Verbum Domini (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

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1891, S. 216-217.</ref> dass »jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt«.<ref> [[Bonaventura Fidanza|Itinerarium mentis in Deum]], II,12: Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 302-303; Commentarius in librum Ecclesiastes, Kap. 1, Vers 11; Quaestiones, II,3: Opera omnia, VI, Quaracchi 1891, S. 16. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei Verbum hat dies so zusammengefaßt: »Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich«.<ref>ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 3; vgl. ERSTES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben [[Dei filius]], Kap. 2, De revelatione: DS 3004.</ref>
 
1891, S. 216-217.</ref> dass »jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt«.<ref> [[Bonaventura Fidanza|Itinerarium mentis in Deum]], II,12: Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 302-303; Commentarius in librum Ecclesiastes, Kap. 1, Vers 11; Quaestiones, II,3: Opera omnia, VI, Quaracchi 1891, S. 16. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei Verbum hat dies so zusammengefaßt: »Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich«.<ref>ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 3; vgl. ERSTES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben [[Dei filius]], Kap. 2, De revelatione: DS 3004.</ref>
  
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'''9.''' Die Wirklichkeit entsteht also aus dem Wort als creatura Verbi, und alles ist aufgerufen, dem Wort zu dienen. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist also der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.<ref>Vgl. Propositio 13. </ref> In der Tat »erfährt jeder Mensch, der auf das Gewissen hört und die Verantwortung wahrnimmt, einen inneren Ruf, Gutes zu tun«<ref>Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf  der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf  das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 39. </ref> und daher Böses zu vermeiden. Wie der hl. [[Thomas von Aquin]] sagt, gründen auf diesem Prinzip auch alle anderen Vorschriften des Naturrechts.<ref>Vgl. Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 94, a. 2. </ref> Das Hören auf das Wort Gottes lehrt uns zunächst einmal die Achtung gegenüber dem Anspruch, nach diesem Gesetz, das »ins Herz geschrieben« ist (vgl. Röm 2,15; 7,23), <ref> Vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008, Nrn. 13, 32, 109.</ref> zu leben. Jesus Christus gibt dann den Menschen das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, das das Naturrecht aufnimmt, es in überragender Weise zur Verwirklichung bringt und uns vom Gesetz der Sünde befreit, aufgrund dessen, wie der hl. Paulus sagt, »das Wollen bei mir vorhanden ist, ich das Gute aber nicht zu verwirklichen vermag« (Röm 7,18). Dieses Gesetz schenkt den Menschen durch die Gnade Anteil am göttlichen Leben und die Möglichkeit, den Egoismus zu überwinden. <ref> Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf  das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 102.</ref>
 
'''9.''' Die Wirklichkeit entsteht also aus dem Wort als creatura Verbi, und alles ist aufgerufen, dem Wort zu dienen. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist also der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.<ref>Vgl. Propositio 13. </ref> In der Tat »erfährt jeder Mensch, der auf das Gewissen hört und die Verantwortung wahrnimmt, einen inneren Ruf, Gutes zu tun«<ref>Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf  der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf  das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 39. </ref> und daher Böses zu vermeiden. Wie der hl. [[Thomas von Aquin]] sagt, gründen auf diesem Prinzip auch alle anderen Vorschriften des Naturrechts.<ref>Vgl. Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 94, a. 2. </ref> Das Hören auf das Wort Gottes lehrt uns zunächst einmal die Achtung gegenüber dem Anspruch, nach diesem Gesetz, das »ins Herz geschrieben« ist (vgl. Röm 2,15; 7,23), <ref> Vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008, Nrn. 13, 32, 109.</ref> zu leben. Jesus Christus gibt dann den Menschen das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, das das Naturrecht aufnimmt, es in überragender Weise zur Verwirklichung bringt und uns vom Gesetz der Sünde befreit, aufgrund dessen, wie der hl. Paulus sagt, »das Wollen bei mir vorhanden ist, ich das Gute aber nicht zu verwirklichen vermag« (Röm 7,18). Dieses Gesetz schenkt den Menschen durch die Gnade Anteil am göttlichen Leben und die Möglichkeit, den Egoismus zu überwinden. <ref> Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf  das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 102.</ref>

Version vom 30. November 2010, 14:43 Uhr

Nachsynodales Schreiben
Verbum domini
unter unseres Heiligen Vaters
Benedikt XVI.
über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche
18. Oktober 2010

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite als pdf-Datei)

Allgemeiner Hinweis: Die in der Kathpedia veröffentlichen Lehramstexte, dürfen nicht als offizielle Übersetzungen betrachtet werden, selbst wenn die Quellangaben dies vermuten ließen. Nur die Texte auf der Vatikanseite [1] können als offiziell angesehen werden (Schreiben der Libreria Editrice Vaticana vom 21. Januar 2008).

EINLEITUNG

1. DAS WORT DES HERRN bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist « (1 Petr 1,25; vgl. Jes 40,8). Mit diesem Satz aus dem Ersten Petrusbrief, der die Worte des Propheten Jesaja aufgreift, stehen wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch das Geschenk seines Wortes mitteilt. Dieses Wort, das in Ewigkeit bleibt, ist in die Zeit eingetreten. Gott hat sein ewiges Wort auf menschliche Weise ausgesprochen; sein Wort »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Das ist die frohe Botschaft. Das ist die Verkündigung, die durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns in unsere Zeit gelangt. Die XII. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, die vom 5. bis zum 26. Oktober 2008 im Vatikan abgehalten wurde, stand unter dem Thema: Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Es war eine tiefe Erfahrung der Begegnung mit Christus, dem Wort des Vaters, der dort gegenwärtig ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Mit diesem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben komme ich gern der Bitte der Väter nach, den Reichtum, der in dieser Versammlung im Vatikan zum Vorschein gekommen ist, und die in gemeinsamer Arbeit formulierten Weisungen dem ganzen Gottesvolk zu übermitteln.<ref>Vgl. Propositio 1.</ref> Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich die Ergebnisse der Synode unter Bezugnahme auf die vorgelegten Dokumente aufgreifen: die Lineamenta, das Instrumentum laboris, die Vorträge ante und post disceptationem sowie die Texte der Wortmeldungen – der im Sitzungssaal verlesenen ebenso wie jener in scriptis –, die Berichte der Arbeitskreise und ihre Diskussionsbeiträge, die Schlußbotschaft an das Volk Gottes und vor allem einige spezifische Vorschläge (propositiones), die die Väter als besonders wichtig erachtet haben. Auf diese Weise möchte ich einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen und hoffe zugleich, dass es immer mehr zum Mittelpunkt allen kirchlichen Handelns werden möge.

Damit unsere Freude vollkommen ist

2. Zunächst möchte ich die Schönheit und die Anziehungskraft der erneuerten Begegnung mit dem Herrn Jesus in Erinnerung rufen, die in den Tagen der Synodenversammlung zu spüren war. Indem ich im Namen der Väter spreche, wende ich mich daher an alle Gläubigen mit den Worten aus dem Ersten Johannesbrief: Wir »verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1 Joh 1,2-3). Der Apostel spricht davon, das Wort des Lebens zu hören, zu sehen, anzufassen und zu schauen (vgl. 1 Joh 1,1), denn das Leben selbst wurde in Christus offenbar. Und wir, die wir zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander berufen sind, müssen Verkündiger dieses Geschenks sein. Unter diesem kerygmatischen Gesichtspunkt war die Synodenversammlung für die Kirche und für die Welt ein Zeugnis dafür, wie schön die Begegnung mit dem Wort Gottes in der kirchlichen Gemeinschaft ist. Ich rufe daher alle Gläubigen auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden, damit das Geschenk des göttlichen Lebens, die Gemeinschaft, in der Welt immer mehr Verbreitung fi nden möge. Am Leben Gottes, der Dreifaltigkeit der Liebe, teilzuhaben, ist in der Tat »vollkommene Freude« (vgl. 1 Joh 1,4). Und es ist die Gabe und unverzichtbare Aufgabe der Kirche, die Freude zu vermitteln, die aus der Begegnung mit der Person Christi kommt, dem Wort Gottes, das mitten unter uns gegenwärtig ist. In einer Welt, die Gott oft als überfl üssig oder fremd empfi ndet, bekennen wir wie Petrus, dass nur er »Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese: dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht und uns seine Liebe mitteilt, damit wir Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10).

Von der Konstitution »Dei Verbum« zur Synode über das Wort Gottes

3. Wir sind uns bewußt, dass wir mit der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über das Wort Gottes gewissermaßen das Herz des christlichen Lebens thematisiert haben, in Kontinuität mit der vorausgegangenen Synodenversammlung über die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche. Die Kirche gründet in der Tat auf dem Wort Gottes, sie entsteht und lebt aus ihm.<ref> Vgl. XII. ORDENTLICHE GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHOFSSYNODE, Instrumentum laboris, 27.</ref> In allen Jahrhunderten seiner Geschichte hat das Volk Gottes stets in ihm seine Kraft gefunden, und die kirchliche Gemeinschaft wächst auch heute im Hören, in der Feier und im Studium des Wortes Gottes. Man muß anerkennen, dass im kirchlichen Leben in den letzten Jahrzehnten die Sensibilität gegenüber diesem Thema zugenommen hat, besonders in bezug auf die christliche Offenbarung, die lebendige Überlieferung und die Heilige Schrift. Seit dem Pontifi kat von Papst Leo XIII. kann man von einer Zunahme der Beiträge sprechen, die darauf ausgerichtet sind, die Bedeutung des Wortes Gottes und der biblischen Studien im Leben der Kirche stärker zu Bewußtsein zu führen.<ref> Vgl. LEO XIII., Enzyklika Providentissimus Deus (18. November 1893): ASS 26 (1893-94), 269-292; BENEDIKT XV., Enzyklika Spiritus paraclitus (15. September 1920): AAS 12 (1920), 385-422; PIUS XII., Enzyklika Divino afflante Spiritu (30. September 1943): AAS 35 (1943), 297-325 </ref>Höhepunkt dieser Entwicklung war das Zweite Vatikanische Konzil, insbesondere die Promulgation der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum. Sie stellt einen Meilenstein auf dem Weg der Kirche dar: »Die Synodenväter … erkennen mit dankbarem Herzen den großen Nutzen an, den dieses Dokument dem Leben der Kirche auf exegetischer, theologischer, geistlicher, pastoraler und ökumenischer Ebene gebracht hat«.<ref>Propositio 2.</ref> Insbesondere ist in diesen Jahren das Bewußtsein um den »trinitarischen und heilsgeschichtlichen Horizont der Offenbarung«<ref>Propositio 2.</ref> gewachsen, in dem Jesus Christus als »der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung«<ref> ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2. </ref> erkannt wird. Die Kirche bekennt unablässig jeder Generation, dass er »durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«.<ref> ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 4. </ref>

Es ist allgemein bekannt, dass die dogmatische Konstitution Dei Verbum der Wiederentdeckung des Wortes Gottes im Leben der Kirche, der theologischen Reflexion über die göttliche Offenbarung und dem Studium der Heiligen Schrift einen großen Impuls gegeben hat. So gab es dann auch in den letzten 40 Jahren auf diesem Gebiet nicht wenige Beiträge des kirchlichen Lehramts.<ref> Unter den Beiträgen verschiedener Art seien erwähnt: PAUL VI., Apostolisches Schreiben Summi Dei Verbum (4. November 1963): AAS 55 (1963), 979-995; DERS., Motu Proprio Sedula cura (27. Juni 1971): AAS 63 (1971), 665-669; JOHANNES PAUL II., Generalaudienz (1. Mai 1985): L’Osservatore Romano (dt.), 10. Mai 1985, S. 2; DERS., Ansprache über die Interpretation der Bibel in der Kirche (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243; BENEDIKT XVI., Ansprache an den Internationalen Kongreß zum 40. Jahrestag der Dogmatischen Konstitution »Dei Verbum« (16. September 2005): AAS 97 (2005), 957; DERS., Angelus (6. November 2005): L’Osservatore Romano (dt.), 11. November 2005, S. 1. Erinnert werden soll auch an die Beiträge der PÄPSTLICHEN BIBELKOMMISSION, Bibel und Christologie (1984): Ench. Vat. 9, Nrn. 1208-1339; Einheit und Vielfalt in der Kirche (11. April 1988): Ench. Vat. 11, Nrn. 544-643;Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993): Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150; Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001): Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150; Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008.</ref> Im Bewußtsein der Kontinuität ihres Weges unter der Führung des Heiligen Geistes fühlte die Kirche sich durch die Feier dieser Synode berufen, das Thema des göttlichen Wortes weiter zu vertiefen, um sowohl die Umsetzung der Konzilsweisungen zu überprüfen als auch den neuen Herausforderungen zu begegnen, die die gegenwärtige Zeit denen stellt, die an Christus glauben.

Die Bischofssynode über das Wort Gottes

4. In der XII. Synodenversammlung haben sich Hirten aus aller Welt um das Wort Gottes geschart und den Bibeltext symbolisch in den Mittelpunkt der Versammlung gestellt, um das wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich voraussetzen: dass Gott redet, dass er antwortet auf unser Fragen. <ref> Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 49. </ref> Gemeinsam haben wir das Wort des Herrn gehört und gefeiert. Wir haben einander erzählt, was der Herr im Gottesvolk wirkt, haben Hoffnungen und Sorgen miteinander geteilt. All das hat uns bewußt gemacht, dass wir unsere Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen können, im Hören aufeinander und in der gegenseitigen Annahme. Daher sind wir auch dankbar für die Zeugnisse über das kirchliche Leben in den verschiedenen Teilen der Welt, die aus den vielfältigen Beiträgen in der Synodenaula hervorgegangen sind. Ebenso bewegend war es, die Bruderdelegierten anzuhören, die die Einladung angenommen haben, an der Synodenversammlung teilzunehmen. Ich denke insbesondere an die Meditation Seiner Heiligkeit Bartholomaios I., des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, die bei den Synodenvätern tiefe Anerkennung gefunden hat.<ref> Vgl. Propositio 37.</ref> Außerdem hat die Bischofssynode zum ersten Mal auch einen Rabbiner eingeladen, um von ihm ein wertvolles Zeugnis über die heiligen Schriften der Juden zu erhalten, die auch Teil unserer Heiligen Schrift sind. <ref> Vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150. </ref> So konnten wir mit Freude und Dankbarkeit feststellen, dass »in der Kirche auch heute Pfingsten ist – das heißt, dass sie in vielen Sprachen redet und dies nicht nur in dem äußeren Sinne, dass alle großen Sprachen der Welt in ihr vertreten sind, sondern mehr noch in dem tieferen Sinn, dass die vielfältigen Weisen des Erfahrens von Gott und Welt, der Reichtum der Kulturen in ihr gegenwärtig ist und so erst die Weite des Menschseins und von ihr her die Weite von Gottes Wort erscheint«. <ref> BENEDIKT XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 50.</ref> Außerdem haben wir festgestellt, dass Pfingsten noch in der Entfaltung begriffen ist: viele Völker warten noch darauf, dass das Wort Gottes in ihrer Sprache und in ihrer Kultur verkündet wird.

Natürlich hat uns auf der ganzen Synode das Zeugnis des Apostels Paulus begleitet. Die Vorsehung wollte es ja, dass die XII. Ordentliche Generalversammlung genau in dem Jahr stattfand, das der Gestalt des großen Völkerapostels anläßlich des 2000. Jahrestags seiner Geburt gewidmet war. Sein Leben war ganz vom Eifer für die Verbreitung des Wortes Gottes geprägt. Unweigerlich hören wir in unserem Herzen den Widerhall seiner eindrucksvollen Worte über seine Sendung als Verkündiger des göttlichen Wortes: »Alles aber tue ich um des Evangeliums willen« (1 Kor 9,23). »Denn« – schreibt er im Brief an die Römer –»ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt« (1,16). Wenn wir über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche nachdenken, dann können wir nicht umhin, an den hl. Paulus zu denken und an sein Leben, das er hingegeben hat, um allen Völkern das Heil Christi zu verkünden.

Der Prolog des Johannesevangeliums als Leittext

5. Ich möchte, dass durch dieses Apostolische Schreiben die Ergebnisse der Synode auf das Leben der Kirche nachhaltigen Einfluß nehmen: auf die persönliche Beziehung zur Heiligen Schrift, auf ihre Auslegung in der Liturgie und in der Katechese sowie in der wissenschaftlichen Forschung, damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt, sondern als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen wird. Zu diesem Zweck möchte ich die Ergebnisse der Synode vorstellen und vertiefen, indem ich immer wieder Bezug nehme auf den Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18), in dem uns die Grundlage unseres Lebens vermittelt wird: Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (vgl. Joh 1,14). Es ist ein wunderbarer Text, der eine Synthese des gesamten christlichen Glaubens bietet. Aus der persönlichen Erfahrung der Begegnung mit Christus und der Nachfolge Christi heraus gewann Johannes, den die Überlieferung mit dem »Jünger, den Jesus liebte« (Joh 13,23; 20,2; 21,7.20), gleichsetzt, »eine innige Gewißheit: Jesus ist die fleischgewordene Weisheit Gottes, er ist sein ewiges Wort, das ein sterblicher Mensch geworden ist«.<ref> Vgl. BENEDIKT XVI., Angelus (4. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 9. Januar 2009, S. 2. </ref>Er, der »sah und glaubte« (Joh 20,8), möge auch uns helfen, das Haupt an die Brust Jesu zu lehnen (vgl. Joh 13,25), aus dessen Seite Blut und Wasser gefl ossen sind (vgl. Joh 19,34), Symbole der Sakramente der Kirche. Dem Vorbild des Apostels Johannes und der anderen inspirierten Autoren folgend, wollen wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, um in der Lage zu sein, das Wort Gottes immer mehr zu lieben.

ERSTER TEIL: VERBUM DEI

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden« ( Joh 1,1.14)

DER GOTT, DER SPRICHT

Gott im Dialog

6. Das Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, dass Gott sich im Dialog zu erkennen gibt, den er mit uns führen möchte. <ref>Vgl. Relatio ante disceptationem, I. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei Verbum hatte diese Wirklichkeit herausgestellt, indem sie bekannte: So »redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen«.<ref> ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2. </ref> Wenn wir jedoch bei der Feststellung haltmachen würden, dass Gott sich uns liebevoll mitteilt, hätten wir die Botschaft des Prologs des hl. Johannes noch nicht ausreichend verstanden. In Wirklichkeit ist das Wort Gottes, durch das »alles geworden« (Joh 1,3) und das selbst »Fleisch geworden« ist (Joh 1,14), dasselbe, das »im Anfang « war (Joh 1,1). Wenn wir hier eine Anspielung auf den Beginn des Buches Genesis (vgl. Gen 1,1) sehen, stehen wir in Wahrheit vor einem Anfang absoluter Natur, der uns vom innersten Leben Gottes spricht. Der johanneische Prolog stellt uns vor die Tatsache, dass der Logos von jeher bestanden hat, und dass er seit jeher selber Gott ist. Es gab also in Gott nie eine Zeit, in der der Logos nicht war. Das Wort bestand schon vor der Schöpfung. Das Innerste des göttlichen Lebens ist daher Gemeinschaft, ist das absolute Geschenk. »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), sagt derselbe Apostel an anderer Stelle und kennzeichnet damit »das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges«.<ref> BENEDIKT XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217-218.</ref> Gott gibt sich uns zu erkennen als Geheimnis unendlicher Liebe, in der der Vater von aller Ewigkeit her sein Wort im Heiligen Geist zum Ausdruck bringt. Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist und das Gott ist, offenbart uns daher Gott selbst im Dialog der Liebe zwischen den göttlichen Personen und lädt uns ein, daran teilzuhaben. Als Abbild Gottes, der die Liebe ist, erschaffen und ihm ähnlich, können wir also uns selbst nur in der Annahme des Wortes und in der Fügsamkeit gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes verstehen. Im Licht der durch das göttliche Wort gewirkten Offenbarung klärt sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.

Die Analogie des Wortes Gottes

7. Von diesen Überlegungen aus, die sich aus der Betrachtung des im Johannesprolog ausgedrückten christlichen Geheimnisses ergeben, müssen jetzt die Aussagen der Synodenväter über die verschiedenen Weisen, mit denen wir den Ausdruck »Wort Gottes« benutzen, hervorgehoben werden. Zu Recht war die Rede von einer Symphonie des Wortes, eines einzigen Wortes, das sich auf verschiedene Weisen ausdrückt: als »ein mehrstimmiger Gesang«.<ref> Instrumentum laboris, 9.</ref> Die Synodenväter sprachen in diesem Zusammenhang von einem analogischen Gebrauch der menschlichen Sprache in bezug auf das Wort Gottes. Dieser Ausdruck betrifft einerseits die Mitteilung, die Gott über sich selbst macht, andererseits jedoch besitzt er verschiedene Bedeutungen, die sorgfältig betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, sowohl unter dem Gesichtspunkt der theologischen Reflexion als auch unter dem der Anwendung in der Seelsorge. Wie uns der Johannesprolog deutlich zeigt, bezeichnet der Logos ursprünglich das ewige Wort, also den eingeborenen Sohn, der vor aller Zeit aus dem Vater geboren und eines Wesens mit ihm ist: Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Aber dasselbe Wort, so der hl. Johannes, »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14); daher ist Jesus Christus, der aus der Jungfrau Maria geboren ist, wirklich das Wort Gottes, das uns wesensgleich geworden ist. Der Ausdruck »Wort Gottes« bezeichnet hier also die Person Jesu Christi, den menschgewordenen ewigen Sohn des Vaters.

Wenn im Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung das Christusereignis steht, dann muß man ebenfalls erkennen, dass die Schöpfung selbst, der liber naturae, auch ein wesentlicher Teil dieser mehrstimmigen Symphonie ist, in der das einzige Wort seinen Ausdruck findet. Ebenso bekennen wir, dass Gott sein Wort in der Heilsgeschichte mitgeteilt hat, dass er seine Stimme vernehmen ließ und mit der Kraft seines Geistes »gesprochen hat durch die Propheten«.<ref> Nizäno-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis: DS 150. </ref> Das göttliche Wort kommt also in der ganzen Heilsgeschichte zum Ausdruck und besitzt seine Fülle im Geheimnis der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung des Sohnes Gottes. Wort Gottes ist auch das von den Aposteln verkündete Wort, in Gehorsam gegenüber dem Gebot des auferstandenen Christus: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15). So wird das Wort Gottes also in der lebendigen Überlieferung der Kirche weitergegeben. Schließlich ist das bezeugte und göttlich inspirierte Wort Gottes die Heilige Schrift, das Alte und das Neue Testament. All das macht deutlich, warum wir in der Kirche die Heilige Schrift hoch verehren, obgleich der christliche Glaube keine »Buchreligion« ist: Das Christentum ist die »Religion des Wortes Gottes«, nicht »eines schriftlichen, stummen Wortes, sondern des menschgewordenen, lebendigen Wortes«.<ref> BERNHARD VON CLAIRVAUX, Homilia super missus est, IV,11: PL 183, 86B.</ref> Daher muß die Schrift als Wort Gottes verkündigt, gehört, gelesen, aufgenommen und gelebt werden, und zwar in der Spur der apostolischen Überlieferung, mit der es untrennbar verknüpft ist.<ref> Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10. </ref>

Wie die Synodenväter gesagt haben, stehen wir wirklich einem analogen Gebrauch des Ausdrucks »Wort Gottes« gegenüber, und wir müssen uns dessen bewußt sein. Die Gläubigen müssen daher besser herangeführt werden, seine verschiedenen Bedeutungen zu erfassen und seinen einheitlichen Sinn zu verstehen. Auch vom theologischen Gesichtspunkt her ist es notwendig, die Artikulierung der verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks zu vertiefen, damit die Einheit des göttlichen Plans und in ihm die Zentralität der Person Christi besser aufscheint.<ref>Vgl. Propositio 3. </ref>

Kosmische Dimension des Wortes

8. Im Wissen um die grundlegende Bedeutung des Wortes Gottes in bezug auf das fleischgewordene ewige Wort Gottes, den einzigen Retter und Mittler zwischen Gott und dem Menschen,<ref> Vgl. KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus Iesus (6. August 2000), 13-15: AAS 92 (2000), 754– 7550.</ref> und im Hören auf dieses Wort werden wir durch die biblische Offenbarung zu der Einsicht geführt, dass es die Grundlage der ganzen Wirklichkeit ist. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es bezüglich des göttlichen Logos: »Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist« (1,3); auch der Kolosserbrief verweist auf Christus, den »Erstgeborenen der ganzen Schöpfung« (1,15), und sagt: »Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen« (1,16). Und der Autor des Hebräerbriefes ruft in Erinnerung: »Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort erschaffen worden und dass so aus Unsichtbarem das Sichtbare entstanden ist« (11,3).

Diese Verkündigung ist für uns ein befreiendes Wort. Denn die Aussagen der Schrift verweisen darauf, dass alles, was geworden ist, nicht Frucht eines irrationalen Zufalls, sondern von Gott gewollt ist, zu seinem Plan gehört, in dessen Mittelpunkt das Angebot steht, am göttlichen Leben in Christus teilzuhaben. Die Schöpfung entsteht aus dem Logos und trägt die unauslöschliche Spur der schöpferischen Vernunft, die ordnet und leitet. Diese frohe Gewißheit besingen die Psalmen: »Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (33,6), und: »Der Herr sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da« (33,9). Die ganze Wirklichkeit bringt dieses Geheimnis zum Ausdruck: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament« (19,2). So lädt uns also die Heilige Schrift selbst ein, den Schöpfer kennenzulernen, indem wir die Schöpfung betrachten (vgl. Weish 13,5; Röm 1,19-20). Die christliche Überlieferung hat dieses Schlüsselelement der Symphonie des Wortes vertieft. So sagt zum Beispiel der hl. Bonaventura, der zusammen mit der großen Überlieferung der griechischen Väter alle Möglichkeiten der Schöpfung im Logos sieht,<ref>Vgl. In Hexaemeron, XX,5; Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S.425-426; Breviloquium, I,8: Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 216-217.</ref> dass »jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt«.<ref> Itinerarium mentis in Deum, II,12: Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 302-303; Commentarius in librum Ecclesiastes, Kap. 1, Vers 11; Quaestiones, II,3: Opera omnia, VI, Quaracchi 1891, S. 16. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei Verbum hat dies so zusammengefaßt: »Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich«.<ref>ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 3; vgl. ERSTES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben Dei filius, Kap. 2, De revelatione: DS 3004.</ref>

Die Erschaffung des Menschen

9. Die Wirklichkeit entsteht also aus dem Wort als creatura Verbi, und alles ist aufgerufen, dem Wort zu dienen. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist also der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.<ref>Vgl. Propositio 13. </ref> In der Tat »erfährt jeder Mensch, der auf das Gewissen hört und die Verantwortung wahrnimmt, einen inneren Ruf, Gutes zu tun«<ref>Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 39. </ref> und daher Böses zu vermeiden. Wie der hl. Thomas von Aquin sagt, gründen auf diesem Prinzip auch alle anderen Vorschriften des Naturrechts.<ref>Vgl. Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 94, a. 2. </ref> Das Hören auf das Wort Gottes lehrt uns zunächst einmal die Achtung gegenüber dem Anspruch, nach diesem Gesetz, das »ins Herz geschrieben« ist (vgl. Röm 2,15; 7,23), <ref> Vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008, Nrn. 13, 32, 109.</ref> zu leben. Jesus Christus gibt dann den Menschen das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, das das Naturrecht aufnimmt, es in überragender Weise zur Verwirklichung bringt und uns vom Gesetz der Sünde befreit, aufgrund dessen, wie der hl. Paulus sagt, »das Wollen bei mir vorhanden ist, ich das Gute aber nicht zu verwirklichen vermag« (Röm 7,18). Dieses Gesetz schenkt den Menschen durch die Gnade Anteil am göttlichen Leben und die Möglichkeit, den Egoismus zu überwinden. <ref> Vgl. INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 102.</ref>

[Fortsetzung folgt.]

Fussnoten

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