Nachkonziliare Krise

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Im katholischen Milieu wird die Phase (ungefähr) zwischen 1965 und 1975 häufig als nachkonziliare Krise bezeichnet. Damit sind die Phänomene schwindender religiöser Praxis und nachlassender Disziplin in der katholischen Kirche ad intra gemeint, nicht das allgemeine Phänomen der Säkularisierung (Verweltlichung). Diese Krise kann jedoch nicht unabhängig von kirchlichen Krisenerscheinungen aus der Zeit vor dem II. Vatikanum betrachtet werden.

Ursachen und Verlauf dieser Krisenzeit wurden bislang jedoch nur wenig erforscht, so dass die unterschiedlichsten Darstellungen, Schuldzuweisungen und Erklärungsmodelle im Umlauf sind, je nach Standort des Beobachters.

Eine ausführliche Aufarbeitung ist auch hier nicht möglich. Es spricht aber einiges dafür, dass die Krise um 1972 ihren kritischen Punkt überwand und seit dem Heiligen Jahr 1975 keine bedrohlichen Ausmaße mehr hat, eher sogar durch wachsende Hoffnungszeichen abgelöst wurde. Die Hoffnungszeichen sind im wesentlichen mit dem Pontifikat von Papst Johannes Paul II. verknüpft, dessen unbestritten epochale Leistung durch die Konzilspäpste maßgeblich vorbereitet und ermöglicht wurde.

Der für die Durchführung und Vollendung des letzten Konzils verantwortliche Papst Paul VI. zeigte sich 1972 mehrfach irritiert darüber, dass statt der erhofften Belebung und dem geistlichen Wachstum, das vom II. Vatikanum ausweislich sämtlicher Dokumente bezweckt war, das Gegenteil einzutreten schien. Häufig zitiert wird eine Äußerung dieses Papstes vom 29.06.1972. Nach einem Bericht von Erzbischof Agostino Casaroli, späterer Kardinalstaatssekretär, hatte der Papst vor den Kardinälen von seinem Eindruck gesprochen, als ob durch irgendeinen Spalt der Rauch Satans in den Tempel Gottes eingedrungen sei.

Gemeint war damit, nach Überzeugung von Philippe Levillain, das Problem um die Traditionalistenbewegung von Marcel Lefebvre. Tatsächlich stellte der Widerstand gegen Konzil und Liturgiereform seitens des Traditionalismus für den Papst damals die härteste Bewährungsprobe dar, ihn persönlich bedrängender als sogar der Protest gegen seine letzte Enzyklika, Humanae vitae. Denn während alle alten und modernen Häresien schon einmal Konjunktur hatten, wieder stärker oder schwächer werden, musste Paul VI. den sich dort abzeichnenden, völlig falschen Traditionsbegriff als gefährliche Innovation begreifen, da sie einen vermeintlichen Gehorsam gegenüber dem Papsttum lehrt, der sich im Widerstand gegen den Papst zu beweisen habe. Trotz heftiger Aktivität, insbesondere seit einer Grundsatzerklärung vom 21.11.1974, konnte dieser neue Traditionalismus aber nur eine sehr geringe Reichweite innerhalb der Christenheit erzielen (höchstens 0,015% der Katholiken sind dafür heute empfänglich).

Plausibel wird diese Gegenbewegung gegen Papst und Konzil jedoch nur aus der stürmischen Entwicklung der vorangegangenen Jahre. In der Interpretation der Konzilsbeschlüsse, insbesondere in Nord- und Westeuropa und Nordamerika, gewann bisweilen eine Deutung das Übergewicht, die das Konzil als Abkehr von der Tradition und Bestätigung einer völlig neuen Auffassung von der Kirche sah. Diese Deutung konnte von traditioneller Seite als Wiederbelebung des Modernismus aufgefasst werden. Möglicherweise beruht die nachkonzilare Krise zum Teil darauf, dass trotz notwendiger und erfolgreicher Verurteilung modernistischer Lehren seit Pius X. (bestätigt durch sämtliche Nachfolger, zuletzt in Deus caritas est, insb. Nr. 12-15, 37-39), die bloße Lehrverurteilung schon um 1907 (vgl. Enzyklika Pascendi) als Methode nicht mehr ausreichte, um das Weiterwirken von mit Irrtum behafteten Auffassungen inmitten der Kirche zu verhindern. Nicht nur in Teilströmungen der so gen. Nouvelle théologie der 1940er Jahre (vgl. Enz. Humani generis, 1950), auch in dem als Holländischer Katechismus von 1966 bekannt gewordenen Werk wurden diese älteren Tendenzen, die jedenfalls bis zu Reimarus (+ 1768) zurückreichen, partiell von neuem spürbar.

Der pastorale Methodenwechsel, den Papst Johannes XXIII. als Aggiornamento kennzeichnete und Paul VI. mit il dialogo überschrieb (Enz. Ecclesiam Suam 1964), hat aber seinen Ursprung bereits in den Tagen des I. Weltkriegs, dessen brutale Erschütterung jedwedes optimistischen Humanismus bis heute anhält. Damals gebot Papst Benedikt XV. den Übertreibungen im Antimodernismus, angesichts der Katastrophe, sofort Einhalt, um die Einheit der Kirche als supranationale Instanz zu retten. Papst Pius XI. hat die fundamental neue Lage der Welt von heute in ihren Umrissen erkannt und daher den Frieden Christi im Reiche Christi zum Programm seines Pontifikats gemacht. Unter Pius XII. vollzieht der Katholizismus, belehrt aus dem II. Weltkrieg, einen weiteren Fortschritt, sowohl in der Weltgeltung als auch hinsichtlich des katholischen Programms. Aus heutiger Sicht ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass sämtliche Päpste seit Pius IX. mehr und mehr auf das II. Vatikanum zusteuerten, um der modernen Welt einen geistlichen Begriff der Kirche anzubieten.


Würdigung

Dieser geistliche Begriff der Kirche umfasst Treue zur Tradition und jeweilige Anpassung an die Gegenwart gleichermaßen. Er stärkt mithin das Lehramt der Kirche, das zu den notwendigen Maßnahmen befugt ist. Immer existiert in der Kirche eine notwendige Intransigenz einerseits, also eine Kompromisslosigkeit im Wesentlichen, aber auch die Fähigkeit zu angemessener Erneuerung im Horizont der Zeit, also sogar eine notwendige Modernität.

Diese Schlussfolgerung zwingt zu der Überlegung, ob etwa die nachkonziliare Krise des 20. Jahrhunderts zugleich den Abschluss der Krisenerscheinungen nach dem I. Vatikanum markiert. Denn nur eine unzureichende Vermittlung der Ergebnisse von 1870 hat die Deutung des Vatikanum II als Distanzierung vom Vatikanum I möglich gemacht. Wahrscheinlich können beide vatikanischen Konzilien letztlich nur in einer gemeinsamen Perspektive erfolgversprechende Akzeptanz erzielen.

Die nachkonziliare Krise ist auch nicht unabhängig von der Krise jedweder Autorität seit 1914 zu bewerten. Vermutlich ist die Reichweite der Krise voll identisch gewesen mit dem Zusammenbruch überlieferter Autoritäten (Monarchie, ländliche Großfamilie, Sozialkonsens in der Moral), welche die religiöse Praxis, vor allem in der europäischen Zivilisation, zuvor noch stützten. Überwunden wird die Krise, falls diese Hypothese zutrifft, dann genau in dem Maße, wie die Legitimität eines geistlichen Autoritätsbegriffs die freiwillige Zustimmung (innerhalb der Pluralität der modernen Gesellschaft) gewinnt.

Nicht zur nachkonziliaren Krise im eigentlichen Sinne gehören theologische Probleme, etwa in der Christologie, da diese während der ganzen Geschichte der Kirche unvermeidlich sind.

Literatur

  • Paul VI. et la modernité dans l'Église, Collection de l'école francaise de Rome (Bd. 72), Rom 1984.
  • Philippe Levillain, Dictionnaire historique de la papauté, Paris 1994, insb. Art. Paul VI.