Ut unum sint (Wortlaut)

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Enzyklika
Ut unum sint

von Papst
Johannes Paul II.
über den Einsatz in der Ökumene
25. Mai 1995
(Offizieller lateinischer Text: AAS 87 [1995] 921-982)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite;
Die Anmerkungen wurden aus den den Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 121 genommen)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


EINFÜHRUNG

1. Ut unum sint ! Der Aufruf zur Einheit der Christen, den das II. Vatikanische Konzil mit so großer Eindringlichkeit vorgebracht hat, findet im Herzen der Gläubigen immer stärkeren Widerhall, besonders beim Näherrücken des Jahres Zweitausend, das für sie ein heiliges Jubiläumsjahr sein wird zum Gedächtnis der Fleischwerdung des Gottessohnes, der Mensch geworden ist, um den Menschen zu retten.

Das mutige Zeugnis so vieler Märtyrer unseres Jahrhunderts, die auch anderen nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche befindlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften angehören, verleiht dem Konzilsaufruf neue Kraft und erinnert uns an die Verpflichtung, seine Aufforderung anzunehmen und in die Tat umzusetzen. Vereint in der hochherzigen Hingabe ihres Lebens für das Reich Gottes sind diese unsere Brüder und Schwestern der bedeutendste Beweis dafür, dass in der Ganzhingabe seiner selbst an die Sache des Evangeliums jedes Element der Spaltung bewältigt und überwunden werden kann.

Christus ruft alle seine Jünger zur Einheit. Mein brennender Wunsch ist es, diese Aufforderung heute zu erneuern, sie mit Entschiedenheit wieder aufzuwerfen, wobei ich an das erinnere, was ich am Karfreitag 1994 zum Abschluss der von den Worten unseres verehrten Bruders, des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus von Konstantinopel geführten Kreuzwegmeditation am Kolosseum in Rom unterstrichen habe. Ich habe bei jenem Anlass gesagt, dass diejenigen, die an Christus glauben und durch die lange Reihe der Märtyrer miteinander verbunden sind, nicht gespalten bleiben können. Wenn sie gegen das Bestreben der Welt, das Geheimnis der Erlösung zu entleeren, wahrhaftig und wirksam ankämpfen wollen, müssen sie gemeinsam dieselbe Wahrheit über das Kreuz bekennen.<ref> Vgl. Schlusswort nach dem Kreuzweg am Karfreitag (1. April 1994), 3: AAS 87 (1995), 88.</ref> Das Kreuz! Die antichristliche Strömung setzt sich zum Ziel, den Wert des Kreuzes zu zerstören, es seiner Bedeutung zu entleeren, indem sie leugnet, dass der Mensch in ihm die Wurzeln seines neuen Lebens hat; indem sie behauptet, das Kreuz vermöge weder Aussichten noch Hoffnungen zu nähren: der Mensch, so heißt es, ist nur ein irdisches Wesen, das so leben soll, als ob es Gott nicht gäbe.

2. Niemandem entgeht die Herausforderung, die all das an die Gläubigen stellt. Sie müssen sie annehmen. Wie könnten sie in der Tat ablehnen, mit Gottes Hilfe alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um Mauern der Trennung und des Misstrauens niederzuschreiben, um Hindernisse und Vorurteile zu überwinden, die die Verkündigung des Evangeliums vom Heil durch das Kreuz Jesu, des einzigen Erlösers des Menschen, jedes Menschen, verhindern?

Ich danke dem Herrn, dass er uns dazu angehalten hat, auf dem Weg der Einheit und der Gemeinschaft unter den Christen voranzuschreiten, der zwar schwierig, aber so reich an Freude ist. Die interkonfessionellen Dialoge auf theologischer Ebene haben positive und greifbare Ergebnisse erbracht: das ermutigt zum Weitermachen.

Doch außer den Divergenzen in den Lehrmeinungen, die gelöst werden müssen, können die Christen die Last uralter, aus der Vergangenheit ererbter Verständnislosigkeit, gegenseitiger Missverständnisse und Vorurteile nicht verringern. Erschwert wird diese Situation nicht selten durch Unbeweglichkeit, Gleichgültigkeit und eine unzureichende Kenntnis voneinander. Das Engagement für die Ökumene muss sich daher auf die Umkehr der Herzen und auf das Gebet stützen, was auch zur notwendigen Läuterung der geschichtlichen Erinnerung führen wird. Durch die Gnade des Heiligen Geistes sind die Jünger des Herrn, beseelt von der Liebe, vom Mut zur Wahrheit und von dem aufrichtigen Willen, einander zu verzeihen und sich zu versöhnen, aufgerufen, ihre schmerzvolle Vergangenheit und jene Wunden, die diese leider auch heute noch immer hervorruft, gemeinsam neu zu bedenken. Von der stets jungen Kraft des Evangeliums werden sie eingeladen, gemeinsam aufrichtig und völlig objektiv die begangenen Irrtümer sowie die Begleiterscheinungen anzuerkennen, die am Beginn ihrer unglückseligen Trennungen standen. Dazu braucht es einen ruhigen und klaren, der Wahrheit verpflichteten und von der göttlichen Barmherzigkeit belebten Blick, der imstande ist, den Geist zu befreien und in einem jeden eine neue Bereitschaft zu wecken im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums an die Menschen jedes Volkes und jeder Nation.

3. Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche unumkehrbar dazu verpflichtet, den Weg der Suche nach der Ökumene einzuschlagen und damit auf den Geist des Herrn zu hören, der uns lehrt, aufmerksam die »Zeichen der Zeit« zu lesen. Die Erfahrungen, die die Suche nach Einheit in diesen Jahren erlebt hat und weiter erlebt, erleuchten sie noch tiefer über ihre Identität und ihre Sendung in der Geschichte. Die katholische Kirche sieht die Schwächen ihrer Söhne und Töchter und bekennt sie im Bewusstsein, dass deren Sünden ebenfalls Treuebrüche und Hindernisse für die Verwirklichung des Planes des Erlösers darstellen. Da sie sich unablässig zur Erneuerung nach dem Evangelium aufgerufen fühlt, hört sie nicht auf Buße zu tun. Gleichzeitig erkennt und preist sie jedoch noch mehr die Macht des Herrn, der sie mit dem Geschenk der Heiligkeit überhäuft hat, sie an sich zieht und sie seinem Leiden und seiner Auferstehung angleicht.

Im Wissen um die vielfältigen Wechselfälle ihrer Geschichte setzt sich die Kirche dafür ein, sich von jedem rein menschlichen Rückhalt zu befreien, um das Gesetz der Seligpreisungen aus dem Evangelium in seiner ganzen Tiefe zu leben. Da sie sich bewusst ist, dass sich die Wahrheit nicht anders durchsetzt «als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt«,<ref> II. Vat. Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1.</ref> erstrebt sie für sich selber nichts außer die Freiheit, das Evangelium zu verkünden. In der Tat erprobt sich ihre Autorität im Dienst an der Wahrheit und der Liebe.

Ich selbst möchte jeden nützlichen Schritt fördern, damit das Zeugnis der gesamten katholischen Gemeinschaft in seiner vollen Reinheit und Konsequenz verstanden werden kann, vor allem im Hinblick auf jenes Ziel, das die Kirche an der Schwelle des neuen Jahrtausends erwartet, eines außerordentlichen Augenblicks, angesichts dessen sie den Herrn bittet, dass die Einheit zwischen allen Christen bis hin zur Erlangung der vollen Gemeinschaft wachsen möge.<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 16: AAS 87 (1995), 15.</ref> Dieses edle Ziel hat auch die vorliegende Enzyklika im Auge, die in ihrem vorwiegend pastoralen Charakter einen Beitrag dazu leisten will, das Bemühen aller zu unterstützen, die für das Anliegen der Einheit tätig sind.

4. Dies ist eine klare Verpflichtung des Bischofs von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus. Ich erfülle sie mit der tiefen Überzeugung, dem Herrn zu gehorchen, und im vollen Bewusstsein meiner menschlichen Schwachheit. Denn auch wenn Christus dem Petrus diese besondere Sendung in der Kirche anvertraut und ihm aufgetragen hat, die Brüder zu stärken, so lieb er ihn gleichzeitig seine menschliche Schwachheit und die besondere Notwendigkeit seiner Bekehrung erkennen: »Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder« (Lk 22, 32). Gerade in der menschlichen Schwachheit des Petrus wird vollständig offenkundig, dass der Papst völlig von der Gnade und vom Gebet des Herrn abhängt, um dieses besondere Amt in der Kirche erfüllen zu können: »Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt« (Lk 22, 32). Die Bekehrung des Petrus und seiner Nachfolger stützt sich auf das Gebet des Erlösers selber, und die Kirche nimmt ständig an diesem Bittgebet teil. In unserer, vom II. Vatikanischen Konzil geprägten ökumenischen Epoche ist die Sendung des Bischofs von Rom in besonderer Weise darauf ausgerichtet, an das Erfordernis der vollen Gemeinschaft der Jünger Christi zu erinnern.

Der Bischof von Rom selbst muss sich das Gebet Christi um die Bekehrung, die für »Petrus« unabdingbar ist, voll Inbrunst zu eigen machen, um den Brüdern dienen zu können. Von Herzen bitte ich darum, dass die Gläubigen der katholischen Kirche und alle Christen an diesem Gebet teilnehmen. Zusammen mit mir mögen alle für diese Bekehrung beten.

Wir wissen, dass die Kirche auf ihrem irdischen Pilgerweg unter Gegnerschaft und Verfolgungen gelitten hat und weiter leiden wird. Doch die Hoffnung, die sie trägt, ist unerschütterlich, so wie die Freude unzerstörbar ist, die aus solcher Hoffnung erwächst. Denn der starke und ewige Fels, auf dem sie gegründet ist, ist Jesus Christus, ihr Herr.

I. DIE ÖKUMENISCHE VERPFLICHTUNG DER KATHOLISCHEN KIRCHE

Der Plan Gottes und die Gemeinschaft

5. Zusammen mit allen Jüngern Christi gründet die katholische Kirche ihre ökumenische Verpflichtung, alle in der Einheit zu versammeln, auf dem Plan Gottes. Denn »die Kirche ist nicht eine in sich selbst geschlossene Wirklichkeit, sondern fortwährend offen für die missionarische und ökumenische Dynamik, da sie ja in die Welt gesandt ist, um das Geheimnis der Gemeinschaft, das sie konstituiert, zu verkünden und zu bezeugen, zu vergegenwärtigen und zu verbreiten: alle und alles in Christus zu vereinen, allen 'untrennbares Sakrament der Einheit? zu sein«.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio Communionis notio (28. Mai 1992), 4: AAS 85 (1993), 840.</ref>

Schon im Alten Testament brachte der Prophet Ezechiel unter Bezugnahme auf die damalige Situation des Gottesvolkes den göttlichen Willen zum Ausdruck, die Mitglieder seines zerrissenen Volkes »von allen Seiten zu sammeln«; der Prophet bediente sich dazu des einfachen Symbols zweier zunächst verschiedener Holzstücke, die dann zu einem einzigen Stück zusammengefügt wurden: »Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Die Völker werden erkennen, dass ich der Herr bin, der Israel heiligt« (vgl. 37, 16-28). Das Johannesevangelium sieht angesichts der Situation des Gottesvolkes zu jener Zeit in Jesu Tod den Grund für die Einheit der Kinder Gottes: »Der Hohepriester [...] sagte [...], dass Jesus für das Volk sterben werde. Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln« (11, 51-52). Tatsächlich wird der Brief an die Epheser erklären: »Er riß [...] die trennende Wand der Feindschaft nieder [...] durch das Kreuz [...]. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet« (2, 14-16), aus dem, was getrennt war, hat er eine Einheit geschaffen.

6. Die Einheit der ganzen zerrissenen Menschheit ist Gottes Wille. Aus diesem Grund hat er seinen Sohn gesandt, damit dieser durch seinen Tod und seine Auferstehung uns seinen Geist der Liebe schenke. Am Vorabend seines Opfertodes am Kreuz bittet Jesus selbst den Vater für seine Jünger und für alle, die an ihn glauben, dass sie eins seien, eine lebendige Gemeinschaft. Von daher rührt nicht nur die Pflicht, sondern auch die Verantwortung, die vor Gott, gegenüber seinem Plan, jenen Menschen obliegt, die durch die Taufe zum Leib Christi werden sollen, zu dem Leib, in dem sich die Versöhnung und die Gemeinschaft voll verwirklichen sollen. Wie ist es nur möglich, getrennt zu bleiben, wenn wir doch mit der Taufe »eingetaucht« wurden in den Tod des Herrn, das heißt in den Akt selbst, in dem Gott durch den Sohn die Wände der Trennung niedergerissen hat? Die »Spaltung widerspricht ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 1.</ref>

Der ökumenische Weg: der Weg der Kirche

7. »Der Herr der Geschichte, der seinen Gnadenplan mit uns Sündern in Weisheit und Langmut verfolgt, hat in jüngster Zeit begonnen, über die gespaltene Christenheit ernste Reue und Sehnsucht nach Einheit reichlicher auszugießen. Von dieser Gnade sind heute überall sehr viele Menschen ergriffen, und auch unter unseren getrennten Brüdern ist unter der Einwirkung der Gnade des Heiligen Geistes eine sich von Tag zu Tag ausbreitende Bewegung zur Wiederherstellung der Einheit aller Christen entstanden. Diese Einheitsbewegung, die man als ökumenische Bewegung bezeichnet, wird von Menschen getragen, die den dreieinigen Gott anrufen und Jesus als Herrn und Erlöser bekennen, und zwar nicht nur einzeln für sich, sondern auch in ihren Gemeinschaften, in denen sie die frohe Botschaft vernommen haben und die sie ihre Kirche und Gottes Kirche nennen. Fast alle streben, wenn auch auf verschiedene Weise, zu einer einen, sichtbaren Kirche Gottes hin, die in Wahrheit allumfassend und zur ganzen Welt gesandt ist, damit sich die Welt zum Evangelium bekehre und so ihr Heil finde zur Ehre Gottes«.<ref> Ebd.</ref>

8. Diese Aussage des Dekretes Unitatis redintegratio muss im Gesamtzusammenhang des Konzilslehramtes gelesen werden. Das II. Vatikanische Konzil bringt die Entschlossenheit der Kirche zum Ausdruck, die ökumenische Aufgabe zugunsten der Einheit der Christen anzunehmen und sie mit Überzeugung und Entschiedenheit voranzutreiben: »Dieses Heilige Konzil mahnt alle katholischen Gläubigen, dass sie, die Zeichen der Zeit erkennend, mit Eifer an dem ökumenischen Werk teilnehmen«.<ref> Ebd., 4.</ref>

Unitatis redintegratio hält sich, wenn es die katholischen Prinzipien des Ökumenismus anführt, vor allem an die Lehre über die Kirche, wie sie in der Konstitution Lumen gentium, und zwar in dem Kapitel über das Volk Gottes niedergelegt ist.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 14.</ref> Zugleich denkt es an die Aussagen der Konzilserklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1 u. 2.</ref>

Die katholische Kirche nimmt hoffnungsvoll die ökumenische Verpflichtung an als einen Imperativ des vom Glauben erleuchteten und von der Liebe geleiteten christlichen Gewissens. Auch hier läßt sich das Wort des hl. Paulus an die ersten Christen von Rom anwenden: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (5, 5); daher »läßt« uns unsere »Hoffnung nicht zugrunde gehen« (Röm 5, 5). Es ist die Hoffnung auf die Einheit der Christen, die in der trinitarischen Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ihre göttliche Quelle hat.

9. Jesus selbst hat in der Stunde seines Leidens gebetet, dass »alle eins seien« (Joh 17, 21). Diese Einheit, die der Herr seiner Kirche geschenkt hat und in der er alle umfangen wollte, ist nicht etwas Nebensächliches, sondern steht im Zentrum seines Wirkens. Und sie ist auch nicht gleichbedeutend mit einem zweitrangigen Attribut der Gemeinschaft seiner Jünger. Sie gehört vielmehr zum Wesen dieser Gemeinschaft selbst. Gott will die Kirche, weil er die Einheit will und in der Einheit die ganze Tiefe seiner agape zum Ausdruck kommt.

Denn diese vom Heiligen Geist geschenkte Einheit besteht nicht bloß in einer Ansammlung von Personen, die sich zu einer Summe addieren. Es ist eine Einheit, die durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der hierarchischen Leitung und Gemeinschaft gebildet wird.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 14.</ref> Die Gläubigen sind eins, weil sie sich im Geist in der Gemeinschaft des Sohnes und in ihm in seiner Gemeinschaft mit dem Vater befinden: »Wir haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1 Joh 1, 3). Für die katholische Kirche ist daher die Gemeinschaft der Christen nichts anderes als das Offenbarwerden der Gnade an ihnen, durch die Gott sie zu Teilhabern an seiner eigenen Gemeinschaft macht, die sein ewiges Leben ist. Die Worte Christi, dass »alle eins seien«, sind also das Gebet an den Vater, damit sich sein Plan voll erfülle, auf dass allen enthüllt werde, »wie jenes Geheimnis Wirklichkeit geworden ist, das von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, verborgen war« (Eph 3, 9). An Christus glauben heißt, die Einheit wollen; die Einheit wollen heißt, die Kirche wollen; die Kirche wollen heißt, die Gnadengemeinschaft wollen, die dem Plan des Vaters von Ewigkeit her entspricht. Das also ist die Bedeutung des Gebetes Christi: »Ut unum sint«.

10. Im gegenwärtigen Zustand der Spaltung unter den Christen und der zuversichtlichen Suche nach der vollen Gemeinschaft fühlen sich die katholischen Gläubigen zutiefst ermahnt vom Herrn der Kirche. Das II. Vatikanische Konzil hat durch ein klares und für alle, auch unter den anderen Christen vorhandene kirchliche Werte offenes Kirchenbild ihren Einsatz gestärkt. Die katholischen Gläubigen stellen sich im Geist des Glaubens der ökumenischen Problematik.

Das Konzil sagt, dass »die Kirche Christi in der katholischen Kirche verwirklicht ist, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird«, und anerkennt gleichzeitig, »dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen«.<ref> Ebd., 8.</ref>

»Daher sind die getrennten Kirchen und Gemeinschaften trotz der Mängel, die ihnen nach unserem Glauben anhaften, nicht ohne Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles. Denn der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 3.</ref>

11. Auf diese Weise bestätigt die katholische Kirche, dass sie während ihrer zweitausendjährigen Geschichte in der Einheit mit sämtlichen Gütern, mit denen Gott seine Kirche ausstatten möchte, erhalten geblieben ist, und das trotz der oft schweren Krisen, die sie erschüttert haben, trotz mangelnder Treue einiger ihrer Amtsträger und der Fehler, in die ihre Mitglieder tagtäglich verfallen. Die katholische Kirche weiß, dass namens der Hilfe, die ihr vom Heiligen Geist zukommt, die Schwächen, die Mittelmäßigkeiten, die Sünden, mitunter die Treuebrüche mancher ihrer Söhne und Töchter das nicht zerstören können, was Gott auf Grund seines Planes an Gnaden in sie eingegossen hat. Auch »die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen« (Mt 16, 18). Die katholische Kirche vergißt jedoch nicht, dass viele in ihren Reihen Gottes Plan trüben. Wenn das Dekret über den Ökumenismus die Spaltung der Christen ins Gedächtnis zurückruft, weiß es sehr wohl um die »Schuld der Menschen auf beiden Seiten«<ref> Ebd.</ref> und erkennt an, dass die Verantwortung nicht ausschließlich den »anderen« zugeschrieben werden kann. Durch Gottes Gnade ist jedoch das, was den Aufbau der Kirche Christi ausmacht, und auch jene Gemeinschaft, die mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften fortbesteht, nicht zerstört worden.

Die Elemente der Heiligung und der Wahrheit, die in den anderen christlichen Gemeinschaften in je unterschiedlichem Grad vorhanden sind, bilden in der Tat die objektive Grundlage der, wenn auch unvollkommenen, Gemeinschaft, die zwischen ihnen und der katholischen Kirche besteht.

In dem Maße, in dem diese Elemente in den anderen christlichen Gemeinschaften vorhanden sind, ist die eine Kirche Christi in ihnen wirksam gegenwärtig. Deshalb spricht das II. Vatikanische Konzil von einer gewissen, wenngleich unvollkommenen Gemeinschaft. Die Konstitution Lumen gentium unterstreicht, dass die katholische Kirche sich mit diesen Gemeinschaften sogar durch eine bestimmte, echte Verbindung im Heiligen Geist »aus mehrfachem Grunde verbunden weiß«.<ref> Nr. 15.</ref>

12. Dieselbe Konstitution hat ausführlich »die Elemente der Heiligung und Wahrheit« dargelegt, die in unterschiedlicher Weise außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche vorhanden und wirksam sind: »Viele nämlich halten die Schrift als Glaubens- und Lebensnorm in Ehren, zeigen einen aufrichtigen religiösen Eifer, glauben in Liebe an Gott, den allmächtigen Vater, und an Christus, den Sohn Gottes und Erlöser, empfangen das Zeichen der Taufe, wodurch sie mit Christus verbunden werden; ja, sie anerkennen und empfangen auch andere Sakramente in ihren eigenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Mehrere unter ihnen besitzen auch einen Episkopat, feiern die heilige Eucharistie und pflegen die Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter. Dazu kommt die Gemeinschaft im Gebet und in anderen geistlichen Gütern; ja sogar eine wahre Verbindung im Heiligen Geiste, der in Gaben und Gnaden auch in ihnen mit seiner heiligmachenden Kraft wirksam ist und manche von ihnen bis zur Vergießung des Blutes gestärkt hat. So erweckt der Geist in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Tat, dass alle in der von Christus angeordneten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden geeint werden mögen«.<ref> Ebd.</ref>

Unter Bezugnahme auf die orthodoxen Kirchen erklärte das Konzilsdekret über den Ökumenismus im besonderen, dass »durch die Feier der Eucharistie des Herrn in diesen Einzelkirchen die Kirche Gottes sich aufbaut und wächst«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15.</ref> Das alles anzuerkennen ist ein Erfordernis der Wahrheit.

13. Dasselbe Dokument arbeitet die Auswirkungen dieser Situation auf die Lehre mit aller Nüchternheit heraus. Es erklärt bezüglich der Mitglieder dieser Gemeinschaften: »Nichtsdestoweniger sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert, darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt«.<ref> Ebd., 3.</ref>

Unter Bezugnahme auf die vielfältigen Güter, die in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften vorhanden sind, fügt das Dekret hinzu: »All dieses, das von Christus ausgeht und zu ihm hinführt, gehört rechtens zu der einzigen Kirche Christi. Auch zahlreiche liturgische Handlungen der christlichen Religion werden bei den von uns getrennten Brüdern vollzogen, die auf verschiedene Weise je nach der verschiedenen Verfaßtheit einer jeden Kirche und Gemeinschaft ohne Zweifel tatsächlich das Leben der Gnade zeugen können und als geeignete Mittel für den Zutritt zur Gemeinschaft des Heiles angesehen werden müssen«.<ref> Ebd.</ref>

Hier handelt es sich um ökumenische Texte von allergrößter Bedeutung. Außerhalb der Grenzen der katholischen Gemeinschaft besteht also kein kirchliches Vakuum. Viele und bedeutende (eximia) Elemente, die in der katholischen Kirche zur Fülle der Heilsmittel und der Gnadengaben gehören, die die Kirche ausmachen, finden sich auch in den anderen christlichen Gemeinschaften.

14. Alle diese Elemente tragen den Hinweis auf die Einheit in sich, in der sie ihre Fülle finden sollen. Es geht also nicht darum, alle in den christlichen Gemeinschaften verstreuten Reichtümer einfach summarisch aneinanderzureihen, um schließlich zu einer Kirche zu gelangen, die Gott für die Zukunft anstreben würde. Gemäß der großen, von den Kirchenvätern des Orients und des Abendlandes bezeugten Tradition glaubt die katholische Kirche, dass im Pfingstereignis Gott bereits die Kirche in ihrer eschatologischen Wirklichkeit offenbar gemacht hat, wie er sie »seit der Zeit des gerechten Abel«<ref> Vgl. HL. Gregor der Große, Homiliae in Evangelia 19, 1: PL 76, 1154, zitiert aus: Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 2.</ref> vorbereitete. Sie ist bereits eine Gegebenheit. Aus diesem Grund befinden wir uns bereits in der Endzeit. Die Elemente dieser bereits gegebenen Kirche existieren in ihrer ganzen Fülle in der katholischen Kirche und noch nicht in dieser Fülle in den anderen Gemeinschaften,<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref> wo gewisse Aspekte des christlichen Geheimnisses bisweilen sogar wirkungsvoller zutage treten. Das Bestreben des Ökumenismus ist es eben, die zwischen den Christen bestehende teilweise Gemeinschaft bis zur vollen Gemeinschaft in der Wahrheit und in der Liebe wachsen zu lassen.

Erneuerung und Bekehrung

15. Von den Anfängen, vom Imperativ des christlichen Gewissens bis hin zur Verwirklichung des ökumenischen Weges zur Einheit hebt das II. Vatikanische Konzil vor allem die Notwendigkeit der Bekehrung des Herzens hervor. Die messianische Verkündigung »die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe« und der darauf folgende Aufruf »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1, 15), mit dem Jesus seine Sendung beginnt, nennen das grundlegende Element, das jeden Neubeginn kennzeichnen muss: das Grunderfordernis der Evangelisierung in jedem Abschnitt des Heilsweges der Kirche. Das betrifft in besonderer Weise den Prozeß, den das II. Vatikanische Konzil dadurch eingeleitet hat, dass es in die Erneuerung die ökumenische Aufgabe aufgenommen hat, die voneinander getrennten Christen zu vereinen. »Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung«.<ref> Ebd., 7.</ref>

Das Konzil ruft sowohl zur persönlichen wie zur gemeinschaftlichen Bekehrung auf. Das Streben jeder christlichen Gemeinschaft nach der Einheit muss Schritt halten mit ihrer Treue zum Evangelium. Handelt es sich um Personen, die ihre christliche Berufung leben, spricht das Konzil von innerer Umkehr, von einem Neuwerden des Geistes.<ref> Vgl. ebd.</ref>

Ein jeder muss sich also grundlegender zum Evangelium bekehren und, ohne je den Plan Gottes aus den Augen zu verlieren, seinen Blick ändern. Durch den Ökumenismus wurde die Betrachtung von »Gottes großen Taten« (mirabilia Dei) um neue Räume bereichert, in denen der dreieinige Gott das Wirken der Gnade weckt: die Wahrnehmung, dass der Heilige Geist in den anderen christlichen Gemeinschaften tätig ist; die Entdeckung von Beispielen der Heiligkeit; die Erfahrung der unbegrenzten Reichtümer der Gemeinschaft der Heiligen; der Kontakt mit unvorhersehbaren Aspekten des christlichen Engagements. Dementsprechend hat auch das Bußbedürfnis zugenommen: das Bewusstsein von gewissen Ausschlüssen, die die brüderliche Liebe verletzen; von gewissen Verweigerungen zu verzeihen; eines gewissen Stolzes; jenes nicht dem Evangelium entsprechenden Sich-Abkapselns in die Verdammung der »anderen«; einer Verachtung, die aus einer unlauteren Anmaßung herrührt. Auf diese Weise wird das ganze Leben der Christen von der ökumenischen Sorge geprägt, und sie sind aufgerufen, sich gleichsam von ihr formen zu lassen.

16. Im Lehramt des Konzils besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Erneuerung, Bekehrung und Reform. Es führt aus: »Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach den Umständen und Zeitverhältnissen […] nicht genau genug bewahrt worden ist, muss deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden«.<ref> Ebd., 6.</ref> Keine christliche Gemeinschaft kann sich diesem Aufruf entziehen.

Durch den offenen Dialog helfen sich die Gemeinschaften, sich gemeinsam im Lichte der apostolischen Überlieferung zu betrachten. Das veranlasst sie sich zu fragen, ob sie wirklich in angemes- sener Weise all das zum Ausdruck bringen, was der Heilige Geist durch die Apostel weitergegeben hat.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 7.</ref> Was die katholische Kirche betrifft, so habe ich auf diese Erfordernisse und Ausblicke wiederholt hingewiesen, wie zum Beispiel anläßlich der Tausendjahrfeier der Taufe der Rus<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Euntes in mundum (25. Januar 1988): AAS 80 (1988), 935–956.</ref> oder zur Erinnerung an das Werk der Evangelisierung der Heiligen Cyrill und Methodius vor elfhundert Jahren.<ref> Vgl. Enzyklika Slavorum apostoli (2. Juni 1985): AAS 77 (1985), 779–813.</ref> Erst kürzlich hat das vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen mit meiner Approbation herausgegebene Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus diese Erfordernisse auf den Pastoralbereich angewandt.<ref> Vgl. Directoire pour l’application des principes et des normes sur l’œcuménisme (25. März 1993): AAS 85 (1993), 1039–1119.</ref>

17. Was die anderen Christen betrifft, so haben die Hauptdokumente der Kommission Glaube und Verfassung<ref> Vgl. insbesondere das sogenannte Lima-Papier: Taufe, Eucharistie, Amt (Januar 1982): Enchiridion Oecumenicum 1, 1392–1446, und das Dokument Nr. 153 von „Glaube und Verfassung“ Confessing the „One“ faith, Genf 1991.</ref> und die Erklärungen anläßlich zahlreicher bilateraler Gespräche den christlichen Gemeinschaften bereits nützliche Werkzeuge geliefert, um zu erkennen, was für die ökumenische Bewegung und für die Umkehr, die sie auslösen soll, notwendig ist. Diese Studien sind unter einem doppelten Blickwinkel wichtig: sie zeigen die schon erreichten beachtlichen Fortschritte auf und erfüllen mit Hoffnung, weil sie eine sichere Grundlage für die Forschung darstellen, die fortgesetzt und vertieft werden muss.

Die Gemeinschaft, die in einer dauernden, im Lichte der apostolischen Überlieferung durchgeführten Reform wächst, ist in der gegenwärtigen Situation des christlichen Volkes zweifellos einer der kennzeichnenden und wichtigsten Züge des Ökumenismus. Andererseits ist sie auch eine grundlegende Garantie für seine Zukunft. Die Gläubigen der katholischen Kirche können nicht übersehen, dass der ökumenische Aufschwung des II. Vatikanischen Konzils eines der Ergebnisse des damaligen Bemühens der Kirche ist, sich im Lichte des Evangeliums und der großen Überlieferung selbst zu erforschen. Mein Vorgänger Papst Johannes XXIII. hatte das gut verstanden, als er bei der Einberufung des Konzils ablehnte, Aggiornamento und ökumenische Öffnung zu trennen.<ref> Vgl. Ansprache zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils(11. Oktober 1962): AAS 54 (1962), 793.</ref> Die ökumenische Berufung des Konzils hat Papst Paul VI. zum Abschluss jener Konzilsversammlung dadurch gewürdigt, dass er den Dialog der Liebe mit den Kirchen, die sich in Einheit mit dem Patriarchen von Konstantinopel befinden, wieder aufnahm und zusammen mit ihm die konkrete und höchst bedeutungsvolle Handlung vollzog, die die Exkommunikationen der Vergangenheit »vergessen gemacht« — ja »aus dem Gedächtnis und aus der Mitte der Kirche getilgt« hat. Es muss daran erinnert werden, dass die Schaffung einer eigenen Einrichtung für den Ökumenismus mit dem Beginn der Vorbereitung des II. Vatikanischen Konzils zusammenfällt<ref> Es handelt sich um das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen, das von Papst Johannes XXIII. mit dem Motu proprio Superno Dei nutu (5. Juni 1960), 9: AAS 52 (1960), 436, errichtet und durch die nachfolgenden Dokumente bestätigt wurde: Motu proprio Appropinquante concilio (6. August 1962), c. III, a. 7, § 2, I: AAS 54 (1962), 614; vgl. Paul VI., Apostolische Konstitution Regimini ecclesiae universae (15. August 1967), 92–94: AAS 59 (1967), 918–919. Dieses Dikasterium wird zur Zeit Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen genannt: vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Pastor bonus (28. Juni 1988), V, art. 135–138: AAS 80 (1988), 895–896.</ref> und dass durch diese Einrichtung die Meinungen und Einschätzungen der anderen christlichen Gemeinschaften ihren Anteil an den großen Debatten über die Offenbarung, über die Kirche, über das Wesen des Ökumenismus und über die Religionsfreiheit gehabt haben.

Fundamentale Bedeutung der Lehre

18. Während das Ökumenismusdekret einen Gedanken aufgreift, den Papst Johannes XXIII. selbst bei der Eröffnung des Konzils geäußert hatte,<ref> Vgl. Ansprache zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962), 792.</ref> nennt es die Art der Lehrverkündigung unter den Elementen der dauernden Reform.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 6.</ref> Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, das Glaubensgut zu modifizieren, die Bedeutung der Dogmen zu ändern, wesentliche Worte aus ihnen zu streichen, die Wahrheit an den Zeitgeschmack anzupassen, bestimmte Artikel aus dem Credo zu streichen mit der falschen Vorgabe, sie würden heute nicht mehr verstanden. Die von Gott gewollte Einheit kann nur in der gemeinsamen Zustimmung zur Unversehrtheit des Inhalts des geoffenbarten Glaubens Wirklichkeit werden. Was den Glauben betrifft, steht der Kompromiss im Widerspruch zu Gott, der die Wahrheit ist. Wer könnte im Leib Christi, der »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Joh 14, 6), eine Versöhnung für rechtmäßig halten, die um den Preis der Wahrheit erreicht würde? Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae schreibt der menschlichen Würde die Suche nach der Wahrheit, »besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht«,<ref> II. Vat. Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1.</ref> und die Zustimmung zu seinen Forderungen zu. Ein »Miteinander«, das die Wahrheit verraten würde, stünde daher im Gegensatz zum Wesen Gottes, der seine Gemeinschaft anbietet, und zum Wahrheitsbedürfnis, das tief in jedem Menschenherzen wohnt.

19. Doch die Lehre muss in einer Weise dargelegt werden, die sie denjenigen, für die Gott sie bestimmt, verständlich macht. In der Enzyklika Slavorum apostoli erinnerte ich daran, dass Cyrill und Methodius aus diesem Grunde bemüht waren, die Ausdrücke der Bibel und die Vorstellungen der griechischen Theologie in einen Zusammenhang von sehr verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen und Ideen zu übertragen. Sie wollten, dass das eine Wort Gottes »auf diese Weise in den Ausdrucksformen, die jeder einzelnen Zivilisation eigen sind, zugänglich« werde.<ref> Enzyklika Slavorum apostoli (2. Juni 1985), 11: AAS 77 (1985), 792.</ref> Sie begriffen, dass sie nicht »den Völkern, die ihrer Verkündigung zugewiesen waren, die unbestrittene Überlegenheit der griechischen Sprache und der byzantinischen Kultur oder die Sitten und Gebräuche der fortgeschrittenen Gesellschaft aufdrängen« konnten, »in welcher sie selbst aufgewachsen waren«.<ref> Ebd., 13: a. a. O., 794.</ref> So realisierten sie jene »vollkommene Gemeinschaft in der Liebe, [die] die Kirche vor jeglicher Form von ethnischem Partikularismus oder Exklusivität oder vor rassischem Vorurteil wie auch vor jeder nationalistischen Überheblichkeit bewahrt«.<ref> Ebd., 11: a. a.O., 792.</ref> In eben diesem Geist habe ich zu den Ureinwohnern Australiens gesagt: »Ihr dürft kein in zwei Teile gespaltenes Volk sein […]. Jesus ruft euch, seine Worte und seine Werte innerhalb eurer eigenen Kultur anzunehmen«.<ref> Ansprache an die Ureinwohner Australiens (29. November 1986), 12: AAS 79 (1987), 977.</ref> Da die Gabe des Glaubens ihrer Natur nach für die ganze Menschheit bestimmt ist, ist es erforderlich, sie in alle Kulturen zu übersetzen. Denn das Element, das über die Gemeinschaft in der Wahrheit entscheidet, ist die Bedeutung der Wahrheit. Die Ausdrucksform der Wahrheit kann vielgestaltig sein. Und die Erneuerung der Ausdrucksformen erweist sich als notwendig, um die Botschaft vom Evangelium in ihrer unwandelbaren Bedeutung an den heutigen Menschen weiterzugeben.<ref> Vgl. HL. Vinzenz von Lérins, Commonitorium primum; 23: PL 50, 667–668.</ref>

»Dieser Erneuerung kommt also eine besondere ökumenische Bedeutung zu«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 6.</ref> Und dabei geht es nicht nur um Erneuerung in der Weise, wie der Glaube ausgedrückt wird, sondern um die Erneuerung des Glaubenslebens selbst. Nun könnte man fragen: wer soll diese Erneuerung vornehmen? Das Konzil gibt auf diese Frage eine klare Antwort: »Sie ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen«.<ref> Ebd., 5.</ref>

20. Das alles ist äußerst wichtig und von grundlegender Bedeutung für die ökumenische Tätigkeit. Daraus ergibt sich unmissverständlich, dass der Ökumenismus, die Bewegung für die Einheit der Christen, nicht bloß irgendein »Anhängsel« ist, das der traditionellen Tätigkeit der Kirche angefügt wird. Im Gegenteil, er gehört organisch zu ihrem Leben und zu ihrem Wirken und muss infolgedessen dieses Miteinander durchdringen und so etwas wie die Frucht eines Baumes sein, der gesund und üppig heranwächst, bis er seine volle Entwicklung erreicht.

So glaubte Papst Johannes XXIII. an die Einheit der Kirche, und so sah er der Einheit aller Christen entgegen. Bezüglich der anderen Christen, der großen christlichen Familie stellte er fest: »Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das, was uns trennt«. Und das II. Vatikanische Konzil mahnt seinerseits: »Alle Christgläubigen sollen sich bewusst sein, dass sie die Einheit der Christen um so besser fördern, ja sogar einüben, je mehr sie nach einem reinen Leben gemäß dem Evangelium streben. Je inniger die Gemeinschaft ist, die sie mit dem Vater, dem Wort und dem Geist vereint, um so inniger und leichter werden sie imstande sein, die gegenseitige Brüderlichkeit zu vertiefen«.<ref> Ebd., 7.</ref>

Vorrang des Gebetes

21. »Diese Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden«.<ref> Ebd., 8.</ref>

Man schreitet auf dem Weg, der zur Bekehrung der Herzen führt, zum Rhythmus der Liebe voran, die sich Gott und zugleich den Brüdern zuwendet: allen Brüdern, auch jenen, die sich nicht in voller Gemeinschaft mit uns befinden. Aus der Liebe entsteht die Sehnsucht nach der Einheit auch bei denen, die das Erfordernis der Einheit stets ignoriert haben. Die Liebe ist Baumeisterin der Gemeinschaft unter den Menschen und unter den Gemeinschaften. Wenn wir uns lieben, sind wir bestrebt, unsere Gemeinschaft zu vertiefen, sie auf die Vollkommenheit hin auszurichten. Die Liebe wendet sich an Gott als vollkommene Quelle der Gemeinschaft — die Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes —, um daraus die Kraft zu schöpfen, die Gemeinsamkeit unter den Menschen und Gemeinschaften zu wecken oder sie unter den getrennten Christen wiederherzustellen. Die Liebe ist der tiefe Strom, der den Prozeß auf die Einheit hin belebt und mit Kraft erfüllt.

Diese Liebe findet ihren vollendetsten Ausdruck im gemeinsamen Gebet. Wenn die Brüder, die miteinander nicht in vollkommener Gemeinschaft stehen, zum gemeinsamen Gebet zusammenkommen, so nennt das II. Vatikanische Konzil ihr Gebet die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung. Es ist »ein sehr wirksames Mittel, um die Gnade der Einheit zu erflehen«, »ein echter Ausdruck der Gemeinsamkeit, in der die Katholiken mit den getrennten Brüdern immer noch verbunden sind«.<ref> Ebd.</ref> Auch wenn man nicht im formalen Sinn für die Einheit der Christen, sondern für andere Anliegen, wie zum Beispiel für den Frieden, betet, wird das Gebet an und für sich Ausdruck und Bekräftigung der Einheit. Das gemeinsame Gebet der Christen ist eine Einladung an Christus selbst, die Gemeinschaft derer zu besuchen, die zu ihm flehen: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18, 20).

22. Wenn Christen miteinander beten, erscheint das Ziel der Einheit näher. Es hat den Anschein, als würde die lange Geschichte der durch mannigfache Zersplitterungen gezeichneten Christen wieder zusammengefügt, wenn sie nach jener Quelle ihrer Einheit strebt, die Jesus Christus ist. Er »ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit!« (Hebr 13, 8). In der Gemeinsamkeit des Gebetes ist Christus wirklich gegenwärtig; Er betet »in uns«, »mit uns« und »für uns«. Er leitet unser Gebet in dem Tröstergeist, den er seiner Kirche schon im Abendmahlssaal in Jerusalem verheißen und geschenkt hat, als er sie in ihrer ursprünglichen Einheit gegründet hat.

Der Vorrang auf dem ökumenischen Weg zur Einheit gebührt sicherlich dem gemeinsamen Gebet, der Verbundenheit all derer im Gebet, die sich um Christus selbst zusammenschließen. Wenn es die Christen ungeachtet ihrer Spaltungen fertigbringen, sich immer mehr im gemeinsamen Gebet um Christus zu vereinen, wird ihr Bewusstsein dafür wachsen, dass das, was sie trennt, im Vergleich zu dem, was sie verbindet, gering ist. Wenn sie sich immer öfter und eifriger vor Christus im Gebet begegnen, werden sie Mut schöpfen können, um der ganzen schmerzlichen menschlichen Realität der Spaltungen entgegentreten zu können, und sie werden sich miteinander in jener Gemeinschaft der Kirche wiederfinden, die Christus trotz aller menschlichen Schwachheiten und Begrenztheiten unaufhörlich im Heiligen Geist aufbaut.

23. Schließlich führt die Gebetsgemeinschaft dazu, die Kirche und das Christentum mit neuen Augen zu sehen. Man darf nämlich nicht vergessen, dass der Herr vom Vater die Einheit seiner Jünger erfleht hat, damit sie Zeugnis gäbe von seiner Sendung und die Welt glauben könnte, dass der Vater ihn gesandt hatte (vgl. Joh 17, 21). Man kann sagen, dass die ökumenische Bewegung in gewissem Sinne ihren Ausgang von der negativen Erfahrung derer genommen hat, die sich bei der Verkündigung des einen Evangeliums jeweils auf ihre Kirche oder kirchliche Gemeinschaft beriefen; ein Widerspruch, der keinem entgehen konnte, der die Heilsbotschaft hörte, und der darin ein Hindernis für die Annahme des Evangeliums fand. Leider ist dieses schwerwiegende Hindernis noch nicht überwunden. Es ist wahr, wir befinden uns noch nicht in voller Gemeinschaft. Doch trotz unserer Spaltungen befinden wir uns auf dem Weg zur vollen Einheit, jener Einheit, die die apostolische Kirche in ihren Anfängen kennzeichnete und nach der wir aufrichtig suchen: unser vom Glauben geleitetes gemeinsames Gebet ist dafür ein Beweis. Zu ihm versammeln wir uns im Namen Christi, der Einer ist. Er ist unsere Einheit.

Das »ökumenische« Gebet steht im Dienst an der christlichen Sendung und ihrer Glaubwürdigkeit. Darum muss es besonders im Leben der Kirche und bei jeder Tätigkeit präsent sein, die die Förderung der Einheit der Christen zum Ziel hat. Es ist, als sollten wir uns immer wieder im Abendmahlssaal des Gründonnerstag versammeln, obwohl unsere gemeinsame Anwesenheit an jenem Ort noch auf ihre vollkommene Erfüllung wartet, bis sich nach Überwindung der Hindernisse, die der vollkommenen kirchlichen Gemeinschaft im Wege stehen, alle Christen zu der einen Eucharistiefeier versammeln werden.<ref> Vgl. ebd., 4.</ref>

24. Es besteht Grund zur Freude festzustellen, dass die vielen ökumenischen Begegnungen fast immer das Gebet einschließen und sogar in ihm ihren Höhepunkt erreichen. Die Gebetswoche für die Einheit der Christen, die im Monat Januar oder in einigen Ländern in der Pfingstwoche begangen wird, ist zu einer verbreiteten und festen Tradition geworden. Aber auch darüber hinaus gibt es zahlreiche Gelegenheiten, die im Laufe des Jahres die Christen zum gemeinsamen Gebet zusammenführen. In diesem Zusammenhang möchte ich jene besondere Erfahrung in Erinnerung rufen, die die Pilgerschaft des Papstes zwischen den Kirchen in den verschiedenen Erdteilen und Ländern der heutigen oikoumene darstellt. Ich bin mir bewusst, dass das II. Vatikanische Konzil den Papst auf diese besondere Aufgabe seines apostolischen Amtes hinorientiert hat. Das Konzil hat diese Pilgerschaft des Papstes in der Erfüllung der Rolle des Bischofs von Rom im Dienst der Gemeinschaft zu einer klaren Notwendigkeit gemacht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apost. Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 24: AAS 87 (1995), 19–20.</ref> Meine Pastoralbesuche haben fast immer eine ökumenische Begegnung und das gemeinsame Gebet von Brüdern und Schwestern eingeschlossen, die nach der Einheit in Christus und seiner Kirche suchen. Mit ganz besonderer innerer Bewegung erinnere ich mich an das gemeinsame Gebet mit dem Primas der anglikanischen Gemeinschaft in der Kathedrale von Canterbury am 29. Mai 1982, als ich in jenem wunderbaren Kirchenbau »ein beredtes Zeugnis sowohl für die langen Jahre unseres gemeinsamen Erbes als auch für die traurigen Jahre der darauffolgenden Spaltung«<ref> Ansprache bei der ökumenischen Feier in der Kathedrale von Canterbury (29. Mai 1982), 5: AAS 74 (1982), 922.</ref> erkannte. Unvergeblich sind mir auch meine Besuche in den skandinavischen und nordischen Ländern (1.-10. Juni 1989), in Nord- und Südamerika oder in Afrika oder am Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen (12. Juni 1984), jener Einrichtung, die sich zum Ziel setzt, die Mitgliedskirchen und kirchlichen Gemeinschaften aufzurufen »zum Ziel der sichtbaren Einheit in einem einzigen Glauben und in einer einzigen eucharistischen Gemeinschaft, die sich im gemeinsamen Kult und im gemeinsamen Leben in Christus ausdrückt«.<ref>Ökumenischer Rat der Kirchen, Statuten, III, 1: zitiert in: Enchiridion Oecumenicum, 1, 1392.</ref> Und wie könnte ich je meine Teilnahme an der Eucharistiefeier in der Georgioskirche im Phanar am Sitz des Ökumenischen Patriarchates (30. November 1979) und den feierlichen Gottesdienst in der Petersbasilika anläßlich des Besuches meines verehrten Bruders, des Patriarchen Dimitrios I., in Rom (6. Dezember 1987) vergessen? Bei jenem Anlass sprachen wir am Konfessio-Altar gemeinsam das nicaenokonstantinopolitanische Glaubensbekenntnis nach dem griechischen Originaltext. Die besonderen Merkmale, von denen jede dieser Begegnungen im Gebet gekennzeichnet war, lassen sich nicht mit wenigen Worten beschreiben. Wegen der Vorbehalte aus der Vergangenheit, die auf jeder dieser Begegnungen in unterschiedlicher Weise lasteten, haben alle eine eigene und einzigartige Bedeutsamkeit; alle haben sich dem Gedächtnis der Kirche eingeprägt, die vom Tröster auf die Suche nach der Einheit aller Christgläubigen gelenkt wird.

25. Aber nicht nur der Papst ist zum Pilger geworden. In diesen Jahren haben mich viele hochrangige Vertreter anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften in Rom besucht, und ich konnte bei öffentlichen und privaten Anlässen mit ihnen beten. Auf die Anwesenheit des Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. habe ich bereits hingewiesen. Ich möchte nun auch an jene Begegnung im Gebet erinnern, die mich anläßlich des 600. Jahrestages der Heiligsprechung der hl. Brigitta gleichfalls hier in der Petersbasilika mit den lutherischen Erzbischöfen, dem Primas von Schweden und dem Primas von Finnland, zur Feier der Vesper vereint hat (5. Oktober 1991). Es handelt sich um ein Musterbeispiel dafür, dass das Bewusstsein der Verpflichtung, für die Einheit zu beten, zum integrierenden Bestandteil des Lebens der Kirche geworden ist. Es gibt kein wichtiges, bedeutsames Ereignis, das nicht von der Anwesenheit beider Seiten und dem Gebet der Christen begleitet würde. Ich kann unmöglich all diese Begegnungen aufzählen, obwohl jede verdienen würde genannt zu werden. Der Herr hat uns tatsächlich an der Hand genommen und leitet uns. Dieser vielfältige Gedankenaustausch, diese Gebete haben bereits Seite um Seite unseres »Buches der Einheit« beschrieben, eines »Buches«, das wir immer aufschlagen und neu lesen müssen, um daraus Inspiration und Hoffnung zu schöpfen.

26. Das Gebet, die Gemeinschaft im Gebet, läßt uns immer die Wahrheit der Worte aus dem Evangelium wiederfinden: »nur einer ist euer Vater« (Mt 23, 9), jener Vater, Abbà, den Christus selber anruft, Er, der sein eingeborener Sohn und eines Wesens mit ihm ist. Und dann: »nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder« (Mt 23, 8). Das »ökumenische« Gebet enthüllt diese grundlegende Dimension der Brüderlichkeit in Christus, der gestorben ist, um die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammenzuführen, auf dass wir im Sohn zu Söhnen werden (vgl. Eph 1, 5) und die unergründliche Wirklichkeit der Vaterschaft Gottes und zugleich die Wahrheit über die Menschlichkeit eines jeden und aller vollkommener widerspiegeln.

Das »ökumenische« Gebet, das Gebet der Brüder und Schwestern bringt das alles zum Ausdruck. Eben weil sie voneinander getrennt sind, vereinen sie sich mit um so größerer Hoffnung in Christus und vertrauen ihm die Zukunft ihrer Einheit und ihrer Gemeinschaft an. Auf diesen Umstand könnte man wieder einmal treffend die Lehre des Konzils anwenden: »Wenn der Herr Jesus zum Vater betet, 'dass alle sollen eins seien […] wie auch wir eins sind? (Joh 17, 20-22), und damit Horizonte aufreibt, die der menschlichen Vernunft unerreichbar sind, legt er eine gewisse Ähnlichkeit nahe zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und in der Liebe«.<ref> II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24.</ref>

Ja, die Bekehrung des Herzens, Grundvoraussetzung für jede glaubwürdige Suche nach der Einheit, erwächst aus dem Gebet und wird von ihm auf ihre Erfüllung hin orientiert: »Denn aus dem Neuwerden des Geistes, aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst und reift das Verlangen nach der Einheit. Deshalb müssen wir vom göttlichen Geiste die Gnade aufrichtiger Selbstverleugnung, der Demut und des geduldigen Dienstes sowie der brüderlichen Herzensgüte zueinander erflehen«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 7.</ref>

27. Für die Einheit zu beten ist jedoch nicht denen vorbehalten, die in einem Umfeld der Spaltung unter den Christen leben. In jenem intimen und persönlichen Dialog, den jeder von uns mit dem Herrn im Gebet führen soll, darf die Sorge um die Einheit nicht ausgeschlossen werden. Denn nur so wird sie voll zum Bestandteil der Wirklichkeit unseres Lebens und der Verpflichtungen werden, die wir in der Kirche übernommen haben. Um dieses Erfordernis neuerlich zu bekräftigen, habe ich den Gläubigen der katholischen Kirche ein für mich beispielhaftes Vorbild vor Augen gestellt, nämlich das der Trappistin Maria Gabriella von der Einheit, die ich am 25. Januar 1983 seliggesprochen habe.<ref> Maria Gabriella Sagheddu, geboren am 17. März 1914 in Dorgali (Sardinien). Mit 21 Jahren tritt sie in das Trappistenkloster von Grottaferrata ein. Nachdem ihr durch das apostolische Wirken von Abbé Paul Couturier die Notwendigkeit von Gebeten und geistlicher Hingabe für die Einheit der Christen bewusst geworden ist, beschließt sie 1936 anlässlich der Gebetsoktav für die Einheit, ihr Leben für dieses Anliegen aufzuopfern. Schwester Maria Gabriella stirbt nach schwerer Krankheit am 23. April 1939.</ref> Auf Grund ihrer Berufung zu einem Leben in Abgeschiedenheit von der Welt hat Schwester Maria Gabriella ihr Dasein der Meditation und dem Gebet mit dem Schwerpunkt auf dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums gewidmet und es für die Einheit der Christen dargebracht. Genau das ist der Ansatz und Kern jedes Gebetes: die totale und vorbehaltlose Hingabe des eigenen Lebens an den Vater durch den Sohn im Heiligen Geist. Das Beispiel von Schwester Maria Gabriella lehrt uns und läßt uns begreifen, dass es keine besonderen Zeiten, Situationen oder Orte gibt, um für die Einheit zu beten. Das Gebet Christi zum Vater ist Modell für alle, immer und an jedem Ort.

Ökumenischer Dialog

28. Wenn das Gebet die »Seele« der ökumenischen Erneuerung und der Sehnsucht nach der Einheit ist, stützt sich alles, was das Konzil »Dialog« nennt, auf das Gebet und erhält von ihm Auftrieb. Diese Definition ist gewiß nicht ohne Zusammenhang mit dem heutigen personalistischen Denken. Die »Dialog«-Haltung ist auf der Ebene des Wesens der Person und ihrer Würde angesiedelt. Vom Standpunkt der Philosophie her verbindet sich eine solche Einstellung mit der vom Konzil ausgesprochenen christlichen Wahrheit über den Menschen: er ist in der Tat »auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur«; daher kann der Mensch »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden«.<ref> II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24.</ref> Der Dialog ist ein unerläßlicher Durchgang auf dem Weg zur Selbsterfüllung des Menschen, des Individuums wie auch jeder menschlichen Gemeinschaft. Obwohl an dem Begriff »Dialog« in erster Linie das Erkenntnismoment (dia-logos) hervorzuragen scheint, hat jeder Dialog eine globale, existentielle Dimension in sich. Er bezieht das menschliche Subjekt in seiner Ganzheit ein; der Dialog zwischen den Gemeinschaften nimmt die Subjektivität einer jeden von ihnen in besonderer Weise in Anspruch.

Diese Wahrheit über den Dialog, die von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Ecclesiam suam<ref> Vgl. AAS 56 (1964), 609–659.</ref> so tiefgründig dargelegt wurde, ist auch von der Lehre und der ökumenischen Praxis des Konzils aufgegriffen worden. Der Dialog ist nicht nur ein Gedankenaustausch. Er ist gewissermaßen immer ein »Austausch von Gaben und Geschenken«.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 13.</ref>

29. Aus diesem Grund stellt auch das Konzilsdekret über den Ökumenismus in den Vordergrund »alles Bemühen zur Ausmerzung aller Worte, Urteile und Taten, die der Lage der getrennten Brüder nach Gerechtigkeit und Wahrheit nicht entsprechen und dadurch die gegenseitigen Beziehungen mit ihnen erschweren«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref> Dieses Dokument setzt sich vom Standpunkt der katholischen Kirche mit der Frage auseinander und bezieht sich auf das Kriterium, das sie gegenüber den anderen Christen anwenden soll. Bei all dem besteht jedoch ein Erfordernis der Gegenseitigkeit. Die Beachtung dieses Kriteriums ist für alle Seiten, die in den Dialog eintreten wollen, Verpflichtung und Vorbedingung, um ihn in Gang zu bringen. Man muss von einer Position des Gegeneinander und des Konflikts auf eine Ebene gelangen, auf der man sich gegenseitig als Partner anerkennt. Wenn der Dialog aufgenommen wird, muss jede Seite bei ihrem Gesprächspartner einen Willen zur Versöhnung und zur Einheit in der Wahrheit annehmen. Um das alles zu verwirklichen, muss das zur Schau getragene Sich-Gegeneinander-Stellen ein Ende haben. Nur auf diese Weise wird der Dialog die Spaltung überwinden helfen und die Einheit näherbringen können.

30. Man darf mit großer Dankbarkeit gegenüber dem Geist der Wahrheit sagen, dass das II. Vatikanische Konzil eine segensreiche Zeit gewesen ist, während der die Grundvoraussetzungen für die Teilnahme der katholischen Kirche am ökumenischen Dialog verwirklicht wurden. Auf der anderen Seite haben die Anwesenheit der zahlreichen Beobachter verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, ihre starke Einbeziehung in das Konzilsereignis und die vielen Begegnungen und gemeinsamen Gebete, die das Konzil ermöglicht hat, zur Schaffung der Bedingungen beigetragen, um den gemeinsamen Dialog aufzunehmen. Die Vertreter der anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften haben während des Konzils die Bereitschaft zum Dialog seitens der katholischen Bischöfe der ganzen Welt und insbesondere des Apostolischen Stuhles erfahren.

Lokale Strukturen des Dialogs

31. Die Verpflichtung zum ökumenischen Dialog, so wie sie seit dem Konzil zutage getreten ist, ist weit davon entfernt, ein Vorrecht des Apostolischen Stuhles zu sein und obliegt deshalb auch den einzelnen Orts- oder Teilkirchen. Von den Bischofskonferenzen und von den Synoden der katholischen Ostkirchen sind Sonderkommissionen zur Förderung des ökumenischen Geistes und des ökumenischen Handelns eingerichtet worden. Auf der Ebene der einzelnen Diözesen gibt es analoge zweckmäßige Strukturen. Solche Initiativen beweisen das konkrete und allgemeine Engagement der katholischen Kirche bei der Anwendung der vom Konzil erarbeiteten Richtlinien über den Ökumenismus: das ist ein wesentlicher Aspekt der ökumenischen Bewegung.<ref> Vgl. Codex des kanonischen Rechtes, can. 755; Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, can. 902–904.</ref> Der »Dialog« ist nicht nur aufgenommen worden; er ist eine erklärte Notwendigkeit, eine der Prioritäten der Kirche geworden; infolgedessen hat man die »Technik« der Dialogführung verfeinert und gleichzeitig das Wachsen des Geistes des Dialogs gefördert. In diesem Zusammenhang soll vor allem auf den Dialog zwischen den Christen aus den verschiedenen Kirchen oder Gemeinschaften eingegangen werden, der »von wohlunterrichteten Sachverständigen geführt wird, wobei ein jeder die Lehre seiner Gemeinschaft tiefer und genauer erklärt, so dass das Charakteristische daran deutlich hervortritt«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref> Es ist jedoch für jeden Gläubigen nützlich, die Methode des Dialogs kennenzulernen.

32. Wie die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit feststellt, muss »die Wahrheit auf eine Weise gesucht werden, die der Würde der menschlichen Person und ihrer Sozialnatur eigen ist, d.h. auf dem Wege der freien Forschung, mit Hilfe des Lehramtes oder der Unterweisung, des Gedankenaustauschs und des Dialogs, wodurch die Menschen einander die Wahrheit, die sie gefunden haben oder gefunden zu haben glauben, mitteilen, damit sie sich bei der Erforschung der Wahrheit gegenseitig zu Hilfe kommen; an der einmal erkannten Wahrheit jedoch muss man mit personaler Zustimmung festhalten«.<ref> II. Vat. Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 3.</ref>

Dem ökumenischen Dialog kommt eine grundlegende Bedeutung zu. Denn »durch diesen Dialog erwerben alle eine bessere Kenntnis der Lehre und des Lebens jeder von beiden Gemeinschaften und eine gerechtere Würdigung derselben. Von hier aus gelangen diese Gemeinschaften auch zu einer stärkeren Zusammenarbeit in den Aufgaben des Gemeinwohls, die jedes christliche Gewissen fordert, und sie kommen, wo es erlaubt ist, zum gemeinsamen Gebet zusammen. Schließlich prüfen hierbei alle ihre Treue gegenüber dem Willen Christi hinsichtlich der Kirche und gehen tatkräftig ans Werk der notwendigen Erneuerung und Reform«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref>

Dialog als Gewissensprüfung

33. Im Verständnis des Konzils hat der ökumenische Dialog den Charakter einer gemeinsamen Suche nach der Wahrheit, besonders über die Kirche. Die Wahrheit formt nämlich das Gewissen und orientiert sein Handeln in Richtung Einheit. Gleichzeitig verlangt sie, dass das Gewissen der Christen, untereinander gespaltener Brüder, und ihre Taten dem Gebet Christi für die Einheit untergeordnet werden. Hier gibt es ein Zusammenwirken von Gebet und Dialog. Ein tieferes und bewussteres Gebet läßt den Dialog reichere Früchte erbringen. Wenn einerseits das Gebet die Voraussetzuung für den Dialog ist, so wird es andererseits in immer reiferer Gestalt zu dessen Frucht.

34. Dank des ökumenischen Dialogs können wir von einer größeren Reife unseres beiderseitigen gemeinsamen Gebetes sprechen. Das ist möglich, insoweit der Dialog auch und zugleich die Funktion einer Gewissensprüfung erfüllt. Wie sollte man sich in diesem Zusammenhang nicht der Worte des ersten Johannesbriefes erinnern? »Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er (Gott) treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht« (1, 8-9). Johannes geht noch weiter, wenn er sagt: »Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns« (1, 10). Eine derartig radikale Mahnung, unseren Zustand als Sünder anzuerkennen, muss auch ein Wesensmerkmal des Geistes sein, mit dem man sich dem ökumenischen Dialog stellt. Wenn er nicht zu einer Gewissensprüfung, gleichsam zu einem »Dialog der Gewissen« würde, könnten wir dann mit jener Gewißheit rechnen, die uns derselbe Brief mitteilt? »Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt. Wenn aber einer sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater: Jesus Christus, den Gerechten. Er ist die Sühne für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt« (2, 1-2). Alle Sünden der Welt sind in dem Heilsopfer Christi miteingeschlossen, somit auch jene, die gegen die Einheit der Kirche begangen worden sind: die Sünden der Christen, der Hirten ebenso wie der Gläubigen. Auch nach den so vielen Sünden, die zu den historischen Spaltungen beigetragen haben, ist die Einheit der Christen möglich, vorausgesetzt, wir sind uns demütig bewusst, gegen die Einheit gesündigt zu haben, und von der Notwendigkeit unserer Bekehrung überzeugt. Nicht allein die persönlichen Sünden müssen vergeben und überwunden werden, sondern auch jene sozialen, das heißt die eigentlichen »Strukturen« der Sünde, die zur Spaltung und ihrer Verfestigung beigetragen haben und beitragen können.

35. Wiederum kommt uns das II. Vatikanische Konzil zu Hilfe. Man kann sagen, das ganze Dekret über den Ökumenismus ist vom Geist der Bekehrung durchdrungen.<ref> Vgl. ebd., 4.</ref> Der ökumenische Dialog gewinnt in diesem Dokument einen eigenen Charakter; er wandelt sich zum »Dialog der Bekehrung« und damit, gemäß der Formulierung Papst Pauls VI., zum echten »Dialog des Heiles«.<ref> Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), III: AAS 56 (1964), 642.</ref> Der Dialog kann sich nicht entfalten, wenn er einen ausschließlich horizontalen Verlauf nimmt und sich auf die Begegnung, auf den Austausch von Standpunkten oder sogar von jeder Gemeinschaft eigenen Gaben beschränkt. Er strebt auch und vor allem eine vertikale Dimension an, die ihn auf den Erlöser der Welt und Herrn der Geschichte hinlenkt, der unsere Versöhnung ist. Die vertikale Dimension des Dialogs liegt in der gemeinsamen und gegenseitigen Anerkennung unseres Zustandes als Menschen, die gesündigt haben. Der Dialog öffnet gerade in den Brüdern und Schwestern, die innerhalb von Gemeinschaften leben, die keine volle Gemeinschaft miteinander haben, jenen inneren Raum, in dem Christus, die Quelle der Einheit der Kirche, mit der ganzen Kraft seines Tröstergeistes wirksam tätig werden kann.

Dialog zur Lösung der Gegensätze

36. Der Dialog ist auch ein natürliches Instrument, um die verschiedenen Standpunkte miteinander zu vergleichen und vor allem jene Gegensätze zu untersuchen, die für die volle Gemeinschaft der Christen untereinander ein Hindernis darstellen. Das Ökumenismusdekret widmet sich zunächst den moralischen Haltungen, denen sich die Gespräche über Lehrfragen stellen müssen: »Beim ökumenischen Dialog müssen die katholischen Theologen, wenn sie in Treue zur Lehre der Kirche in gemeinsamer Forschungsarbeit mit den getrennten Brüdern die göttlichen Geheimnisse zu ergründen suchen, mit Wahrheitsliebe, mit Liebe und Demut vorgehen«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 11.</ref>

Die Wahrheitsliebe ist die tiefste Dimension einer glaubwürdigen Suche nach der vollen Gemeinschaft der Christen. Ohne diese Liebe wäre es unmöglich, sich den objektiven theologischen, kulturellen, psychologischen und sozialen Schwierigkeiten zu stellen, denen man bei der Untersuchung der Gegensätze begegnet. Zu dieser inneren, persönlichen Dimension muss untrennbar der Geist der Liebe und Demut hinzukommen. Liebe gegenüber dem Gesprächspartner, Demut gegenüber der Wahrheit, die man entdeckt und die Revisionen von Aussagen und Haltungen erforderlich machen könnte.

Was die Erforschung der Gegensätze betrifft, fordert das Konzil, dass die ganze Lehre in Klarheit vorgelegt werde. Gleichzeitig verlangt es, dass die Art und Weise und die Methode, wie der katholische Glaube verkündet wird, kein Hindernis für den Dialog mit den Brüdern darstellen soll.<ref> Vgl. ebd.</ref> Es ist gewiß möglich, den eigenen Glauben zu bezeugen und die Lehre auf eine Weise zu erklären, die korrekt, aufrichtig und verständlich ist und sich gleichzeitig sowohl die geistigen Kategorien wie die konkrete geschichtliche Erfahrung des anderen vergegenwärtigt.

Selbstverständlich wird sich die volle Gemeinschaft in der Annahme der ganzen Wahrheit verwirklichen müssen, in die der Heilige Geist die Jünger Christi einführt. Daher muss jede Form von Verkürzung oder leichtfertiger »Übereinstimmung« absolut vermieden werden. Die ernsten Fragen müssen gelöst werden; denn wenn das nicht geschähe, würden sie zu einem anderen Zeitpunkt in gleicher Gestalt oder unter anderem Namen wieder auftauchen.

37. Das Dekret Unitatis redintegratio führt auch ein Kriterium an, das befolgt werden soll, wenn es für die Katholiken darum geht, die Lehren darzulegen oder miteinander zu vergleichen: dabei »soll man nicht vergessen, dass es eine Rangordnung oder 'Hierarchie? der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens. So wird der Weg bereitet werden, auf dem alle in diesem brüderlichen Wettbewerb zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darstellung der unerforschlichen Reichtümer Christi angeregt werden«.<ref> Ebd.; vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes Mysterium ecclesiae (24. Juni 1973), 4: AAS 65 (1973), 402.</ref>

38. Im Dialog stößt man unweigerlich auf das Problem der unterschiedlichen Formulierungen, mit denen die Lehre in den verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ausge drückt wird, was natürlich mehr als nur eine Konsequenz für die ökumenische Aufgabe hat.

Angesichts von Lehrformeln, die von jenen in der Gemeinschaft, der man angehört, üblichen abweichen, gilt es zunächst natürlich zu klären, ob die Worte nicht einen identischen Inhalt meinen; ein konkretes Beispiel dafür sind diesbezügliche Feststellungen in gemeinsamen Erklärungen der jüngsten Zeit, die von meinen Vorgängern und von mir zusammen mit Patriarchen von Kirchen unterzeichnet worden sind, mit denen es seit Jahrhunderten einen christologischen Streit gab. Was die Formulierung der geoffenbarten Wahrheiten betrifft, führt die Erklärung Mysterium ecclesiae aus: »Schließlich unterscheiden sich zwar die Wahrheiten, die die Kirche in ihren dogmatischen Formeln wirklich zu lehren beabsichtigt, von den wandelbaren Vorstellungen einer Zeit und können ohne diese ausgedrückt werden; trotzdem kann es aber bisweilen geschehen, dass jene Wahrheiten auch vom Heiligen Lehramt mit Worten vorgetragen werden, die Spuren solcher Vorstellungen an sich tragen. Unter dieser Voraussetzung muss man sagen, dass die dogmatischen Formeln des Lehramtes der Kirche von Anfang an stimmig und geeignet waren, die geoffenbarte Wahrheit zu vermitteln, und dass sie immer stimmig und geeignet bleiben, sie dem, der sie richtig versteht, mitzuteilen«.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes Mysterium ecclesiae (24. Juni 1973), 5: AAS 65 (1973), 403.</ref> In dieser Hinsicht erlaubt der ökumenische Dialog, der die an ihm beteiligten Partner dazu anspornt, sich gegenseitig zu fragen, zu verstehen, zu erklären, unerwartete Entdeckungen. Die Polemiken und intoleranten Streitigkeiten haben das, was tatsächlich bei der Ergründung ein und derselben Wirklichkeit, aber eben aus zwei verschiedenen Blickwinkeln, das Ergebnis zweier Sichtweisen war, zu unvereinbaren Aussagen gemacht. Heute gilt es, die Formel zu finden, die es dadurch, dass sie die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit einfängt, erlaubt, über partielle Lesarten hinauszugehen und falsche Interpretationen auszumerzen.

Ein Vorteil des Ökumenismus besteht darin, dass durch ihn den christlichen Gemeinschaften geholfen wird, den unerforschlichen Reichtum der Wahrheit zu entdecken. Auch in diesem Zusammenhang kann alles, was der Geist in den »anderen« wirkt, zum Aufbau jeder Gemeinschaft beitragen<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref> und gewissermaßen zur Belehrung über das Geheimnis Christi. Der echte Ökumenismus ist ein Gnadengeschenk der Wahrheit.

39. Schließlich stellt der Dialog die Gesprächspartner vor richtiggehende Gegensätze, die den Glauben berühren. Vor allem diesen Gegensätzen muss man sich stellen im aufrichtigen Geist brüderlicher Liebe, in der Achtung vor den Forderungen des eigenen und des Gewissens des Nächsten sowie in tiefer Demut und Liebe gegenüber der Wahrheit. Der Vergleich auf diesem Gebiet hat zwei wesentliche Bezugspunkte: die Heilige Schrift und die große Tradition der Kirche. Den Katholiken kommt dabei das stets lebendige Lehramt der Kirche zu Hilfe.

Die praktische Zusammenarbeit

40. Die Beziehungen der Christen untereinander zielen nicht nur auf das gegenseitige Kennenlernen, auf das gemeinsame Gebet und auf den Dialog ab. Sie sehen vor und fordern schon jetzt jede nur mögliche praktische Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen: pastoral, kulturell, sozial und auch im Zeugnis für die Botschaft des Evangeliums. <ref> Vgl. Gemeinsame christologische Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und der Assyrischen Kirche des Ostens: L’Osservatore Romano (12. November 1994), S. 1.</ref>

»Durch die Zusammenarbeit der Christen kommt die Verbundenheit, in der sie schon untereinander vereinigt sind, lebendig zum Ausdruck, und das Antlitz Christi, des Gottesknechtes, tritt in hellerem Licht zutage«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 12.</ref> Eine solche auf dem gemeinsamen Glauben begründete Zusammenarbeit ist nicht nur von brüderlicher Gemeinschaft erfüllt, sondern stellt eine Epiphanie Christi selbst dar.

Die ökumenische Zusammenarbeit ist zudem eine echte Schule des Ökumenismus, ein dynamischer Weg zur Einheit. Die Einheit im Handeln führt zur vollen Einheit im Glauben: »Bei dieser Zusammenarbeit können alle, die an Christus glauben, unschwer lernen, wie sie einander besser kennen und höher achten können und wie der Weg zur Einheit der Christen bereitet wird«.<ref> Ebd.</ref>

Vor den Augen der Welt nimmt die Zusammenarbeit unter den Christen die Dimensionen des gemeinsamen christlichen Zeugnisses an und gereicht als Werkzeug der Evangelisierung den einen wie den anderen zum Wohl.

II. DIE FRÜCHTE DES DIALOGS

Die wiederentdeckte Brüderlichkeit

41. Was oben zum ökumenischen Dialog seit dem Ende des Konzils gesagt wurde, veranlasst uns, dem Geist der Wahrheit zu danken, der von Christus, dem Herrn, den Aposteln und der Kirche verheißen worden ist (vgl. Joh 14, 26). Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass der Einsatz für die Einheit der Christen so große Ausmaße und einen so gewaltigen Umfang angenommen hat. Schon das ist ein unermeßliches Geschenk, das Gott gewährt hat und das alle unsere Dankbarkeit verdient. Aus der Fülle Christi empfangen wir »Gnade über Gnade« (Joh 1, 16). Anzuerkennen, was Gott schon gewährt hat, ist die Voraussetzung, die uns darauf vorbereitet, jene noch unerläßlichen Gaben zu empfangen, um das ökumenische Werk der Einheit zur Vollendung zu führen.

Ein Überblick über die letzten dreißig Jahre läßt uns besser viele der Früchte dieser gemeinsamen Bekehrung zum Evangelium erfassen, zu deren Werkzeug der Geist Gottes die ökumenische Bewegung gemacht hat.

42. So geschieht es zum Beispiel, dass — ganz im Geist der Bergpredigt — die einer Konfession zugehörigen Christen die anderen Christen nicht mehr als Feinde oder Fremde betrachten, sondern in ihnen Brüder und Schwestern sehen. Andererseits besteht im Sprachgebrauch die Tendenz, sogar den Ausdruck getrennte Brüder heute durch Bezeichnungen zu ersetzen, die treffender die Tiefe der — an den Taufcharakter gebundenen — Gemeinschaft wachrufen, die der Heilige Geist ungeachtet der historischen und kanonischen Brüche nährt. Man spricht von den »anderen Christen«, von den »anderen Getauften«, von den »Christen der anderen Gemeinschaften«. Das Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus bezeichnet die Gemeinschaften, denen diese Christen angehören, als »Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen«.<ref> Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Directoire pour l’applcation des principes et des normes sur l’Oecuménisme (25. März 1993), 5: AAS 85 (1993), 1040.</ref> Diese Erweiterung des Wortschatzes ist Ausdruck einer bemerkenswerten Entwicklung der Geisteshaltungen. Das Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu Christus vertieft sich. Das habe ich wiederholt persönlich feststellen können während der ökumenischen Gottesdienste, die zu den wichtigen Ereignissen meiner apostolischen Reisen in die verschiedenen Teile der Welt gehören, oder bei den Begegnungen und ökumenischen Feiern, die in Rom stattfanden. Die »universale Brüderlichkeit« der Christen ist zu einer festen ökumenischen Überzeugung geworden. Nach der Aufhebung des gegenseitigen Kirchenbannes der Vergangenheit helfen sich die einst rivalisierenden Gemeinschaften heute in vielen Fällen gegenseitig; so werden mitunter die Kultgebäude zur Verfügung gestellt oder Stipendien für die Ausbildung der Amtsträger der mittellosen Gemeinschaften angeboten; oder man interveniert bei den staatlichen Behörden zur Verteidigung anderer Christen, die zu Unrecht beschuldigt wurden, oder beweist die Haltlosigkeit der Verleumdungen, deren Opfer bestimmte Gruppen sind.

Mit einem Wort, die Christen haben sich zu einer brüderlichen Liebe bekehrt, die alle Jünger Christi umfaßt. Wenn es vorkommt, dass im Zuge gewaltsamer politischer Umwälzungen in konkreten Situationen eine gewisse Aggressivität oder ein Rachegeist zutage tritt, bemühen sich die Autoritäten der betroffenen Seiten im allgemeinen darum, das »neue Gesetz« des Geistes der Liebe Oberhand gewinnen zu lassen. Leider vermochte es ein solcher Geist nicht, alle blutigen Konfliktsituationen umzuwandeln. Unter diesen Umständen erfordert der ökumenische Einsatz von dem, der ihn ausübt, nicht selten wahrhaft heroische Entscheidungen.

In diesem Zusammenhang muss unterstrichen werden, dass die Anerkennung der Brüderlichkeit nicht die Folge eines liberalen Philanthropismus oder eines vagen Familiengeistes ist. Sie wurzelt in der Anerkennung der einen Taufe und in dem daraus folgenden Erfordernis, dass Gott in seinem Werk verherrlicht werde. Das Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus wünscht eine gegenseitige offizielle Anerkennung der Taufen.<ref> Ebd., 94: a. a. O., 1078.</ref> Das geht weit über einen ökumenischen Höflichkeitsakt hinaus und stellt eine ekklesiologische Grundaussage dar.

Es muss zweckmäßiger Weise daran erinnert werden, dass der grundlegende Charakter der Taufe bei der Aufbauarbeit der Kirche auch dank des vielseitigen Dialoges deutlich in den Vordergrund gestellt worden ist.<ref> Vgl. KOMMISSION „GLAUBE UND VERFASSUNG“ DES ÖKUMENISCHEN RATES DER KIRCHEN, Taufe, Eucharistie, Amt (Januar 1982): Enchiridion Oecumenicum, 1, 1391–1447, und besonders 1398–1408.</ref>

Die Solidarität im Dienst an der Menschheit

43. Es kommt immer häufiger vor, dass die Verantwortlichen der christlichen Gemeinschaften zu wichtigen Problemen, die die menschliche Berufung, die Freiheit, die Gerechtigkeit, den Frieden, die Zukunft der Welt betreffen, gemeinsam im Namen Christi Stellung beziehen. Dadurch sind sie in einem tragenden Element der christlichen Sendung »miteinander verbunden«: nämlich die Gesellschaft auf möglichst realistische Weise an den Willen Gottes zu erinnern, indem sie die Autoritäten und die Bürger davor warnen, dem Trend zu folgen, der dazu führen würde, dass die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Es versteht sich von selbst, und die Erfahrung beweist es, dass unter gewissen Umständen die gemeinsame Stimme der Christen mehr Durchschlagskraft besitzt als eine Einzelstimme.

Die Verantwortlichen der Gemeinschaften sind jedoch nicht die einzigen, die sich in diesem Einsatz für die Einheit zusammenschließen. Zahlreiche Christen aus allen Gemeinschaften beteiligen sich auf Grund ihres Glaubens gemeinsam an mutigen Projekten, die sich vornehmen, die Welt dahingehend zu verändern, dass der Achtung der Rechte und der Bedürfnisse aller, besonders der Armen, der Gedemütigten und der Schutzlosen, zum Sieg verholfen wird. In der Enzyklika Sollicitudo rei socialis habe ich mit Freude diese Zusammenarbeit erwähnt und unterstrichen, dass sich die katholische Kirche ihr nicht entziehen darf.<ref> Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 32: AAS 80 (1988), 556.</ref> In der Tat engagieren sich jetzt die Christen, die einst unabhängig voneinander handelten, miteinander im Dienst an diesem Anliegen, damit Gottes Güte triumphieren könne.

Die Logik ist die des Evangeliums. Unter Betonung dessen, was ich in meiner ersten Enzyklika Redemptor hominis geschrieben hatte, hielt ich daher die Gelegenheit für angebracht, »auf diesen Punkt zu dringen und jede in dieser Richtung unternommene Bemühung auf allen Ebenen, in denen wir uns mit unseren christlichen Brüdern begegnen, zu ermutigen«,<ref> Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 10: AAS 77 (1985), 1158; vgl. Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 11: AAS 71 (1979), 277–278.</ref> und ich sagte Gott Dank »für das, was er bereits in den anderen Kirchen und Gemeinschaften und durch sie« wie auch durch die katholische Kirche »gewirkt hat«.<ref> Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 10: AAS 77 (1985), 1158.</ref>Heute stelle ich mit Befriedigung fest, dass das ausgedehnte Netz ökumenischer Zusammenarbeit sich immer mehr ausweitet. Auch durch den Einfluss des Ökumenischen Rates der Kirchen wird großartige Arbeit auf diesem Gebiet geleistet.

Übereinstimmungen im Wort Gottes und im Gottesdienst

44. Gewichtige Fortschritte der ökumenischen Bekehrung gibt es auch auf einem anderen Gebiet, nämlich in bezug auf das Wort Gottes. Ich denke vor allem an ein für verschiedene Sprachgruppen so wichtiges Ereignis wie die ökumenischen Bibelübersetzungen. Nach der Promulgation der Konstitution Dei verbum durch das II. Vatikanische Konzil musste die katholische Kirche diesen Schritt mit Freude annehmen.<ref> Vgl. Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen und Exekutivkomitee der vereinigten Bibelgesellschaften, Grundsätze für die interkonfessionelle Zusammenarbeit bei der Erstellung der Übersetzungen der Bibel, Gemeinsames Dokument (1968): Enchiridion Oecumenicum, 1, 319–331, überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht in dem Dokument Directives concernant la coopération interconfessionelle dans la traduction de la Bible (16. November 1987), Tipografia Poliglotta Vaticana 1987.</ref> Diese von Fachgelehrten erstellten Übersetzungen bieten im allgemeinen eine sichere Grundlage für das Gebet und die pastorale Tätigkeit aller Jünger Christi. Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflusst haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt diese Gemeinschaftsübersetzungen darstellen.

45. Der von der katholischen Kirche vollzogenen liturgischen Erneuerung entsprach in mehreren kirchlichen Gemeinschaften die Initiative, ihren Gottesdienst zu erneuern. Einige von ihnen haben auf Grund des auf ökumenischer Ebene geäußerten Wunsches<ref> Vgl. KOMMISSION „GLAUBE UND VERFASSUNG“ DES ÖKUMENISCHEN RATES DER KIRCHEN, Taufe, Eucharistie, Amt (Januar 1982): Enchiridion Oecumenicum, 1, 1391–1447.</ref> die Gewohnheit aufgegeben, ihren Abendmahlsgottesdienst nur bei seltenen Gelegenheiten zu feiern, und sich für eine sonntägliche Abendmahlsfeier entschieden. Andererseits stellt man bei einem Vergleich der Zyklen der liturgischen Lesungen verschiedener christlicher Gemeinschaften im Westen fest, dass sie im wesentlichen übereinstimmen. Ebenso werden auf ökumenischer Ebene<ref> Zum Beispiel während der letzten Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen, 1983 in Vancouver, 1991 in Canberra, und von „Glaube und Verfassung“ 1993 in Santiago de Compostela.</ref> ganz besonders die Liturgie und die liturgischen Zeichen (Bilder, Ikonen, Paramente, Licht, Weihrauch, Gebärden) hervorgehoben. Darüber hinaus beginnt man in den Instituten für Theologie, wo die künftigen Geistlichen ausgebildet werden, dem Studium der Geschichte und der Bedeutung der Liturgie einen festen Platz in den Lehrprogrammen einzuräumen und sieht das als eine Notwendigkeit, die man wiederentdeckt.

Es handelt sich um Zeichen der Übereinstimmung, die verschiedene Aspekte des sakramentalen Lebens betreffen. Gewiß ist es wegen der den Glauben berührenden Divergenzen noch nicht möglich, miteinander die Eucharistie zu feiern. Doch haben wir den sehnlichen Wunsch, gemeinsam die eine Eucharistie des Herrn zu feiern, und dieser Wunsch wird schon zu einem gemeinsamen Lob, zu ein und demselben Bittgebet. Gemeinsam wenden wir uns an den Vater und tun das zunehmend »mit nur einem Herzen«. Diese »reale, obgleich noch nicht volle« Gemeinschaft endlich besiegeln zu können, scheint manchmal näher zu sein. Wer hätte vor einem Jahrhundert auch nur an so etwas denken können?

46. Ein Grund zur Freude ist in diesem Zusammenhang, daran zu erinnern, dass die katholischen Priester in bestimmten Einzelfällen die Sakramente der Eucharistie, der Buße und der Krankensalbung anderen Christen spenden können, die zwar noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, aber sehnlich den Empfang der Sakramente wünschen, von sich aus darum bitten und den Glauben bezeugen, den die katholische Kirche in diesen Sakramenten bekennt. Umgekehrt können sich in bestimmten Fällen und unter besonderen Umständen auch die Katholiken zum Empfang derselben Sakramente an die Geistlichen jener Kirchen wenden, in denen sie gültig gespendet werden. Die Bedingungen für diesen gegenseitigen Empfang sind in Normen festgelegt, und ihre Einhaltung erscheint für die Förderung der Ökumene nötig.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 8 u. 15; Codex des kanonischen Rechtes, can. 844; Codex des Ostkirchenrechtes, can. 671; Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Directoire pour l’applcation des principes et des normes sur l’Oecuménisme (25. März 1993), 122–125: AAS 85 (1993), 1086–1087; 129–131: a. a. O., 1088-1089; 123 und 132: a. a. O., 1087–1089.</ref>

Anerkennung der bei den anderen Christen vorhandenen Güter

47. Der Dialog bewegt sich nicht ausschließlich um die Lehre, sondern bezieht die ganze Person ein: er ist auch ein Dialog der Liebe. Das Konzil sagte: »Es ist notwendig, dass die Katholiken die wahrhaft christlichen Güter aus dem gemeinsamen Erbe mit Freude anerkennen und hochschätzen, die sich bei den von uns getrennten Brüdern finden. Es ist billig und heilsam, die Reichtümer Christi und das Wirken der Geisteskräfte im Leben der anderen anzuerkennen, die für Christus Zeugnis geben, manchmal bis zur Hingabe des Lebens: Denn Gott ist immer wunderbar und bewunderungswürdig in seinen Werken«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref>

48. Die Beziehungen, die die Mitglieder der katholischen Kirche seit dem Konzil zu den anderen Christen hergestellt haben, führten zur Entdeckung dessen, was Gott in den Angehörigen der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften wirkt. Dieser direkte Kontakt auf verschiedenen Ebenen zwischen den Hirten und zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaften hat uns das Zeugnis zu Bewusstsein gebracht, das die anderen Christen für Gott und für Christus geben. Auf diese Weise hat sich für die ganze ökumenische Erfahrung ein weiter Raum aufgetan, der zugleich die Herausforderung ist, die sich unserer heutigen Zeit stellt. Ist das 20. Jahrhundert etwa nicht eine Zeit großen Zeugnisses, das »bis zum Vergießen des Blutes« reicht? Und betrifft dieses Zeugnis etwa nicht auch die verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die ihren Namen von Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, nehmen?

Dieses gemeinsame Zeugnis der Heiligkeit als Treue zu dem einzigen Herrn ist ein außerordentliches gnadenreiches ökumenisches Potential. Das II. Vatikanische Konzil hat unterstrichen, dass die bei den anderen Christen vorhandenen Güter zur Auferbauung der Katholiken beitragen können: »Man darf auch nicht übergehen, dass alles, was von der Gnade des Heiligen Geistes in den Herzen der getrennten Brüder gewirkt wird, auch zu unserer eigenen Auferbauung beitragen kann. Denn was wahrhaft christlich ist, steht niemals im Gegensatz zu den echten Gütern des Glaubens, sondern kann immer dazu helfen, dass das Geheimnis Christi und der Kirche vollkommener erfaßt werde«.<ref> Ebd.</ref> Der ökumenische Dialog wird es als echter Heilsdialog nicht versäumen, diesen schon in sich selbst gut eingeleiteten Prozeß voranzubringen, um in Richtung der wahren und vollen Einheit fortzuschreiten.

Wachsen der Gemeinschaft

49. Kostbare Frucht der Beziehungen der Christen untereinander und des von ihnen geführten theologischen Dialogs ist das Wachsen der Gemeinschaft. Beides hat den Christen die Glaubenselemente bewusst gemacht, die sie gemeinsam haben. Das diente der weiteren Festigung ihres Einsatzes für die volle Einheit. Bei alldem bleibt das II. Vatikanische Konzil mächtiges Antriebs- und Orientierungszentrum.

Die dogmatische Konstitution Lumen gentium stellt die Verbindung her zwischen der Lehre über die katholische Kirche und der Anerkennung der heilbringenden Elemente, die sich in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften finden.<ref> Vgl. Nr. 15.</ref> Es handelt sich dabei nicht um eine Bewusstseinsnahme statischer Elemente, die in diesen Kirchen und Gemeinschaften passiv vorhanden sind. Denn Güter der Kirche Christi drängen auf Grund ihrer Natur zur Wiederherstellung der Einheit. Daraus folgt, dass die Suche nach der Einheit der Christen kein Akt opportunistischer Beliebigkeit ist, sondern ein Erfordernis, das aus dem Wesen der christlichen Gemeinschaft selbst erwächst.

Ähnlich gehen die bilateralen theologischen Dialoge mit den größeren christlichen Gemeinschaften von der Anerkennung der bereits erreichten Stufe der Gemeinschaft aus, um dann fortschreitend die mit einer jeden bestehenden Divergenzen zu erörtern. Der Herr hat den Christen unserer Zeit zugestanden, den traditionellen Streit vermindern zu können.

Der Dialog mit den orientalischen Kirchen

50. In diesem Zusammenhang muss man mit besonderer Dankbarkeit an die göttliche Vorsehung vor allem feststellen, dass sich die Verbindung mit den orientalischen Kirchen, die im Laufe der Jahrhunderte rissig und brüchig geworden war, mit dem II. Vatikanischen Konzil wieder gefestigt hat. Die Beobachter dieser Kirchen, die zusammen mit Vertretern der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Abendlandes beim Konzil zugegen waren, haben bei einem für die katholische Kirche so feierlichen Anlass öffentlich den gemeinsamen Willen bekundet, wieder nach der Gemeinschaft zu suchen.

Das Konzil seinerseits hat mit Objektivität und tiefer Zuneigung auf die orientalischen Kirchen geblickt und ihre Kirchlichkeit und objektiven Gemeinschaftsbande hervorgehoben, die sie mit der katholischen Kirche verbinden. Das Dekret über den Ökumenismus stellt fest: »So baut sich auf und wächst durch die Feier der Eucharistie des Herrn in diesen Einzelkirchen die Kirche Gottes«, um konsequenterweise hinzuzufügen, dass diese Kirchen »trotz ihrer Trennung wahre Sakramente besitzen, vor allem aber in der Kraft der apostolischen Sukzession das Priestertum und die Eucharistie, wodurch sie in ganz enger Verwandtschaft bis heute mit uns verbunden sind«.<ref> Nr. 15.</ref>

Anerkannt wurden die große liturgische und spirituelle Tradition der orientalischen Kirchen, die besondere Eigenart ihrer historischen Entwicklung, die eigenen Kirchenordnungen, die von ihnen seit den ältesten Zeiten befolgt und von den Kirchenvätern und ökumenischen Konzilien bekräftigt worden sind, sowie die ihnen eigene Weise, die Lehre zu verkünden. Das alles in der Überzeugung, dass die legitime Verschiedenartigkeit in keiner Weise der Einheit der Kirche entgegensteht, sondern vielmehr ihre Zierde und Schönheit vermehrt und zur Erfüllung ihrer Sendung in nicht geringem Maße beiträgt.

Das II. Vatikanische Konzil will den Dialog auf die bestehende Gemeinsamkeit gründen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die reichhaltige Wirklichkeit der orientalischen Kirchen: »Deshalb ermahnt das Heilige Konzil alle, besonders aber diejenigen, die sich um die so erwünschte Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft zwischen den orientalischen Kirchen und der katholischen Kirche bemühen wollen, dass sie diese besonderen Umstände der Entstehung und des Wachstums der Kirchen des Orients sowie der Art der vor der Trennung zwischen ihnen und dem Römischen Stuhl bestehenden Beziehungen gebührend berücksichtigen und sich über dies alles ein rechtes Urteil bilden«.<ref> Ebd., 14.</ref>

51. Diese Anleitung des Konzils hat sich als fruchtbar erwiesen sowohl für die brüderlichen Beziehungen, die durch den Dialog der Liebe heranreiften und sich entfalteten, als auch für die Diskussion über die Lehre im Bereich der Gemischten Kommission für den theologischen Dialog zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit. Desgleichen war sie in den Beziehungen zu den altorientalischen Kirchen reich an Früchten.

Es handelte sich um einen langsamen und mühsamen Prozeß, der jedoch Quelle großer Freude war; und die Entwicklung hatte auch etwas Faszinierendes an sich, da sie uns fortschreitend die Brüderlichkeit wiederfinden ließ.

Die Wiederaufnahme der Kontakte

52. Was die Kirche von Rom und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel betrifft, so setzte der Prozeß, auf den wir soeben hingewiesen haben, dank der gegenseitigen Öffnung ein, die von den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. einerseits und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. und seinen Nachfolgern andererseits eingeleitet wurde. Die bewirkte Veränderung erfährt ihren historischen Ausdruck in dem kirchlichen Akt, durch dessen Verwirklichung man die Erinnerung an den gegenseitigen Bann »aus dem Gedächtnis und aus der Mitte der Kirchen getilgt hat«,<ref> Vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Paul VI. und dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras I. (7. Dezember 1965): Tomos agapis, Vatikan-Phanar (1958–1970), Rom–Istanbul 1971, S. 280–281.</ref> der neunhundert Jahre zuvor, im Jahr 1054, zum Symbol des Schismas zwischen Rom und Konstantinopel geworden war. Jenes für das ökumenische Engagement so bedeutungsvolle historische kirchliche Ereignis fand am 7. Dezember 1965 während der letzten Tage des Konzils statt. Auf diese Weise schloß die Konzilsversammlung mit einem feierlichen Akt, der gleichzeitig Reinigung der historischen Erinnerung, gegenseitige Vergebung und solidarische Verpflichtung zur Suche nach der Gemeinschaft war.

Vorausgegangen war dieser Geste die Begegnung Pauls VI. mit dem Patriarchen Athenagoras I. im Januar 1964 in Jerusalem während der Pilgerreise des Papstes in das Heilige Land. Bei jener Gelegenheit konnte er auch mit dem orthodoxen Patriarchen Benedictos von Jerusalem zusammmentreffen. In der Folge konnte Papst Paul am 25. Juli 1967 Patriarch Athenagoras im Phanar (Istanbul) einen Besuch abstatten, und im Oktober desselben Jahres wurde der Patriarch in Rom feierlich empfangen. Diese Begegnungen im Gebet wiesen den Weg, dem man für die Wiederannäherung zwischen der Kirche des Orients und der Kirche des Abendlandes sowie für die Wiederherstellung der Einheit, die im ersten Jahrtausend zwischen ihnen bestanden hatte, zu folgen hat.

Als mir nach dem Tod Papst Pauls VI. und dem kurzen Pontifikat Papst Johannes Pauls I. das Amt des Bischofs von Rom anvertraut wurde, habe ich es für eine der ersten Aufgaben meines päpstlichen Dienstes gehalten, einen persönlichen Kontakt zum Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. herzustellen, der inzwischen die Nachfolge des Patriarchen Athenagoras auf dem Stuhl von Konstantinopel angetreten hatte. Während meines Besuches im Phanar am 29. November 1979 konnten der Patriarch und ich die Aufnahme des theologischen Dialogs zwischen der katholischen Kirche und allen kirchenrechtlich in Gemeinschaft mit dem Stuhl von Konstantinopel stehenden orthodoxen Kirchen beschließen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang hinzuzufügen, dass damals bereits die Vorbereitungen für die Einberufung des künftigen Konzils der orthodoxen Kirchen im Gang waren. Die Suche nach ihrer Eintracht ist ein Beitrag zum Leben und zur Lebendigkeit jener Schwesterkirchen, und das auch im Hinblick auf die Funktion, die zu erfüllen sie auf dem Weg zur Einheit berufen sind. Der Ökumenische Patriarch wollte mir den Besuch, den ich ihm abgestattet hatte, erwidern, und im Dezember 1987 hatte ich die Freude, ihn mit aufrichtiger Zuneigung und mit der ihm gebührenden Feierlichkeit in Rom zu empfangen. In diesem Rahmen kirchlicher Brüderlichkeit muss an die seit Jahren zur festen Gewohnheit gewordene Gepflogenheit erinnert werden, in Rom am Fest der hll. Apostel Petrus und Paulus eine Delegation des Ökumenischen Patriarchats zu empfangen sowie eine Delegation des Heiligen Stuhles zu den Feierlichkeiten zu Ehren des hl. Andreas in den Phanar zu entsenden.

53. Diese regelmäßigen Kontakte erlauben unter anderem einen direkten Informations- und Meinungsaustausch für eine brüderliche Abstimmung aufeinander. Andererseits macht es uns unsere gegenseitige Teilnahme am Gebet wieder zur vertrauten Gewohnheit, Seite an Seite zu leben, hält uns dazu an, den Willen des Herrn für seine Kirche miteinander anzunehmen und somit in die Tat umzusetzen.

Auf dem Weg, den wir seit dem II. Vatikanischen Konzil zurückgelegt haben, müssen wenigstens zwei Ereignisse erwähnt werden, die von besonderer Bedeutung und von großer ökumenischer Relevanz für die Beziehungen zwischen Orient und Abendland sind: da ist zunächst das Jubiläum von 1984, das angesagt wurde, um des 11-hundertjährigen Jubiläums des Evangelisierungswerkes der hll. Cyrill und Methodius zu gedenken und das es mir ermöglichte, die beiden heiligen Apostel der Slawen und Glaubensboten zu Mitpatronen Europas zu erklären. Schon Papst Paul VI. hatte im Jahr 1964 während des Konzils den hl. Benedikt zum Patron Europas erklärt. dass die beiden Brüder aus Thessaloniki dem großen Begründer des abendländischen Mönchtums an die Seite gestellt werden, soll indirekt jene kirchliche und kulturelle Doppeltradition herausstellen, die für die zweitausend Jahre Christentum, die die Geschichte des europäischen Kontinents geprägt haben, so bedeutsam war. Es ist daher nicht überflüssig zu erwähnen, dass Cyrill und Methodius aus dem Bereich der damaligen byzantinischen Kirche kamen, also einer Epoche, in der diese noch in Gemeinschaft mit Rom stand. Indem ich sie zusammen mit dem hl. Benedikt zu Patronen Europas erklärte, wollte ich nicht nur die historische Wahrheit über das Christentum auf dem europäischen Kontinent bekräftigen, sondern auch ein wichtiges Thema für jenen Dialog zwischen Orient und Abendland liefern, der in der Nachkonzilszeit so viele Hoffnungen geweckt hat. Wie im hl. Benedikt, so findet Europa in den hll. Cyrill und Methodius seine geistlichen Wurzeln wieder. Nun, da sich das zweite Jahrtausend nach Christi Geburt seinem Ende zuneigt, müssen sie gemeinsam als Patrone unserer Vergangenheit und als Heilige verehrt werden, denen die Kirchen und die Nationen des europäischen Kontinents ihre Zukunft anvertrauen.

54. Das andere Ereignis, an das ich gern erinnern möchte, ist die Tausendjahrfeier der Taufe der Rus' (988-1988). Die katholische Kirche und in besonderer Weise der Apostolische Stuhl wollten an den Jubiläumsfeierlichkeiten teilnehmen und haben zu unterstreichen versucht, dass die Taufe, die der hl. Wladimir in Kiew empfangen hat, eines der zentralen Ereignisse für die Evangelisierung der Welt gewesen ist. Ihm verdanken nicht nur die großen slawischen Nationen Osteuropas ihren Glauben, sondern auch jene Völker, die jenseits des Ural bis nach Alaska leben.

In dieser Perspektive findet eine Formulierung, die ich wiederholt gebraucht habe, ihren tiefsten Grund: die Kirche muss mit ihren beiden Lungen atmen! Diese Formulierung bezieht sich im ersten Jahrtausend der Geschichte des Christentums vor allem auf die Dualität Byzanz-Rom; seit der Taufe der Rus' dehnt diese Formulierung ihre Grenzen aus: die Evangelisierung hat sich auf ein viel weiteres Gebiet erstreckt, so dass sie nunmehr die ganze Kirche umfaßt. Wenn man sodann bedenkt, dass dieses Heilsereignis, das sich an den Ufern des Dnjepr vollzogen hat, in eine Zeit zurückreicht, in der es zwischen der Kirche im Orient und jener im Abendland noch keine Spaltung gab, begreift man sehr klar, dass die Perspektive, gemäß der nach der vollen Einheit gesucht wird, jene der Einheit in der legitimen Verschiedenartigkeit sein soll. Das habe ich in der den hll. Cyrill und Methodius gewidmeten Enzyklika Slavorum apostoli<ref> Vgl. AAS 77 (1985), 779–813.</ref> und in dem Apostolischen Schreiben Euntes in mundum,<ref> Vgl. AAS 80 (1988), 935–956; vgl. auch Schreiben Magnum baptismi donum (14. Februar 1988): a. a. O., 988–997.</ref> das zum Gedenken an den tausendsten Jahrestag der Taufe der Kiewer Rus' an die Gläubigen der katholischen Kirche gerichtet ist, mit Nachdruck ausgeführt.

Schwesterkirchen

55. Das Konzilsdekret Unitatis redintegratio hat in seinem geschichtlichen Blickfeld die Einheit gegenwärtig, die trotz allem im ersten Jahrtausend gelebt wurde. Sie nimmt in gewissem Sinne Modellgestalt an. »Mit Freude möchte die Heilige Synode 1 allen die Tatsache in Erinnerung rufen, dass im Orient viele Teilkirchen oder Ortskirchen bestehen, unter denen die Patriarchalkirchen den ersten Rang einnehmen und von denen nicht wenige sich ihres apostolischen Ursprungs rühmen«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref> Seinen Anfang hat der Weg der Kirche am Pfingsttag in Jerusalem genommen, und ihre ganze ursprüngliche Entwicklung in der damaligen oikoumene konzentrierte sich um Petrus und die Elf (vgl. Apg 2, 14). Die Strukturen der Kirche im Orient und im Abendland bildeten sich also in bezug auf jenes apostolische Erbe heraus. Ihre Einheit im ersten Jahrtausend erhielt sich in eben jenen Strukturen durch die Bischöfe als Nachfolger der Apostel in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom. Wenn wir heute, am Ende des zweiten Jahrtausends, die volle Einheit wiederherzustellen trachten, müssen wir uns auf diese so strukturierte Einheit berufen.

Das Ökumenismusdekret hebt noch einen weiteren charakteristischen Aspekt hervor, dank dem alle Teilkirchen in der Einheit verblieben, nämlich »den Eifer und die Sorge 2, jene brüderlichen Bande der Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe zu bewahren, die zwischen Lokalkirchen als Schwesterkirchen bestehen müssen«.<ref> Ebd.</ref>

56. Nach dem II. Vatikanischen Konzil und im Zusammenhang mit jener Tradition wurde die Gepflogenheit wiedereingeführt, den um ihren Bischof versammelten Teil- oder Ortskirchen die Bezeichnung »Schwesterkirchen« zuzuerkennen. Ein sehr bedeutsamer Schritt auf dem Weg zur vollen Gemeinschaft war dann die Aufhebung der gegenseitigen Exkommunikationen, wodurch ein schmerzliches Hindernis kirchenrechtlicher und psychologischer Art beseitigt wurde.

Die Strukturen der Einheit, die vor der Spaltung bestanden, sind ein Erbe an Erfahrung, das unseren Weg zur Wiederfindung der vollen Gemeinschaft leitet. Natürlich hat der Herr während des zweiten Jahrtausends nicht aufgehört, seiner Kirche reiche Früchte an Gnade und Wachstum zu schenken. Doch leider hat die fortschreitende gegenseitige Entfremdung zwischen den Kirchen des Abendlandes und des Ostens sie des Reichtums gegenseitiger Geschenke und Hilfen beraubt. Es muss mit Gottes Gnade eine große Anstrengung unternommen werden, um zwischen ihnen die volle Gemeinschaft wiederherzustellen, die Quelle so vieler Güter für die Kirche Christi ist. Diese Anstrengung erfordert allen unseren guten Willen, das demütige Gebet und eine dauernde Zusammenarbeit, die sich durch nichts entmutigen lassen darf. Der hl. Paulus spornt uns an: »Einer trage des anderen Last« (Gal 6, 2). Wie passend für uns und wie aktuell ist diese Aufforderung des Apostels! Die traditionelle Bezeichnung »Schwesterkirchen« sollte uns auf diesem Weg ständig begleiten.

57. Wie Papst Paul VI. wünschte, ist es unser erklärtes Ziel, gemeinsam wieder zur vollen Einheit in der legitimen Verschiedenartigkeit zu finden: »Gott hat uns gewährt, dieses Zeugnis der Apostel im Glauben zu empfangen. Durch die Taufe sind wir einer in Christus Jesus (vgl. Gal 3, 28). Kraft der apostolischen Sukzession verbinden uns das Priestertum und die Eucharistie enger; durch die Teilhabe an den Gaben Gottes an seine Kirche sind wir in Gemeinschaft mit dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist […]. In jeder Ortskirche verwirklicht sich dieses Geheimnis der göttlichen Liebe. Ist nicht vielleicht das der Grund für den traditionellen und sehr schönen Ausdruck, mit dem sich die Ortskirchen gern als Schwesterkirchen bezeichneten (vgl. Dekret Unitatis redintegratio, 14)? Dieses Leben von Schwesterkirchen haben wir Jahrhunderte lang gelebt, als wir gemeinsam die ökumenischen Konzilien abhielten, die das Glaubensgut gegen jegliche Verfälschung verteidigten. Nach einer langen Periode der Spaltung und des gegenseitigen Unverständnisses erlaubt uns der Herr, trotz der Hindernisse, die sich in der Vergangenheit zwischen uns gelegt hatten, uns als Schwesterkirchen wiederzuentdecken«.<ref> Apostol. Breve Anno ineunte (25. Juli 1967): Tomos agapis, Vatikan-Phanar (1958–1970), Rom–Istanbul 1971, S. 388–391.</ref> Wenn wir heute, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, nach der Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft suchen, müssen wir die Verwirklichung dieser realen Gegebenheit anstreben, auf die wir Bezug nehmen müssen.

Die Verbindung mit dieser glorreichen Tradition ist für die Kirche fruchtbar. »Die Kirchen des Orients — so das Konzil — (besitzen) von Anfang an einen Schatz, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft hat«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref>

Zu diesem »Schatz« gehören auch »die Reichtümer jener geistlichen Traditionen, die besonders im Mönchtum ihre Ausprägung gefunden haben. Denn seit den glorreichen Zeiten der heiligen Väter blühte dort jene monastische Spiritualität, die sich von dorther auch im Abendland ausbreitete«.<ref> Ebd., 15.</ref> Wie ich im jüngsten Apostolischen Schreiben Orientale lumen Gelegenheit hatte zu betonen, haben die Ostkirchen mit großer Hochherzigkeit das vom monastischen Leben bezeugte Engagement gelebt, »angefangen bei der Evangelisierung, dem erhabensten Dienst, den der Christ dem Bruder anbieten kann, und weiter in vielen anderen Formen geistlichen und materiellen Dienstes. Ja, man kann sagen, das Mönchtum ist in der Antike — und verschiedentlich auch in späterer Zeit — das bevorzugte Werkzeug für die Evangelisierung der Völker gewesen«.<ref> Nr. 14: L’Osservatore Romano, 2.–3. Mai 1995, S. 3.</ref>

Das Konzil beschränkt sich nicht darauf, all das zu betonen, was die Kirchen im Orient und im Abendland einander ähnlich macht. Es zaudert im Einklang mit der geschichtlichen Wahrheit nicht mit der Aussage: »Es darf nicht wundernehmen, dass von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht gestellt wurden, und zwar so, dass man bei jenen verschiedenartigen theologischen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als von einer Gegensätzlichkeit sprechen muss«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 17.</ref> Der Austausch von Gaben zwischen den Kirchen in ihrer gegenseitigen Ergänzung macht die Gemeinschaft fruchtbar.

58. Aus der Wiederbeteuerung der bereits bestehenden Glaubensgemeinschaft zog das II. Vatikanische Konzil nützliche pastorale Konsequenzen für das konkrete Leben der Gläubigen und für die Förderung des Geistes der Einheit. Wegen der bestehenden engen sakramentalen Bande zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen hat das Dekret Orientalium ecclesiarum betont: »Die Seelsorgepraxis zeigt [...], dass bei den in Frage kommenden ostkirchlichen Brüdern mancherlei persönliche Umstände in Betracht zu ziehen sind, unter denen weder die Einheit der Kirche verletzt wird noch irgendeine Gefahr zu fürchten ist, vielmehr ein Heilsnotstand und das geistliche Wohl der Seelen drängt. Daher hat die katholische Kirche je nach zeitlichen, örtlichen und persönlichen Umständen in Vergangenheit und Gegenwart oft eine mildere Handlungsweise angewandt und allen die Mittel zum Heil und das Zeugnis gegenseitiger christlicher Liebe durch Teilnahme an Sakramenten und anderen heiligen Handlungen und Sachen dargeboten«.<ref> Nr. 26.</ref>

Diese theologische und pastorale Orientierung ist auch auf Grund der Erfahrung in den Jahren nach dem Konzil von den beiden Codices des kanonischen Rechtes übernommen worden.<ref> Vgl. Codex des kanonischen Rechtes, can. 844, §§ 2 u. 3; Codex des Ostkirchenrechtes, can. 671, §§ 2 u. 3.</ref> Unter pastoralem Gesichtspunkt wurde sie vom Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus erläutert.<ref> Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Directoire pour l’applcation des principes et des normes sur l’Oecuménisme (25. März 1993), 122–128: AAS 85 (1993), 1086–1088.</ref>

In dieser so wichtigen und heiklen Frage ist es unerläßlich, dass die Hirten die Gläubigen sorgfältig unterrichten, damit diese die besonderen Gründe für diese Teilnahme am liturgischen Gottesdienst und die unterschiedlichen Ordnungen kennenlernen, die es in diesem Bereich gibt.

Man darf niemals die ekklesiologische Dimension der Teilnahme an den Sakramenten, vor allem an der heiligen Eucharistie, aus den Augen verlieren.

Fortschritte des Dialogs

59. Die Gemischte Internationale Kommission für den theologischen Dialog zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit hat seit ihrer Einsetzung im Jahr 1979 intensive Arbeit geleistet, wobei sie ihre Forschung zunehmend an jenen Perspektiven orientierte, die in gemeinsamem Einvernehmen mit dem Ziel festgelegt worden waren, die volle Gemeinschaft zwischen den beiden Kirchen wiederherzustellen. Diese Gemeinschaft, die auf der Einheit im Glauben, in Kontinuität der Erfahrung und Tradition der alten Kirche gründet, wird in der gemeinsamen Feier der heiligen Eucharistie ihren vollen Ausdruck finden. Indem sie sich auf alles stützte, was wir gemeinsam haben, konnte die gemischte Kommission in einem positiven Geist wesentliche Fortschritte machen; und sie vermochte, wie ich zusammen mit dem hochverehrten Bruder, dem Ökumenischen Patriarchen Seiner Heiligkeit Dimitrios I., erklären konnte, schließlich auszudrücken, »was die katholische Kirche und die orthodoxe Kirche schon miteinander als gemeinsamen Glauben an das Geheimnis der Kirche und das Band zwischen Glaube und Sakramenten bekennen können«.<ref> Gemeinsame Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. (7. Dezember 1987): AAS 80 (1988), 253.</ref> Sodann konnte die Kommission feststellen und bestätigen, dass »in unseren Kirchen die apostolische Sukzession für die Heiligung und die Einheit des Gottesvolkes grundlegend ist«.<ref> GEMISCHTE INTERNATIONALE KOMMISSION FÜR DEN THEOLOGISCHEN DIALOG ZWISCHEN DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND DER ORTHODOXEN KIRCHE IN IHRER GESAMTHEIT, Dokument Das Weihesakrament in der sakramentalen Struktur der Kirche, im besonderen die Bedeutung der apostolischen Sukzession für die Heiligung und die Einheit des Gottesvolkes (26. Juni 1988), 1: Service d’information 68 (1988), 195.</ref> Es handelt sich um wichtige Bezugspunkte für die Weiterführung des Dialogs. Ja mehr noch: diese gemeinsam abgegebenen Erklärungen bilden die Grundlage, die die Katholiken und die Orthodoxen berechtigt, schon jetzt, in unserer Zeit, ein gemeinsames treues und einvernehmliches Zeugnis zu geben, damit der Name des Herrn verkündet und verherrlicht werde.

60. Vor kurzem hat die gemischte internationale Kommission in der so heiklen Frage der Methode, die bei der Suche nach der vollen Gemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche befolgt werden solle, einer Frage, die oft die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen verschlechtert hat, einen bedeutsamen Schritt vollzogen. Sie hat die lehrmäßigen Grundlagen für eine positive Lösung des Problems gelegt, die sich auf die Lehre von den Schwesterkirchen stützt. Auch in diesem Zusammenhang ist klar geworden, dass die Methode, die auf dem Weg zur vollen Gemeinschaft befolgt werden soll, der Dialog der Wahrheit ist, der vom Dialog der Liebe genährt und unterstützt wird. Das den katholischen orientalischen Kirchen zuerkannte Recht, sich zu organisieren und ihr Apostolat auszuüben, sowie die tatsächliche Einbeziehung dieser Kirchen in den Dialog der Liebe und in den theologischen Dialog werden nicht nur eine wirkliche und brüderliche gegenseitige Achtung zwischen den in demselben Gebiet lebenden Orthodoxen und Katholiken, sondern auch ihren gemeinsamen Einsatz auf der Suche nach der Einheit begünstigen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Bischöfe des europäischen Kontinents über die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen aufgrund der neuen Situation in Mittel- und Osteuropa (31. Mai 1991), 6: AAS 84 (1992), 168.</ref> Ein Schritt vorwärts ist getan worden. Der Einsatz muss weitergehen. Schon jetzt kann man aber eine Beruhigung der Geister feststellen, die die Suche fruchtbarer macht.

Was die orientalischen Kirchen betrifft, die sich in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche befinden, hatte das Konzil die folgende Wertschätzung zum Ausdruck gebracht: »Dieses Heilige Konzil erklärt, dass dies ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört; und es sagt Gott dafür Dank, dass viele orientalische Söhne der katholischen Kirche 2 schon jetzt mit den Brüdern, die die abendländische Tradition pflegen, in voller Gemeinschaft leben«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 17.</ref> Sicher werden die katholischen Ostkirchen im Geist des Ökumenismusdekrets in positiver Weise am Dialog der Liebe und am theologischen Dialog sowohl auf lokaler wie auf universaler Ebene teilnehmen können und so zum gegenseitigen Verständnis und zu einer dynamischen Suche nach der vollen Einheit beitragen. <ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Orientale lumen (2. Mai 1995), 24: L’Osservatore Romano, 2.–3. Mai 1995, S. 5.</ref>

61. Nach dieser Auffassung will die katholische Kirche nichts anderes als die volle Gemeinschaft zwischen Orient und Abendland. dabei inspiriert sie sich an der Erfahrung des ersten Jahrtausends. In jener Zeit war in der Tat »die Herausbildung unterschiedlicher Erfahrungen kirchlichen Lebens […] kein Hindernis dafür, dass die Christen durch gegenseitige Beziehungen weiterhin die Gewißheit empfinden konnten, in jeder Kirche zu Hause zu sein, weil von allen in einer wunderbaren Vielfalt von Sprachen und Modulationen das Lob des einen Vaters durch Christus im Heiligen Geist emporstieg; alle haben sich versammelt, um die Eucharistie zu feiern, Herz und Vorbild für die Gemeinschaft nicht nur im Hinblick auf die Spiritualität oder das sittliche Leben, sondern auch für die Struktur der Kirche in der Vielfalt der Ämter und Dienste unter dem Vorsitz des Bischofs, des Nachfolgers der Apostel. Die ersten Konzilien sind ein beredtes Zeugnis für die fortdauernde Einheit in Vielfalt«.<ref> Ebd, 18: a. a.O., S. 4.</ref> Wie läßt sich nach fast tausend Jahren diese Einheit wiederherstellen? Das ist die große Aufgabe, die sie lösen muss und die auch der orthodoxen Kirche obliegt. Von daher begreift man die ganze Aktualität des Dialogs, der gestützt wird vom Licht und der Kraft des Heiligen Geistes.

Beziehungen zu den alten Kirchen des Orients

62. Seit dem II. Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche mit Unterschieden hinsichtlich der Vorgangsweisen und zeitlichen Abläufe auch zu jenen alten Kirchen des Orients wieder brüderliche Beziehungen aufgenommen, die die dogmatischen Formeln der Konzilien von Ephesus und Chalkedon angefochten haben. Alle diese Kirchen haben Beobachter zum II. Vatikanischen Konzil entsandt; ihre Patriarchen haben uns mit ihrem Besuch geehrt, und der Bischof von Rom hat mit ihnen wie mit Brüdern sprechen können, die sich nach langer Zeit in der Freude wiederfinden.

Die Wiederaufnahme der brüderlichen Beziehungen zu den alten Kirchen des Orients, Zeugen des christlichen Glaubens in oft feindseligen und tragischen Situationen, ist ein konkretes Zeichen dafür, dass uns trotz der historischen, politischen, sozialen und kulturellen Hindernisse Christus miteinander vereint. Und gerade was das christologische Thema betrifft, haben wir gemeinsam mit den Patriarchen einiger dieser Kirchen unseren gemeinsamen Glauben an Jesus Christus erklären können, den wahren Gott und wahren Menschen. Papst Paul VI. seligen Andenkens hatte in diesem Sinne Erklärungen mit Seiner Heiligkeit Shenouda III., dem koptisch-orthodoxen Papst und Patriarchen,<ref> Vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Paul VI. und Seiner Heiligkeit Shenouda III., Papst von Alexandrien, Patriarch des Stuhles des hl. Markus (10. Mai 1973): AAS 65 (1973), 299–301.</ref> und mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien, Seiner Heiligkeit Jacoub III.,<ref> Vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Paul VI. und Seiner Heiligkeit Mar Ignatius Jacoub III., Patriarch der Kirche Antiochiens der Syrer und des ganzen Orients (27. Oktober 1971): AAS 63 (1971), 814–815.</ref> unterzeichnet. Ich selbst konnte diese christologische Übereinstimmung bestätigen und daraus die Konsequenzen ziehen: für die Entwicklung des Dialogs mit Papst Shenouda<ref> Vgl. Ansprache an die Gesandten der koptisch-orthodoxen Kirche (2. Juni 1979): AAS 71 (1979), 1000–1001.</ref> und für die pastorale Zusammenarbeit mit dem syrischen Patriarchen von Antiochien, Mar Ignatius Zakka I. Iwas.<ref> Vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem syrisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien und dem ganzen Orient, Seiner Heiligkeit Moran Mar Ignatius Zakka I. Iwas (23. Juni 1984): Insegnamenti VII, 1 (1984), 1902–1906.</ref>

Gemeinsam mit dem ehrwürdigen Patriarchen der Kirche Äthiopiens, Abuna Paulos, der mich am 11. Juni 1993 in Rom besuchte, haben wir die zwischen unseren beiden Kirchen bestehende tiefe Gemeinschaft hervorgehoben: »Wir teilen den von den Aposteln empfangenen Glauben, dieselben Sakramente und dasselbe in der apostolischen Sukzession verwurzelte Amt […]. Heute können wir tatsächlich behaupten, denselben Glauben an Christus zu haben, nachdem er lange Zeit Ursache der Spaltung zwischen uns gewesen war«.<ref> Ansprache an Seine Heiligkeit Abuna Paulos, Patriarch der orthodoxen Kirche Äthiopiens (11. Juni 1993): L’Osservatore Romano, 11.–12. Juni 1993, S. 4.</ref>

Vor kurzer Zeit hat mir der Herr die große Freude beschert, eine gemeinsame christologische Erklärung mit dem assyrischen Patriarchen des Orients, Seiner Heiligkeit Mar Dinkha IV., zu unterschreiben, der mich aus diesem Anlass im November 1994 in Rom besuchte. Unter Berücksichtigung der differenzierten theologischen Formulierungen konnten wir so gemeinsam den wahren Glauben an Christus bekennen.<ref> Vgl. Gemeinsame christologische Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und der assyrischen Kirche des Orients: L’Osservatore Romano, 12. November 1994, S. 1.</ref> Meiner Freude über all das möchte ich mit den Worten der seligen Jungfrau Ausdruck verleihen: »Meine Seele preist den Herrn« (Lk 1, 46).

63. Hinsichtlich der traditionellen Auseinandersetzungen über die Christologie haben die ökumenischen Kontakte also grundlegende Klärungen ermöglicht, so dass wir miteinander jenen Glauben bekennen können, der uns gemeinsam ist. Noch einmal sei festgestellt, dass diese bedeutende Errungenschaft sicherlich Ergebnis der theologischen Forschung und des brüderlichen Dialogs ist. Und nicht nur das. Sie ist für uns auch Ermutigung: denn sie zeigt uns, dass der eingeschlagene Weg richtig ist und dass man vernünftigerweise darauf hoffen kann, miteinander die Lösung für die anderen Streitfragen zu finden.

Dialog mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland

64. Im umfassenden, für die Wiederherstellung der Einheit unter allen Christen vorgezeichneten Plan berücksichtigt das Ökumenismusdekret ebenso auch die Beziehungen zu den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Abendlandes. In der Absicht, ein Klima der christlichen Brüderlichkeit und des Dialogs zu schaffen, führt das Konzil seine Angaben und Hinweise im Rahmen zweier allgemeiner Betrachtungen aus: die eine hat historisch-psychologischen und die andere theologisch-doktrinalen Charakter. Einerseits stellt das Dokument fest: »Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die in der schweren Krise, die im Abendland schon vom Ende des Mittelalters ihren Ausgang genommen hat, oder auch in späterer Zeit vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennt wurden, sind mit der katholischen Kirche durch das Band besonderer Verwandtschaft verbunden, da ja das christliche Volk in den Jahrhunderten der Vergangenheit so lange Zeit sein Leben in kirchlicher Gemeinschaft geführt hat«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 19.</ref> Andererseits wird mit ebensolchem Realismus festgestellt: »dabei muss jedoch anerkannt werden, dass es zwischen diesen Kirchen und Gemeinschaften und der katholischen Kirche Unterschiede von großem Gewicht gibt, nicht nur in historischer, soziologischer, psychologischer und kultureller Beziehung, sondern vor allem in der Interpretation der geoffenbarten Wahrheit«.<ref> Ebd., 19.</ref>

65. Gemeinsam sind die Wurzeln und trotz der Unterschiede sind die Orientierungen ähnlich, die die Entwicklung der katholischen Kirche und der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und Gemeinschaften im Abendland geleitet haben. Sie besitzen daher eine gemeinsame abendländische Charakteristik. Die oben genannten »Unterschiede«, wenn sie auch von Bedeutung sind, schließen also gegenseitige Durchdringungen und Ergänzungen nicht aus.

Die ökumenische Bewegung hat gerade im Bereich der Kirchen und Gemeinschaften der Reformation ihren Ausgang genommen. Zur gleichen Zeit, bereits im Januar 1920, hatte das Ökumenische Patriarchat den Wunsch geäußert, es solle eine Zusammenarbeit zwischen den christlichen Gemeinschaften aufgebaut werden. Dieser Umstand zeigt, dass die Auswirkung des kulturellen Hintergrundes nicht entscheidend ist. Wesentlich ist vielmehr die Frage des Glaubens. Das Gebet Christi, unseres einzigen Herrn, Erlösers und Meisters, spricht alle in derselben Weise an, den Orient ebenso wie das Abendland. Es wird zu einem Imperativ, der gebietet, die Trennungen aufzugeben, um die Einheit zu suchen und wiederzufinden, angespornt gerade auch durch die bitteren Erfahrungen der Spaltung.

66. Das II. Vatikanische Konzil beabsichtigt nicht, das »nachreformatorische« Christentum »zu beschreiben«, denn diese Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften weisen »wegen ihrer Verschiedenheit nach Ursprung, Lehre und geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber, sondern auch untereinander nicht wenige Unterschiede« auf.<ref> Ebd., 19.</ref> Außerdem bemerkt dasselbe Dekret, dass sich die ökumenische Bewegung und der Wunsch nach Frieden mit der katholischen Kirche noch nicht überall durchgesetzt hat.<ref> Vgl. ebd.</ref> Ungeachtet dieser Umstände schlägt das Konzil jedoch den Dialog vor.

Das Konzilsdekret versucht dann, »einige Gesichtspunkte hervorzuheben, die das Fundament und ein Anstoß zu diesem Dialog sein können und sollen«.<ref> Ebd.</ref>

»Unser Geist wendet sich […] den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und Herrn und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur Ehre des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«.<ref> Ebd., 20.</ref>

Diese Brüder pflegen Liebe und Hochschätzung für die Heilige Schrift: »Unter Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In der Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse seines Todes und seiner Aufer- stehung 6; sie bejahen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift«.<ref> Ebd., 21.</ref>

Gleichzeitig »haben sie jedoch 7 eine von uns verschiedene Auffassung von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche, wobei nach dem katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung und Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen Platz einnimmt«.<ref> Ebd.</ref> »Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim (ökumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«.<ref> Ebd.</ref>

Zudem stellt das Sakrament der Taufe, das wir gemeinsam haben, »ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen (dar), die durch sie wiedergeboren sind«.<ref> Ebd., 22.</ref> Die theologischen, pastoralen und ökumenischen Verflechtungen der gemeinsamen Taufe sind zahlreich und bedeutsam. Obwohl dieses Sakrament »nur ein Anfang und Ausgangspunkt« ist, »ist es hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus sie gewollt hat, und schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft«.<ref> Ebd.</ref>

67. Lehrmäßige und historische Unterschiede der Reformationszeit haben sich in bezug auf die Kirche, die Sakramente und das Weiheamt ergeben. Das Konzil verlangt daher, dass »die Lehre vom Abendmahl des Herrn, von den übrigen Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern der Kirche notwendig Gegenstand des Dialogs sind«.<ref> Ebd., 22; vgl. 20.</ref>

Während das Dekret Unitatis redintegratio hervorhebt, dass den nachreformatorischen Gemeinschaften die »aus der Taufe hervorgehende volle Einheit mit uns fehlt«, stellt es zugleich fest, dass sie »vor allem wegen des Fehlens des Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben«, obwohl sie »bei der Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl bekennen, dass hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie seine glorreiche Wiederkunft erwarten«.<ref> Ebd., 22.</ref>

68. Das Dekret läßt das geistliche Leben und die moralischen Konsequenzen nicht außer acht: »Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus, gefördert durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Dies zeigt sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen Familienleben und im Gottesdienst der zum Lob Gottes versammelten Gemeinde. Übrigens enthält ihr Gottesdienst nicht selten deutlich hervortretende Elemente der alten gemeinsamen Liturgie«.<ref> Ebd., 23.</ref>

Das Konzilsdokument beschränkt sich allerdings nicht auf diese geistlichen, moralischen und kulturellen Aspekte, sondern weitet seine Wertschätzung auf das starke Gerechtigkeitsgefühl und auf die aufrichtige Nächstenliebe aus, die bei diesen Brüdern vorhanden sind; außerdem verkennt es nicht ihre Initiativen zur Schaffung menschlicher sozialer Lebensbedingungen und zur Festigung des Friedens. Das alles geschieht in dem ehrlichen Willen, an dem Wort Christi als Quelle des christlichen Lebens festzuhalten.

So hebt der Text eine Problematik hervor, die auf ethisch-moralischem Gebiet in unserer Zeit immer dringlicher wird, nämlich dass »viele Christen das Evangelium« nicht immer »in der gleichen Weise auslegen wie die Katholiken«.<ref> Ebd.</ref> Auf diesem weiten Gebiet gibt es einen breiten Raum für den Dialog über die moralischen Prinzipien des Evangeliums und ihre Anwendung.

69. Die Vorgaben und die Einladung des II. Vatikanischen Konzils sind in die Tat umgesetzt worden, und nach und nach wurde der bilaterale theologische Dialog mit den verschiedenen Kirchen und weltweiten christlichen Gemeinschaften des Abendlandes aufgenommen.

Andererseits begann für den multilateralen Dialog bereits 1964 der Prozeß zur Errichtung einer »Gemischten Arbeitsgruppe« mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, und seit 1968 gehören katholische Theologen als Vollmitglieder der theologischen Abteilung dieses Rates an, nämlich der Kommission »Glaube und Verfassung«.

Der Dialog war und ist fruchtbar und verheibungsvoll. Mit den vom Konzilsdekret als Gegenstand des Dialogs empfohlenen Themen hat man sich bereits auseinandergesetzt oder wird das in Kürze tun können. Wenn man die verschiedenen bilateralen Gespräche betrachtet, die mit einer Hingabe geführt werden, die das Lob der ganzen ökumenischen Gemeinschaft verdient, so haben sie sich auf viele Streitfragen konzentriert, wie die Taufe, die Eucharistie, das Weiheamt, den sakramentalen Charakter und die Autorität der Kirche und die apostolische Sukzession. Auf diese Weise wurden unverhoffte Aussichten auf eine Lösung entworfen, und zugleich hat man begriffen, wie notwendig die tiefere Ergründung mancher Themen wäre.

70. Diese schwierige und heikle Untersuchung, die Probleme des Glaubens und der Achtung des eigenen und des Gewissens des anderen einbezieht, wurde auch vom Gebet der katholischen Kirche und der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften begleitet und unterstützt. Das im kirchlichen Gefüge bereits so tief verwurzelte und verbreitete Gebet für die Einheit zeigt, dass den Christen die Bedeutung der ökumenischen Frage nicht entgeht. Gerade weil die Suche nach der vollen Einheit eine Glaubensgegenüberstellung zwischen Gläubigen verlangt, die sich auf den einen Herrn berufen, ist das Gebet die Quelle der Erleuchtung über die Wahrheit, die als ganze angenommen werden muss.

Durch das Gebet erstreckt sich zudem die Suche nach der Einheit, die ja nicht auf einen Kreis von Spezialisten beschränkt ist, auf jeden Getauften. Unabhängig von ihrer Rolle in der Kirche und von ihrer kulturellen Bildung können alle in einer geheimnisvollen, tiefgründigen Dimension einen aktiven Beitrag leisten.

Kirchliche Beziehungen

71. Wir müssen der göttlichen Vorsehung auch für alle Ereignisse danken, die Zeugnis geben vom Fortschritt auf dem Weg der Suche nach der Einheit. Neben dem theologischen Dialog müssen angebrachterweise die anderen Begegnungsformen erwähnt werden, nämlich das gemeinsame Gebet und die praktische Zusammenarbeit. Papst Paul VI. gab diesem Prozeß mit seinem Besuch am Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf am 10. Juni 1969 einen starken Anstoß und traf dann wiederholt mit den Vertretern verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften zusammen. Diese Kontakte tragen wirksam dazu bei, die gegenseitige Kenntnis voneinander zu verbessern und die christliche Brüderlichkeit wachsen zu lassen.

Papst Johannes Paul I. brachte während seines so kurzen Pontifikats den Willen zur Fortsetzung des Weges zum Ausdruck.<ref> Vgl. Rundfunkbotschaft Urbi et orbi (27. August 1978): AAS 70 (1978), 695–696.</ref> Der Herr hat mir gewährt, in dieser Richtung zu wirken. Außer den wichtigen ökumenischen Begegnungen in Rom ist ein bedeutender Teil meiner Pastoralbesuche regelmäßig dem Zeugnis für die Einheit der Christen gewidmet. Einige meiner Reisen weisen sogar eine ökumenische »Priorität« auf, besonders in den Ländern, in denen die katholischen Gemeinden gegenüber den aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften eine Minderheit darstellen; oder wo diese letzteren in einer bestimmten Gesellschaft einen beachtlichen Anteil der an Christus Glaubenden darstellen.

72. Das gilt vor allem für die europäischen Länder, wo diese Spaltungen ihren Ausgang genommen haben, und für Nordamerika. In diesem Zusammenhang verdienen, ohne deshalb die anderen Besuche schmälern zu wollen, jene besondere Aufmerksamkeit, die mich auf dem europäischen Kontinent zweimal nach Deutschland geführt haben: im November 1980 und im April- Mai 1987; der Besuch im Vereinigten Königreich (England, Schottland und Wales) im Mai-Juni 1982; in der Schweiz im Juni 1984; und in den skandinavischen und nordischen Ländern (Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Island), wohin ich mich im Juni 1989 begeben habe. Mit Freude, in gegenseitiger Achtung, in christlicher Solidarität und im Gebet bin ich vielen, vielen Brüdern und Schwestern begegnet, die alle in der Suche nach der Treue zum Evangelium engagiert sind. Das alles festzustellen war für mich eine Quelle großer Ermutigung. Wir haben die Gegenwart des Herrn mitten unter uns erfahren.

In diesem Zusammenhang möchte ich an eine von brüderlicher Liebe bestimmte und von tiefer Glaubensklarheit durchdrungene Haltung erinnern, die ich mit starker Anteilnahme erlebt habe. Sie bezieht sich auf die Eucharistiefeiern, denen ich während meiner Reise in die nordischen und skandinavischen Länder in Finnland und in Schweden vorstand. Bei der Kommunion präsentierten sich die lutherischen Bischöfe dem Zelebranten. Sie wollten mit einer einvernehmlichen Geste ihren sehnlichen Wunsch nach Erreichung des Zeitpunktes bekunden, an dem wir, Katholiken und Lutheraner, an derselben Eucharistie werden teilnehmen können, und sie wollten den Segen des Zelebranten empfangen. Voll Liebe habe ich sie gesegnet. Dieselbe so bedeutungsreiche Geste hat sich in Rom während der Messe wiederholt, die ich am 6. Oktober 1991 anläßlich des 600. Jahrestages der Heiligsprechung der hl. Birgitta auf der Piazza Farnese feierte.

Ähnlichen Empfindungen begegnete ich auch jenseits des Atlantik im September 1984 in Kanada und besonders im September 1987 in den Vereinigten Staaten, wo man eine große ökumenische Aufgeschlossenheit feststellt. Hier sei als Beispiel die ökumenische Begegnung in Columbia, South Carolina, vom 11. September 1987 erwähnt. Wichtig ist an sich die Tatsache, dass diese Begegnungen zwischen den Brüdern »aus der Reformationszeit« und dem Papst mit gewisser Regelmäßigkeit stattfinden. Ich bin zutiefst dafür dankbar, dass mich sowohl die Verantwortlichen der verschiedenen Gemeinschaften als auch die Gemeinschaften in ihrer Gesamtheit gern aufgenommen haben. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich den ökumenischen Wortgottesdienst für äußerst wichtig, der in Columbia stattgefunden hat und die Familie zum Thema hatte.

73. Ein weiterer Grund zu großer Freude ist die Feststellung, dass es in der nachkonziliaren Zeit und in den einzelnen Ortskirchen reichlich Initiativen und Aktionen zur Förderung der Einheit der Christen gibt, die ihr auf Mitwirkung aller abzielendes Tun auf der Ebene der Bischofskonferenzen, der einzelnen Diözesen und der Pfarrgemeinden wie auch der verschiedenen kirchlichen Bereiche und Bewegungen ausweiten.

Verwirklichte Zusammenarbeit

74. »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt« (Mt 7, 21). Die Kohärenz und Redlichkeit der Absichten und der Grundsatzaussagen erfüllen sich durch deren Anwendung auf das konkrete Leben. Das Konzilsdekret über den Ökumenismus führt an, dass bei den anderen Christen »der Christusglaube seine Früchte in Lobpreis und Danksagung für die von Gott empfangenen Wohltaten zeitigt; hinzu kommt ein lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine aufrichtige Nächstenliebe«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 23.</ref>

Der soeben beschriebene Bereich ist ein fruchtbarer Boden nicht nur für den Dialog, sondern auch für eine tätige Zusammenarbeit: Der »werktätige Glaube hat auch viele Einrichtungen zur Behebung der geistlichen und leiblichen Not, zur Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens hervorgebracht«.<ref> Ebd.</ref>

Das soziale und kulturelle Leben bietet weite Räume für ökumenische Zusammenarbeit. Immer häufiger finden sich die Christen zusammen, um die Menschenwürde zu verteidigen, das Gut des Friedens, die Anwendung des Evangeliums auf das soziale Leben zu fördern sowie in Wissenschaft und Kunst den christlichen Geist präsent zu machen. Sie finden sich immer mehr zusammen, wenn es darum geht, der Not und dem Elend unserer Zeit entgegenzutreten: dem Hunger, den Katastrophen und der sozialen Ungerechtigkeit.

75. Diese Zusammenarbeit, die ihre Inspiration aus dem Evangelium selbst bezieht, ist für die Christen niemals eine bloß humanitäre Aktion. Sie hat ihren eigentlichen Grund im Wort des Herrn: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben« (Mt 25, 35). Wie ich bereits hervorgehoben habe, macht die Zusammenarbeit aller Christen klar jenen zwischen ihnen bereits bestehenden Grad von Gemeinschaft offenbar.<ref> Vgl. ebd., 12.</ref>

Vor der Welt gewinnt das gemeinsame Wirken der Christen in der Gesellschaft dann den transparenten Wert eines Zeugnisses, das gemeinsam im Namen des Herrn abgelegt wird. Es nimmt auch die Dimensionen einer Verkündigung an, weil es das Antlitz Christi enthüllt.

Die noch bestehenden gegensätzlichen Auffassungen in der Lehre üben einen negativen Einfluss aus und setzen auch der Zusammenarbeit Grenzen. Die zwischen den Christen bereits bestehende Glaubensgemeinschaft bietet jedoch nicht nur für ihre gemeinsame Tätigkeit auf sozialem Gebiet eine solide Grundlage, sondern auch im religiösen Bereich.

Diese Zusammenarbeit wird die Suche nach der Einheit erleichtern. Wie das Ökumenismusdekret bemerkte, können bei dieser Zusammenarbeit »alle, die an Christus glauben, unschwer lernen, wie sie einander besser kennen und höher achten können und wie der Weg zur Einheit der Christen bereitet wird«.<ref> Ebd.</ref>

76. Wie sollte man in diesem Zusammenhang nicht an das ökumenische Interesse für den Frieden erinnern, das unter wachsender Beteiligung der Christen und mit einer immer tiefgründigeren theologischen Motivation im Gebet und im Tun Ausdruck findet? Es könnte gar nicht anders sein. Glauben wir etwa nicht an Jesus Christus, den Friedensfürsten? Die Christen sind sich zunehmend einig in der Ablehnung der Gewalt, und zwar jeder Art von Gewalt, von Kriegen bis zur sozialen Ungerechtigkeit.

Wir sind zu einem immer tätigeren Einsatz aufgerufen, damit noch klarer zutage tritt, dass nicht die religiösen Gründe die wahre Ursache der herrschenden Konflikte darstellen, auch wenn leider die Gefahr der Instrumentalisierung zu politischen und feindseligen Zwecken nicht gebannt ist.

Während des Weltgebetstages für den Frieden 1986 in Assisi haben die Christen der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit einer einzigen Stimme zum Herrn der Geschichte für den Frieden in der Welt gebetet. An jenem Tag haben parallel dazu, wenn auch in anderer Weise, ebenso die Juden und die Vertreter der nichtchristlichen Religionen um den Frieden gebetet — in einem Einklang von Gefühlen, die die tiefsten Seiten des menschlichen Geistes zum Schwingen brachten.

Nicht vergessen möchte ich auch den Weltgebetstag für den Frieden in Europa, besonders auf dem Balkan, der mich am 9. und 10. Januar 1993 wieder als Pilger in die Stadt des hl. Franziskus geführt hat, und die Messe für den Frieden auf dem Balkan und insbesondere in Bosnien-Herzegowina, die ich im Rahmen der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 23. Januar 1994 in der Petersbasilika feierte.

Wenn unser Blick durch die Welt streift, erfüllt Freude unser Herz. Denn wir stellen fest, dass sich die Christen immer mehr von der Frage des Friedens ermahnt fühlen. Sie sehen sie in engem Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Ankunft des Reiches Gottes.

III. QUANTA EST NOBIS VIA? (WIE LANG IST DER WEG, DER NOCH VOR UNS LIEGT?)

Den Dialog weiter intensivieren

77. Nun können wir uns fragen, wie lang der Weg ist, der uns noch von jenem segensreichen Tag trennt, an dem die volle Einheit im Glauben erreicht sein wird und wir einträchtig miteinander die heilige Eucharistie des Herrn werden feiern können. Die bessere gegenseitige Kenntnis und die Übereinstimmungen in Fragen der Lehre, die wir schon erreicht haben und die eine effektive Zunahme des Gemeinschaftsgefühls zur Folge hatten, können dem Gewissen der Christen, die die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekennen, freilich noch nicht genügen. Das letzte Ziel der ökumenischen Bewegung ist die Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit aller Getauften.

Im Hinblick auf dieses Ziel sind alle bisher erreichten Ergebnisse nur ein, wenn auch vielversprechendes und positives Wegstück.

78. In der ökumenischen Bewegung hat nicht nur die katholische Kirche, zusammen mit den orthodoxen Kirchen, diese anspruchsvolle Auffassung von der von Gott gewollten Einheit. Das Streben nach einer solchen Einheit wird auch von anderen zum Ausdruck gebracht.<ref> Die geduldige Arbeit der Kommission „Glaube und Verfassung“ ist zu einer analogen Einsicht gelangt, die sich die VII. Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in der sogenannten Erklärung von Canberra (7.–20. Februar 1991, vgl. Signs of the Spirit, Official Report Seventh Assembly, WCC, Genf 1991, S. 235–258) zu eigen gemacht hat und die dann von der Weltkonferenz von „Glaube und Verfassung“ in Santiago de Compostela (3.–14. August 1993, vgl. Service d’information 85 [1994], 18–38) neuerlich bestätigt wurde.</ref>

Zum Ökumenismus gehört, dass sich die christlichen Gemeinschaften gegenseitig helfen, damit in ihnen tatsächlich der ganze Inhalt und alle Ansprüche dessen gegenwärtig sind, »was uns seit den Zeiten der Apostel überkommen ist«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref> Ohne dies wird eine volle Gemeinschaft nie möglich sein. Diese gegenseitige Hilfe bei der Suche nach der Wahrheit ist eine vortreffliche Form der Liebe im Sinne des Evangeliums.

Die Suche nach der Einheit findet in den verschiedenen Dokumenten der zahlreichen internationalen gemischten Dialog-Kommissionen Ausdruck. Ausgehend von einer gewissen Grundeinheit in der Lehre geht es in diesen Texten um die Taufe, die Eucharistie, das Amt und die Autorität.

Von dieser grundlegenden, aber eben nur teilweisen Einheit gilt es nun zu der notwendigen und hinreichenden sichtbaren Einheit zu gelangen, die sich in die konkrete Wirklichkeit einschreibt, damit die Kirchen tatsächlich das Zeichen jener vollen Gemeinschaft in der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche verwirklichen, die in der gemeinsamen Feier der Eucharistie Ausdruck finden wird.

Dieser Weg zur notwendigen und ausreichenden sichtbaren Einheit in der Gemeinschaft der einen von Christus gewollten Kirche erfordert eine noch geduldige und beherzte Arbeit. dabei gilt es, keine weiteren Verpflichtungen über die unverzichtbaren hinaus aufzuerlegen (vgl. Apg 15, 28).

79. Schon jetzt ist es möglich, die Themen festzulegen, die vertieft werden müssen, um zu einer echten Übereinstimmung im Glauben zu gelangen: 1) die Beziehungen zwischen Heiliger Schrift als oberster Autorität in Sachen des Glaubens und der heiligen Tradition als unerläßlicher Interpretation des Wortes Gottes; 2) die Eucharistie, Sakrament des Leibes und Blutes Christi, dargebracht zum Lob des Vaters, Gedächtnis des Opfers und Realpräsenz Christi, heiligmachende Ausgießung des Heiligen Geistes; 3) die Weihe als Sakrament zum Dienstamt in seinen drei Stufen: Bischofsamt, Priestertum und Diakonat; 4) das Lehramt der Kirche, dem Papst und den in Gemeinschaft mit ihm stehenden Bischöfen anvertraut, verstanden als Verantwortung und Autorität im Namen Christi für die Unterweisung im Glauben und seine Bewahrung; 5) die Jungfrau Maria, Gottesmutter und Ikone der Kirche, geistliche Mutter, die für die Jünger Christi und für die ganze Menschheit Fürbitte leistet.

Auf diesem mutigen Weg zur Einheit halten uns die Klarheit und die Klugheit des Glaubens an, die falsche Irenik und die Nichtbeachtung der Normen der Kirche zu vermeiden.<ref> Vgl. ebd., 4 u. 11.</ref> Umgekehrt gebieten uns dieselbe Klarheit und dieselbe Klugheit, die Lauheit beim Einsatz für die Einheit und noch mehr den vorgefaßten Widerstand zu meiden oder auch den Defätismus, der dazu neigt, alles negativ zu sehen.

An einer Sicht der Einheit festhalten, die allen Forderungen der geoffenbarten Wahrheit Rechnung trägt, heißt jedoch nicht der ökumenischen Bewegung Einhalt zu gebieten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 6: AAS 77 (1985), 1153.</ref> Im Gegenteil, es bedeutet zu vermeiden, dass sie sich mit Scheinlösungen zufriedengibt, die zu keinem stabilen und echten Ergebnis führen würden.<ref> Vgl. ebd.</ref> Der Anspruch der Wahrheit muss bis auf den Grund gehen. Ist das etwa nicht das Gesetz des Evangeliums?

Annahme der erreichten Ergebnisse

80. Während der Dialog über neue Themenbereiche weitergeht oder sich auf tiefer reichenden Ebenen entwickelt, haben wir eine neue Aufgabe zu lösen: wie nämlich die bisher erzielten Ergebnisse angenommen werden sollen. Sie dürfen nicht Aussagen der bilateralen Kommissionen bleiben, sondern müssen Gemeingut werden. Damit das geschieht und sich auf diese Weise die Gemeinschaftsbande festigen, bedarf es einer ernsthaften Untersuchung, die in verschiedenen Weisen, Formen und Zuständigkeiten das Volk Gottes als ganzes einbeziehen muss. Es handelt sich nämlich um Fragen, die häufig den Glauben betreffen, und sie erfordern die allseitige Übereinstimmung, die von den Bischöfen bis zu den gläubigen Laien reicht, die alle die Salbung mit dem Heiligen Geist empfangen haben.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 12.</ref> Es ist derselbe Geist, der dem Lehramt beisteht und den sensus fidei weckt.

Für die Annahme der Ergebnisse des Dialogs braucht es daher einen umfangreichen und sorgfältigen kritischen Prozeß, der sie analysiert und mit Strenge ihre Übereinstimmung mit der Glaubenstradition überprüft, die uns von den Aposteln überkommen ist und in der um den Bischof als ihrem rechtmäßigen Hirten versammelten Gemeinschaft der Gläubigen gelebt wird.

81. Dieser Prozeß, der mit Klugheit und in der Haltung des Glaubens vorgenommen werden muss, wird vom Heiligen Geist begleitet werden. Damit er günstig ausgeht, müssen seine Ergebnisse zweckmäßigerweise von kompetenten Personen verständlich dargestellt werden. Sehr wichtig ist dafür der Beitrag, den die Theologen und die Theologischen Fakultäten in Erfüllung ihres Charismas in der Kirche anzubieten berufen sind. Außerdem ist klar, dass die ökumenischen Kommissionen diesbezüglich ganz einzigartige Verantwortlichkeiten und Aufgaben haben.

Der gesamte Prozeß wird von den Bischöfen und vom Heiligen Stuhl verfolgt und unterstützt. Die Lehrautorität hat die Verantwortung, das endgültige Urteil zu sprechen.

Bei all dem wird es eine große Hilfe sein, sich methodisch an die Unterscheidung zwischen dem Glaubensgut (depositum fidei) und der Formulierung, in der es ausgedrückt wird, zu halten, wie es Papst Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils empfahl.<ref> Vgl. AAS 54 (1962), 792.</ref>

Den geistlichen Ökumenismus fortsetzen und Zeugnis geben von der Heiligkeit

82. Man begreift, wie der Ernst der ökumenischen Verpflichtung die katholischen Gläubigen zutiefst betrifft. Der Heilige Geist lädt sie zu einer ernsthaften Gewissensprüfung ein. Die katholische Kirche muss in jenen Dialog eintreten, den man »Dialog der Bekehrung« nennen könnte; in ihm wird das innere Fundament für den ökumenischen Dialog gelegt. In diesem Dialog, der sich vor Gott vollzieht, muss jeder nach dem eigenen Unrecht suchen, seine Schuld bekennen und sich in die Hände dessen begeben, der der Fürsprecher beim Vater ist, Jesus Christus.

Sicher findet man in dieser Beziehung von Bekehrung zum Willen des Vaters und gleichzeitig von Reue und absolutem Vertrauen auf die versöhnende Macht der Wahrheit, die Christus ist, die Kraft, um die lange und schwierige ökumenische Pilgerschaft zu einem guten Ende zu führen. Der »Dialog der Bekehrung« mit dem Vater, den jede Gemeinschaft ohne Nachsicht für sich selber führen muss, ist das Fundament brüderlicher Beziehungen, die etwas anderes sind als ein herzliches Einverständnis oder eine rein äußerliche Tischgemeinschaft. Die Bande der brüderlichen koinonia müssen vor Gott und in Christus Jesus verflochten werden.

Nur das Hintreten vor Gott vermag eine feste Grundlage für jene Bekehrung der einzelnen Christen und für jene dauernde Reform der Kirche auch als menschliche und irdische Einrichtung<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 6.</ref> zu bieten, die die Vorbedingungen für jedes ökumenische Engagement sind. Eines der grundlegenden Verfahren des ökumenischen Dialogs ist das Bemühen, die christlichen Gemeinschaften in diesen innersten geistlichen Raum einzubeziehen, in dem Christus in der Macht des Geistes sie alle ohne Ausnahme dazu bringt, sich vor dem Vater zu prüfen und sich zu fragen, ob sie seinem Plan über die Kirche treu gewesen sind.

83. Ich habe vom Willen des Vaters gesprochen, von dem geistlichen Raum, in dem jede Gemeinschaft den Aufruf zu einer Überwindung der Hindernisse vernimmt, die der Einheit im Weg stehen. Nun wissen alle christlichen Gemeinschaften, dass eine solche Forderung und eine solche Überwindung mit Hilfe der Kraft, die der Geist schenkt, nicht außerhalb ihrer Reichweite liegen. Denn alle besitzen ja Märtyrer des christlichen Glaubens.<ref> Vgl. ebd., 4; Paul VI., Predigt bei der Heiligsprechung der Märtyrer von Uganda (18. Oktober (1964): AAS 56 (1964), 906.</ref> Trotz des Dramas der Spaltung haben diese Brüder in sich selber eine so radikale und absolute Hingabe an Christus und an seinen Vater bewahrt, dass sie so weit zu gehen vermochten, ihr Blut zu vergießen. Aber besagt nicht vielleicht genau diese Hingabe Einbezogen–werden in das, was ich als »Dialog der Bekehrung« bezeichnet habe? Soll nicht gerade dieser Dialog die Notwendigkeit unterstreichen, um der vollen Gemeinschaft willen in der Erfahrung der Wahrheit bis zum Äußersten zu gehen?

84. Aus einer theozentrischen Sicht haben wir Christen bereits ein gemeinsames Martyrologium. Es enthält auch die Märtyrer unseres Jahrhunderts, die viel zahlreicher sind, als man glauben würde, und zeigt, wie auf einer tiefen Ebene Gott unter den Getauften die Gemeinschaft unter dem höchsten Anspruch des mit dem Opfer des Lebens bezeugten Glaubens aufrechterhält.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 37: AAS 87 (1995), 29–30; Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), 93: AAS 85 (1993), 1207.</ref> Wenn man für den Glauben zu sterben vermag, beweist das, dass man das Ziel auch dann erreichen kann, wenn es sich um andere Formen desselben Anspruchs handelt. Ich habe bereits mit Freude festgestellt, dass die zwar unvollkommene, aber real gegebene Gemeinschaft in vielen Bereichen des kirchlichen Lebens bewahrt wird und wächst. Ich glaube nun, dass sie darin schon vollkommen ist, was wir als den Gipfel des Gnadenlebens betrachten, den Märtyrertod, die intensivste Gemeinschaft, die es mit Christus geben kann, der sein Blut vergießt und durch dieses Opfer jene, die einst in der Ferne waren, in die Nähe kommen läßt (vgl. Eph 2, 13).

Auch wenn für alle christlichen Gemeinschaften die Märtyrer der Beweis für die Macht der Gnade sind, so sind sie dennoch nicht die einzigen, die von dieser Macht Zeugnis ablegen. Obgleich auf unsichtbare Weise, ist die noch nicht volle Gemeinsamkeit unserer Gemeinschaften in Wahrheit fest verankert in der vollen Gemeinschaft der Heiligen, das heißt derjenigen, die sich nach einem Leben in Treue zur Gnade in der Gemeinschaft mit dem verherrlichten Christus befinden. Diese Heiligen kommen aus allen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die ihnen den Eintritt in die Heilsgemeinschaft eröffnet haben.

Wenn man von einem gemeinsamen Erbgut spricht, muss man dazu nicht nur die Einrichtungen, die Riten, die Heilsmittel und die Traditionen zählen, die alle Gemeinschaften bewahrt haben und von denen sie geformt worden sind, sondern an erster Stelle und vor allem diese Tatsache der Heiligkeit.<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache im berühmten Heiligtum von Namugongo, Uganda (2. August 1969): AAS 61 (1969), 590–591.</ref>

In der Ausstrahlung, die vom »Erbe der Heiligen« ausgeht, die allen Gemeinschaften angehören, erscheint der »Dialog der Bekehrung« zur vollen und sichtbaren Einheit nun unter einem Licht der Hoffnung. Diese Allgegenwart der Heiligen liefert nämlich den Beweis für die Transzendenz der Macht des Geistes. Sie ist Zeichen und Beweis für den Sieg Gottes über die Kräfte des Bösen, die die Menschheit spalten. Wie es in den Liturgien besungen wird, krönt Gott in der Krönung der »Verdienste der Heiligen das Werk seiner Gnade«.<ref> Vgl. Römisches Messbuch, Präfation von den Heiligen I: Sanctorum „coronando merita tua dona coronans“.</ref>

Dort, wo der aufrichtige Wille zur Nachfolge Christi besteht, gießt der Geist seine Gnade oft auf anderen als den gewöhnlichen Pfaden aus. Die ökumenische Erfahrung hat uns dies besser begreifen lassen. Wenn es die Gemeinschaften in dem inneren geistlichen Raum, den ich beschrieben habe, tatsächlich fertigbringen, sich zur Suche nach der vollen und sichtbaren Gemeinschaft »zu bekehren«, wird Gott für sie das tun, was Er für ihre Heiligen getan hat. Er wird die aus der Vergangenheit ererbten Hindernisse überwinden und wird die Gemeinschaften auf seinen Wegen führen, wohin Er will: zur sichtbaren koinonia, die zugleich Lobpreis seiner Herrlichkeit und Dienst an seinem Heilsplan ist.

85. Da Gott in seiner grenzenlosen Barmherzigkeit immer das Gute auch aus den Situationen gewinnen kann, die seinen Plan verletzen, können wir also entdecken, dass durch das Einwirken des Geistes unter bestimmten Umständen die Gegensätzlichkeiten dazu dienen würden, Aspekte der christlichen Berufung, wie sie sich im Leben der Heiligen ereignet, deutlich darzulegen. Trotz der Zersplitterung, die ein Übel ist, von dem wir geheilt werden müssen, verwirklichte sich also so etwas wie eine Mitteilung der Fülle der Gnade, die zur Verschönerung der koinonia bestimmt ist. Die Gnade Gottes wird mit all denen sein, die dem Beispiel der Heiligen folgen und sich bemühen, den Ansprüchen der Gnade zu entsprechen. Wie können wir da zögern, uns zu den Erwartungen des Vaters zu bekehren? Er ist mit uns.

Beitrag der katholischen Kirche auf der Suche nach der Einheit der Christen

86. Die Konstitution Lumen gentium schreibt in einer Grundsatzaussage, die das Dekret Unitatis redintegratio aufgreift,<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref> dass die einzige Kirche Christi in der katholischen Kirche fortbesteht.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 8.</ref> Das Dekret über den Ökumenismus unterstreicht die Gegenwart der Fülle (plenitudo) der Heilsmittel in ihr.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 3.</ref> Die volle Einheit wird dann Wirklichkeit werden, wenn alle an der Fülle der Heilsmittel teilhaben werden, die Christus seiner Kirche anvertraut hat.

87. Auf dem Weg, der zur vollen Einheit führt, bemüht sich der ökumenische Dialog, eine brüderliche Hilfe füreinander zu wecken, durch die sich die Gemeinschaften gegenseitig das geben sollen, was eine jede braucht, um dem Plan Gottes entsprechend zur endgültigen Fülle zu wachsen (vgl. Eph 4, 11-13). Ich habe gesagt, dass wir uns als katholische Kirche bewusst sind, vom Zeugnis, von der Suche und sogar von der Art und Weise gewonnen zu haben, wie bestimmte gemeinsame christliche Güter von den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften hervorgehoben und gelebt worden sind. Unter den Fortschritten, die während der letzten dreißig Jahre erzielt worden sind, muss diesem gegenseitigen brüderlichen Einfluss ein herausragender Platz eingeräumt werden. Auf dem Wegstück, an dem wir angekommen sind,<ref> Nach dem von der Kommission „Glaube und Verfassung“ erstellten sogenannten Limapapier über Taufe, Eucharistie, Amt (Januar 1982): Enchiridion Oecumenicum, 1, 1392–1446, und im Geist der Erklärung der VII. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen über Die Einheit der Kirche als koinonia: Geschenk und Anspruch (Canberra, 7.–20. Februar 1991): vgl. Istina 36 (1991), 389–391.</ref> muss diese Tatkraft gegenseitiger Bereicherung ernsthaft in Betracht gezogen werden. Gestützt auf die Gemeinschaft, die dank der in den christlichen Gemeinschaften vorhandenen kirchlichen Elemente bereits besteht, wird sie jedenfalls zur vollen und sichtbaren Gemeinschaft anspornen, dem ersehnten Ziel des Weges, den wir zurücklegen. Das ist die ökumenische Form des dem Evangelium gemäßen Gesetzes vom Einander-Mitteilen und Miteinander-Teilen. Das läßt mich noch einmal wiederholen: »Es gilt, in allem das Bemühen zu beweisen, dass wir dem entgegenkommen wollen, was unsere christlichen Brüder berechtigterweise wünschen und von uns erwarten, da wir ihre Denkweise und ihre Gefühle kennen 1. Die Gaben jedes einzelnen müssen zum Nutzen und Vorteil aller entwickelt und entfaltet werden«.<ref> Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 4: AAS 77 (1985), 1151–1152.</ref>

Der Dienst des Bischofs von Rom an der Einheit

88. Unter allen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist sich die katholische Kirche bewusst, das Amt des Nachfolgers des Apostels Petrus, des Bischofs von Rom, bewahrt zu haben, den Gott als »immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit«<ref> II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 23.</ref> eingesetzt hat und dem der Heilige Geist beisteht, damit er alle anderen an diesem wesentlichen Gut teilhaben läßt. Wie es Papst Gregor der große treffend formulierte, ist mein Amt das eines servus servorum Dei (eines Dieners der Diener Gottes). Diese Definition schützt am besten vor der Gefahr, die Amtsvollmacht (und im besonderen den Primat) vom Dienstamt zu trennen, was der Bedeutung von Amtsvollmacht im Sinne des Evangeliums widersprechen würde: »Ich aber bin unter euch wie der, der bedient« (Lk 22, 27), sagt unser Herr Jesus Christus, das Haupt der Kirche. Wie ich anläßlich der wichtigen Begegnung beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf am 12. Juni 1984 ausführen konnte, stellt andererseits die Überzeugung der katholischen Kirche, in Treue zur apostolischen Überlieferung und zum Glauben der Väter im Amt des Bischofs von Rom das sichtbare Zeichen und den Garanten der Einheit bewahrt zu haben, freilich eine Schwierigkeit für den großteil der anderen Christen dar, deren Gedächtnis durch gewisse schmerzliche Erinnerungen gezeichnet ist. Soweit wir dafür verantwortlich sind, bitte ich mit meinem Vorgänger Paul VI. um Verzeihung.<ref> Vgl. Ansprache beim Besuch am Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf (12. Juni 1984), 2: Insegnamenti VII, 1 (1984), 1686.</ref>

89. Es ist jedoch bedeutungsvoll und ermutigend, dass die Frage des Primats des Bischofs von Rom gegenwärtig zum Gegenstand einer unmittelbaren bzw. bevorstehenden Untersuchung wurde, und bedeutungsvoll und ermutigend ist es auch, dass diese Frage nicht nur in den theologischen Gesprächen der katholischen Kirche mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als wesentliches Thema vertreten ist, sondern auch allgemeiner in der ökumenischen Bewegung insgesamt. Vor kurzem haben die Teilnehmer an der in Santiago de Compostela abgehaltenen fünften Weltversammlung der Kommission »Glaube und Verfassung« des Ökumenischen Rates der Kirchen empfohlen, die Versammlung »möge die Anregung geben zu einer neuen Untersuchung über die Frage eines universalen Dienstamtes an der christlichen Einheit«.<ref> WELTKONFERENZ VON „GLAUBE UND VERFASSUNG“, Bericht der II. Sektion, Santiago de Compostela (14. August 1993): Confessing the one faith to God’s glory, 31, 2, Faith and Order Paper n. 166, WCC, Genf 1994, S. 243.</ref> Nach Jahrhunderten erbitterter Polemiken stellen die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zunehmend mit einem neuen Blick Untersuchungen über diesen Dienst an der Einheit an.<ref> Um nur einige Beispiele zu zitieren: der Schlussbericht der Internationalen Anglikanisch-Römisch Katholischen Kommission – ARCIC I (September 1981): Enchiridion Oecumenicum, 1, 3–88; die GEMISCHTE INTERNATIONALE KOMMISSION FÜR DEN DIALOG ZWISCHEN DER KATHOLISCHEN KIRCHEUNDDEN JÜNGERN CHRISTI, Bericht 1981: Enchiridion Oecumenicum, 1, 529–547; die GEMISCHTE NATIONALE GEMEINSAME KATHOLISCH-LUTHERISCHE KOMMISSION, Dokument Das Hirtenamt in der Kirche (13. März 1981): Enchiridion Oecumenicum, 1, 703–742; klar dargestellt ist das Problem in der Untersuchung unter der Leitung der GEMISCHTEN INTERNATIONALEN KOMMISSION FÜR DEN THEOLOGISCHEN DIALOG ZWISCHEN DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND DER ORTHODOXEN KIRCHE IN IHRER GESAMTHEIT.</ref>

90. Der Bischof von Rom ist der Bischof der Kirche, die die prägende Spur des Martyriums des Petrus und des Paulus bewahrt: »Durch einen geheimnisvollen Plan der Vorsehung beendete er 2 seinen Weg in der Nachfolge Jesu in Rom und in Rom leistet er diesen höchsten Beweis der Liebe und der Treue. In Rom erbringt auch der Völkerapostel Paulus das höchste Zeugnis. Auf diese Weise wurde die Kirche von Rom die Kirche des Petrus und des Paulus«.<ref> Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 3: AAS 77 (1985), 1150.</ref>

Im Neuen Testament nimmt die Gestalt des Petrus einen herausragenden Platz ein. Im ersten Teil der Apostelgeschichte erscheint er als der Leiter und Wortführer des als »Petrus 3 zusammen mit den Elf« (2, 14; vgl. auch 2, 37; 5, 29) bezeichneten Kollegiums der Apostel. Der dem Petrus zugewiesene Platz gründet sich auf die Worte Christi selbst, wie sie in den Überlieferungen der Evangelien wiedergegeben werden.

91. Das Matthäusevangelium beschreibt und präzisiert die pastorale Sendung des Petrus in der Kirche: »Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein« (16, 17-19). Lukas hebt hervor, dass Christus dem Petrus aufträgt, die Brüder zu stärken, ihn aber gleichzeitig seine menschliche Schwäche und die Notwendigkeit seiner Bekehrung erkennen läßt (vgl. Lk 22, 31-32). Es ist gerade so, als würde vor dem Hintergrund der menschlichen Schwachheit des Petrus voll offenkundig werden, dass sein besonderes Amt in der Kirche vollständig seinen Ursprung aus der Gnade hat; es ist, als würde sich der Meister ganz besonders seiner Bekehrung widmen, um ihn auf die Aufgabe vorzubereiten, die er sich anschickt, ihm in seiner Kirche anzuvertrauen, und würde ihm gegenüber sehr anspruchsvoll sein. Dieselbe Aufgabe des Petrus, gleichfalls verbunden mit einer realistischen Aussage über seine Schwachheit, findet sich im vierten Evangelium: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? 4 Weide meine Schafe« (vgl. Joh 21, 15-19). Bezeichnend ist außerdem, dass nach dem ersten Brief des Paulus an die Korinther der auferstandene Christus dem Kephas erscheint, dann den Zwölfen (vgl. 15, 5).

Wichtig ist festzuhalten, dass die Schwachheit des Petrus und des Paulus offenbar macht, dass die Kirche auf der unendlichen Macht der Gnade gründet (vgl. Mt 16, 17; 2 Kor 12, 7-10). Gleich nach seiner Einsetzung wird Petrus von Christus mit seltener Strenge gerügt, der zu ihm sagt: »Du willst mich zu Fall bringen!« (Mt 16, 23). Sollte man nicht in dem Erbarmen, das Petrus braucht, einen Bezug zu dem Amt jener Barmherzigkeit sehen, die er als erster erfährt? Dennoch wird er Jesus dreimal verraten. Auch das Johannesevangelium hebt hervor, dass Petrus die Aufgabe, die Herde zu weiden, in einem dreifachen Liebesbekenntnis (vgl. 21, 15-17) empfängt, das dem dreifachen Verrat entspricht (vgl. 13, 38). Lukas seinerseits beharrt in dem bereits zitierten Wort Christi, an dem die erste Überlieferung in der Absicht, die Sendung des Petrus zu beschreiben, festhalten wird, darauf, dass dieser, »sobald er sich bekehrt hat, seine Brüder stärken« soll (vgl. Lk 22, 32).

92. Was Paulus betrifft, so kann er die Beschreibung seines Dienstes mit der ergreifenden Feststellung abschließen, die er aus dem Mund des Herrn vernehmen darf: »Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit«, und kann daher ausrufen: »denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2 Kor 12, 9-10). Das ist ein grundlegendes Merkmal der christlichen Erfahrung.

Als Erbe der Sendung des Petrus in der vom Blut der Apostelfürsten befruchteten Kirche übt der Bischof von Rom ein Amt aus, das seinen Ursprung in der vielgestaltigen Barmherzigkeit Gottes hat, die die Herzen bekehrt und mit der Kraft der Gnade erfüllt, während der Jünger den bitteren Geschmack seiner Schwachheit und seines Elends wahrnimmt. Die diesem Amt eigene Autorität steht ganz im Dienst des barmherzigen Planes Gottes und muss immer in dieser Perspektive gesehen werden. Aus ihm erklärt sich die Vollmacht dieses Amtes.

93. Durch seine Bindung an das dreifache Liebesbekenntnis des Petrus, das dem dreifachen Verrat entspricht, weiß sein Nachfolger, dass er Zeichen der Barmherzigkeit sein muss. Sein Dienst ist ein Dienst der Barmherzigkeit, geboren aus einem Barmherzigkeitsakt Christi. Diese ganze Lehre aus dem Evangelium muss dauernd neu gelesen werden, damit die Ausübung des Petrusamtes nichts von ihrer Glaubwürdigkeit und Transparenz verliert.

Die Kirche Gottes ist von Christus dazu berufen, einer im Gewirr ihrer Schuld und ihrer üblen Vorhaben verfangenen Welt kundzutun, dass trotz allem Gott in seiner Barmherzigkeit die Herzen zur Einheit zu bekehren vermag, indem er sie zur Gemeinschaft mit ihm gelangen läßt.

94. Dieser im Werk der göttlichen Barmherzigkeit verwurzelte Dienst an der Einheit wird innerhalb des Bischofskollegiums einem von denen anvertraut, die vom Heiligen Geist den Auftrag erhalten haben, nicht die Macht über das Volk auszuüben — wie das die Führer der Nationen und die Mächtigen tun (vgl. Mt 20, 25; Mk 10, 42) —, sondern es zu leiten, damit es sich ruhigen Weiden zuwenden kann. Diese Aufgabe kann die Hingabe des eigenen Lebens erfordern (vgl. Joh 10, 11-18). Nachdem der hl. Augustinus dargelegt hat, dass Christus »der einzige Hirte (ist), in dessen Einheit alle eins sind«, fordert er auf, »dass daher alle Hirten eins sein sollen in dem einzigen Hirten, dass sie die einzige Stimme des Hirten hören lassen sollen; dass die Schafe diese Stimme hören, ihrem Hirten, das heißt nicht diesem oder jenem, sondern dem einen, folgen sollen; dass alle in ihm eine einzige Stimme und nicht widersprechende Stimmen vernehmen lassen sollen 5; die Stimme macht frei von jeder Spaltung, reinigt von jeder Irrlehre, die die Schafe hören«.<ref> Sermo XLVI, 30: CCL 41, 557.</ref> Der Auftrag des Bischofs von Rom in der Gruppe aller Bischöfe besteht eben darin, wie ein Wächter zu »wachen« (episkopein), so dass dank der Hirten in allen Teilkirchen die wirkliche Stimme des Hirten Christus zu hören ist. Auf diese Weise verwirklicht sich in jeder der ihnen anvertrauten Teilkirchen die una, sancta, catholica et apostolica Ecclesia. Alle Kirchen befinden sich in voller und sichtbarer Gemeinschaft, weil alle Hirten in Gemeinschaft mit Petrus und so in der Einheit Christi sind.

Mit der Vollmacht und Autorität, ohne die dieses Amt illusorisch wäre, muss der Bischof von Rom die Gemeinschaft aller Kirchen gewährleisten. Dadurch ist er der Erste unter den Dienern an der Einheit. Dieser Primat wird auf verschiedenen Ebenen ausgeübt; sie betreffen die wachsame Aufsicht über die Weitergabe des Wortes, über die Feier der Sakramente und der Liturgie, über die Mission, über die Disziplin und über das christliche Leben. Dem Nachfolger des Petrus obliegt es, an die Forderungen des Gemeinwohls der Kirche zu erinnern, falls jemand versucht wäre, dies zugunsten eigener Interessen zu vergessen. Er hat die Pflicht hinzuweisen, zu warnen und manchmal diese oder jene Meinung, die verbreitet wird, für unvereinbar mit der Einheit des Glaubens zu erklären. Wenn es die Umstände erfordern, spricht er im Namen aller Hirten, die mit ihm in Gemeinschaft stehen. Er kann auch — unter ganz bestimmten, vom I. Vatikanischen Konzil klargestellten Bedingungen — ex cathedra erklären, dass eine Lehre zum Glaubensgut gehört.<ref> Vgl. I. VAT. KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Christi Pastor aeternus: DS 3074.</ref> Durch dieses Zeugnis der Wahrheit dient er der Einheit.

95. Das alles muss sich jedoch immer in Gemeinsamkeit vollziehen. Wenn die katholische Kirche beteuert, dass das Amt des Bischofs von Rom dem Willen Christi entspricht, trennt sie dieses Amt nicht von der Sendung, die allen Bischöfen anvertraut ist, die gleichfalls »Stellvertreter und Gesandte Christi« sind.<ref> II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 27.</ref> Der Bischof von Rom gehört zu ihrem »Kollegium«, und sie sind seine Brüder im Amt.

Was die Einheit aller christlichen Gemeinschaften betrifft, gehört natürlich in den Bereich der Sorgen des Primats. Als Bischof von Rom weiß ich sehr wohl, und habe das in der vorliegenden Enzyklika erneut bestätigt, dass die volle und sichtbare Gemeinschaft aller Gemeinschaften, in denen kraft der Treue Gottes sein Geist wohnt, der brennende Wunsch Christi ist. Ich bin überzeugt, diesbezüglich eine besondere Verantwortung zu haben, vor allem wenn ich die ökumenische Sehnsucht der meisten christlichen Gemeinschaften feststelle und die an mich gerichtete Bitte vernehme, eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet. Ein Jahrtausend hindurch waren die Christen »miteinander verbunden in brüderlicher Gemeinschaft des Glaubens und des sakramentalen Lebens, wobei dem Römischen Stuhl mit allgemeiner Zustimmung eine Führungsrolle zukam, wenn Streitigkeiten über Glaube oder Disziplin unter ihnen entstanden«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref>

Auf diese Weise nahm der Primat seine Aufgabe an der Einheit wahr. Als ich mich an den ökumenischen Patriarchen, Seine Heiligkeit Dimitrios I., wandte, habe ich gesagt, ich sei mir bewusst, dass »sich aus sehr verschiedenen Gründen und gegen den Willen der einen wie der anderen das, was ein Dienst sein sollte, unter einem ganz anderen Licht zeigen konnte. Aber 6 aus dem Wunsch, wirklich dem Willen Christi zu gehorchen, sehe ich mich als Bischof von Rom dazu gerufen, diesen Dienst auszuüben […] . Der Heilige Geist schenke uns sein Licht und erleuchte alle Bischöfe und Theologen unserer Kirchen, damit wir ganz offensichtlich miteinander die Formen finden können, in denen dieser Dienst einen von den einen und anderen anerkannten Dienst der Liebe zu verwirklichen vermag«.<ref> Predigt bei der Eucharistiefeier in der Peterskirche in Anwesenheit von Dimitrios I., Erzbischof von Konstantinopel und Ökumenischer Patriarch (6. Dezember 1987), 3: AAS 80 (1988), 714.</ref>

96. Eine ungeheure Aufgabe, die wir nicht zurückweisen können und die ich allein nicht zu Ende bringen kann. Könnte die zwischen uns allen bereits real bestehende, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft nicht die kirchlichen Verantwortlichen und ihre Theologen dazu veranlassen, über dieses Thema mit mir einen brüderlichen, geduldigen Dialog aufzunehmen, bei dem wir jenseits fruchtloser Polemiken einander anhören könnten, wobei wir einzig und allein den Willen Christi für seine Kirche im Sinne haben und uns von seinem Gebetsruf durchdringen lassen: »...sollen auch sie eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17, 21)?

Die Gemeinschaft aller Teilkirchen mit der Kirche von Rom: notwendige Voraussetzung für die Einheit

97. Die katholische Kirche hält sowohl in ihrer Praxis wie in den offiziellen Texten daran fest, dass die Gemeinschaft der Teilkirchen mit der Kirche von Rom und die Gemeinschaft ihrer Bischöfe mit dem Bischof von Rom ein grundlegendes Erfordernis — im Plan Gottes — für die volle und sichtbare Gemeinschaft ist. In der Tat muss die volle Gemeinschaft, deren höchste sakramentale Bekundung die Eucharistie ist, ihren sichtbaren Ausdruck in einem Amt finden, in dem alle Bischöfe sich vereint in Christus anerkennen und alle Gläubigen die Stärkung ihres Glaubens finden. Der erste Teil der Apostelgeschichte stellt uns Petrus als den vor, der im Namen der Apostelgruppe spricht und der Einheit der Gemeinschaft dient — und das unter Achtung der Autorität des Jakobus, des Oberhauptes der Kirche von Jerusalem. Diese Aufgabe des Petrus muss in der Kirche bestehen bleiben, damit sie unter ihrem einzigen Haupt, das Christus Jesus ist, in der Welt die sichtbare Gemeinschaft aller seiner Jünger ist.

Ist es nicht vielleicht ein Dienstamt dieser Art, über dessen Notwendigkeit sich heute viele von denen äußern, die sich im Ökumenismus engagieren? Den Vorsitz in der Wahrheit und in der Liebe führen, damit das Boot — das schöne Symbol, das der Ökumenische Rat der Kirchen zu seinem Emblem gewählt hat — nicht von den Stürmen zum Kentern gebracht wird und eines Tages sein Ufer erreichen kann.

Volle Einheit und Evangelisierung

98. Die ökumenische Bewegung unseres Jahrhunderts war stärker als die ökumenischen Unternehmungen der vergangenen Jahrhunderte, deren Bedeutung jedoch nicht unterschätzt werden darf, von einer missionarischen Sichtweise gekennzeichnet. In dem Johannesvers, der als Inspiration und Leitmotiv dient — »... sollen auch sie eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17, 21) —, ist damit die Welt glaubt so nachdrücklich unterstrichen worden, dass man manchmal Gefahr läuft zu vergessen, dass im Denken des Evangelisten die Einheit vor allem der Ehre des Vaters gilt. Es liegt auf der Hand, dass die Spaltung der Christen im Widerspruch zu der Wahrheit steht, die sie zu verbreiten beauftragt sind, und daher ihr Zeugnis schwer verletzt. Das hat mein Vorgänger Papst Paul VI. sehr wohl verstanden und in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi ausgeführt: »Als Träger der Evangelisierung dürfen wir den an Christus Glaubenden nicht das Bild von zerstrittenen und durch Fronten getrennten, keineswegs erbaulichen Menschen geben, sondern das Bild von Persönlichkeiten, die im Glauben gereift und fähig sind, einander jenseits aller konkreten Spannungen in der gemeinsamen, aufrichtigen und lauteren Wahrheitssuche zu begegnen. Wirklich, das Schicksal der Evangelisierung ist mit aller Bestimmtheit an das von der Kirche gebotene Zeugnis der Einheit gebunden […]. An dieser Stelle möchten Wir in einer besonderen Weise das Zeichen der Einheit unter allen Christen noch eigens als Weg und Mittel der Evangelisierung hervorheben. Die Spaltung der Christen ist ein so schwerwiegender Umstand, dass dadurch das Werk Christi selbst in Mitleidenschaft gezogen wird«.<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 77: AAS 68 (1976), 69; vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 1; Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Directoire pour l’applcation des principes et des normes sur l’Oecuménisme (25. März 1993), 205–209: AAS 85 (1993), 1112–1114.</ref>

Wie kann man denn das Evangelium von der Versöhnung verkünden, ohne sich gleichzeitig tätig für die Versöhnung der Christen einzusetzen? Wenn es wahr ist, dass die Kirche auf Antrieb des Heiligen Geistes und durch die Verheibung der Unvergänglichkeit allen Nationen das Evangelium verkündet hat und verkündet, so ist ebenso wahr, dass sie sich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen muss, die von den Spaltungen herrühren. Werden die Nichtglaubenden, die sich Missionaren gegenübersehen, die untereinander zerstritten sind, obwohl sie sich alle auf Christus berufen, imstande sein, die wahre Botschaft anzunehmen? Werden sie nicht meinen, das Evangelium sei Faktor der Spaltung, auch wenn es als das grundlegende Gesetz der Liebe vorgestellt wird?

99. Wenn ich beteuere, dass für mich als Bischof von Rom das ökumenische Bemühen »eine der pastoralen Prioritäten« meines Pontifikats ist,<ref> Ansprache an die Kardinäle und die Mitglieder der Römischen Kurie (28. Juni 1985), 4: AAS 77 (1985), 1151.</ref> so denke ich an das schwere Hindernis, das die Spaltung für die Verkündigung des Evangeliums darstellt. Eine christliche Gemeinschaft, die an Christus glaubt und mit der Leidenschaftlichkeit des Evangeliums das Heil der Menschheit ersehnt, kann sich keinesfalls dem Anruf des Geistes verschlieben, der alle Christen zur vollen und sichtbaren Einheit anleitet. Es handelt sich um einen der Imperative der Liebe, der ohne Abstriche erfüllt werden muss. Der Ökumenismus ist ja nicht nur eine interne Frage der christlichen Gemeinschaften. Er betrifft die Liebe, die Gott in Jesus Christus der ganzen Menschheit zugedacht hat, und diese Liebe behindern bedeutet eine Beleidigung für ihn und seinen Plan, alle in Christus zusammenzuführen. Papst [][Paul VI.]] schrieb an den Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I.: »Möge uns der Heilige Geist auf dem Weg der Versöhnung leiten, damit die Einheit unserer Kirchen ein immer leuchtenderes Zeichen der Hoffnung und des Trostes für die ganze Menschheit werde«.<ref> Brief vom 13. Januar 1970: Tomos agapis, Vatikan-Phanar (1958–1970), Rom–Istanbul (1971), S. 610–611.</ref>

ERMAHNUNG

100. Als ich mich kürzlich an die Bischöfe, den Klerus und die Gläubigen der katholischen Kirche wandte, um den Weg anzugeben, der im Hinblick auf die Feier des großen Jubiläumsjahres zweitausend eingeschlagen werden soll, habe ich unter anderem gesagt, »die beste Vorbereitung auf die Jahreswende zweitausend wird nur in dem erneuerten Einsatz für eine möglichst getreue Anwendung der Lehre des II. Vatikanums auf das Leben jedes einzelnen und der ganzen Kirche Ausdruck finden können«.<ref> Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 20: AAS 87 (1995), 17.</ref> Das Konzil ist — wie der Advent — der große Anfang jenes Weges, der uns an die Schwelle des dritten Jahrtausends führt. Angesichts der Bedeutung, die die Konzilsversammlung dem Bemühen um die Wiederherstellung der Einheit der Christen beigemessen hat, schien es mir in diesem unserem Zeitalter ökumenischer Begnadung notwendig, die Grundüberzeugungen, die das Konzil dem Gewissen der katholischen Kirche eingeprägt hat, dadurch zu bekräftigen, dass ich diese Grundsätze im Lichte der Fortschritte in Erinnerung brachte, die inzwischen auf dem Weg zur vollen Gemeinschaft aller Getauften erzielt worden sind.

Zweifellos ist in diesem Bemühen der Heilige Geist am Werk und geleitet die Kirche zur vollen Verwirklichung des Planes des Vaters gemäß dem Willen Christi, wie er mit so betrübter Eindringlichkeit im Gebet ausgedrückt ist, das — nach dem vierten Evangelium — in dem Augenblick seine Lippen überkommt, als er sich in das heilbringende Drama seines Pascha begibt. So wie damals bittet Christus auch heute, dass ein neuer Schwung den Einsatz jedes einzelnen für die volle und sichtbare Gemeinschaft beleben möge.

101. Ich fordere daher meine Brüder im Bischofsamt auf, diesem Einsatz jede nur erdenkliche Aufmerksamkeit zu schenken. Die beiden Codices des kanonischen Rechtes erneuern unter den Verantwortlichkeiten des Bischofs die Aufgabe, die Einheit aller Christen zu fördern, indem sie jede Tätigkeit oder Initiative zu ihrer Förderung unterstützen, wohl wissend, dass die Kirche kraft des Willens Christi dazu gehalten ist.<ref> Vgl. Codex des kanonischen Rechtes, can. 755; Codex des Ostkirchenrechtes, can. 902.</ref> Das gehört zum bischöflichen Auftrag und ist eine Verpflichtung, die sich direkt aus der Treue zu Christus, dem Hirten der Kirche, ergibt. Es sind aber auch alle Gläubigen vom Geist Gottes eingeladen, ihr Möglichstes zu tun, damit sich die Bande der Gemeinschaft unter allen Christen festigen und die Zusammenarbeit der Jünger Christi wächst: »Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 5.</ref>

102. Die Macht des Geistes Gottes läßt über die Jahrhunderte hin die Kirche wachsen und baut sie auf. Mit dem Blick auf das neue Jahrtausend bittet die Kirche den Geist um die Gnade, ihre Einheit zu stärken und sie zur vollen Gemeinschaft mit den anderen Christen wachsen zu lassen.

Wie ist das zu erreichen? Zuallererst durch das Gebet. Das Gebet sollte immer von jener Unruhe erfüllt sein, die Streben nach der Einheit und deshalb eine der notwendigen Formen der Liebe ist, die wir für Christus und für den von Erbarmen erfüllten Vater hegen. Auf diesem Weg, den wir zusammen mit den anderen Christen in das neue Jahrtausend einschlagen, muss das Gebet den Vorrang haben.

Wie ist das zu erreichen? Durch die Danksagung, da wir uns nicht mit leeren Händen an diesem Zielpunkt einfinden: »So nimmt sich auch der Geist unserer Schwacheit an 1 der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können« (Röm 8, 26), um uns vorzubereiten, dass wir Gott um das bitten, was wir brauchen.

Wie ist das zu erreichen? Durch Hoffnung auf den Geist, der uns von den Gespenstern der Vergangenheit, von den schmerzlichen Erinnerungen der Trennung abzubringen vermag; er kann uns Klarheit, Kraft und Mut verleihen, um die nötigen Schritte zu unternehmen, so dass unser Engagement immer glaubwürdiger wird.

Wenn wir uns fragen wollten, ob denn das alles möglich sei, würde die Antwort immer lauten: ja. Dieselbe Antwort, die von Maria von Nazaret zu hören war, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.

Da kommen mir die Worte in den Sinn, mit denen der hl. Cyprian das Vaterunser, das Gebet aller Christen, kommentiert: »Gott nimmt das Opfer dessen nicht an, der in Zwietracht lebt, ja er befiehlt ihm, wegzugehen vom Altar und sich zuerst mit seinem Bruder zu versöhnen. Nur so werden unsere Gebete vom Frieden inspiriert sein, und Gott wird sie annehmen. Das größte Opfer, das wir Gott darbringen können, ist unser Friede und die brüderliche Eintracht, ist das von der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes versammelte Volk«.<ref> Nr. 23: CSEL 3, 284–285.</ref>

Sollten wir zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht mit erneutem Schwung und reiferem Bewusstsein den Herrn inständig um die Gnade bitten, uns alle auf dieses Opfer der Einheit vorzubereiten?

103. Ich, Johannes Paul, demütiger servus servorum Dei, erlaube mir, mir die Wortes des Apostels Paulus zu eigen zu machen, dessen Martyrium, zusammen mit dem des Apostels Petrus, diesem Stuhl von Rom den Glanz seines Zeugnisses verliehen hat, und sage euch, den Gläubigen der katholischen Kirche, und euch, den Brüdern und Schwestern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, »kehrt zur Ordnung zurück, lasst euch ermahnen, seid eines Sinnes, und lebt in Frieden! Dann wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein […]. Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen« (2 Kor 13, 11.13).

Gegeben zu Rom bei Sankt Peter, am 25. Mai, dem Hochfest der Himmelfahrt Christi, des Jahres 1995,

im 17. Jahr meines Pontifikates

Johannes Paul II. PP.

Anmerkungen

<references />

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