Libertas praestantissimum

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An alle Ehrwürdigen Brüder: die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe des katholischen Erdkreises, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl stehen.

Papst Leo XIII.

Ehrwürdige Brüder! Heilsgruß und Apostolischen Segen!

Die Freiheit ist das vorzüglichste unter den natürlichen Gütern. Sie ist nur solchen Wesen zu eigen, die den Gebrauch von Vernunft und Verstand haben; und sie verleiht dem Menschen eine solche Würde, daß er, seiner eigenen Entscheidung folgend, Herr seiner Handlungen ist. Aber es kommt sehr viel darauf an, in welchem Sinn er diese seine Würde anwendet: denn die Betätigung der Freiheit erzeugt die höchsten Güter, aber auch die größten Übel. Wohl hat der Mensch freie Hand, der Vernunft zu gehorchen, dem sittlich Guten zu folgen und auf geradem Weg nach seinem höchsten Ziel zu streben. Doch ebenso kann er auch nach allen möglichen Richtungen hin abirren, indem er Trugbildern von Gütern nachgeht; er kann die sittliche Ordnung stören und sich freiwillig ins Verderben stürzen.

Jesus Christus, der Befreier des Menschengeschlechtes, hat die ursprüngliche Würde unserer Natur wiederhergestellt und vervollkommnet. ER hat auch des Menschen Willen mit Macht gestärkt und ihm durch Seinen Gnadenbeistand hier auf Erden mittels der Hoffnung auf ewige Glückseligkeit im Jenseits die Ausrichtung empor zu noch Besserem gegeben. In gleichem Sinne hat sich die katholische Kirche um dieses herrliche Gut der Freiheit verdient gemacht, und sie wird dies immer tun: denn es ist ihre Aufgabe, die Wohltaten, die uns Jesus Christus gebracht hat, durch alle Zeiten hindurch zu vermitteln.

Nichtsdestoweniger ist die Zahl jener nicht gering, welche die Kirche für eine Feindin der menschlichen Freiheit halten. Der Grund dessen ist ein gewisses unrichtiges und verkehrtes Urteil über die Freiheit selbst. Teils verfälschen sie nämlich deren wahren Begriff, teils weiten sie dieselbe ungebührlich aus: so daß sie sehr vieles in deren Bereich einbeziehen, was, wie schon die gesunde Vernunft lehrt, der Freiheit des Menschen entzogen ist.

Schon früher, namentlich in Unserem Rundschreiben Immortale Dei, haben Wir über die sogenannten „modernen Freiheiten“ Uns ausgesprochen und das Richtige vom Falschen ausgeschieden. Zugleich haben Wir gezeigt, daß dasjenige, was an diesen Freiheiten Gutes ist, so alt ist wie die Wahrheit selbst: deswegen hat es die Kirche immer höchst bereitwillig gutgeheißen und pflegte es im Leben anzuwenden. Was an „Neuerungen“ hinzukam, das bildet - auf seine Wahrheit hin überprüft - einen gewissen unreinen Bestandteil derselben, welcher seinen Ursprung in stürmischen Zeiten und ungezügelter Lust am Umsturz des Bestehenden hat. - Viele halten aber hartnäckig an folgender Meinung fest: diese Freiheiten seien auch bezüglich dessen, was sie Lasterhaftes enthalten, der höchste Schmuck unserer Zeit; und sie bildeten die notwendige Grundlage, auf der die Staaten ruhen: wo diese Freiheiten fehlen, lasse sich eine vollkommene Regierung des Staatswesens nicht denken. Daher halten Wir es im Hinblick auf den Nutzen für die Öffentlichkeit notwendig, diese Frage besonders zu behandeln.

Gehen wir geradewegs auf die Frage nach der sittlichen Freiheit ein, so wie diese sich uns sowohl betreffend die Einzelpersonen wie auch im Staatswesen darstellt.

Jedoch dürfte es zweckmäßig sein, einige Bemerkungen über die „natürliche Freiheit“ vorauszuschicken. Denn diese ist trotz ihrer gänzlichen Verschiedenheit von der „sittlichen Freiheit“ doch die Quelle und der notwendige und von Natur gegebene Ausgangspunkt für jedwede Art von Freiheit. Die „natürliche Freiheit“ findet sich nach dem allgemeinen Urteil und der (allen Menschen) gemeinsamen Überzeugung - aus dieser spricht die Stimme der Natur mit höchster Gewißheit - nur bei den mit Verstand und Vernunft begabten Wesen. Gerade in der „natürlichen Freiheit“ liegt offenbar der Grund, warum der Mensch wirklich als Urheber seines Tuns und seiner Handlungen angesehen werden kann. Und dies mit vollem Recht: denn die übrigen Wesen werden nur durch ihre Sinne geleitet, wenn sie auf Antrieb ihrer Natur das suchen, was ihnen nützlich ist, und fliehen, was schädlich ist; der Mensch dagegen folgt in jeder seiner Handlungen der Führung der Vernunft. Die Vernunft stellt aber fest, daß alle Güter dieser Welt und auch jedes einzelne unter ihnen tatsächlich bestehen; daß sie aber ebensogut auch nicht bestehen könnten. Gerade daran erkennt die Vernunft, daß wir keines dieser Güter unausweichlich in Gebrauch nehmen müssen: und so stellt sie es der freien Wahl des Willens anheim, nach Gutdünken auszuwählen und sich zu entscheiden. Über diese sogenannte „Kontingenz“ aller der genannten Güter kann sich der Mensch darum ein Urteil bilden, weil eine einfache, geistige, des Denkens fähige Seele in ihm wohnt. Weil es sich aber so verhält, darum hat er seinen Ursprung nicht in der Körperwelt, und er hängt in seinem Bestande nicht von dieser ab. Er ist vielmehr unmittelbar von GOTT geschaffen und steht hoch über der Natur, wie sie den Körpern gemeinsam ist: er hat seine ihm eigens zukommende Lebens- und Handlungsweise. Da nun sein Geist die unwandelbaren und notwendigen Begriffe des Wahren und Guten erfaßt, stellt er fest, daß alle jene Einzelgüter keine (in sich) notwendigen Güter sind. So ergibt sich denn aus der Betrachtung der Geistigkeit der Menschenseele, die über der Vergänglichkeit des Körperlichen steht, und der die Kraft zum Denken innewohnt, zugleich die stärkste Grundlage für die natürliche Freiheit.

Ebenso wie die Einfachheit, Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, so hat auch niemand die Freiheit lauter verkündet und standhafter verteidigt als die katholische Kirche: hat sie ja doch jederzeit beides als Glaubenssatz gelehrt und bewahrt es als einen solchen. Und nicht dies allein: sie hat gegenüber den Widersprüchen der Häretiker und gegen jene, welche „neue Meinungen“ hegten, sich als Hort der Freiheit erwiesen, und sie hat dieses derartig hohe Gut so vor dem Untergang gerettet. Mit welchem Eifer sie sich in dieser Beziehung den unsinnigen Bestrebungen der Manichäer und anderer entgegengestellt hat: das beweisen die Geschichtsbücher. Wie angelegentlich und nachdrücklich sie aber in neuerer Zeit sowohl im Konzil von Trient, als auch später gegenüber den Anhängern des Jansenius für die Willensfreiheit des Menschen kämpfte, und wie sie zu keiner Zeit und an keinem Ort den „Fatalismus“ festen Fuß fassen ließ, das ist allgemein bekannt.

So ist denn, wie gesagt, die Freiheit jenen (Wesen) zu eigen, die mit Vernunft oder Verstand begabt sind. Die Freiheit selbst aber ist, wenn wir ihr Wesen betrachten, nichts anderes als die Fähigkeit, das Zweckdienliche zu wählen: denn wer unter mehreren (Möglichkeiten) eine auszuwählen die Macht hat, der ist Herr seiner Handlungen.

Der Grund, warum wir irgendeine Sache anstreben, ist das Gute, das nützlich genannt wird (bonum utile). Alles Gute aber regt, seinem inneren Wesen gemäß, das Streben danach an. Darum ist die Freiheit ein dem Willen eigenes Vermögen, oder vielmehr: sie ist der Wille selbst, insofern ihm bei seiner Betätigung das Vermögen der Wahl zukommt. Der Wille wird jedoch keinesfalls angetrieben, wenn nicht die Erkenntnis des Geistes ihm wie eine Fackel voranleuchtet. Das bedeutet: das vom Willen angestrebte Gute ist deshalb mit Notwendigkeit etwas Gutes, weil es von der Vernunft geprüft wurde. Und dies um so mehr, weil bei jedem Willensakt der (durch ihn getroffenen) Wahlentscheidung immer das Urteil vorausgeht: über die wahre Beschaffenheit der (betreffenden) Güter, und welches unter ihnen den übrigen vorzuziehen ist. Urteilen aber, wie jeder Verständige einsieht, ist Sache der Vernunft, und nicht des Willens. Wenn darum die Freiheit dem Willen innewohnt, der seiner Natur nach ein von der Vernunft geleitetes Verlangen ist, so folgt daraus: auch die Freiheit, ebenso wie der Wille, bezieht sich auf das der Vernunft entsprechende Gute. Beide, Vernunft und Wille, sind aber unvollkommen: so kann es denn geschehen, und es geschieht häufig, daß die Vernunft dem Willen nur ein Schein-Gutes vorlegt, welches aber in Wirklichkeit nicht gut ist; und der Wille strebt dieses dann an. Es ist ein Gebrechen, irren zu können und wirklich zu irren: dies ist ein Beweis für die Unvollkommenheit unserer Denkkraft. Das Anstreben eines trügerischen Schein-Guten zeigt die Tatsache der Freiheit des Willens - ähnlich wie Kranksein zeigt, daß wir am Leben sind. Es stellt dieses Anstreben aber einen Fehlgriff der Freiheit dar. Eben weil der Wille von der Vernunft abhängt, so ist es auch ein Mißbrauch des Willens, wenn durch ihn etwas begehrt wird, was der gesunden Vernunft widerspricht. Durch einen solchen Verstoß wird die Freiheit von Grund aus geschändet. -

GOTT ist unendlich vollkommen: da ER die höchste Weisheit und Seinem Wesen nach Gut ist, ist ER auch höchst frei; ER kann aus diesem Grund das sittlich Böse (malum culpae) in gar keiner Weise wollen. Ebensowenig können dies die Seligen im Himmel: da sie GOTT, das Höchste Gut, schauen.

Feinsinnig haben darum Augustinus und andere den Pelagianern gegenüber bemerkt: Wenn die Möglichkeit des Abfalls vom Guten naturgemäß wäre und eine Vollkommenheit der Freiheit darstellte - dann wären Gott, Jesus Christus, die Engel und die Seligen, welche alle diese Möglichkeit nicht haben, entweder nicht frei, oder sie wären doch weniger vollkommen als der unvollkommene Mensch hier auf Erden. Diese Sache hat der Engelsgleiche Lehrer oft und vielfach erörtert. Daraus geht mit zwingender Folgerichtigkeit hervor, daß die Fähigkeit zum Sündigen nicht Freiheit ist, sondern Knechtschaft. So bemerkt er sehr scharfsinnig zu den Worten Christi des Herrn: Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht (Joh 8, 34), folgendes: Ein jedes (Ding) ist das, was ihm seiner Natur nach zukommt. Wenn es demnach von etwas Fremdem bewegt wird, so handelt es nicht nach eigenem Antrieb, sondern infolge der Einwirkung eines anderen: das aber ist knechtisch. Der Mensch jedoch ist seiner Natur nach ein Wesen mit Vernunft. Wenn er darum gemäß der Vernunft bewegt wird, so wird er durch eigenen Antrieb bewegt und ist selbständig tätig: das bedeutet Freiheit; wenn der Mensch aber sündigt, so ist er gegen die Vernunft tätig, und er wird dann gewissermaßen von einem anderen bewegt, von Fremdem in Schranken gehalten; und darum: „Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ Selbst die Philosophie der Antike hat dies deutlich erkannt - namentlich jene, welche lehrten: nur der Weise könne ein Freier sein. Als Weiser aber galt ihnen bekanntlich einer, der gelernt hatte, standhaft der (menschlichen) Natur gemäß, also ehrbar und tugendhaft zu leben.

Angesichts einer solchen Beschaffenheit der Freiheit im Menschen mußte ihr ein entsprechender Beistand und Schutz zuteil werden, wodurch alle ihre Betätigung zum Guten hin und vom Bösen hinweg gewendet würde. Anders würde die Willensfreiheit dem Menschen sehr zum Schaden gereichen.

Zum ersten war darum notwendig das Gesetz, das heißt eine Regel für das, was zu tun und zu meiden ist. Für die Lebewesen ohne Bewußtsein, welche sich mit zwanghafter Notwendigkeit betätigen, kann es ein Gesetz im eigentlichen Sinne nicht geben, da sie in ihrer gesamten Tätigkeit dem Antrieb der Natur folgen und von sich aus in keiner anderen Weise tätig sein können. Die freien Wesen aber haben gerade darum, weil sie sich der Freiheit erfreuen, von daher die Möglichkeit, zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln: sie wählen ihrem Wollen gemäß aus, wobei (dieser Auswählung) jenes oben erwähnte Urteil der Vernunft vorausgegangen ist. Dieses Urteil bestimmt nicht bloß, was seiner Natur nach ehrbar ist, und was schändlich, sondern auch das, was gut ist und zu vollbringen, sowie das, was böse und zu meiden ist. Die Vernunft ist es ja, die es dem Willen vorschreibt, wonach er streben und was er vermeiden soll, damit der Mensch sein höchstes Ziel, um dessentwillen alles getan werden muß, erreichen kann. Diese Ordnung der Vernunft nun nennen wir Gesetz.

Der tiefste Grund, in dem gleichsam das Gesetz wurzelt und wo dessen Notwendigkeit liegt, ist darum in der Willensfreiheit des Menschen selbst zu suchen: es sollen nämlich unsere Willensentschlüsse mit der wahren Vernunft im Einklang bleiben. Nichts ist darum so falsch und verkehrt, als zu denken und zu behaupten: „Weil der Mensch von Natur aus frei ist, darum muß er ohne Gesetz sein“ - denn dies hieße so viel, als zu behaupten: es gehöre notwendig zur Freiheit, keinen Zusammenhang mit der Vernunft zu haben. - In Wirklichkeit ist vielmehr das Gegenteil der Fall: weil der Mensch von Natur aus frei ist, darum muß er dem Gesetz untergeben sein. So leitet das Gesetz den Menschen in seinem Tun; er erhält durch Verheißung von Belohnungen und durch Androhung von Strafen ein Antrieb zum Guten und wird vom Bösen zurückgehalten. Derart beschaffen ist das grundlegendste unter ihnen allen. das natürliche Gesetz. Dieses ist geschrieben und eingeprägt in der Seele jedes einzelnen Menschen: denn es ist nichts anderes als die menschliche Vernunft selbst, die da gebietet, das Richtige zu vollbringen, und die verbietet, verkehrt zu handeln.

Diesem Gebot der Vernunft kommt aber nur darum die Kraft eines Gesetzes zu, weil es die Stimme und der Dolmetsch einer höheren Vernunft ist, welcher wir unseren Geist und unsere Freiheit zu unterwerfen haben. Denn da das Gesetz Pflichten auferlegt und Rechte verleiht, beruht seine ganze Bedeutung auf der Autorität, das ist: auf einer begründeten Gewalt, Pflichten zu bestimmen und Rechte zu bezeichnen, und ebenso durch Strafen und Belohnungen das Auferlegte unverbrüchlich zu machen. Das alles aber könnte unter den Menschen offenkundig dann nicht der Fall sein, wenn der Mensch für sich der höchste Gesetzgeber wäre, welcher selbst seinen Handlungen deren Regel vorschreibt. Also folgt daraus, daß das natürliche Gesetz das ewige Gesetz selbst ist, eingewurzelt in den Vernunftwesen: diese werden dadurch hingelenkt zu dem ihnen bestimmten Ziel und dem entsprechenden Tun. Das ewige Gesetz ist die ewige Vernunft des Schöpfers und Lenkers der ganzen Welt: Gottes selbst.

Mit dieser Regel, die unsere Handlungen bestimmt und von der Sünde zurückhält, hat Gottes Güte noch bestimmte besondere Schutzmittel verbunden, die höchst geeignet zur sittlichen Kräftigung des Menschen und zur Leitung seines Willens sind. Das erste und hervorragendste hiervon ist die Kraft der göttlichen Gnade. Diese erleuchtet den Geist, rüstet den Willen mit heilsamer Standhaftigkeit aus und treibt immer zum sittlich Guten an: sie macht ihn dazu besser bereit, und er erlangt eine größere Sicherheit im Gebrauch unserer angeborenen Freiheit. Aus diesem Grund ist es ganz und gar unwahr, daß durch das Einschreiten Gottes unsere Willensakte in verringertem Maß frei seien. Denn: die Macht der göttlichen Gnade erfaßt den Menschen in seinem Innersten und entspricht der Ausrichtung seiner Natur, da sie vom Schöpfer sowohl unserer Seele als auch unserer Freiheit selbst ausgeht, der ein jegliches Ding dessen Natur entsprechend in Tätigkeit versetzt. Wie der Engelgleiche Lehrer bemerkt, hat die Göttliche Gnade gerade deswegen, weil sie von Dem ausgeht, der die Natur gebildet hat, die wunderbare Eigenart und Befähigung, eine jede Natur in ihrem Bestand zu bewahren, sowie die Art und Weise von deren Betätigung, die Kraft und die Wirksamkeit jeder einzelnen unter ihnen zu erhalten.

Was Wir nun über die Freiheit der Einzelnen dargelegt haben, das findet unschwer seine Anwendung auf die im gesellschaftlichen Verbundensein lebenden Menschen. Denn was die Vernunft und das natürliche Gesetz für den einzelnen Menschen, das bewirkt in der Gesellschaft das menschliche Gesetz, das zum gemeinsamen Wohl der Bürger erlassen wird. - Einige unter diesen menschlichen Gesetzen beziehen sich auf das, was von Natur aus gut oder böse ist; sie gebieten das eine, verbieten das andere: und dies geschieht unter Hinzufügung der entsprechenden Strafbestimmung. Jedoch haben diese Gesetze ihren letzten Grund keineswegs in der menschlichen Gesellschaft, denn diese Gesellschaft ist nicht der Ursprung der menschlichen Natur. Daher bringt dieselbe weder das der Natur entsprechende Gute hervor, noch das der Natur widersprechende Böse. Gut und Böse sind vielmehr vor der Gesellschaft da; sie gehen völlig vom natürlichen Gesetz aus und sind daher vom ewigen Gesetz herzuleiten.

Die Gebote des natürlichen Rechtes, welche die menschliche Gesetzgebung in sich aufnimmt, haben darum nicht bloß die Kraft eines menschlichen Gesetzes, sondern vereinigen in sich eine viel höhere und erhabenere Befehlsgewalt, welche ihren Ausgang vom natürlichen Gesetz selbst und vom ewigen Gesetz nimmt. Bezüglich der Gattung der (menschlichen) Gesetze ist es meistens die Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers, unter Anwendung öffentlicher fester Grundsätze unter den Bürgern den Gehorsam zu bewirken und die Übeltäter und zu Übertretungen Geneigten in Schranken zu halten, damit diese vom Bösen zurückgehalten und zum Streben nach dem Guten gebracht werden, oder sie wenigstens der bürgerlichen Gesellschaft weder Schaden noch Nachteil zufügen können. Andere Gesetze der staatlichen Gewalt gehen nicht unmittelbar und direkt vom Natur-Recht aus, sondern in weiterer Folgerung und Anwendung desselben. Sie beziehen sich auf verschiedene Gegenstände, für welche durch die Natur-Ordnung nur ganz allgemein Vorsorge getroffen ist. So gebietet die Natur, daß alle Bürger mitwirken zur öffentlichen Ruhe und Wohlfahrt: was sie hierfür zu tun haben, in welcher Weise, über das Worauf ihrer Tätigkeit: dies ist nicht von der Natur festgelegt, sondern wird durch menschliche Weisheit bestimmt.

Diese mit Klugheit erdachte und von der rechtmäßigen Obrigkeit in allen Einzelheiten vorgeschriebene Lebensordnung bildet das menschliche Gesetz im eigentlichen Sinne. Dieses Gesetz gebietet, daß alle Bürger zum Zweck der Erreichung des dem Staat gesetzten Zieles zusammenwirken, und es verbietet, davon abzuweichen. Dadurch, daß es in Übereinstimmung und in dienendem Anschluß an die Vorschriften der Natur steht, führt es zum sittlich Guten und hält von dem ab, was diesem widerstrebt. Hieraus wird verständlich, daß die Norm und Regel für die Freiheit sowohl des Einzelnen wie der gesamten menschlichen Gesellschaft ganz und gar auf dem Ewigen Gesetz Gottes beruht. Für die menschliche Gesellschaft besteht darum die wahre Freiheit nicht darin, daß jeder tut, was ihm beliebt. Dies würde dem Staatswesen die größte Unordnung bringen, es verwirren und zugrunderichten: sondern sie besteht darin, daß die Staatsgesetze uns dabei fördern, ein Leben nach den Geboten des Ewigen Gesetzes führen zu können. Die Freiheit der Regierenden aber besteht nicht darin, daß sie ohne Grund und nach Willkür befehlen können. Das wäre sowohl schändlich, als es auch dem Staatswesen zum größten Verderben gereichen müßte. Vielmehr muß das wahre Wesen der menschlichen Gesetze darin bestehen, daß deren Ursprung aus dem Ewigen Gesetz klar erkennbar ist, und daß durch dieselben nichts verordnet wird, was nicht im Ewigen Gesetz als dem Ausgangspunkt des gesamten Rechtes enthalten ist. Höchst weise sagt darum Augustinus:

Du erkennst sogleich, wie ich glaube, daß in jenem zeitlichen (Gesetz) alles, was darin gerecht und gesetzmäßig ist, aus dem ewigen Gesetz von den Menschen abgeleitet wurde.

Sollte darum von irgend einer Gewalt eine Bestimmung getroffen werden, die den Gesetzen der gesunden Vernunft widerspräche und dem Gemeinwesen schädlich wäre, so hätte sie keinerlei Gesetzeskraft: denn sie wäre dann keine Richtschnur der Gerechtigkeit, und sie würde die Menschen dem Guten, für das die Gesellschaft da ist, entfremden.

Die Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber einer höchsten und ewigen Vernunft, welche nichts anderes ist als die Autorität Gottes, der gebietet und verbietet, ist daher zugleich mit dem Wesen der menschlichen Freiheit gegeben: es gilt dies ebenso für die Menschen als Einzelne wie in ihrem Zusammenschluß zur Gesellschaft; es gilt dies für jene, die befehlen, ebenso gut wie für die, welche gehorchen. Und weit entfernt, daß durch diese höchst gerechte Oberherrlichkeit Gottes die Freiheit aufgehoben oder irgendwie geschmälert würde, findet diese vielmehr in ihr ihren Schutz und ihre Vollendung. Darin besteht ja die wahre Vollendung aller Wesen. daß sie nach ihrem Ziele streben und es erreichen; das höchste Ziel aber, dem die menschliche Freiheit entgegenstreben soll, ist GOTT.

Diese höchst wahren und erhabenen Lehren erkennen wir schon mit dem Licht der Vernunft allein. Die Kirche hat dieselben durch das Beispiel und den Unterricht ihres Göttlichen Urhebers belehrt, allenthalben ausgebreitet und festgehalten: sie hat nach diesen Grundsätzen stets ihr eigenes Amt bemessen und die christlichen Völker in ihnen unterrichtet. Auf dem Gebiet der Sitte stehen die Gesetze des Evangeliums nicht bloß hoch über aller heidnischen Weisheit; sie fordern vielmehr ausdrücklich den Menschen zu einem den Alten unerhörten heiligen Leben auf und leiten ihn dazu an: dadurch kommt er in größere Nähe Gottes und gewinnt so zugleich eine höhere Freiheit.

Es trat die Kirche immer mit großer Kraft auf zum Schutz und Schirm für die bürgerliche und politische Freiheit der Völker. Hier ist nicht der Ort, ihre Verdienste in dieser Richtung aufzuzählen; es genügt auf eines hinzuweisen: auf die Sklaverei, jene alte Schmach der heidnischen Völker, welche großteils durch die Bemühungen und Vermittlung der Kirche abgeschafft wurde. Die Rechtsgleichförmigkeit und die wahre Bruderschaft (lat.: = germanitas) unter den Menschen hat Jesus Christus als Erster von allen verkündet; und es war nur ein Widerhall Seiner Worte, wenn die Apostel predigen: es sei kein Jude mehr, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien in Christus Brüder. Der Einfluß der Kirche in dieser Beziehung ist so groß und so allbekannt, daß, auf welche Küste immer sie ihren Fuß setzen mag, die rohen Gebräuche ihrer wilden Bewohner nicht lange bestehen können: in kürzester Zeit folgt auf die Grausamkeit Milde, auf die Finsternis der Barbarei das Licht der Wahrheit. Aber auch den zivilisierten Völkern hat die Kirche stets große Wohltaten erwiesen: sei es, daß sie gegenüber Ungerechtigkeit und Willkür Widerstand leistete, oder Unschuldige und Schwache vor Schaden bewahrte, oder endlich dadurch, daß sie für das Staatswesen um die Erreichung einer solchen festen Ordnung bemüht war, die die Bürger wegen ihrer Gerechtigkeit liebten, die Auswärtigen wegen deren Stärke fürchteten.

Außerdem ist es festbegründete Pflicht, vor der Autorität Ehrfurcht zu haben, und sich gerechten Gesetzen gehorsam unterzuordnen. So finden in der Kraft und Wachsamkeit der Gesetze die Bürger Schutz gegen böswillige Rechtsverletzung. Die rechtmäßige Gewalt ist von GOTT, und wer der Gewalt widersteht, widersteht Gottes Anordnung. Auf diese Weise empfängt der Gehorsam eine erhabene Würde, da er so der gerechtesten und höchsten Autorität geleistet wird.

Wo aber das Recht zum Gebieten fehlt, oder wo etwas geboten würde, das gegen die Vernunft, gegen das ewige Gesetz und gegen Gottes Befehl ist: da ist es das Rechte, nicht zu gehorchen: nämlich den Menschen, damit GOTT Gehorsam geleistet werde. Auf diese Weise ist der Tyrannei der Zugang verschlossen, und es kann die staatliche Gewalt nicht alles an sich reißen. Es bleibt das eigene Recht gewahrt jedem einzelnen Bürger, der häuslichen Gesellschaft und allen Gliedern des Staatswesens: alle genießen in vollem Maße jene wahre Freiheit, welche, wie Wir nachgewiesen haben, darin besteht, daß ein jeder nach den Gesetzen und der gesunden Vernunft leben kann.

Würde man, wenn von Freiheit überhaupt die Rede ist, darunter nur die rechtmäßige und sittliche Freiheit verstehen, so wie sie sich aus Unserer Darlegung und der Natur der Sache ergibt, dann würde niemand die Kirche zu tadeln wagen, wie dies höchst ungerechterweise geschieht, als ob sie die Freiheit des Einzelnen oder die des Staatswesen anfeinde. Aber nach dem Vorbild Luzifers, der das frevelhafte Wort gesprochen: Ich will nicht dienen, streben gar viele unter dem Namen der Freiheit nach einer absurden Zügellosigkeit. Zu diesen gehören die Anhänger jener so weit verbreiteten und einflußreichen Lebensweise, welche, ihren Namen von der „Freiheit“ (libertas) herleitend, „Liberale“ genannt werden wollen.

Dem Wesen der Sache nach sind das, was in der Philosophie die „Naturalisten“ und „Rationalisten“ sind, auf dem Gebiet der Moral und des bürgerlichen Lebens die Anhänger des „Liberalismus“, sie siedeln die von den Naturalisten aufgestellten Grundsätze in den Sitten und im praktischen Leben an.

Der Grundgedanke des gesamten „Rationalismus“ ist die Oberherrschaft der menschlichen Vernunft, welche der göttlichen und ewigen Vernunft den schuldigen Gehorsam verweigert: sie erklärt sich für unabhängig (lat. = sui iuris), und wirft sich so zum obersten Prinzip, zum Ursprung und Richter über alle Wahrheit auf. In gleicher Weise leugnen die Anhänger des Liberalismus jede Göttliche Gewalt, der wir im Leben zu gehorchen haben; sie behaupten, ein jeder sei für sich selbst das Gesetz. Von da her verkünden sie eine Sittenlehre, die sie eine „unabhängige“ nennen. Diese entbindet unter dem Schein der Freiheit den Willen von der Unterwerfung unter die Gebote Gottes und pflegt eine grenzenlose Zügellosigkeit für den Menschen mit sich zu bringen.

Was insbesondere hieraus für die menschliche Gesellschaft erwächst, läßt sich unschwer erkennen. Steht nämlich einmal das Vorurteil fest, daß der Mensch niemanden Höheren über sich habe, so folgt daraus, daß das Band, welches die bürgerliche Gesellschaft eint, nicht von Einem gegeben ist, der außerhalb und über dem Menschen steht, sondern daß es im freien Willen der Einzelnen zu suchen ist: dann hat die staatliche Gewalt ihren letzten Ursprung in der (Volks-)Menge. Und wenn die Vernunft des Einzelnen allein maßgebend ist für alle Handlungen des Privatlebens, so ist es die Vernunft von allen zusammen für alle zusammen in den öffentlichen Angelegenheiten. Infolgedessen ruht alle Macht in der Mehrheitlichkeit, und die Mehrheit des Volkes ist Urheberin aller Rechte und Pflichten.

Daß dies aber im Widerspruch steht mit der Vernunft, wird aus dem Gesagten klar. Denn es widerspricht völlig der Natur, und zwar nicht bloß der des Menschen, sondern dein Wesen aller geschaffenen Dinge: jede Bindung zerreißen zu wollen, die zwischen den Einzelmenschen oder der bürgerlichen Gesellschaft und GOTT, dem Schöpfer und daher obersten Gesetzgeber, besteht, denn alle geschaffenen Dinge müssen mit der (ersten) Ursache, von der sie ausgegangen sind, in einem wesentlichen Zusammenhang stehen. Und es ist ein Gesetz für alle geschaffenen Wesen, daß sie nur dann ihre Vollkommenheit erreichen, wenn sie die Stelle und die Stufe einnehmen, welche die natürliche Ordnung fordert, daß nämlich das Niedrigere dem Höheren unterworfen werde und ihm gehorche. –

Außerdem aber ist die Lehre höchst verderblich ebenso für das Privatleben der Menschen wie für die Staaten. Denn wenn es wirklich die Vernunft des Menschen ist, die einzig und allein darüber zu entscheiden hat, was denn wahr und gut ist, dann wird der eigentliche Unterschied zwischen gut und böse beseitigt. Es wird dann nicht mehr von der Sachwahrheit her unterschieden, was schändlich ist und was ehrbar, sondern es wird dies von der Meinung und vom Geschmack der Einzelnen abhängig: was gefällt, das ist auch erlaubt. Eine solche Sittenlehre hat in der Regel keine Macht zur Zurückdrängung und Beruhigung der stürmischen Leidenschaften: darum ist dabei der Weg zu jeglicher Verderbnis des Lebenswandels von selbst gebahnt. Im öffentlichen Leben aber löst sich die staatliche Gewalt von ihrer wahren und von der Natur gegebenen Grundlage, auf der ihre gesamte Macht zur Förderung des allgemeinen Wohles beruht: es ist dann der Wille der Volksmehrheit, welchem die gesetzliche Entscheidung zusteht über das, was zu tun oder zu lassen ist - das ist der Weg abwärts zur Tyrannenherrschaft.

Wenn einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den Menschen und über die Gemeinschaft der Menschen geleugnet ist, dann gibt es folgerichtig auch keine öffentliche Religion, und alle religiösen Angelegenheiten werden in höchstem Maß vernachlässigt. Auf ihre vermeintliche Souveränität gestützt, ist die (Volks-)Menge stets zu Unruhen und Aufruhr geneigt. Wenn Pflicht und Gewissen dahin sind, so bleibt zu deren Zügelung nur noch die Gewalt übrig: diese aber ist für sich allein nicht imstande, die Begierden des Volkes in Schranken zu halten. Dies beweist zur Genüge der tägliche Kampf gegen die „Sozialisten“ und andere aufrührerische Rotten, die sich schon längst daran gemacht haben, die Gesellschaft von Grund aus zu zerstören. Wer die Sache vorurteilsfrei erwägt, der möge entscheiden, ob solche Lehren die wahre und menschenwürdige Freiheit fördern, oder diese vielmehr umstürzen und vollständig vernichten.

Es ist gewiß, daß nicht alle Anhänger des „Liberalismus“ solche Ansichten teilen: denn diese sind an sich so ungeheuerlich, daß sie Furcht einjagen, sowie offenkundig falsch und Ursachen der größten Übel sind. Durch die Macht der Wahrheit gezwungen, scheuen viele unter ihnen nicht vor dem Geständnis zurück, ja sie bekennen es sogar offen: das sei eine falsche Freiheit, die in Zügellosigkeit ausarte, wenn sie unter Mißachtung der Wahrheit und Gerechtigkeit immer maßloser zu werden wage. Daher müsse sie unter der Führung und Leitung der gesunden Vernunft stehen und eben darum in notwendiger Folgerung dem natürlichen Recht und dem ewigen Gesetz untergeben sein. Hierbei meinen sie nun, stehenbleiben zu müssen: sie leugnen, daß der freie Mensch auch solchen Gesetzen unterworfen sein müsse, welche GOTT auf einem anderen Wege, über die natürliche Vernunft hinaus, gegeben hat. –

Doch eben dadurch geraten sie in Widerspruch mit sich selbst. Denn wenn wir - wie sie selbst es eingestehen und niemand es mit Recht leugnen kann - dem Willen Gottes, des Obersten Gesetzgebers, zu gehorchen haben, da der Mensch vollständig in Gottes Hand ist und zu GOTT hinstrebt, so folgt daraus, daß niemand Seiner gesetzgebenden Autorität in Bezug auf deren Maß und Umfang Vorschriften machen kann, ohne dadurch den schuldigen Gehorsam zu verletzen. Ja, wenn der menschliche Geist es sich herausnimmt, selbst bestimmen zu wollen, welche und wie groß die Rechte Gottes, welche Seine Aufgaben sind: dann hat er die Ehrfurcht vor Gottes Geboten nur noch dem Schein nach und nicht in Wirklichkeit, und an die Stelle der Autorität und Vorsehung Gottes tritt sein eigenes Gutdünken. –

Darum muß das Ewige Gesetz mit unverbrüchlicher Ehrfurcht als Regel für das Leben anerkannt werden, und von diesem (Ewigen Gesetz) her auch alle jene Gesetze, die GOTT in Seiner unendlichen Weisheit und Macht auf irgendeinem von IHM gewählten Weg gegeben hat, und die wir an klaren und in keiner Weise anzweifelbaren Merkmalen erkennen. Dies gilt um so mehr, weil diese Art von Gesetzen - da sie denselben Ursprung und denselben Urheber hat wie das Ewige Gesetz - im vollsten Einklang mit der Vernunft steht und das natürliche Recht durch sie vervollkommnet wird. Diese Art von Gesetzen enthält nämlich eine von GOTT selbst gegebene Lehre: ER lenkt und leitet ja unseren Geist und Willen, damit diese sich nicht verirren. So möge denn heilig und unverletzlich geeint bleiben, was man nicht trennen kann noch soll, und in allen Stücken hingebender Gehorsam GOTT geleistet werden, wie es schon die natürliche Vernunft vorschreibt.

Etwas gemäßigter in ihren Anschauungen, aber nicht weniger sich selbst widersprechend sind jene, welche in den Gesetzen Gottes wohl die Regel für das sittliche Leben der Einzelnen anerkennen, nicht aber für das des Staates. Nach ihrer Meinung kann man in Staatsangelegenheiten ohne Unrecht von Gottes Geboten abweichen, und man hat bei der Gesetzgebung in keiner Weise auf dieselben Rücksicht zu nehmen. Hieraus ergibt sich der verderbliche Folgesatz: zwischen Staat und Kirche müsse eine Trennung eintreten.

Doch die Ungereimtheit einer solchen Behauptung ist nicht schwer zu erkennen. Liegt es ja doch in der Natur der Gesellschaft, daß sie ihren Bürgern Mittel und Wege zu einer sittlich guten Lebensführung, nämlich gemäß den Gesetzen Gottes, bietet: denn ER ist die Quelle alles sittlichen Gut-Seins und aller Gerechtigkeit.

Es wäre doch der offenkundigste Widerspruch, wenn die Gesellschaft sich gerade um diese Gesetze nicht zu bekümmern hätte, ja wenn sie sogar Bestimmungen gegen dieselben treffen könnte. Es gehört außerdem auch dies zu den Pflichten des Staatsoberhauptes gegenüber dem Volk: nicht bloß für das zeitliche Wohl und die äußeren Angelegenheiten, sondern ganz besonders durch weise Gesetze für die geistigen Güter Sorge zu tragen. Nichts aber ist derart geeignet, diese zu fördern, als die von GOTT gegebenen Gesetze; daher bewirken diejenigen, welche in der Lenkung der Staaten die Gesetze Gottes unberücksichtigt lassen, ein Abirren der Regierungsgewalt von deren wahrer, von der Natur selbst geforderten Aufgabe. –

Doch noch wichtiger ist, was Wir auch mehr als einmal hervorgehoben haben, jenes wechselseitige Entgegenkommen der beiden Gewalten, das zuweilen stattfinden muß; obgleich der nächste Zweck der staatlichen Gewalt ein anderer ist, und dieselbe auch auf andere Art wirksam ist, als es bei der geistlichen Gewalt der Fall ist. Denn beide Gewalten haben ja dieselben Untergebenen, und nicht selten kommt es vor, daß beide Gewalten über die nämlichen Gegenstände entscheiden, wenn auch nicht vom gleichen Gesichtspunkt aus. Jeder Widerstreit (zwischen beiden) ist unvernünftig und widerspricht offen dem höchst weisen Willen Gottes. Daher muß, sooft sich dieser Fall ereignet, eine bestimmte Norm und Regel gegeben sein, durch welche die Ursachen des Zwiespaltes und Streites beseitigt werden und ein einmütiges Zusammenwirken ermöglicht wird. Man hat diese Eintracht nicht unrichtig mit der Verbindung zwischen Seele und Leib verglichen. Diese ist beiden zum Nutzen. Tritt deren Trennung ein, dann ist dieselbe verderbenbringend, namentlich für den Leib: denn sie löscht dessen Leben aus.

Zur größeren Klarheit müssen daher die verschiedenen Arten von Freiheit, wie man sie als Forderung unserer fortgeschrittenen Zeit aufstellt, im einzelnen betrachtet werden.

Beginnen Wir zuerst mit dem, was man für jede einzelne Person fordert und was so sehr der Tugend der Religion widerspricht: die sogenannte „Freiheit des Kultus“ . Dies ist der Grundgedanke, worauf diese beruht: Jeder Einzelne habe freie Hand, irgendeine beliebige Religion oder auch überhaupt keine zu bekennen. - Hingegen ist ohne allen Zweifel die größte und heiligste unter allen Pflichten der Menschen diejenige, welche den Menschen Frömmigkeit und Gottesverehrung gebietet. Dies folgt notwendig daraus, daß wir uns immerdar unter Gottes Gewalt befinden und von Gottes Willen und Vorsehung gelenkt werden; von IHM sind wir ausgegangen und zu IHM müssen wir zurückkehren. Hierzu kommt, daß es wahre Tugend ohne Religion nicht geben kann. Es ist darum die Religion eine sittliche Tugend, deren Pflichten sich auf alles das beziehen, was zu GOTT führt, insofern ER für den Menschen das letzte und höchste Gut ist. Darum steht die Religion, welche direkt und unmittelbar sich in dem betätigt, was auf Gottes Ehre hingeordnet ist , an der Spitze aller Tugenden, und diese empfangen ihre Leitung durch sie.

Fragt man aber, welcher von den verschiedenen und einander widersprechenden Religionen wir zu folgen haben, so weist uns ohne Zweifel schon die natürliche Vernunft zu jener einen hin, welche GOTT angeordnet und welche Seine Vorsehung durch sichere äußere Merkmale ausgezeichnet hat. Daran können alle Menschen sie leicht erkennen: denn ein Irrtum in einer Frage von solcher Bedeutung wäre von den verhängnisvollsten Folgen. Eine „Freiheit“ in dem eben genannten Sinn würde daher dem Menschen die Befugnis zugestehen, seine heiligste Pflicht ungestraft zu verletzen und ihr untreu zu werden, und sich von dem unwandelbaren Guten abzukehren und zum Bösen hinzuwenden. Dies ist aber, wie Wir gesagt haben, nicht Freiheit, sondern Entstellung der Freiheit, sowie eine schmähliche Knechtschaft der Seele unter der Sünde.

Wenn wir eben diese „Freiheit“ im Zusammenhang mit dem Staatsleben betrachten, so hätte ihr gemäß der Staat keinen Grund, in irgend einer Weise GOTT öffentlich zu verehren oder dessen Verehrung zu wollen; er hätte keine Religion zu bevorzugen, sondern alle müßten als gleichberechtigt betrachtet werden - ohne jedwede Rücksicht auf das Volk, selbst dort nicht, wo das Volk die katholische Religion bekennt. - Dies könnte nur unter der Voraussetzung wahr sein, daß die Vereinigung der Menschen zum Staat gegenüber GOTT keine Pflichten hat oder sich ungestraft von denselben lossagen kann: beides aber ist offenbar falsch. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß der Zusammenschluß der Menschen untereinander zur (bürgerlichen) Gesellschaft im Willen Gottes gründet, sei es, daß wir ihre Pflichten betrachten, sei es ihre (Wesens-)Form, nämlich die Autorität, sei es ihre (Wesens-)Ursache, oder seien es die vielen und großen Vorteile, die sie dem Menschen bringt. GOTT ist es, der den Menschen für das gemeinsame Leben geschaffen und in den Verband von Wesen gleicher Art hineingesetzt hat, damit er in der Vereinigung empfange, was seine Natur fordert und was er für sich allein nicht hätte erreichen können. Darum hat die bürgerliche Gesellschaft, gerade weil sie Gesellschaft ist, GOTT als ihren Vater und Urheber anzuerkennen und IHM als ihrem Herrn und Gebieterin Ehrfurcht zu dienen. Ein Staat ohne GOTT, oder auch - was schließlich auf dasselbe hinausläuft - ein Staat, der, wie man sich ausdrückt, sich gegen alle Religionen gleich-gültig verhält und diese ohne Unterschied als gleich-berechtigt anerkennt stellt sich in Gegensatz zur Gerechtigkeit und zur Vernunft.

Weil daher für den Staat das Bekenntnis zu einer einzigen Religion notwendig ist, darum hat er sich zu der allein wahren Religion zu bekennen. Diese als solche zu erkennen, namentlich in katholischen Staaten, bietet keine Schwierigkeit, da sie die Merkmale der Wahrheit offen an sich trägt. Einsichtsvolle Staatsmänner, welche an der Spitze der Regierung stehen, haben diese Religion daher zu erhalten und sie zu schützen: wenn es ihnen, wozu sie verpflichtet sind, darum zu tun ist, in kluger und zweckdienlicher Weise das Wohl der Bürger zu fördern. Denn die öffentliche Gewalt ist ja zum Wohl der Untertanen eingesetzt. Und obgleich ihr nächster Zweck die Aufgabe ist, das Glück des Lebens im Diesseits zu fördern, so soll sie doch dem Menschen die Erreichung jenes höchsten und letzten Gutes, in dem die ewige Glückseligkeit des Menschen besteht, nicht erschweren, sondern vielmehr erleichtern: unter Geringschätzung der Religion kann er aber dorthin nicht gelangen.

Doch alles das haben Wir bereits früher eingehender besprochen. Für jetzt wollen Wir nur bemerken, daß eine solche „Freiheit“ sowohl für die Regierenden als auch für die Regierten äußerst schädlich ist. Dagegen bringt die Religion einen ungemeinen Nutzen: sie führt ja den ersten Ursprung aller Gewalt auf GOTT selbst zurück, und sie gebietet mit größtem Ernst den Staatenlenkern, daß sie ihrer Pflichten eingedenk seien, keine ungerechten und harten Gebote geben, mit Milde und gewissermaßen mit der Liebe eines Vaters ihren Völkern vorstehen. Ebenso fordert die Religion von den Bürgern, daß sie der rechtmäßigen Gewalt als Gottes Dienern untergeben seien. So verknüpft sie Regierung und Regierte nicht bloß durch das Band des Gehorsams, sondern auch durch das der Ehrfurcht und Liebe. Sie verbietet den Aufruhr und alle Unternehmungen, welche geeignet sind, die öffentliche Ordnung und Ruhe zu stören, und welche gerade darum Anlaß geben zu einer größeren Einschränkung der bürgerlichen Freiheit. Wie viel die Religion zur Förderung der guten Sitten beiträgt, und wie viel die guten Sitten zur Freiheit, das wollen Wir hier nicht erwähnen. Denn die Vernunft beweist es, und die Geschichte bestätigt es. Ein Staat ist um so freier, reicher und mächtiger, je sittlich hochstehender er ist.

Die „Rede-“ und die unbeschränkte „Pressefreiheit“ soll hier gleichfalls in Kürze besprochen werden. Daß eine solche regellose, jedes Maß und alle Schranken überschreitende „Freiheit“ keinen Rechtsanspruch darstellt, brauchen Wir kaum zu sagen. Denn „Recht“ bezieht sich auf die Erlaubtheit von etwas sittlich Gutem. Wie Wir schon öfters erklärt haben und noch öfter erklären müssen, ist daher die Behauptung ungereimt, als sei (das Recht) von Natur aus der Wahrheit und der Lüge, der Sittlichkeit und dem Laster gemeinsam und ohne Unterschied gegeben. Was wahr ist und was gut ist: das hat ein Recht darauf, sich in weiser Freiheit in der Gesellschaft auszubreiten, damit es zu recht vielen gelange. Dagegen werden lügenhafte „Meinungen“, diese größte Pest des Geistes, und Laster, welche den Charakter und die Sitten verderben, mit Recht von der Obrigkeit sorgfältig niedergehalten, damit sie nicht zum Schaden der Allgemeinheit um sich greifen.

Es ist das Rechte, daß durch die Autorität der Gesetze die Irrtümer eines ausschweifenden Geistes, welche fürwahr eine Unterdrückung gegen das unerfahrene Volk sind, ebenso in Schranken gehalten werden, wie ein durch offene Gewalttat an Schwächeren verübtes Unrecht. Und dies um so mehr, weil der bei weitem größere Teil der Bevölkerung vor den Scheingründen und Trugschlüssen, zumal wenn dieselben den Begierden schmeicheln, sich entweder gar nicht oder nur sehr schwer zu schützen imstande ist. Bei Zulassung einer schrankenlosen „Rede- und Pressefreiheit“ wird nichts mehr heilig und unverletzt bleiben; nichts wird dann geschont, nicht einmal jene obersten und höchst wahren Urteile unserer Natur, in denen gleichsam das Menschengeschlecht ein gemeinsames und höchst edles Erbe besitzt. Auf diese Weise tritt allmählich eine Verdunklung der Wahrheit ein, und - wie dies häufig geschieht - gewinnen verderbliche Meinungsirrtümer vielfacher Art leicht die Oberhand. Die Zügellosigkeit wird dadurch in demselben Maß gefördert, als die Freiheit Schaden leidet; während umgekehrt die Freiheit desto größer und gesicherter ist, je mehr die Zügellosigkeit gebändigt wird.

Wo es sich hingegen um Dinge handelt, über die man verschiedener Meinung sein kann, welche GOTT dem Menschen anheimgestellt hat, diese zu untersuchen: so mag wohl ein jeder davon halten, was ihm das Beste zu sein dünkt, und ungehindert aussprechen was er denkt. Dies ist nicht unnatürlich: denn eine Freiheit dieser Art verleitet den Menschen niemals zur Unterdrückung der Wahrheit, leitet ihn aber oftmals dazu, sie zu entdecken und ans Licht zu bringen.

Ein gleiches gilt auch bezüglich der sogenannten „Lehrfreiheit“. - Da es keinem Zweifel unterliegen kann, daß einzig die Wahrheit die Geister erfüllen soll, in welcher die Verstandeswesen das ihnen entsprechende Gute, ihr Ziel und ihre Vollendung finden, so soll auch der Unterricht nur die Wahrheit lehren, mag er sich nun an Unwissende oder an Wissende wenden: für erstere, um sie ihnen mitzuteilen; für letztere, um sie darin zu befestigen. Darum ist es die ausdrückliche Pflicht des Lehrers, die Geister vom Irrtum zu befreien und sie falschen Meinungen gegenüber durch feste Grundsätze zu schützen. Hieraus wird klar, wie unvernünftig diese oben genannte „Freiheit“ ist, und so recht geeignet, die Geister von Grund aus zu verdrehen: wenn nämlich jeder glaubt, nach Belieben alles was ihn dünkt lehren zu dürfen. Eine solche Zügellosigkeit kann die Staatsgewalt ohne Pflichtverletzung den Bürgern nicht gewähren. Und dies um so weniger, da die Autorität des Lehrers einen großen Einfluß auf die Zuhörer übt, und der Schüler für sich allein nur sehr selten imstande ist, zu prüfen, ob sein Lehrer Wahrheit oder Irrtum vorträgt.

Wenn darum diese Freiheit sittlich gut sein soll, dann muß sie sich auch innerhalb fester Grenzen bewegen, damit die Kunst des Lehrens nicht ungestraft zu einem Werkzeug des Verderbens verkehrt wird. - Der Lehrer hat einzig und allein die Wahrheit zu lehren. Diese hat zwei Arten: die eine gehört der natürlichen Ordnung, die andere der übernatürlichen an. Die natürlichen Wahrheiten, wie die obersten Sätze der natürlichen Vernunft und die unmittelbaren Folgerungen daraus, bilden gewissermaßen das gemeinsame Erbgut des Menschengeschlechtes. Hierauf, auf dieser festesten Grundlage, beruht die Sittlichkeit, die Gerechtigkeit, die Religion; ja selbst das Verbundensein der menschlichen Gesellschaft. Es würde darum nichts frevelhafter und törichter sein und mehr die menschliche Natur verletzen, als die Schädigung und Zerstörung desselben straflos zuzulassen. Mit nicht geringerer Gottesfurcht aber ist der hochheilige und kostbare Schatz aller der Güter zu bewahren, zu deren Erkenntnis wir von GOTT direkt belehrt werden. Durch viele und lichtvolle Beweise pflegen die Fundamentaltheologen bestimmte Grundwahrheiten festzustellen, wie: die Existenz einer Göttlichen Offenbarung; die Menschwerdung des Eingeborenen Sohnes Gottes zum Zeugnis für die Wahrheit; die Einsetzung der Kirche als einer vollkommenen Gesellschaft, deren Haupt ER selbst ist und mit der ER bis ans Ende der Zeiten zu bleiben verheißen hat. Dieser Gesellschaft hat ER alle von IHM gelehrten Wahrheiten anvertraut, und dabei bestimmt, daß sie dieselben bewahre, schütze und kraft rechtmäßiger Autorität auslege. Zugleich hat ER allen Völkern geboten, auf Seine Kirche zu hören genau so wie auf IHN selbst. Wer dies nicht tue, werde auf ewig verlorengehen.

So ist es denn völlig klar, daß der Mensch an GOTT seinen besten und unfehlbaren Lehrer hat, der die Quelle und der Ursprung aller Wahrheit ist; und an Seinem Eingeborenen Sohn, der im Schoß des Vaters ist: der Weg, die Wahrheit, das Leben; das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt; auf dessen Lehre alle zu hören haben: Und sie werden alle von Gott belehrt sein. - In Fragen des Glaubens und der Sitten aber hat GOTT die Kirche zur Teilhabe an Seinem Göttlichen Lehramt berufen und durch Seinen göttlichen Schutz mit der Wohltat der Unfehlbarkeit ausgestattet. Darum ist sie die höchste und sicherste Lehrerin der Sterblichen und hat ein unantastbares Recht auf Freiheit ihres Lehramtes. In der Tat hatte die Kirche, die aus den von GOTT empfangenen Lehren ihre ganze Kraft schöpft, von altersher keine angelegentlichere Sorge, als daß sie die ihr von GOTT übertragene Aufgabe gewissenhaft erfülle. sie war stärker als alle ringsum sie umgebenden Hemmnisse und hat nie den Kampf für die Freiheit ihres Lehramtes aufgegeben. In solcher Weise hat die Kirche den Erdkreis von höchst abscheulichem Aberglauben befreit und ihn durch die Weisheit des Christentums wieder zu Kräften kommen lassen. –

Die Vernunft selbst aber ist es, die völlig Klarheit darüber gibt, daß zwischen den von GOTT geoffenbarten Wahrheiten und jenen der natürlichen Ordnung von der Sache her ein Widerspruch nicht eintreten kann. Darum muß, was immer mit jenen (von Gott geoffenbarten Wahrheiten) im Gegensatz steht, gerade deswegen auch notwendigerweise falsch sein. Deshalb steht das Lehramt der Kirche dem Geist der Forschung und dem wissenschaftlichen Gedeihen nicht nur nicht entgegen; auch ist sie keine Feindin der Bildung und des kulturellen Fortschrittes der Menschheit: sondern sie trägt sehr viel dazu bei, Licht zu verbreiten und dadurch Schutz und Sicherheit zu bewirken. Aus demselben Grund wird durch die Kirche die menschliche Freiheit wesentlich gefördert. Denn es ist das Wort Jesu Christi, des Retters, daß durch die Wahrheit der Mensch frei werde. Ihr werdet erkennen die Wahrheit, und die Wahrheit wird euch frei machen. - Jene gerechten und notwendigen Gesetze daher, welche für die Lehre der Menschen Schranken setzen und die von Kirche und Vernunft übereinstimmend gefordert werden, können für die wahre Freiheit keinen Grund zu Klage bilden und können der wahren Wissenschaft nicht beschwerlich werden.

Die Kirche hat hierbei, wie dies die Erfahrung überall beweist, zunächst und ganz besonders den Schutz des christlichen Glaubens im Auge; sie hat aber auch das Bestreben, jede Art von Wissenschaften zu pflegen und zu fördern. Denn die Korrektheit der Wissenschaften ist in sich etwas Lobenswertes und verdient es, daß man sich um sie bemühe. Was ferner die Gelehrsamkeit jedweder Art angeht, wie sie durch die gesunde Vernunft erworben wird und welche der Wirklichkeit der Dinge entspricht, so trägt diese nicht wenig zur Veranschaulichung dessen bei, was wir auf Grund der Göttlichen Offenbarung glauben. Es ist in der Tat die Kirche, der

wir solche großen Wohltaten verdanken: ruhmvoll hat sie den schriftlichen Nachlaß der Weisheit der Alten bewahrt; überall hat sie den Wissenschaften eine Heimstätte errichtet; immer hat sie die strebenden Geister angespornt, und mit größtem Eifer gerade die Künste gepflegt, die unserem gebildeten Zeitalter einen ganz besonderen Schmuck verleihen.

Auch dies soll schließlich nicht mit Stillschweigen übergangen werden: Es steht ein ungeheuer weites Feld für die menschliche Tätigkeit offen, auf welchem der natürliche Verstand sich unbeschränkt üben möge: in allen jenen Fragen nämlich, die mit der christlichen Glaubens- und Sittenlehre keinen notwendigen Zusammenhang haben, oder für welche die Kirche keine autoritative Entscheidung getroffen hat. Sie überläßt diese Fragen ohne Anwendung ihrer Autorität den Gelehrten zur freien Beurteilung. Diese mögen ohne einen Spruch von kirchlicher Seite ihre Untersuchungen darüber anstellen.

Aus dem Gesagten ergibt es sich, was von der Art von „Freiheit“ zu halten ist, welche die Anhänger des „Liberalismus“ mit gleichem Eifer anstreben und preisen. Auf der einen Seite dehnen sie dieselbe zwar für sich und das Staatswesen so weit aus, daß sie keine Bedenken tragen, jeder verkehrten Meinung Tür und Tor zu öffnen; andererseits legen sie der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg und schränken so viel als nur möglich deren Freiheit ein, obgleich die Lehre der Kirche nicht bloß keinerlei Anlaß bietet, einen Nachteil zu befürchten, sondern vielmehr nur große Vorteile von ihr zu erwarten sind.

Viel gefeiert wird auch die sogenannte „Gewissensfreiheit“. Wird diese so verstanden, daß ein jeder nach Belieben GOTT verehren oder auch nicht verehren kann, so ist sie durch das bereits oben Gesagte ausreichend widerlegt. - Sie kann aber auch in dem Sinne aufgefaßt werden, daß es dem Menschen in der staatlichen Gesellschaft erlaubt ist, nach dem Gebote seines Gewissens ungehindert Gottes Willen zu tun und Seine Befehle auszuführen. Dies ist die wahre und angemessene Freiheit, wie sie den Kindern Gottes zukommt. Sie beschützt die Würde der menschlichen Person in der edelsten Weise und ist erhaben über jeglichen Zwang und jede Gewalttat. Von jeher war sie der Kirche immer erwünscht und besonders teuer. Diese Art von Freiheit haben die Apostel standhaft für sich gefordert; diese haben die Verteidiger des Glaubens in ihren Schriften für unantastbar erklärt; diese hat die zahllose Schar der Märtyrer mit ihrem Blute geweiht. Mit vollem Recht: denn diese christliche Freiheit legt Zeugnis ab für die höchste und absolut gerechte Oberherrlichkeit Gottes über die Menschen, und ebenso für die erste und höchste Pflicht der Menschen gegen GOTT. Mit einer aufrührerischen und ungehorsamen Gesinnung hat sie nichts gemeinsam, und nichts liegt ihr ferner, als der öffentlichen Gewalt den Gehorsam verweigern zu wollen. Denn die menschliche Gewalt hat ja insoweit das Recht zu befehlen und Gehorsam für ihre Befehle zu verlangen, so weit sie mit der Göttlichen Gewalt nicht in Widerspruch tritt und sie sich in der ihr von GOTT gesetzten Ordnung bewegt. Wenn aber ein Befehl gegeben wird, der im offenen Widerstreit steht zum Willen Gottes, dann tritt ein Abfall von dieser Ordnung ein und zugleich ein Gegensatz zur Göttlichen Autorität: darum ist es recht, nicht zu gehorchen.

Die Anhänger des „Liberalismus“ dagegen, welche der weltlichen Gewalt eine herrische und unbegrenzte Machtvollkommenheit beilegen, und die das Leben ohne jede Rücksicht auf GOTT geführt wissen wollen, anerkennen durchaus nicht die von Uns besprochene Verbindung der Freiheit mit der Sittlichkeit und der Religion. Sie verleumden daher jede Maßregel zu deren Bewahrung als eine Rechtsverletzung und als ein Verbrechen gegen den Staat. Wenn dies wirklich so wäre, dann gäbe es keine noch so ungeheuerliche Herrschaft, der man sich nicht stillschweigend zu unterwerfen hätte.

Es ist der sehnlichste Wunsch der Kirche, daß diese von Uns im wesentlichen und in Kürze besprochenen Lehren in allen Zweigen des Staatswesens auch tatsächlich zur Anwendung kämen. Denn in ihnen ist das wirksame Heilmittel gegeben für die wahrhaft weder wenigen noch leichten Schäden unserer Zeit, die großteils die Früchte gerade dieser so hochgepriesenen Freiheiten sind, von denen man Heil und Ruhm erwartet hatte. Doch diese Hoffnungen hat das Ergebnis zuschanden gemacht: nicht süße und heilsame, sondern bittere und häßliche Früchte sind daraus hervorgewachsen. Will man ein Heilmittel haben, so kehre man wieder zu den gesunden Grundsätzen zurück, auf denen allein die Erhaltung der Ordnung ruht, und von denen wir mit Zuversicht einen Schutz der wahren Freiheit erwarten können.

Nichtsdestoweniger zieht die Kirche mit mütterlicher Einsicht die menschliche Schwäche in Erwägung, die so schwer ins Gewicht fällt; sie verkennt nicht die geistige Strömung der Gegenwart und unsere Zeitverhältnisse. Aus diesen Gründen erkennt sie zwar einzig und allein der Wahrheit und dem sittlich Guten ein Anrecht zu; aber sie erhebt nicht dagegen Einspruch, daß doch die Staatsgewalt so manches dulde, was weder wahr noch gerecht ist: entweder um ein noch größeres Übel zu vermeiden oder um Gutes zu erreichen oder zu bewahren. Duldet doch auch GOTT, obgleich ER unendlich gut und allmächtig ist, in Seiner höchst weisen Vorsehung Übles in der Welt: teils damit größere Güter nicht verhindert werden, teils damit sich nicht noch heftigere Übel ergeben. Es ist angemessen, daß der Lenker der Welt für die Lenkung der Staaten als Vorbild diene: da ja die menschliche Autorität nicht jedes einzelne Böse verbieten kann, so muß sie vieles einräumen und ungestraft lassen, was aber doch die Göttliche Vorsehung straft und das mit Recht . Jedoch, wenn unter solchen Umständen nebenbei und um des allgemeinen Wohles wegen, und bloß dessentwegen, das menschliche Gesetz etwas Böses dulden kann oder gar soll, so kann und soll dennoch das Gesetz das Böse nicht gutheißen oder es als solches wollen. Denn das Böse als solches ist eine Beraubung des Guten und steht demnach im Gegensatz zum allgemeinen Wohl: und dieses hat ja der Gesetzgeber auf die beste ihm mögliche Weise anzustreben und zu beschützen. Auch in dieser Beziehung hat das menschliche Gesetz GOTT nachzuahmen, „der zwar das Böse in der Welt zuläßt, aber ER will dabei weder, daß Böses geschehe, noch will ER, daß es nicht geschehe; aber ER will es zulassen, daß Böses geschehe: und dies ist gut“ . Dieser Satz des Engelgleichen Lehrers enthält in aller Kürze die ganze Lehre von der Duldung des Bösen.

Wenn man jedoch diese Frage richtig beurteilen will, so muß man gestehen: Ein Staatswesen entfernt sich um so weiter von seinem Ideal, je mehr es notwendig ist, im Staat das Böse zu dulden. Außerdem muß diese Duldung des Bösen, da sie eine Maßregel der politischen Klugheit ist, durchaus im Rahmen des letzten Zweckes des Staatslebens, das heißt dem heilvollen Allgemeinzustand, ihre Grenze finden. Sollte sie daher dem heilvollen Allgemeinzustand Schaden bringen und sollte das Böse im Staat dadurch nur noch größer werden, so ist es folgerichtig nicht gestattet, sie zu gewähren, weil unter solchen Verhältnissen nichts Gutes erreicht wird. Wenn es aber vorkommt, daß wegen besonderer Staats- und Zeitverhältnisse die Kirche zu gewissen modernen „Freiheiten“ allmählich stillschweigt - nicht als ob sie dieselben an sich vorzöge, sondern weil sie deren Überlassung für zweckmäßig hält - so würde sie mit Gewißheit beim Eintritt besserer Zeiten von ihrer Freiheit Gebrauch machen und durch Mahnung, Warnung, inständiges Bitten pflichtgemäß dahin streben, daß sie ihr von GOTT angewiesenes Amt erfülle: nämlich die Sorge für das ewige Heil der Menschen.

Das bleibt jedoch für immer wahr: daß eine allgemeine, unterschiedslos gewährte „Freiheit“, wie Wir des öfteren hervorgehoben haben, an sich nicht zu erreichen gesucht werden darf denn es widerspricht der Vernunft, daß das Falsche gleiches Recht haben soll wie das Wahre.

Und was besonders die Toleranz betrifft, so ist es zum Staunen, wie weit die Anhänger des „Liberalismus“ von jenem gerechten Maß und jener Klugheit, so wie wir sie bei der Kirche sehen, entfernt sind. Indem sie nämlich den Bürgern in all den oben erwähnten Fragen eine schrankenlose „Freiheit“ gestatten, überschreiten sie alles Maß; und sie kommen zuletzt dahin, daß ihnen Wahrheit und gute Sitten nicht mehr zu gelten scheinen als Falschheit und Schändlichkeit.

Dagegen klagen sie die Kirche, die Säule und Grundfeste der Wahrheit und unbestechliche Lehrerin der reinen Sitten, wegen Unduldsamkeit und Härte an: weil diese, ihrer Pflicht gemäß, diese zügellose und schmähliche Art von „Toleranz“ standhaft zurückweist und ihre Gewährung für unerlaubt erklärt. Wenn sie das tun, dann merken sie dabei gar nicht, daß sie etwas Lobenswertes als Fehler bezeichnen. Aber obgleich sie sich so sehr wegen ihrer „Toleranz“ rühmen, sind sie in Wirklichkeit damit nicht selten sparsam und geizig den Katholiken gegenüber; und dieselben Leute, die für jedermann ohne Unterschied verschwenderisch „Freiheit“ haben, weigern sich überall, der Kirche deren Freiheit zu lassen.

Fassen Wir nun Unsere ganze Rede zugleich mit den sich daraus ergebenden Folgerungen in ihren wesentlichen Punkten der Deutlichkeit halber kurz zusammen. Der Grundgedanke ist dieser: Jeder Mensch steht höchst wirklich und immerwährend in der Gewalt Gottes. Darum ist eine menschliche Freiheit, die nicht GOTT unterworfen und Seinem Willen nicht untergeben wäre, durchaus undenkbar. Die Existenz dieser Oberherrlichkeit Gottes zu leugnen oder sie nicht dulden zu wollen: das ist nicht Sache des freien Menschen, sondern dessen, der seine Freiheit zur Empörung mißbraucht. Und aus einer solchen Geistesrichtung entwickelt sich und in ihr besteht der Grundfehler des „Liberalismus“. Dieser hat jedoch verschiedene Formen. Es kann eben der Wille in verschiedener Weise sowie in unterschiedlichem Grad den Gehorsam untreu werden, welcher GOTT, oder jenen, welchen GOTT an Seiner Gewalt Anteil gab, gebührt.

Die Oberherrlichkeit Gottes des Allerhöchsten von Grund aus zurückzuweisen und jeden Gehorsam vollständig zu verweigern, sowohl in den öffentlichen Angelegenheiten, wie auch im privaten und häuslichen Leben: das ist die größte Verdrehung der Freiheit und darum zugleich auch die schlechteste Art des „Liberalismus“. Von dieser Art gilt daher ganz und gar, was Wir bis jetzt degegen gesagt haben.

Nahe damit verwandt ist die Lehre jener, welche allerdings die Anerkennung der Oberherrlichkeit Gottes, unseres Schöpfers und Herrn, als notwendig zugeben, da ja auf Seinem mächtigen Willen die ganze Naturordnung ruht; aber die Gesetze des Glaubens und der Sitte, welche übernatürlich sind und von GOTT geoffenbart, weisen sie keck zurück, oder sie meinen wenigstens: es sei, besonders im Staatsleben, kein Grund vorhanden, auf dieselben Rücksicht zu nehmen. Wie sehr auch sie im Irrtum sind und im Widerspruch mit sich selbst, haben wir oben gesehen. Diese Lehre bildet den Haupt- und Grundgedanken, auf welchem jener verderbliche Satz über die „Trennung der Kirche vom Staat“ ruht; und doch ist es sonnenklar, daß beide Gewalten, obwohl sie in ihrer Aufgabe verschieden und nicht gleicher Würde sind, doch einträchtig zusammenwirken und wechselseitig einander in Übereinstimmung Dienste leisten sollen.

In dieser Frage hat sich eine mehrfache Meinung gebildet.

Erstens: Mehrere nämlich wollen den Staat ganz und vollständig von der Kirche trennen, und zwar so, daß gemäß ihrer Meinung in allen Rechtsverhältnissen des öffentlichen Lebens, in den Institutionen, Sitten, Gesetzen, Staatsämtern und im Jugendunterricht die Kirche vollständig unbeachtet zu bleiben hat, gleich als ob sie überhaupt nicht existieren würde. Höchstens ist es den einzelnen Bürgern gestattet, wenn es ihnen gut dünkt, die Religion privat zu üben. - Diesen gegenüber gilt das ganze Gewicht aller Gründe, mit denen Wir die Meinung widerlegt haben, es seien die „Angelegenheiten der Kirche und des Staates vollständig zu trennen“; nur kommt noch hinzu, daß es höchst ungereimt ist, daß der einzelne Staatsbürger der Kirche Ehrfurcht erzeigen soll, der Staat als Ganzes sie aber verachten dürfe.

Zweitens: Andere bestreiten die Existenz der Kirche nicht: dies wäre ihnen eben nicht möglich, aber sie entreißen ihr den Charakter einer „vollkommenen Gesellschaft“ (societas perfecta), sowie die einer solchen vom Ursprung her zukommenden Rechte. Es komme der Kirche nicht zu, so behaupten sie, Gesetze zu geben, Urteile zu fällen, Strafen zu verhängen; sondern die Kirche habe nur Mahnungen, Ratschläge und Richtlinien denen zu geben, die aus eigenem Antrieb und freiwillig sich ihr unterworfen haben. - Durch diesen Wahn wird das Wesen dieser göttlichen Gesellschaft entstellt, deren Autorität, deren Lehramt und deren gesamte Wirksamkeit geschwächt und beschränkt; zugleich wird die Machtsphäre der weltlichen Gewalt so weit ausgedehnt, daß die Kirche Gottes, nicht anders als irgendeiner der „freien“ Vereine der Bürger, der Herrschaft und Gewalt des Staates unterworfen wird.

Diese werden widerlegt durch die Beweisgründe, welche die Apologeten zu gebrauchen pflegen, und die auch Wir, namentlich in Unserem Rundschreiben Immortale Dei hervorgehoben haben. Aus diesen folgt, daß nach Gottes Anordnung die Kirche alles das besitzt, was zum Wesen und zu den Rechten einer rechtmäßigen, höchsten und allseitig „vollkommenen Gesellschaft“ gehört.

Drittens: Viele endlich billigen eine Trennung von Kirche und Staat nicht; doch hat man nach ihrem Dafürhalten dahin zu wirken, daß die Kirche im Sinne der Zeit sich allem dem beugt und sich anpaßt, was die heutige Staatsklugheit in politischen Fragen verlangt. Diese Ansicht ist dann sittlich gut, wenn sie in einer richtigen Weise verstanden wird, welche mit der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht in Widerspruch tritt. Die Kirche zeigt sich ja nachgiebig und gestattet gemäß den Zeitumständen im Hinblick auf irgendein großes Gutes so manches, was ohne Verletzung ihrer heiligen Pflicht geschehen kann. Anders aber liegt die Frage, wenn es sich um Gegenstände und Lehren handelt, durch welche die Entartung der Sitten und ein falsches Urteil gegen das Göttliche Recht verursacht wurden. Nie kann eine Zeit kommen, welche der Religion, der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht mehr bedarf. Diese höchsten und heiligsten Güter stehen nach Gottes Gebot in der Obhut der Kirche; und darum ist nichts so irrig als die Meinung, die Kirche solle Falsches oder Unrecht stillschweigend erdulden; oder sie solle dem gegenüber die Augen schließen, was die Religion schädigt.

So folgt denn aus dem Gesagten, daß es keineswegs erlaubt ist, „Freiheit“ für die Meinungsbildung, (für deren) schriftliche Ausarbeitung, für deren Weitergabe im Unterricht, sowie „unterschiedslose Freiheit der Religionen“ zu fordern, zu verteidigen und zu gewähren, so als wären alle diese „Freiheiten“ von der Natur gegebne „Menschenrechte“. Denn wären dieselben wirklich von der Natur gegeben, dann gäbe es ein „Recht“ zur Ablehnung von Gottes Oberherrlichkeit, und die menschliche Freiheit würde durch keinerlei Gesetz maßvoll geordnet werden können.

Desgleichen folgt hieraus, daß man diese verschiedenen Arten von „Freiheit“ aus gerechten Gründen zwar duldend ertragen kann: jedoch mit der begrenzenden Einschränkung, daß sie nicht in Ausschweifung und Zügellosigkeit ausarten. - Wo aber diese „Freiheiten“ gewohnheitsmäßig bestehen, dort sollen die Bürger dieselben dazu gebrauchen, recht zu handeln; und die Bürger sollen in ihrem Urteil über diese „Freiheiten“ die Anschauung, welche die Kirche über dieselben hat, zu der ihrigen machen. Jegliche Freiheit ist nämlich so weit als rechtmäßig zu erachten, als durch sie mehr Möglichkeit zum sittlich Guten dargeboten wird - niemals aber darüber hinaus.

Wo die Regierung einen derartigen Druck auf die Bürgerschaft ausübt, daß diese schwer leidet unter ungerechter Gewalt, oder wo die Regierung der Kirche die ihr gebührende Freiheit versagt: da ist es sittlich gut, nach einer anderen Beschaffenheit des Staates zu suchen, welche eine Betätigung in Freiheit gestattet; denn dann geht das Streben nicht nach jener maßlosen und lasterhaften Freiheit“, sondern man sucht nur nach einer Erleichterung im Interesse aller; und es geschieht dies dann einzig und allein deswegen, damit nicht die Möglichkeit, das Gute zu tun, dort genommen ist, wo für das Böse zügellose „Freiheit“ besteht.

Auch ist es an sich kein Unrecht, einer volksfreundlich gemäßigten Staatsform den Vorzug zu geben, unter der Bedingung, daß dabei die katholische Lehre vom Ursprung und der Handhabung der öffentlichen Gewalt bestehen bleibt. Die Kirche verwirft eben keine von den verschiedenen Arten und Weisen des Staates, wenn sie nur an sich dem Wohl der Bürger förderlich sind; aber sie will, wie es auch die Natur ausdrücklich gebietet, daß dieselben ohne irgendwelche Rechtsverletzung und besonders unter voller Wahrung der kirchlichen Rechte festgesetzt werden.

Es ist sittlich ehrbar, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, wenn nicht irgendwo im Hinblick auf besondere Sach- und Zeitverhältnisse eine andere Bestimmung getroffen wird; ja, die Kirche heißt es gut, daß ein jeder sich bemüht für das gemeinsame Beste, und nach Kräften das Seine beiträgt zum Schutz, zur Erhaltung und zum Gedeihen des Staates.

Auch das stellt die Kirche nicht als Verpflichtung auf, daß ihre Angehörigen keinem Außenstehenden und keinem (kirchenfremden) Herrscher zu dienen wünschen: vorausgesetzt, daß solches ohne jede Verletzung der Gerechtigkeit geschehen kann. - Außerdem tadelt sie auch jene nicht, die bewirken wollen, daß die Gemeinwesen nach ihren Gesetzen leben und die Bürger den größtmöglichen Spielraum zur Mehrung ihres Wohles finden. Stets war es die Kirche gewohnt, der Entwicklung der bürgerlichen, mit Maßhaltung verbundenen Freiheiten überaus treu zur Seite zu stehen. Dies bezeugen ganz besonders die italienischen Städte: deren Munizipalverfassung gab ihnen einen hohen Aufschwung, Reichtümer und Ruhm zu einer Zeit, da der heilsame Einfluß der Kirche ungehindert alle Ordnungen des Staatswesens durchdrungen hatte.

Wir vertrauen, Ehrwürdige Brüder, daß das, was Wir jetzt auf Grund des Glaubens und der Vernunft kraft Unseres Apostolischen Amtes gelehrt haben, zukünftig fruchtbringend werde für sehr viele, zumal wenn Ihr eure Bestrebungen mit Uns vereinigt.

Wir aber heben mit demütigem Herzen hilfeflehend Unsere Augen auf zu GOTT, IHN inständig bittend, daß ER in reichem Maß das Licht Seiner Weisheit und Seines Rates über die Menschen gnädig ausgießen wolle: auf daß sie, von diesen Tugenden beseelt, in diesen so hochwichtigen Fragen das Wahre erkennen und als Folge hiervon übereinstimmend mit der Wahrheit im privaten und im öffentlichen Bereich jederzeit mit unerschütterlicher Standhaftigkeit leben.

Als Vorboten dieser himmlischen Güter und zum Zeugnis Unseres Wohlwollens erteilen Wir Euch, Ehrwürdige Brüder, und dem Euch untergebenen Klerus und Volk von ganzem Herzen den Apostolischen Segen im Herrn.

Gegeben zu Rom beim heiligen Petrus, den 20. Juni des Jahres 1888, des elften Unseres Pontifikates.

Papst Leo XIII.