Quinque iam anni (Wortlaut)

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Apostolisches Schreiben
Quinque iam anni
unseres Heiligen Vaters
Paul VI.
anlässlich des fünften Jahrestages der Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils.
8. Dezember 1970
(Lateinischer Text: AAS LXIII [1971] 97-106)

(Quelle: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn, Herausgegeben vom erzbischöflichen Generalvikariat, 114. Jahrgang (1971), Stück 2, 27.1.1971, S. 13-17, Nr. 21; Amtliche Übersetzung des Vatikans (KNA). Die Nummerierung folgt der lateinischen Fassung [1]).

Allgemeiner Hinweis: Die in der Kathpedia veröffentlichen Lehramstexte, dürfen nicht als offizielle Übersetzungen betrachtet werden, selbst wenn die Quellangaben dies vermuten ließen. Nur die Texte auf der Vatikanseite [2] können als offiziell angesehen werden (Schreiben der Libreria Editrice Vaticana vom 21. Januar 2008).

Liebe, Ehrwürdige Brüder,
Gruß und Apostolischen Segen!

1 Schon sind fünf Jahre vergangen, seit die Bischöfe des ganzen Erdkreises nach den arbeitsreichen, in Gebet, Studium und brüderlichem Gespräch verbrachten Konzilssitzungen in ihre Diözesen zurückgekehrt sind. Sie waren entschlossen, alles ins Werk zu setzen, „damit nichts den fast überfluteten Strom der himmlischen Gnaden zum Stillstand bringe, der gegenwärtig ,die Gottesstadt erfreut', noch der kraftvolle Geist erlahme, der die Kirche heute beseelt" (Letzte Sitzung, 4.11.1965; A.A.S. LVII [1965], p. 867).

2 In dankbarer Freude über das glücklich vollbrachte Werk nahm jeder mit der Erfahrung kollegialen Denkens und Handeins vom Konzil die mit viel Sorgfalt für die Glaubenslehre und Seelsorge erarbeiteten Dokumente mit sich nach Hause, um sie gleichsam als geistliche Schätze an die Seelsorger, unsere Mitarbeiter im Priesteramt, an die Ordensleute und alle Mitglieder des Gottesvolkes weiterzugeben. Denn diese Dokumente bieten zuverlässige Anweisungen für die Verkündigung des Gotteswortes in unserer Zeit und für die innere Erneuerung der christlichen Gemeinschaften.

3 Dieser Eifer hat keineswegs nachgelassen. Jeder einzelne und alle zusammen haben an dem Platz, wohin der Heilige Geist sie zur Leitung der Kirche Gottes (vgl. Apg 20, 28) gestellt hat, auf vielfältige Weise, besonders aber in den Konferenzen und Synoden der Bischöfe, die die Nachfolger der Apostel sind, sich eifrig darum bemüht, die Lehre und die Richtlinien des Konzils in das Leben der Kirche zu übertragen. Entsprechend Unserem Wunsch, den wir in unserer ersten Enzyklika „Ecclesiam suam“ ausgesprochen haben (vgl. A.A.S., LVI [1964], pp. 609-659), hat das Konzil das Selbstverständnis der Kirche vertieft. Es hat die Erfordernisse ihrer apostolischen Sendung in der heutigen Welt in ein helleres Licht gerückt und ihr geholfen, in echt ökumenischem und missionarischem Geist in ein Heilsgespräch mit allen Menschen einzutreten.

I.

4 Es ist jedoch nicht Unsere Absicht, eine Bilanz der Studien, Initiativen und Reformen zu ziehen, die sich nach dem Konzil vervielfacht haben. In dem Bemühen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, möchten Wir Uns in brüderlichem Einvernehmen mit euch die Frage stellen, wie es mit unserer Treue zu jenem Versprechen steht, durch das wir uns am Beginn des Konzils in der Botschaft an alle Menschen gebunden haben: „Es wird uns allen ein Anliegen sein, den Menschen unserer Zeit die unversehrte und reine Wahrheit über Gott so zu verkünden, dass sie sie verstehen und ihr von Herzen beipflichten können (20.11.1962; A.A.S. LIV [1962], p. 822).“

5 Dieselbe Verpflichtung wird auch in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes", die das grundlegende Konzilsdokument über die Gegenwart der Kirche in der Welt darstellt, eindeutig umschrieben: „Während die Kirche Christi mitten in den Ängsten dieser Zeit lebt, hört sie nicht auf, zuversichtlich zu hoffen. Unserer Zeit will sie immer wieder - gelegen oder ungelegen – die apostolische Botschaft verkünden" (Gaudium et spes, 82; A.A.S., LVIII [1966], pp. 1106-1107).

6 Gewiss, die Hirten der Kirche hatten immer die Pflicht, den Glauben in seiner ganzen Fülle und in einer den Menschen ihrer Zeit angepassten Weise weiterzugeben, indem sie sich nämlich darum bemühten, sich einer leicht verständlichen Sprache zu bedienen, auf ihre Fragen eine Antwort zu geben, ihr Interesse zu wecken und ihnen zu helfen, hinter den armseligen menschlichen Worten die ganze Heilsbotschaft zu entdecken, die uns von Jesus Christus gebracht worden ist. Denn es ist die Aufgabe des Bischofskollegiums, zusammen mit Petrus und unter seiner Leitung das Offenbarungsgut authentisch weiterzugeben, wofür es nach den Worten des heiligen Irenäus ein „sicheres Charisma der Wahrheit" (Adversus haereses, IV , 26, 2; PG 7, 1053) erhalten hat. Die Treue in seinem Zeugnis, das in der Tradition und Heiligen Schrift verwurzelt ist und sich vom kirchlichen Leben des ganzen Gottesvolkes nährt, bewirkt, dass die Kirche unter dem unverlierbaren Beistand des Heiligen Geistes ununterbrochen das Wort Gottes lehrt und es immer weiter entfaltet.

7 Dennoch fordert die gegenwärtige Glaubenssituation von uns eine verstärkte Anstrengung, damit dasselbe Gotteswort in seiner ganzen Fülle zu den Menschen unserer Zeit gelangt und die von Gott vollbrachten Heilstaten ohne Entstellung mit glühender Liebe zur Wahrheit, die uns rettet, (vgl. 2 Thess. 2, 10), ihnen dargeboten werden. Im selben Augenblick nämlich, da die Verkündigung des Gotteswortes in der Liturgie dank des Konzils eine wunderbare Erneuerung erfährt, die Vertrautheit mit der Heiligen Schrift im christlichen Volk zunimmt, der Fortschritt in der Katechese, wenn sie nach den Richtlinien des Konzils erfolgt, eine vertiefte Glaubensverkündigung ermöglicht, da die biblische, patristische und theologische Forschung oft einen wertvollen Beitrag zur genaueren Auslegung der geoffenbarten Wahrheiten leistet, im selben Augenblick, sagen wir, sind viele Gläubige durch eine Fülle von Zweideutigkeiten, Unsicherheiten und Zweifeln in wesentlichen Wahrheiten ihres Glaubens verwirrt. Zu diesen gehören die Dogmen der Trinitätslehre und Christologie, das Geheimnis der heiligen Eucharistie und der Realpräsenz, die Lehre von der Kirche als Heilsinstitution, der priesterlid1e Dienst inmitten des Gottesvolkes, die Bedeutung des Gebetes und der Sakramente, Forderungen der christlichen Sittenlehre, wie zum Beispiel die Unauflöslichkeit der Ehe und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Ja, selbst die göttliche Autorität der Heiligen Schrift wird durch eine übertriebene Aussonderung sogenannter mythischer Elemente, die man als „Entmythologisierung" bezeichnet, in Frage gestellt.

8 Während allmählich gewisse Grundwahrheiten der christlichen Religion mit Stillschweigen übergangen werden, sehen wir eine Tendenz, die von den psychologischen und soziologischen Gegebenheiten her ein Christentum aufzubauen sucht, das sich von der ununterbrochenen Tradition lossagt, die es mit dem Glauben der Apostel verbindet, und ein christliches Leben anpreist, das seines religiösen Inhaltes beraubt ist.

9 Deshalb sind wir, und zwar wir alle, denen durch die Handauflegung die Aufgabe übertragen worden ist, das Glaubensgut rein und unversehrt zu bewahren, sowie die Sendung anvertraut wurde, das Evangelium ohne Unterlass zu verkünden, dazu aufgerufen, unseren Gehorsam dem Herrn gegenüber gemeinsam unter Beweis zu stellen. Das Volk, das unserer Hirtensorge anvertraut worden ist, hat ein heiliges, unveräußerliches Recht, das Wort Gottes zu empfangen, und zwar das ganze Gotteswort, um dessen tieferes Verständnis sich die Kirche fortwährend bemüht. Es ist unsere schwere und dringlichste Pflicht, dieses ihm unermüdlich mit der Absicht zu verkündigen, dass dadurch der Glaube des Volkes wachse, dieses die christliche Botschaft immer tiefer erfasse und in seinem ganzen leben das Heil in Jesus Christus bezeuge.

10 Das Konzil hat uns gerade dies mit aller Deutlichkeit wieder in Erinnerung gebracht: „Unter den hauptsächlichen Aufgaben der Bischöfe hat die Verkündigung des Evangeliums den Vorrang. Denn die Bischöfe sind Glaubensboten, die Christus neue jünger zuführen; sie sind authentische, das heißt mit der Autorität Christi ausgerüstete Lehrer. Sie verkünden dem ihnen anvertrauten Volk die Botschaft zum Glauben und zur Anwendung auf das sittliche Leben und erklären sie im Licht des Heiligen Geistes, indem sie aus dem Schatz der Offenbarung Neues und Altes vorbringen (vgl. 2 Tim. 4, l-4). So lassen sie den Glauben fruchtbar werden und halten die ihrer Herde drohenden Irrtümer wachsam ab (vgl. Mt 13, 52). Die Bischöfe, die in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof lehren, sind von allen als Zeugen der göttlichen und katholischen Wahrheit zu verehren. Die Gläubigen aber müssen mit einem im Namen Christi vorgetragenen Spruch ihres Bischofs in Glaubens- und Sittenfragen übereinkommen und ihm mit religiös gegründetem Gehorsam anhangen" (Lumen gentium 9, 25; A.A.S., LVII [1965], pp. 29-30).

11 Zwar ist der Glaube immer eine Zustimmung, die aufgrund der Autorität Gottes selbst gegeben wird; dennoch ist das Lehramt der Bischöfe für die Gläubigen das Zeichen und der Weg, durch den sie das Wort Gottes empfangen und erkennen. jeder Bischof ist in seiner Diözese kraft seines Amtes dem ganzen Bischofskollegium verpflichtet, dem in der Nachfolge des Apostelkollegiums die Aufgabe anvertraut worden ist, über die Unversehrtheit des Glaubens und die Einheit der Kirche zu wachen.

II.

12 Wir müssen ohne weiteres zugestehen, dass bei den gegenwärtigen Verhältnissen, in denen wir leben, die unerlässliche und dringliche Ausübung dieses unseres Amtes auf größere Schwierigkeiten stößt als in den früheren Jahrhunderten.

13 Die Ausübung des bischöflichen Lehramtes war nämlich damals relativ leicht, da die Kirche in enger Gemeinschaft mit der Gesellschaft jener Zeit lebte, ihre Kultur beeinflusste und sich ihrer Denk- und Ausdrucksweise bediente. Heute dagegen verlangt es von uns große Anstrengungen, um die Glaubenslehre in der Fülle ihrer Bedeutung und Tragweite zu erhalten, wenn sie auch in einer Weise dargestellt werden soll, in der sie den Verstand und das Herz der Menschen erreicht, an die sie sich richtet. Keiner hat treffender als unser Vorgänger Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des Konzils die Pflicht aufgezeigt, die uns in dieser Hinsicht zukommt: „Gemäß dem lebhaften Wunsch all derjenigen, die sich aufrichtig zur christlichen, katholischen und apostolischen Religion bekennen, ist es notwendig, dass sie die christliche Lehre umfassender und besser kennen lernen, von ihr tiefer erfasst und geprägt werden. Es ist erforderlich, dass diese sichere und unwandelbare Lehre, der wir treue Ergebenheit schulden, in der Weise erforscht und dargelegt wird, wie es den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. Denn etwas anderes ist das Glaubensgut als solches, nämlich die in unserer ehrwürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, etwas anderes die Art und Weise, wie diese Wahrheiten verkündet werden, wobei jedoch derselbe Sinn und dieselbe Bedeutung erhalten bleibt. Dieser äußeren Form ist große Bedeutung beizumessen und, falls erforderlich, geduldig an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten. Es muss eine Ausdrucksweise gefunden werden, die dem vorwiegend pastoralen Charakter des kirchlichen Lehramtes besser entspricht" (A.A.S., LIV [1962], p. 792).

14 In der Krise, in der sich gegenwärtig die Ausdrucksweise und das Denken der Menschen befinden, ist es die Aufgabe jedes einzelnen Bischofs in seiner Diözese, der einzelnen Synoden und Bischofskonferenzen, sorgfältig darauf zu achten, dass derartige notwendige Bemühungen niemals der Wahrheit selbst und der Kontinuität der Glaubenslehre widersprechen. Ganz besonders aber müssen wir darüber wachen, dass keine willkürlichen Spekulationen den Heilsplan Gottes auf die Fassungskraft unserer menschlichen Vernunft einengen und die Verkündigung des Gotteswortes nur auf diejenigen Wahrheiten beschränken, die unseren Ohren schmeicheln, und nach rein natürlichen Kriterien all das stillschweigend übergehen, was dem Geschmack der Zeit weniger gefällt. „Selbst wenn wir", so ermahnt uns der Apostel Paulus, „oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkünden, als wir euch verkündet haben: er sei verflucht"! (Gal. 1, 8).

15 Nicht wir nämlich richten das Gotteswort, dieses richtet uns und offenbart unsere Gleichförmigkeit mit der Welt. „Das Versagen der Christen, auch der amtlichen Verkünder, wird in der Kirche nie ein Anlass sein dürfen, die Unbedingtheit des Wortes zu erweichen. Die Schärfe des Schwertes (vgl. Hebr. 4 , 12; Off. 1, 16; 2, 16) kann in ihr nicht abgestumpft werden. Sie wird von der Heiligkeit, von Jungfrauschaft, Armut und Gehorsam nie anders reden können als Christus." (Vgl. Hans Urs von Balthasar, Das Ganze im Fragment, Einsiedeln, (Benziger) 1963, p. 296.)

16 Wir müssen auch folgendes bedenken: Wenn die soziologischen Untersuchungen auch nützlich sind, um die Mentalität bestimmter Menschengruppen und die Sorgen und Nöte derjenigen kennen zu lernen, denen wir das Wort Gottes verkünden, ferner auch die Anklagen, die die Denkweise unserer Zeit ihm gegenüber erhebt, indem sie der weitverbreiteten Meinung folgt, nach der es kein anderes gleichwertiges Wissen außerhalb ihrer eigenen höheren Gelehrsamkeit gebe, so können jedoch die Schlussfolgerungen derartiger Untersuchungen an sich kein entscheidendes Kriterium für die Wahrheit sein.

17 Wir dürfen indessen aber nicht jene Fragen außer acht lassen, denen die Gläubigen, die sich zu Recht um eine Vertiefung ihres Glaubensverständnisses bemühen, heute begegnen. Es ist erforderlich, dass wir diese Fragen kennen, nicht um das, was sie als berechtigtes Anliegen enthalten, zu verdächtigen, noch um ihre Forderungen zu leugnen, sondern vielmehr um ihren rechtmäßigen Ansprüchen in dem Bereich, der uns zukommt, nämlich dem des Glaubens, soweit wie möglich zu entsprechen. Das trifft zu für die großen Fragen, die sich die Menschen unserer Zeit stellen, die Fragen nach ihrem Ursprung, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Glück, das sie erstreben, und schließlich nach dem Schicksal der Menschheitsfamilie, nicht weniger aber bezieht es sich auch auf jene Fragen, mit denen sich die Wissenschaftler, die Historiker, Psychologen und Soziologen heute beschäftigen, die uns ein Ansporn sind, die Frohbotschaft von Christus, unserem Erlöser, überzeugender zu verkündigen, deren überzeitliche Erhabenheit in der menschlichen Geschichte Gestalt angenommen hat. Diese beglückende Botschaft widerspricht in keiner Weise den Entdeckungen des menschlichen Geistes, sondern erhebt diesen auf die Stufe der göttlichen Wirklichkeit, um ihn, zwar noch zaghaft und unvollkommen, aber doch schon wirklich, jenes Geheimnisses der Liebe teilhaftig zu machen, das nach den Worten des Apostels „alle Erkenntnis übersteigt" (Eph. 3, 19).

18 Diejenigen, die in der Kirche Gottes die schwierige Aufgabe übernommen haben, die unergründlichen Reichtümer dieses Geheimnisses tiefer zu erforschen, die Theologen, und vor allem die Exegeten, bestärken und unterstützen wir in ihrem Zeugnis, was ihnen helfen möge, ihre Aufgabe in der Treue zu jener großen und beständigen christlichen Tradition zu erfüllen (Vgl. Relatio Commissionis in Synodo Episcoporum constitutae, Romae, oct. 1967, pp. 10-11). Erst unlängst hat man sehr richtig gesagt: „Theologie als Glaubenswissenschaft kann ihren Ort nur in der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden haben. Wo die Theologie ihre Voraussetzung ablehnt und ihren Ort anders versteht, verliert sie ihren Grund und Gegenstand. Die vom Konzil hervorgehobene Religionsfreiheit, die in der Freiheit des Gewissens gründet, gilt für die persönliche Glaubensentscheidung, hat aber nichts zu tun mit der Bestimmung dessen, was Inhalt und Auftrag der göttlichen Offenbarung ist." (Vgl. Deklaration der deutschen Bischöfe, Fulda, 27. Dez. 1968, in «Herder Korrespondenz», Freiburg i.Br., Jan. 1969, p. 75.) Ähnlich ist die Anwendung der Geisteswissenschaften bei den hermeneutischen Studien durchaus ein Weg, die Offenbarungswahrheiten zu erforschen, doch lassen sich diese nicht auf ihre Untersuchungen einschränken, da sie von ihrem Ursprung und Inhalt her jene weit übersteigen.

19 In der Zeit nach dem Konzil, das nach den damals bestmöglichen biblischen und theologischen Erkenntnissen vorbereitet worden ist, bleibt noch eine beachtliche Arbeit zu tun, um vor allem die Theologie über die Kirche zu vertiefen und eine christliche Anthropologie zu erarbeiten, die dem Fortschritt der Geisteswissenschaften und den Problemen, die sich dem gläubigen Verstand stellen, Rechnung trägt. Wer von uns erkennt nicht die Bedeutung dieser Arbeit und deren Erfordernisse und versteht nicht das unvermeidliche, tastende Suchen? Dennoch haben wir in der augenblicklichen Verwirrung, die durch die Verbreitung von gewagten Hypothesen und Meinungen im christlichen Volk verursacht wird, die Pflicht, mit dem Konzil daran zu erinnern, dass die wahre Theologie „auf dem geschriebenen, untrennbar mit der heiligen Überlieferung verbundenen Gotteswort fußt, deren bleibendes Fundament es ist". (Vgl. Dei verbum, 24; A.A.S., LVIII (1966), p. 828.)

20 Lassen wir uns nicht, geliebte Brüder, durch die Furcht vor stets möglicher und mitunter auch nicht ganz unbegründeter Kritik zum Stillschweigen verleiten. Wie notwendig auch die Arbeit der Theologen ist, hat Gott dennoch den Auftrag, den Glauben der Kirche authentisch zu erklären, nicht den Wissenschaftlern anvertraut. Dieser ist nämlich in das Leben des Gottesvolkes gelegt, für das die Bischöfe vor Gott die Verantwortung tragen. Ihnen steht es zu, diesem Volk zu sagen, welchen Glauben Gott von ihm verlangt.

21 Dieses verlangt von jedem von uns viel Mut; denn, wenn wir auch durch die gemeinsame Wahrnehmung dieser Aufgabe im Rahmen von Bischofssynoden und Bischofskonferenzen unterstützt werden, handelt es sich dabei nichtsdestoweniger um eine persönliche und absolut unveräußerliche Verantwortung, durch die wir den dringenden täglichen Bedürfnissen des Gottesvolkes nachkommen sollen. Es ist gegenwärtig nicht der Augenblick, uns zu fragen, wie es manche uns gern einreden möchten, ob es wirklich nützlich, angebracht und notwendig sei, zu reden; wir müssen vielmehr die Mittel ergreifen, durch die wir uns verständlich machen können. An uns Bischöfe richten sich nämlich die Worte, mit denen Paulus Timotheus ermahnt: „Ich beschwöre dich vor Gott und Christus, dem einstigen Richter der Lebendigen und der Toten, bei seiner Wiederkunft und bei seinem Reiche: Verkünde das Wort! Tritt dafür ein, es sei gelegen oder ungelegen. Überführe, weise zurecht und ermahne mit aller Geduld und allem Geschick. Denn es kommt die Zeit, da man die gesunde lehre unerträglich findet und sich nach eigenem Sinn Lehrer über Lehrer sucht, um sich einen Ohrenschmaus zu verschaffen. Der Wahrheit verschließt man das Ohr und ergötzt sich an Fabeln. Du aber bleib in allem besonnen. Trage die Leiden. Vollzieh die Aufgabe als Verkünder der Heilsbotschaft. Versieh voll und ganz deinen Dienst!' (2 Tim. 4, 1-5).

III.

22 Möge sich also jeder von uns fragen, geliebte Brüder, wie er dieser heiligen Pflicht entspricht. Sie verlangt von uns eine ständige Betrachtung der göttlichen Offenbarung und einen Geist, der das Leben des Menschen stets aufmerksam beobachtet.

23 Wie können wir nämlich das Wort Gottes fruchtbar verkünden, wenn es uns nicht durch tägliche Betrachtung und Gebet vertraut geworden ist? Und wie könnte es aufgenommen werden, wenn es nicht durch ein überzeugtes Leben aus dem Glauben, durch tätige Liebe, vorbehaltlosen Gehorsam, eifriges Gebet und demütige Buße getragen wird? Nachdem Wir, wie es Unsere Pflicht war, mit Nachdruck auf die Verkündigung der Glaubenslehre hingewiesen haben, müssen wir noch dies hinzufügen: das, was oft am notwendigsten ist, sind nicht viele Worte, sondern ein Wort, das mit einem überzeugteren Leben aus dem Evangelium im Einklang steht. So ist es in der Tat. Die Welt braucht das Zeugnis heiliger Menschen, denn „in ihnen redet Gott selbst zu uns, gibt uns ein Zeichen seines Reiches, zu dem wir mächtig hingezogen werden.“ (Lumen gentium, 50; A.A.S., LVII [1965], p. 56.)

24 Achten wir aufmerksam auf die Fragen, die sich uns aus dem Leben der Menschen, besonders der Jugendlichen, stellen: „Wenn einer von euch seinen Vater um Brot bittet, wird er ihm dann etwa einen Stein geben?" (Lk 11, 11.) Dulden wir bereitwillig die Anfragen, mit denen man unsere friedliche Ruhe stört. Seien wir voller Geduld mit den Unschlüssigen, die tastend nach dem Licht suchen. Verstehen wir es, brüderlich an der Seite derer zu gehen, die jenes Licht noch nicht besitzen, dessen wir uns erfreuen, die sich aber trotzdem darum bemühen, durch den Nebel des Zweifels hindurch das Vaterhaus zu erreichen. Wenn wir mit ihnen ihre Nöte teilen, so geschieht das jedoch deshalb, weil wir sie daraus befreien möchten. Wenn wir ihnen Jesus Christus verkünden, sollen wir ihn als den Sohn Gottes darstellen, der Mensch geworden ist, um Seelen zu retten (vgl. 2 Io. 7-9) und uns seines Lebens teilhaftig zu machen, und nicht als einen bloßen Menschen, so wunderbar anziehend er für uns auch sein mag.

25 Indem wir Gott und den Menschen, zu denen wir gesandt sind, die Treue wahren, werden wir mit Klugheit und Umsicht, aber auch mit aller Deutlichkeit und Entschlossenheit die erforderlichen Unterscheidungen zu machen wissen. Hier liegt ohne Zweifel eine der schwierigsten und für unsere heutige Zeit auch notwendigsten Aufgaben des Episkopats. Es besteht im Widerstreit der Meinungen, die aufeinanderprallen, in der Tat die Gefahr, dass sich mit der größten Hochherzigkeit die gegensätzlichen Beteuerungen verbinden. Wie zur Zeit des heiligen Paulus, werden „aus eurer eigenen Mitte Männer sich erheben und mit verkehrten Reden die jünger auf ihre Seite zu ziehen suchen" (Apg 20, 30). Und die so reden, sind oft sogar noch davon überzeugt, im Namen Gottes zu handeln, indem sie sich selbst über den Geist täuschen, der sie führt. Achten wir, um das Wort des Glaubens zu unterscheiden, aufmerksam genug auf die Früchte, die dieses hervorbringt? Kann ein Wort von Gott kommen, das den Christen das Verständnis für die vom Evangelium geforderte Entsagung nimmt, das Gerechtigkeit predigt, dabei aber die Sanftmut, die Barmherzigkeit und Lauterkeit zu verkündigen vergisst, oder das den Bruder gegen den Bruder aufwiegelt? Jesus ermahnt uns: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" (Mt 7 , 15-20).

26 Dieselbe Anforderung stellen wir in gleicher Weise auch an alle unsere Mitarbeiter, die mit uns den Auftrag teilen, das Wort Gottes zu verkünden. Ihr Zeugnis muss stets das Zeugnis des Evangeliums sein, ihr Wort das des göttlichen Wortes, das den Glauben bewirkt und zur Bruderliebe führt, während sie alle jünger Christi dazu anleiten, die Denkweise, die Sitten und das Leben dieser irdischen Stadt mit seinem Geist zu durchdringen. (Vgl. Apostolicam actuositatem, 7, 13, 24; A.A.S., LVIII [1966], pp. 843-844, 849-850, 856-857.) Auf diese Weise wird nach den wunderbaren Worten des heiligen Augustinus „selbst durch den Dienst ängstlicher Menschen Gott in aller Freiheit sprechen" (Enar. in Ps. 103; Sermo 1, 19; PL 37, 1351).

27 Dieses sind, geliebte Brüder, einige Überlegungen, die uns der Jahrestag des Konzils eingibt, das ein providenzielles Werkzeug „für die Förderung einer wirklichen Erneuerung der Kirche" gewesen ist (vgl. Letzte Sitzung; A.A.S., LVII [1965], p. 865). Indem wir uns mit euch zusammen in aller Schlichtheit die Frage stellen, inwieweit wir in Treue zu dieser erstrangigen Aufgabe stehen, sind wir uns bewusst, damit einer dringlichen Pflicht zu entsprechen. Wird sich etwa einer darüber wundern oder sich diesem sogar widersetzen? Mit gelassenem Herzen nehmen wir euch als Zeugen für diese notwendige Aufgabe, die uns drängt, nämlich treue Verwalter des Hirtenamtes zu sein, und ebenso für unseren brennenden Wunsch, mit euch zusammen jene Mittel zu ergreifen, die sowohl den Erfordernissen unserer Zeit entsprechen, als auch mit der Lehre des Konzils am besten im Einklang stehen, um ihm dadurch einen größeren Erfolg zu gewährleisten. Wir empfehlen uns mit euch der mütterlichen liebe der Allerseligsten Jungfrau Maria und rufen auf euch und eure Hirtenaufgaben die Gnadenfülle dessen herab, „der durch seine wirksame Kraft in uns weit, weit mehr als alles, was wir erbitten und denken können, zu tun vermag: ihm sei Ehre in der Kirche und in Christus Jesus ... Amen" (Eph 3 , 20-21).

Diesen Wunsch möge unser Apostolischer Segen bekräftigen, den wir euch von Herzen erteilen.

Gegeben zu Rom bei St. Peter, am 8. Dezember 1970,
dem Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens,
im achten Jahre Unseres Pontifikats
Paul VI. PP.