die durch die Aneignung und das neue Vorlegen alter Inhalte entstanden sind, zu kurz. Nach dem Zeugnis Jesu holt der Schriftgelehrte Altes und Neues aus seinem Schatz hervor (vgl. Mt 13,52). Das bedeutet, dass die Schriften, die die Kirche als inspiriert anerkannt hat, nicht nur auf eine mehr oder weniger ausdrückliche Weise ihre eigene Herkunft von Gott beanspruchen, sondern zugleich die Authentizität der ihnen vorausgehenden Schriften bezeugen.. Die Propheten machen die Torah gültig und die Schriften der Weisheit anerkennen den göttlichen Ursprung des Gesetzes und der Propheten; auf ähnliche Weise heiligt das Zeugnis Jesu die geschriebene jüdische Tradition und die Schriften des Neuen Testaments bestätigen sich gegenseitig, indem sie radikal und übereinstimmend alle Traditionen der alten Schrift aufnehmen.

Die Vielfalt in der Art der Bezeugung

142. Sie ist eines der Hauptergebnisse unserer Untersuchung verschiedener Bücher des Alten und Neuen Testaments. Neben diesem Aspekt einer substantiellen Konvergenz ist auch die Vielfalt der religiösen Erfahrungen und der Ausdrucksweisen, die sie überliefert haben, sichtbar geworden. Es können hier nicht im Einzelnen und vollständig die Weisen, mit denen die verschiedenen biblischen Verfasser die göttliche Herkunft ihrer Schrift bezeugen, wiedergegeben werden; es soll genügen, auf einige Modelle, die sich mit verschiedenen Akzenten in den verschiedenen Büchern der Heiligen Schrift finden, hinzuweisen.

Die wichtigste Art der Selbstbezeugung findet sich für das Alte Testament in den Erzählungen der Prophetenberufung und in den verschiedenen Formeln bei den Propheten. Hier erscheint ausdrücklich die Wirklichkeit der Inspiration in der Form des inneren Bewusstseins einiger Menschen, die erklären, dass sie fähig waren, die Worte Gottes zu vernehmen, und den Auftrag erhielten, sie getreu weiterzugeben. Dieses Modell wurde wegen seiner suggestiven Kraft von anderen Autoren übernommen, die der gesetzlichen (wie Mose), der weisheitlichen (wie Salomo) und der apokalyptischen (wie Daniel) Tradition angehören; so wurde eine Art von genereller Einheitlichkeit geschaffen, gleichsam ein Garantiesiegel, das den Lesern die Qualität einer Schrift bestätigt, indem sie auf eine einzige göttliche Quelle zurückgeführt wird.

143. Ähnlich häufig zeigt die Bibel die aktive Teilnahme von Mitarbeitern des inspirierten Autors, die, mit literarischer Fähigkeit und Zuverlässigkeit begabt, nicht nur den Hauptverfassern geholfen, sondern auch neue Materialien gesammelt, die früheren Stoffe neuen Anforderungen der Adressaten angepasst und, Generation für Generation, eine imponierende redaktionelle Arbeit von großer Bedeutung für die Qualität des biblischen Textes vollbracht haben. Das prophetische Charisma war in diesen anonymen Redaktoren sicher wirksam; indirekt bezeugen sie ihr Bewusstsein, die Worte des Herrn zu übermitteln, gerade dadurch, dass sie die Schrift, die durch ihren besonderen Beitrag gekennzeichnet ist, weitergeben.

Die Bibelwissenschaftler haben zu Recht die Existenz von Strömungen, Schulen religiösen Gruppen angenommen, die fähig waren, literarische Traditionen, die für heilig gehalten wurden und dann in der Heiligen Schrift zusammengeflossen sind, lebendig zu bewahren; so ist es zwar nützlich, eine Geschichte der Komposition der biblischen Texte zu erforschen, es kann und braucht aber nicht ein verschiedener Wert oder eine verschiedene Autorität dem, was “original“ war, im Unterschied zu dem, was sekundär ist, zugemessen werden.

In vielen Fällen haben wir nicht die ipsissima verba (ureigenen Worte) des (von Gott inspirierten) Propheten, sondern nur in den Worten seiner Jünger. Das ist beispielhaft verwirklicht in den Evangelien, deren Inspiration außer Frage steht; in Schriften dieser Art präsentiert sich der Verfasser (d.h. der Evangelist) als treuer Zeuge des Meisters, in gewissen Fällen als Jünger der ersten Jünger (da er in der Liste der ersten Apostel nicht erwähnt ist).

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, dass es von dem her, was die Bibel selber von sich sagt, notwendig ist, einen Begriff von Inspiration zu formulieren, der offener und nuancierter ist. Nicht aber in dem Sinn, dass es in dem heiligen Text bedeutungs- und wertlose Teile gibt, sondern in dem Sinn, dass das Charisma der Inspiration sich auf verschiedene Wese entfaltet; auf jeden Fall soll die Aufmerksamkeit vor allem dem gelten, was am klarsten Christus und seine vollkommene Heilsbotschaft bezeugt.

Statt den Glauben an das Wort, das von Gott kommt, zu mindern, will die umrissene Perspektive ihn reifer machen, weil er das Eingehen Gottes in die Geschichte anerkennt und den Geist, der in vielen Jahrhunderten der Heilsgeschichte durch die Propheten gesprochen hat (vgl. Sach 7,12; Neh 9,30), anbetet. Das lässt auch besser verstehen, wie dieser Geist nach dem Tod der Apostel nicht aufgehört hat zu wirken, sondern der Kirche gegeben war, damit sie die inspirierten Bücher auswählen und annehmen konnte. Dieser Geist ist auch heute wirksam, wenn „Gottes Wort voll Ehrfurcht“ gehört wird (Dei Verbum, Nr. 1), weil „die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde“ (Dei Verbum, Nr. 12). Das inspirierte Wort nützt nichts, wenn der, der es empfängt, nicht aus dem Geist lebt, der den göttlichen Ursprung der Bibel zu schätzen und zu verkosten weiß.

Die Wahrheit der Heiligen Schrift

144. Da sie von Gott kommt, hat die Schrift göttliche Qualitäten. Von diesen ist jene fundamental, dass sie die Wahrheit bezeugt, verstanden jedoch nicht als eine Summe genauer Informationen über verschiedene Seiten des menschlichen Wissens, sondern als Offenbarung über Gott selbst und seinen Heilsplan. Die Bibel lässt das Mysterium der Liebe des Vaters erkennen, das sich im menschgewordenen Wort offenbart und durch den Geist zur vollkommenen Gemeinschaft der Menschen mit Gott führt (Dei Verbum, Nr. 2).

Auf diese Weise wird geklärt, dass die Wahrheit der Heiligen Schrift, das Heil der Glaubenden zum Ziel hat. In der Vergangenheit und auch heute gibt es wegen der Ungenauigkeiten und Widersprüche, die in der Bibel für den geographischen, historischen und naturwissenschaftlichen Bereich ziemlich häufig sind, Einwendungen, die die Zuverlässigkeit des heiligen Textes und damit seinen göttlichen Ursprung in Frage stellen wollen. Die Kirche weist sie mit der Aussage zurück, dass die Bücher der Heiligen Schrift „sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (Dei Verbum, Nr. 11). Diese Wahrheit gibt der Existenz des Menschen vollen Sinn, und es ist der Wille Gottes, dass alle Völker sie kennen.

Das Dokument betont diese hermeneutische Perspektive. Sein zum Teil neuer Beitrag besteht darin, durch die verschiedenen biblischen Bücher hindurch und für die verschiedenen literarischen Ausdrucksweisen an Beispielen zu zeigen, wie diese Wahrheit, die Gott durch seine Knechte, die biblischen Autoren, der Welt offenbaren wollte, dargestellt wird.

Vielfältige Wahrheit

145. Es ist eine erste Eigenschaft der bibischen Wahrheit, in vielen Formen und auf vielerlei Weise (vgl. Hebr 1,1) ausgedrückt zu sein. Da sie von vielen Menschen und zu verschiedenen Zeiten überliefert wird, hat sie einen vielfältigen Charakter, was die Lehren und Gebote und auch was die literarischen Ausdrucksweisen angeht. Die Verfasser legen das dar, was sie zu ihrer Zeit und entsprechend dem Geschenk Gottes verstehen und übermitteln konnten; das, was der Herr schon in der Vergangenheit gesagt hatte, wurde mit neuen und verschiedenen göttlichen Offenbarungen verbunden. Die biblische Wahrheit drückt sich in vielen literarischen Gattungen aus. Es gibt nicht nur die dogmatische Darlegung, sondern auch die Wahrheit, die der Erzählung, der gesetzlichen Norm, dem Gleichnis, einem Gebetstext, einem Liebesgedicht wie dem Hohenlied, den kritischen Aussagen bei Ijob und Kohelet und den apokalyptischen Büchern eigen ist. Und innerhalb dieser literarischen Gattungen ist die Vielzahl der Gesichtspunkte sicher viel evidenter als eine sich wiederholende, einfache Konvergenz.

Diese Offenbarung der göttlichen Wahrheit in vielen Formen, ist nicht nur auf das Alte Testament zu beschränken, sondern auch für das Neue Testament anzuerkennen, wo wir Erzähl- und Redeformenfinden, die nicht identisch sind, und wo wir in der Darlegung der Botschaft bedeutsame Unterschiede feststellen. Wir haben in der Tat vier Evangelien, und die Kirche hat den Versuch einer Harmonisierung als unangemessen zurückgewiesen. Das, was z.B. “nach Lukas“ geschrieben ist, muss respektiert und anerkannt werden, auch wenn es nicht unmittelbar mit dem, was Markus oder Johannes sagen, übereinstimmt. Und während für die Evangelien ihre Botschaft im Wesentlichen auf das Leben und die Worte Jesu gegründet ist, ist für Paulus die Wahrheit über Christus fast ausschließlich im Geschehen seines Todes und seiner Auferstehung verwurzelt. Die verschiedene Ausrichtung im Römerbrief und im Jakobusbrief ist beispielhaft für die Pluralität, durch die die Schrift die eine Wahrheit Gottes bezeugt.

Diese Polyphonie der biblischen Stimmen ist der Kirche als Modell angeboten, damit sie im Heute dieselbe Fähigkeit habe, die Einheit der Botschaft, die den Menschen zu übermitteln ist, mit dem notwendigen Respekt vor der vielförmigen Verschiedenheit der persönlichen Erfahrungen, der Kulturen und der von Gott geschenkten Gaben zu verbinden

Wahrheit in historischer Form

146. Eine zweite wichtige Eigenschaft der biblischen Wahrheit besteht darin, dass sie sich in historischer Form ausdrückt. Einige Bücher der Schrift geben die Epoche an, in der sie geschrieben wurden; in anderen Fällen werden sie von der exegetischen Wissenschaft in plausibler Weise verschiedenen historischen Perioden zugewiesen. Der zeitliche Bogen, der die biblische Literatur umspannt ist zweifellos sehr weit und übertrifft ein Jahrtausend. In ihm zeigt sich das Erbe von Auffassungen, die an eine besondere Epoche gebunden sind, von Meinungen, die aus den Erfahrungen und Sorgen einer bestimmten Periode in der Geschichte des Gottesvolkes kommen. Die geduldige Arbeit der Redaktoren, die für Lehre und Praxis dem heiligen Text einen gewissen Zusammenhang geben wollten, hat die Spuren der Geschichte nicht ausgetilgt und lässt ihre Versuche und Unvollkommenheiten erkennen im theologischen und anthropologischen Bereich. Der Ausleger muss daher ein fundamentalistisches Lesen der Schrift vermeiden und die verschiedenen Formulierungen des Textes in ihren historischen Kontext stellen entsprechend den damals gebräuchlichen literarischen Gattungen. Indem wir diese Weise der göttlichen Offenbarung annehmen, werden wir zum Mysterium Christi geführt, der vollen und endgültigen Manifestation der göttlichen Wahrheit in der menschlichen Geschichte.

Kanonische Wahrheit

147. Nach katholischem Verständnis von der Interpretation der Bibel ist die Wahrheit Gottes im Gesamt der durch den Kanon der heiligen Schriften bezeugten Offenbarung anzunehmen. Das bedeutet, dass die geoffenbarte Wahrheit nicht auf einen Teil des heiligen Erbes (indem man z.B. das Alte Testament ablehnt und nur das Neue gelten lässt), und auch nicht auf einen homogenen Kern (wobei man den Rest beseitigt oder als wenig wichtig relativiert) beschränkt werden kann. Es ist nicht nur alles, was inspiriert ist, wichtig für die volle Offenbarung Gottes, sondern jeder Teil ist auch in Beziehung zu den anderen Teilen zu lesen, nach einem Prinzip der Harmonie, die aber nicht Einförmigkeit, sondern Konvergenz des Verschiedenen ist.

Aus christlicher Sicht ist jedoch klar, dass die Wahrheit der Bibel im Zeugnis von Jesus als Herrn niedergelegt ist. Er ist „zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung“ (Dei Verbum, Nr. 2), und er sagt von sich selber: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Diese zentrale Bedeutung des Mysteriums Christi schließt nicht aus, sondern hebt die alten Traditionen hervor, die, wie Jesus selber sagt, von ihm sprechen (vgl. Joh 5,39) und von dem endgültigen Heil, das in seinem Tod und in seiner Auferstehung verwirklicht ist. Christus ist, in seinem unergründlichen Mysterium, die Mitte, die die ganze Schrift erleuchtet.

Die literarischen Traditionen anderer Religionen

148. Es ist noch, über die Art zu sprechen, wie die Beziehung zwischen der Heiligen Schrift und den literarischen Traditionen anderer Religionen zu verstehen ist. Diese Frage ist für den interreligiösen Dialog von dringender Aktualität. Die Antwort ist sicher nicht leicht, da das unverzichtbare Prinzip der „Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ (vgl. Titel der Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre Dominus Iesus vom 6.8.2000) und die richtige Wertung der geistlichen Schätze der anderen Religionen miteinander zu verbinden sind. Unser Dokument hat nicht die Linien ausgezogen, dievon der Heiligen Schrift selber her der theologischen und pastoralen Aufmerksamkeit der Kirche gezeigt werden könnten. Es soll genügen, auf die Gestalt Bileams (Num 24) zu verweisen, um zu zeigen, dass es die (inspirierte) Prophetie nicht ausschließlich in Israel gab, und daran zu erinnern, dass Paulus bei seiner Rede auf dem Areopag sich mit Überzeugung Einsichten der griechischen Dichter und Philosophen anschloss (vgl. Apg 17,28). Es ist auch allgemein anerkannt, dass die Schriften des Alten Testaments der Literatur Mesopotamiens und Ägyptens viel verdanken, so wie die Bücher des Neuen Testaments aus dem kulturellen Erbe der griechischen Welt schöpfen. Die semina Verbi (Samen des Wortes Gottes) sind in der ganzen Welt ausgesät und können daher nicht auf den Text der Bibel begrenzt werden. Die Kirche hat festgelegt, was sie für inspiriert hält, sie hat aber über den ganzen Rest kein negatives Urteil gefällt. Jedoch ist das Wort Gottes, das in den kanonischen Schriften niedergelegt ist, und besonders in dem Teil, der direkt vom fleischgewordenen Wort Zeugnis gibt, das Unterscheidungskriterium für die Wahrheit aller anderen religiösen Zeugnisse, sei es in der Kirche, sei es in den religiösen Traditionen der verschiedenen Völker.

Wie die vorausgehenden Überlegungen zeigen, lebt die Kirche in einem hermeneutischen Zirkel. Sie entnimmt dem Hören auf die Worte der Heiligen Schrift die Prinzipien ihres Glaubens und von diesem Glauben erleuchtet ist sie fähig, nicht nur das, was sie in ihrem heiligen Buch liest, richtig zu interpretieren, sondern auch über den Wert all dessen, was Gehör verlangt, zu entscheiden. Der Heilige Geist ist das Prinzip der Wahrheit, das den Prozess des Glaubens in Gang setzt und ihn zum Ziel bringt, in einer unbegrenzten Öffnung für die Offenbarung Gottes in der Geschichte.

Die Interpretation schwieriger Seiten der Bibel

149. Die Kirche als lebendiger Leib gläubiger Leser und autorisierter Ausleger des inspirierten Textes vermittelt zu allen Zeiten das Verstehen und Verkündigen der Wahrheit der Heiligen Schrift. Da sie mit dem Heiligen Geist begabt ist, ist sie wirklich „die Säule und das Fundament der Wahrheit“ (1 Tim 3,15) in dem Maße, in dem sie der Welt getreu das Wort verkündet, das sie begründet. Ihre Aufgabe ist es, Jesus Christus als den einzigen und endgültigen Retter (Apg 4,12) offen und frei zu verkündigen; sie soll aber auch den Gläubigen und allen Menschen, die die Wahrheit suchen, helfen, die biblischen Texte durch passende Methoden und eine angemessene Hermeneutik richtig zu interpretieren. Für diesen Zweck hat sich das frühere Dokument der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche, VAS 115, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993 als nützlich erwiesen.

Nach heutigem Wissen und Empfinden gibt es beträchtliche Vorbehalte gegen die Gültigkeit biblischer Aussagen. Sie beziehen sich auf Auffassungen, die als überholt eingeschätzt werden, auf Handlungen und juristische Maßnahmen, die als fraglich oder gar als tadelnswert gelten, auf Erzählungen, denen ein historisches Fundament zu fehlen scheint. Daraus folgt eingewisses Misstrauen gegenüber der Bibel und ein (versteckter) Zweifel an ihrer pastoralen Nützlichkeit bis dazu hin, dass die Inspiration und dementsprechend die Wahrheit bestimmter Teile der Bibel in Frage gestellt werden. Hier genügt es nicht, im Allgemeinen zu sagen, dass sich im Alten Testament „Unvollkommenes und Zeitbedingtes“ (Dei Verbum, Nr. 15) findet, oder daran zu erinnern, dass die Verfasser des Neuen Testaments von der Mentalität ihrer Zeit beeinflusst sind. Wenn es richtig ist, das Prinzip der Inkarnation zu betonen und es analog auf das Schriftwerden des göttlichen Wortes anzuwenden, so ist es auch notwendig zu zeigen, wie die Herrlichkeit des Wortes Gottes in der menschlichen Schwachheit aufstrahlt. Es genügt auch nicht, aus einer klugen pastoralen Sorge heraus, problematische Teile der Bibel vom öffentlichen Lesen in den liturgischen Versammlungen auszuschließen Wer den ganzen Text kennt, kann sich geradezu darüber beschweren, dass das heilige Erbe verkürzt wird, oder kann die Hirten anklagen, dass sie die schwierigen Aspekte der Bibel in ungebührlicher Weise verheimlichen.

150. Die Kirche kann sich nicht davon dispensieren, den ganzen inspirierten Text, der Träger der göttlichen Wahrheit ist, respektvoll zu interpretieren, auch wenn diese Aufgabe mühsam ist und Ausdauer verlangt. Dazu braucht es klare Prinzipien, die zu verstehen helfen, dass der Sinn des Geschriebenen nicht unmittelbar mit dem “Buchstaben“ des Textes identisch ist. Auf der anderen Seite ist ein genaues Vorgehen verlangt, das von den Knoten, die zu lösen sind, einen nach dem anderen untersucht, und das gläubige Bemühen ausdrückt, sich das Wort Gottes entsprechend der Gabe des Verstehens, die der Geist Gottes einer jeden Zeit schenkt, anzueignen.

Das vorliegende Dokument der Päpstlichen Bibelkommission behandelt einige Probleme, die dem heutigen Leser Schwierigkeit machen, und schlägt im Rahmen unseres Glaubens Wege zu einer möglichen Auslegung vor. Die kurze Behandlung kann nicht immer befriedigen, aber die angegebenen hermeneutischen Prinzipien und einige Hinweise zu bestimmten Fragen können nützlich sein.

Es geht nicht so sehr um eine endgültige und erschöpfende Untersuchung schwieriger Probleme im Text der Bibel, als vielmehr um das Aufzeigen einer Hermeneutik und die Anregung zu weiterem Nachdenken, im Dialog mit anderen Interpreten des heiligen Textes. In der gemeinsamen Anstrengung des Suchens ist der Weg zur Wahrheit von mehr Demut und mehr Licht begleitet, da er vom gemeinsamen Hören auf denselben Geist bestimmt ist.

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