Kompendium der Soziallehre der Kirche 2004: Unterschied zwischen den Versionen

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
(links)
(wlink)
Zeile 2.254: Zeile 2.254:
 
= Weblinks =
 
= Weblinks =
 
* [http://www.kathtube.com/player.php?id=48119 Das Kompendium als Worddokument] bei [[Kathtube]]
 
* [http://www.kathtube.com/player.php?id=48119 Das Kompendium als Worddokument] bei [[Kathtube]]
 +
* [https://www.iupax.at/dl/lsppJmoJmMMJqx4KJKJmMJMnMM/Kompendium_der_Soziallehre.pdf Das Kompendium als pdf] bei www.iupax.at
  
 
[[Kategorie:Lehramtstexte (Wortlaut)]]
 
[[Kategorie:Lehramtstexte (Wortlaut)]]

Version vom 1. Juli 2020, 14:41 Uhr

Kompendium der Soziallehre der Kirche

Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden

(Quelle: herausgegeben von der Katholischen Sozialakademie Österreichs: www.sozialkompendium.org)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG EIN UMFASSENDER UND SOLIDARISCHER HUMANISMUS

a) An der Schwelle des dritten Jahrtausends

1 Die Kirche, das pilgernde Volk, betritt, von Christus, dem „erhabenen Hirten“ (Hebr 13, 20) geführt, das dritte Jahrtausend der christlichen Ära: Er ist die Heilige Pforte (vgl. Joh 10, 9), die wir anlässlich des Großen Jubiläums im Jahr 2000 durchschritten haben.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 1: AAS 93 (2001) 266.</ref> Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14, 16): wenn wir das Antlitz des Herrn betrachten, festigen wir unseren Glauben und unsere Hoffnung in Ihn, den einzigen Erlöser und das Ziel der Geschichte.

Die Kirche wendet sich auch weiterhin an alle Völker und alle Nationen, weil dem Menschen nur im Namen Christi das Heil geschenkt ist. Das Heil, das der Herr Jesus uns „um einen teuren Preis“ (1 Kor 6, 20; vgl. 1 Petr 1, 18–19) erkauft hat, erfüllt sich in dem neuen Leben, das die Gerechten nach dem Tod erwartet, doch es erfasst auch diese Welt in den Realitäten der Wirtschaft und der Arbeit, der Technik und der Kommunikation, der Gesellschaft und der Politik, der internationalen Gemeinschaft und der Beziehungen zwischen den Kulturen und Völkern: „Wir unsererseits wissen, dass Jesus gekommen ist, um das umfassende Heil zu bringen, das den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen soll, um die wunderbaren Horizonte der göttlichen Kindschaft zu erschließen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 11: AAS 83 (1991) 260.</ref>

2 An der Schwelle dieses dritten Jahrtausends wird die Kirche nicht müde, das Evangelium zu verkünden, das auch in den zeitlichen Dingen Heil und authentische Freiheit schenkt, und sie ist dabei der feierlichen Weisung eingedenk, die der heilige Paulus an seinen Schüler Timotheus richtete: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!“ (2 Tim 4, 2–5).

3 Die Kirche stellt ihren Weggefährten, den Männern und Frauen unserer Zeit, auch ihre Soziallehre zur Verfügung. Wenn nämlich die Kirche „ihren Auftrag, das Evangelium zu verkünden, erfüllt, bescheinigt sie dem Menschen im Namen Christi seine Würde und seine Berufung zu personaler Gemeinschaft; sie lehrt ihn die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe, die der göttlichen Weisheit entsprechen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2419.</ref> Diese Lehre ist von einer tiefen Einheit, die aus dem Glauben an ein umfassendes Heil, aus der Hoffnung auf die Fülle der Gerechtigkeit und aus der Liebe entspringt, die alle Menschen wirklich zu Brüdern und Schwestern in Christus macht: Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt, die Er so geliebt hat, „dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3, 16). Das neue Gesetz der Liebe umfasst die gesamte Menschheit und kennt keine Grenzen, denn die Verkündigung des Heils in Christus breitet sich aus „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1, 8).

4 Der Mensch, der entdeckt, dass er von Gott geliebt wird, begreift seine eigene, transzendente Würde; er lernt, sich nicht mit sich selbst zu begnügen und dem anderen in einem Netz zunehmend authentischer menschlicher Beziehungen zu begegnen. Menschen, die von der Liebe Gottes neu geschaffen wurden, sind in der Lage, die Regeln und die Qualität der Beziehungen und sogar die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern: es sind Personen, die Frieden bringen können, wo Konflikte bestehen, die brüderliche Bindungen schaffen und aufrechterhalten können, wo Hass herrscht, die die Gerechtigkeit suchen, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwiegt. Nur die Liebe vermag die Beziehungen, die die Menschen zueinander unterhalten, auf radikale Weise zu verwandeln. Jeder Mensch guten Willens, der sich diese Perspektive zu Eigen macht, kann die unermesslichen Horizonte der Gerechtigkeit und der menschlichen Entwicklung in der Wahrheit und im Guten erkennen.

5 Die Liebe hat eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, zu der die Kirche auch mit ihrer Soziallehre, die den ganzen Menschen betrifft und sich an alle Menschen wendet, einen Beitrag leisten will. So viele unserer Not leidenden Brüder und Schwestern warten auf Hilfe, so viele Unterdrückte warten auf Gerechtigkeit, so viele Arbeitslose warten auf Arbeit, so viele Völker warten auf Anerkennung: „Kann es tatsächlich möglich sein, dass es in unserer Zeit noch Menschen gibt, die an Hunger sterben? Die dazu verurteilt sind, Analphabeten zu bleiben? Denen es an der medizinischen Grundversorgung fehlt? Die kein Haus, keine schützende Bleibe haben? Der Schauplatz der Armut lässt sich unbegrenzt ausweiten, wenn wir zu den alten die neuen Formen der Armut hinzufügen, die häufig auch die Milieus und gesellschaftlichen Gruppen betreffen, die zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nicht mittellos sind, sich aber der sinnlosen Verzweiflung, der Drogensucht, der Verlassenheit im Alter oder bei Krankheit, der Ausgrenzung oder sozialen Diskriminierung ausgesetzt sehen. (…) Wie könnten wir uns abseits halten angesichts eines voraussichtlichen ökologischen Zusammenbruchs, der weite Gebiete des Planeten unwirtlich und menschenfeindlich macht? Oder im Hinblick auf die Probleme des Friedens, der immer wieder durch den Alptraum katastrophaler Kriege bedroht ist? Oder angesichts der Verachtung der menschlichen Grundrechte gegenüber so vielen Personen, besonders den Kindern?“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 50–51: AAS 93 (2001) 303–304.</ref>

6 Die christliche Liebe drängt uns dazu, Missstände anzuprangern, Vorschläge zu unterbreiten und uns zu engagieren für eine kulturelle und soziale Entwicklung, sie drängt uns zu einer effektiven Tatkraft, die alle, denen das Schicksal des Menschen aufrichtig am Herzen liegt, dazu anspornt, einen eigenen Beitrag zu leisten. Die Menschen erkennen immer deutlicher, dass sie alle dasselbe Schicksal teilen und daher aus einem umfassenden und solidarischen Humanismus heraus gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen: sie sehen, dass dieses gemeinsame Schicksal häufig durch Technik oder Wirtschaft bedingt und ihnen sogar aufgezwungen wird, und sie verspüren das Bedürfnis nach einem stärkeren moralischen Bewusstsein, das ihrem gemeinsamen Weg eine Richtung gibt. Die Menschen unserer Zeit stehen staunend vor den vielfältigen technologischen Neuerungen und hegen den dringenden Wunsch, dass der Fortschritt auf das wahre Wohl der Menschheit von heute und von morgen ausgerichtet sein soll.

b) Die Bedeutung des Dokuments

7 Der Christ weiß, dass er in der Soziallehre der Kirche die Grundsätze des Denkens, die Urteilskriterien und die Richtlinien des Handelns findet, von denen aus er zu einem umfassenden und solidarischen Humanismus aufbrechen kann. Die Verbreitung dieser Lehre stellt daher in der Seelsorge eine echte Priorität dar, damit die Personen von ihr erleuchtet und fähig werden, die Wirklichkeit von heute zu deuten und geeignete Wege des Handelns zu suchen: „Ihre Soziallehre vorzutragen und zu verbreiten ist Teil des Verkündigungsauftrages der Kirche“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 571–572.</ref>

In dieser Hinsicht ist es für äußerst hilfreich erachtet worden, ein Dokument herauszubringen, das die grundlegenden Züge der kirchlichen Soziallehre und ihre Beziehung zur Neuevangelisierung darstellen soll.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 790.</ref> Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden, der es erarbeitet hat und die volle Verantwortung dafür übernimmt, hat für dieses Werk in großem Umfang unter anderem seine eigenen Mitglieder und Berater, einige Kongregationen der Römischen Kurie, Bischofskonferenzen verschiedener Länder, einzelne Bischöfe und Experten in den behandelten Fragen hinzugezogen.

8 Dieses Dokument versteht sich als eine zwar knappe, aber umfassende und systematische Darstellung der Soziallehre, die eine Frucht weiser lehramtlicher Überlegung und ein Ausdruck des ständigen Engagements der Kirche in Treue zur Erlösergnade Christi und in der liebevollen Sorge um das Schicksal der Menschheit ist. Die wichtigsten theologischen, philosophischen, moralischen, kulturellen und seelsorgerischen Aspekte dieser Lehre werden hier in ihrer organischen Beziehung zu den sozialen Fragen wieder aufgegriffen. Auf diese Weise wird die Fruchtbarkeit der Begegnung zwischen dem Evangelium und den Problemen bezeugt, mit denen der Mensch sich auf seinem historischen Weg konfrontiert sieht.

Bei der Lektüre des Kompendiums sollte beachtet werden, dass die Zitate der lehramtlichen Texte aus Dokumenten stammen, denen eine unterschiedliche Autorität zukommt. Neben Konzilsdokumenten und Enzykliken finden sich Ansprachen von Päpsten oder Dokumente, die in den Kongregationen des Heiligen Stuhls erarbeitet worden sind. Es scheint daher angebracht, noch einmal auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass der Leser es mit unterschiedlichen Ebenen der Lehre zu tun hat. Das Dokument, das sich darauf beschränkt, die wichtigsten Züge der Soziallehre darzulegen, stellt ihre Anwendung, die sich nach den je unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort zu richten hat, in die Verantwortung der Bischofskonferenzen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 790; Katechismus der Katholischen Kirche, 24.</ref>

9 Das Dokument bietet einen umfassenden Überblick über die grundlegenden Züge des theoretischen „Corpus“ der kirchlichen Soziallehre. Dieser Überblick ermöglicht es, in angemessener Weise die sozialen Fragen unserer Zeit anzugehen, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, weil sie sich als immer stärker miteinander verflochten erweisen, einander gegenseitig bedingen und die Menschheitsfamilie mehr denn je betreffen. Die Darstellung der Grundsätze der kirchlichen Soziallehre möchte im Hinblick auf die Suche nach Problemlösungen eine organische Vorgehensweise vorschlagen, damit die Einschätzung, die Beurteilung und die Entscheidungen der Wahrheit entsprechen und damit Solidarität und Hoffnung auch in der Komplexität der heutigen Gegebenheiten wirksam werden können. Denn die Grundsätze bedingen und erhellen einander, weil sie die christliche Anthropologie zum Ausdruck bringen,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 860.</ref> die aus der Offenbarung der Liebe Gottes zur menschlichen Person erwächst. Dennoch ist gebührend darauf zu achten, dass der Lauf der Zeit und die Veränderung der sozialen Verhältnisse es erforderlich machen, immer wieder neu über die verschiedenen hier vorgelegten Themen nachzudenken, um die neuen Zeichen der Zeit zu deuten.

10 Das Dokument will ein Instrument für die moralische und seelsorgerische Einschätzung der komplexen Ereignisse sein, die unsere Zeit charakterisieren; ein Leitfaden, der auf individueller und kollektiver Ebene zu Verhaltensweisen und Entscheidungen inspiriert, die uns mit Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft blicken lassen; und eine Hilfe für die Gläubigen hinsichtlich der Lehre von der sozialen Moral. Es kann zu einem neuen Engagement führen, das auf die Erfordernisse unserer Zeit zu antworten vermag und auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen zugeschnitten ist; vor allem aber kann es den dringenden Wunsch wecken, die eigene Berufung der verschiedenen kirchlichen Charismen im Hinblick auf die Evangelisierung des Sozialen in neuen Formen zur Geltung zu bringen, denn „alle Glieder der Kirche nehmen auf verschiedene Weise an ihrer säkularen Dimension teil“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 15: AAS 81 (1989) 414.</ref> Und schließlich wird der Text als eine Anregung zum Dialog zwischen all denjenigen vorgelegt, die aufrichtig das Wohl des Menschen im Sinn haben.

11 Die ersten Adressaten dieses Dokuments sind die Bischöfe, die für seine Verbreitung und richtige Deutung die am besten geeigneten Formen finden werden. Denn es ist Teil ihres „munus docendi“, zu lehren, dass „die irdischen Dinge und die menschlichen Einrichtungen nach dem Plan des Schöpfergottes auf das Heil der Menschen hingeordnet sind und somit zum Auf bau des Leibes Christi nicht wenig beitragen können“.<ref> II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Christus Dominus, 12: AAS 58 (1966) 678.</ref> Die Priester, die Ordensleute und, allgemein gesprochen, die Ausbilder werden darin einen Leitfaden für ihre Lehrtätigkeit und ein Instrument für den seelsorgerischen Dienst finden. Die gläubigen Laien, die das Himmelreich „in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge“ suchen,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.</ref> werden darin Erleuchtung für ihren je besonderen Aufgabenbereich finden. Die christlichen Gemeinden werden dieses Dokument dazu verwenden können, die Gegebenheiten objektiv zu analysieren, sie im Licht der unveränderlichen Worte des Evangeliums zu erhellen und Grundsätze des Denkens, Urteilskriterien und Richtlinien des Handelns aus ihm zu gewinnen.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 4: AAS 63 (1971) 403.</ref>

12 Dieses Dokument richtet sich auch an die Brüder in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, an die Angehörigen anderer Religionen und an alle Männer und Frauen guten Willens, die sich für das Gemeinwohl einsetzen: Mögen sie es annehmen als die Frucht einer universalen menschlichen Erfahrung, die von unzähligen Zeichen der Gegenwart des Gottesgeistes erfüllt ist. Es ist ein Schatz aus Neuem und Altem (vgl. Mt 13, 52), den die Kirche teilen will, um Gott zu danken, von dem „jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt“ (Jak 1, 17). Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass die Religionen und Kulturen in der heutigen Zeit Dialogbereitschaft an den Tag legen und sich gedrängt fühlen, ihre Anstrengungen zugunsten der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, des Friedens und der Entwicklung der menschlichen Person zu vereinen.

Die Katholische Kirche vereint ihre eigenen Bemühungen insbesondere mit dem, was die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebenso wie in praktischer Hinsicht im sozialen Bereich leisten. Zusammen mit ihnen ist die Katholische Kirche überzeugt, dass aus dem gemeinsamen Erbe der in der lebendigen Tradition des Gottesvolkes bewahrten Soziallehre Impulse und Richtlinien für eine immer engere Zusammenarbeit bei der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden hervorgehen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 92: AAS 58 (1966) 1113–1114.</ref>

c) Im Dienst der vollen Wahrheit des Menschen

13 Dieses Dokument ist ein Dienst der Kirche an den Männern und Frauen unserer Zeit, denen sie den Reichtum ihrer Soziallehre zum Geschenk macht, entsprechend jenem Stil des Dialogs, den Gott selbst mit der Menschwerdung seines eingeborenen Sohnes etabliert hat: „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 2 Tim 1, 17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 2; Jo 15, 14–15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38)“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 2: AAS 58 (1966) 818.</ref> In Anlehnung an die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ ist auch in diesem Dokument der Mensch, „der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen“ Angelpunkt der gesamten Darstellung.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026.</ref> In der skizzierten Zielsetzung bestimmt die Kirche „kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1027.</ref>

14 Mit dem vorliegenden Dokument will die Kirche einen Beitrag der Wahrheit zu der Frage nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft leisten, einer Frage, mit der sich diejenigen Zivilisationen und Kulturen auseinandersetzen, die Ausdruck der Weisheit der Menschheit sind. Ihre Wurzeln reichen oft in eine tausendjährige Vergangenheit zurück, und ihre Ausprägung finden sie in den Formen der Religion, der Philosophie und des dichterischen Genies jeder Epoche und jedes Volkes, in denen sie Deutungen des Universums und des menschlichen Zusammenlebens anbieten und versuchen, dem Dasein und dem Mysterium, das es umhüllt, einen Sinn zu geben. Wer bin ich? Warum gibt es allem Fortschritt zum Trotz noch immer den Schmerz, das Böse, den Tod? Was sind solche Errungenschaften wert, wenn sie zu einem Preis erkauft werden, der nicht selten unerträglich ist? Was wird nach diesem Leben sein? Diese grundlegenden Fragen kennzeichnen den Lauf des menschlichen Lebens.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 10: AAS 58 (1966) 1032.</ref> In diesem Zusammenhang mag man sich an die Mahnung „Erkenne dich selbst“ erinnern, die auf dem Architrav des Tempels von Delphi eingemeißelt war und die elementare Wahrheit bezeugt, dass der Mensch, der dazu berufen ist, sich vor allen anderen Geschöpfen auszuzeichnen, gerade dadurch Mensch wird, dass er wesentlich darauf ausgerichtet ist, sich selbst zu erkennen.

15 Welche Ausrichtung man dem Leben, dem gesellschaftlichen Miteinander und der Geschichte gibt, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie man die Fragen nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft beantwortet, wozu das vorliegende Dokument seinen Beitrag leisten will. Die tiefe Bedeutung des menschlichen Daseins offenbart sich nämlich in der freien Suche nach jener Wahrheit, die geeignet ist, dem Leben Richtung und Fülle zu geben, einer Suche, zu der die Intelligenz und der Wille des Menschen durch solche Fragen unablässig angetrieben werden. Sie sind der höchste Ausdruck der menschlichen Natur, weil sie die Person in eine Antwort verwickeln, die die Ernsthaftigkeit ihres Engagements an der eigenen Existenz misst. Zudem handelt es sich um im Wesentlichen religiöse Fragen: „Wenn man bei der Suche nach der letzten und erschöpfendsten Antwort den Grund der Dinge vollständig erforschen will, erreicht die menschliche Vernunft ihren Gipfel und öffnet sich dem Religiösen. Denn die Religiosität stellt die erhabenste Äußerung der menschlichen Person dar, weil sie der Höhepunkt ihrer Natur als Vernunftwesen ist. Sie entspringt der tiefen Sehnsucht des Menschen nach der Wahrheit und liegt seinem freien und persönlichen Suchen nach dem Göttlichen zugrunde“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache bei der Generalaudienz (19. Oktober 1983), 2: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,VI, 2 (1983) 815.</ref>

16 Die grundlegenden Fragen, die den Weg des Menschen von Anfang an begleiten, gewinnen in unserer Zeit durch die Vielzahl der Herausforderungen, die Neuartigkeit der Szenarien und die folgenschweren Entscheidungen, die zu treffen die gegenwärtigen Generationen berufen sind, noch größere Bedeutung.

Die erste der größten Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, ist die der Wahrheit des Menschseins. Die Fragen nach Grenzen und Beziehungen von Natur, Technik und Moral appellieren entschieden an die persönliche und kollektive Verantwortung im Umgang mit dem, was der Mensch ist, was er tun kann und was er sein soll. Eine zweite Herausforderung besteht im Verständnis und in der Handhabung des Pluralismus und der Unterschiede auf allen Ebenen: auf der Ebene des Denkens, der moralischen Wahlfreiheit, der Kultur, der Religionszugehörigkeit, der Philosophie der menschlichen und sozialen Entwicklung. Die dritte Herausforderung ist die Globalisierung, deren Bedeutung sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt, sondern sehr viel weiter und tiefer reicht, weil in der Geschichte der Menschheit eine neue und schicksalhafte Epoche angebrochen ist.

17 Die Jünger Jesu Christi fühlen sich von diesen Fragen betroffen, sie tragen sie in ihrem Herzen und wollen sich gemeinsam mit allen Menschen bei der Suche nach der Wahrheit und dem Sinn des persönlichen und gesellschaftlichen Daseins engagieren. Zu dieser Suche tragen sie bei, indem sie großherzig Zeugnis ablegen von dem Geschenk, das die Menschheit empfangen hat: Gott hat im Lauf der Geschichte sein Wort an sie gerichtet, ja, er ist selbst in einen Dialog mit ihr eingetreten, um ihr seinen Plan des Heils, der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit zu offenbaren. In seinem Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus hat Gott uns von der Sünde befreit und uns den Weg gezeigt, den wir gehen, und das Ziel, das wir anstreben sollen.

d) Im Zeichen der Solidarität, der Achtung und der Liebe

18 Die Kirche geht gemeinsam mit der ganzen Menschheit auf den Straßen der Geschichte. Sie lebt in der Welt, und obwohl sie nicht von der Welt ist (vgl. Joh 17, 14–16), ist sie dazu berufen, ihr zu dienen und damit ihrer innersten Bestimmung zu folgen. Eine solche Haltung – wie man sie auch im vorliegenden Dokument finden wird – ist von der tiefen Überzeugung getragen, dass es für die Welt wichtig ist, die Kirche als Wirklichkeit und Ferment der Geschichte anzuerkennen, ebenso wie es für die Kirche wichtig ist, sich bewusst zu machen, was sie der Geschichte und der Entwicklung der Menschheit zu verdanken hat.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 44: AAS 58 (1966) 1064.</ref> Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Solidarität, die Achtung und die Liebe gegenüber der Menschheitsfamilie beredt bekundet und ist mit dieser in einen Dialog über zahlreiche Probleme eingetreten. Zu diesem Dialog trägt das Volk Gottes dadurch bei „dass es das Licht des Evangeliums bringt und dass es dem Menschengeschlecht jene Heilskräfte bietet, die die Kirche selbst, vom Heiligen Geist geleitet, von ihrem Gründer empfängt. Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Auf bau der menschlichen Gesellschaft“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026.</ref>

19 Die Kirche, die in der Geschichte das Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen und der Berufung des gesamten Menschengeschlechts zur Einheit der Kinder des einzigen Vaters ist,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 1: AAS 57 (1965) 5.</ref> will auch mit diesem Dokument über die Soziallehre allen Menschen einen Humanismus vor Augen stellen, der dem entspricht, was die Liebe Gottes für die Geschichte plant, einen umfassenden und solidarischen Humanismus, der geeignet ist, eine neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung herbeizuführen, die sich auf die Würde und Freiheit jeder menschlichen Person gründet und in Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität realisiert werden muss. Ein solcher Humanismus kann Wirklichkeit werden, wenn die einzelnen Männer und Frauen und ihre Gemeinschaften es verstehen, die moralischen und sozialen Tugenden in sich selbst zu pflegen und in der Gesellschaft zu verbreiten, denn „dann werden sie mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade wahrhaft neue Menschen und Erbauer einer neuen Menschheit“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 30: AAS 58 (1966) 1050.</ref>

ERSTER TEIL

„Die theologische Dimension

erweist sich sowohl für die Interpretation
wie für Lösung der heutigen Probleme
des menschlichen Zusammenlebens
als unabdingbar“

(Centesimus annus, 55)

ERSTES KAPITEL: DER PLAN DER LIEBE GOTTES FÜR DIE MENSCHHEIT

I. DAS BEFREIENDE WIRKEN GOTTES IN DER GESCHICHTE ISRAELS

a) Die ungeschuldete Nähe Gottes

20 Jede authentische religiöse Erfahrung führt in allen kulturellen Traditionen zu einer Ahnung des Mysteriums, die nicht selten den einen oder anderen Zug im Antlitz Gottes wahrnehmbar werden lässt. Er erscheint einerseits als Ursprung dessen, was ist, als Gegenwart, die den gesellschaftlich organisierten Menschen die Lebensgrundlagen garantiert, indem sie die hierfür notwendigen Güter zur Verfügung stellt; doch andererseits auch als Maßstab dessen, was sein sollte, als Gegenwart, die – auf persönlicher ebenso wie auf sozialer Ebene – bestimmte Erwartungen an das menschliche Handeln knüpft, was den Gebrauch dieser Güter im Verhältnis zu den anderen Menschen betrifft. In jeder religiösen Erfahrung erweisen sich damit zwei Dimensionen als wichtig: die des Geschenks und des Ungeschuldetseins, die sich für die menschliche Person mit der Erfahrung verbindet, gemeinsam mit anderen in der Welt zu leben, und die Auswirkungen dieser Dimension auf das Bewusstsein des Menschen, der erkennt, dass er zu einem verantwortungsvollen und gemeinnützigen Umgang mit dem empfangenen Geschenk aufgefordert ist. Zeugnis dessen ist die allgemeine Anerkennung der Goldenen Regel, die auf der Ebene der menschlichen Beziehungen die Forderung zum Ausdruck bringt, die vom Mysterium her an den Menschen ergeht: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7, 12).<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1789; 1970; 2510.</ref>

21 Vor dem in unterschiedliche Teile aufgeteilten Hintergrund der universalen religiösen Erfahrung zeichnet sich die Selbstoffenbarung Gottes ab, die dem Volk Israel nach und nach zuteil wird. Diese Offenbarung entspricht der menschlichen Suche nach dem Göttlichen auf unerwartete und überraschende Weise, weil sich die Liebe Gottes zu den Menschen in historischen, punktuellen und einschneidenden Taten äußert. Im Buch Exodus richtet der Herr folgende Worte an Mose: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3, 7–8). Die ungeschuldete Nähe Gottes – auf die auch sein Name hindeutet, den er Mose offenbart, „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3, 14) – äußert sich in der Befreiung aus der Sklaverei und in der Verheißung, wird zu einer historischen Handlung und setzt einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf das Volk Israel sich kollektiv über die ihm von Gott geschenkten Errungenschaften der Freiheit und des Landes identifiziert.

22 Das ungeschuldete und historisch wirksame göttliche Handeln geht einher mit der dauerhaften Verpflichtung des von Gott vorgeschlagenen und von Israel angenommenen Bundes. Auf dem Berg Sinai konkretisiert sich die Initiative Gottes im Bund mit seinem Volk, dem der Dekalog der vom Herrn geoffenbarten Gebote übergeben wird (vgl. Ex 19–24). Die „zehn Worte“ (Ex 34, 28; vgl. Dtn 4, 13; 10, 4) „sagen, was aufgrund der durch den Bund gestifteten Zugehörigkeit zu Gott zu tun ist. Die sittliche Lebensführung ist Antwort auf das liebende Handeln des Herrn. Sie ist Anerkennung, Ehrerbietung und Danksagung an Gott. Sie ist Mitwirkung an dem Plan, den Gott in der Geschichte verfolgt“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2062.</ref>

Die zehn Gebote, die ein außergewöhnliches Lebensprogramm darstellen und die sichersten Voraussetzungen für ein Dasein bezeichnen, das von der Knechtschaft der Sünde befreit ist, bringen den Inhalt des Naturrechts in vorzüglicher Weise zum Ausdruck. Sie „lehren (…) uns die wahre Natur des Menschen. Sie heben seine wesentlichen Pflichten hervor und damit indirekt auch die Grundrechte, die der Natur der menschlichen Person innewohnen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2070.</ref> Sie sind der Inbegriff der universalen menschlichen Moral. Die zehn Gebote, die auch Jesus dem reichen Jüngling im Evangelium vor Augen hält, „stellen die Grundregeln jedes gesellschaftlichen Lebens dar“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 97: AAS 85 (1993) 1209.</ref>

23 Aus dem Dekalog leitet sich eine Verpflichtung ab, die nicht nur die Treue zum einzig wahren Gott, sondern auch die sozialen Beziehungen innerhalb des Bundesvolkes betrifft. Letztere sind insbesondere durch das so genannte Recht des Armen geregelt: „Wenn bei dir ein Armer lebt, irgendeiner deiner Brüder (…), dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen. Du sollst ihm deine Hand öffnen und ihm gegen Pfand leihen, was der Not, die ihn bedrückt, abhilft“ (Dtn 15, 7–8). Und dasselbe gilt für den Fremden: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott“ (Lev 19, 33–34). Das Geschenk der Befreiung und des verheißenen Landes, der Bund vom Sinai und der Dekalog sind folglich zuinnerst mit einer Praxis verknüpft, die die Entwicklung der israelitischen Gesellschaft in Gerechtigkeit und Solidarität regeln soll.

24 Unter den vielfältigen Verfügungen, die dem Stil des Ungeschuldetseins und des Teilens in der von Gott inspirierten Gerechtigkeit Gestalt geben sollen, ragt das Gesetz des Sabbatjahrs (das alle sieben Jahre gefeiert wird) und des Jubeljahrs (das alle fünfzig Jahre gefeiert wird)<ref> Der Gesetzestext ist in Ex 23, Dtn 15 und Lev 25 überliefert.</ref> als wichtige – allerdings nie voll und ganz umgesetzte – Richtlinie für das soziale und wirtschaftliche Leben des Volkes Israel heraus. Dieses Gesetz schreibt nicht nur das Brachliegen der Felder, sondern auch den Erlass bestehender Schulden und eine allgemeine Befreiung der Personen und der Güter vor: Jeder darf zu seinem Grundbesitz und zu der Familie zurückkehren, von der er abstammt.

Eine solche Rechtsprechung soll dafür sorgen, dass das heilbringende Ereignis des Exodus und die Bundestreue nicht nur das grundlegende Prinzip des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens in Israel darstellen, sondern auch zur Regelung von Fragen dienen, die die wirtschaftliche Armut und soziale Ungerechtigkeit betreffen. Unter Berufung auf dieses Prinzip wird das Leben des Bundesvolkes kontinuierlich und von innen heraus verwandelt, bis es dem Plan Gottes entspricht. Um die durch die sozioökonomische Entwicklung bedingten Diskriminierungen und Ungleichheiten auszumerzen, wird die Erinnerung an den Exodus und den Bund alle sieben Jahre in soziale und juristische Begriffe übersetzt und die Problematik des Eigentums, der Schulden, der Leistungen und der Güter auf ihre ureigenste Bedeutung zurückgeführt.

25 Die Vorschriften des Sabbat- und des Jubeljahres stellen eine Soziallehre „in nuce“ dar.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Tertio millennio adveniente, 13: AAS87(1995) 14.</ref> Sie zeigen, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit und der sozialen Solidarität von dem Ungeschuldetsein des von Gott herbeigeführten Heilsgeschehens inspiriert sind und nicht nur als Korrektiv einer von egoistischen Interessen und Zielen dominierten Praxis dienen, sondern im Sinne einer „prophetia futuri“ zum sittlichen Maßstab werden, nach dem alle Generationen in Israel sich richten müssen, wenn sie ihrem Gott treu bleiben wollen.

Diese Prinzipien werden zum Angelpunkt der prophetischen Verkündigung, die auf ihre Verinnerlichung abzielt. Der in das Herz des Menschen ausgegossene Geist Gottes – so verkünden die Propheten – bringt dort dieselben Empfindungen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hervor, die im Herzen des Herrn wohnen (vgl. Jer 31, 33 und Ez 36, 26–27). Dann kann der Wille Gottes, der sich in den auf dem Sinai gegebenen Geboten ausdrückt, im Innersten des Menschen selbst wurzeln und sich dort schöpferisch entfalten. Dieser Prozess der Verinnerlichung gibt dem sozialen Handeln größere Tiefe und größeren Realismus und lässt die Haltung der Gerechtigkeit und Solidarität, die das Bundesvolk seiner Berufung gemäß allen Menschen aus allen Völkern und Nationen erweisen soll, immer universaler werden.

b) Das Prinzip der Schöpfung und das ungeschuldete Handeln Gottes

26 Das Denken der Weisheitslehrer und Propheten dringt bis zu der ersten Manifestation und der eigentlichen Quelle dessen, was Gott für die gesamte Menschheit geplant hat, vor, wenn es den Grundsatz formuliert, dass alle Dinge von Gott erschaffen worden sind. Im Glaubensbekenntnis Israels ist die Aussage, dass Gott der Schöpfer ist, nicht nur Ausdruck einer theoretischen Überzeugung, sondern macht den Horizont greifbar, in dem sich das ungeschuldete und barmherzige Handeln des Herrn am Menschen ursprünglich vollzieht. Frei gibt er allem, was ist, Sein und Leben. Geschaffen nach seinem Abbild und ihm ähnlich (vgl. Gen 1, 26–27), sind Mann und Frau eben deshalb berufen, in jenem Garten, in den Gott sie hineingestellt hat, damit sie die Güter der Schöpfung hegen und hüten, das sichtbare Zeichen und das wirkungsvolle Werkzeug der göttlichen Freigiebigkeit zu sein.

27 Im ungeschuldeten Handeln des Schöpfergottes drückt sich – wenn auch verdunkelt und verzerrt von der Erfahrung der Sünde – der eigentliche Sinn der Schöpfung aus. Die Erzählung von der Ursünde (vgl. Gen 3, 1–24) beschreibt die beständige Versuchung und zugleich die Situation der Unordnung, in der sich die Menschheit seit dem Sündenfall ihrer Stammeltern befindet. Gott nicht zu gehorchen bedeutet, sich seinem liebevollen Blick zu entziehen und eigenständig über das Dasein und Handeln in der Welt bestimmen zu wollen. Der Bruch der gemeinschaftlichen Beziehung zu Gott führt zum Bruch der inneren Einheit der menschlichen Person, der gemeinschaftlichen Beziehung zwischen Mann und Frau und der harmonischen Beziehung zwischen den Menschen und den anderen Geschöpfen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 13: AAS 58 (1966) 1035.</ref> In diesem ursprünglichen Bruch ist die tiefste Wurzel all jener Übel zu suchen, die die sozialen Beziehungen zwischen den menschlichen Personen gefährden, und all jener Situationen, die im wirtschaftlichen und politischen Leben die Würde der Person, die Gerechtigkeit und die Solidarität bedrohen.

II. JESUS CHRISTUS ALS ERFÜLLUNG DES PLANS DER VÄTERLICHEN LIEBE

a) In Jesus Christus vollzieht sich das entscheidende Ereignis in der Geschichte Gottes mit den Menschen

28 Das Wohlwollen und die Barmherzigkeit, die das Handeln Gottes bestimmen und der Schlüssel zu seiner Deutung sind, kommen dem Menschen so nahe, dass sie die Züge des Menschen Jesus, des Fleisch gewordenen Wortes, annehmen. In der Erzählung des Lukas beschreibt Jesus seine messianische Sendung mit den Worten Jesajas, die auf die prophetische Bedeutung des Jubeljahrs hinweisen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (4, 18–19; vgl. Jes 61, 1–2). Damit positioniert Jesus sich selbst auf der Linie der Erfüllung, und zwar nicht nur deshalb, weil er das erfüllt, was dem Volk Israel verheißen und von ihm erwartet worden war, sondern auch in einem tieferen Sinne, weil sich in ihm das entscheidende Ereignis der Geschichte Gottes mit den Menschen vollzieht. Denn er selbst verkündet: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14, 9). Mit anderen Worten: Jesus macht endgültig greif bar, wer Gott ist und wie er sich zu den Menschen verhält.

29 Die Liebe, die die Sendung Jesu unter den Menschen beseelt, ist die Liebe, die der Sohn in der innigen Einheit mit dem Vater erfährt. Das Neue Testament führt uns mitten in die von Jesus gelebte und mitgeteilte Erfahrung der Liebe Gottes, der sein Vater – Abba – ist, und damit in das Herz des göttlichen Lebens selbst hinein. Jesus verkündet allen, die ihm auf seinem Weg begegnen – angefangen bei den Armen, den Ausgegrenzten und den Sündern – die befreiende Barmherzigkeit Gottes und lädt sie ein, ihm nachzufolgen, weil er als erster und in ganz und gar einzigartiger Weise dem Plan der Liebe Gottes, der ihn in die Welt gesandt hat, entspricht. Diese ursprüngliche Erfahrung drückt sich in seinem Bewusstsein aus, dass er der Sohn ist. Der Sohn hat alles ungeschuldet vom Vater empfangen: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16, 15). Und er seinerseits hat den Auftrag, alle Menschen an diesem Geschenk und dieser Sohnesbeziehung teilhaben zu lassen: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“ (Joh 15, 15).

Die Liebe des Vaters zu erkennen bedeutet für Jesus, dass er sich in seinem Handeln von derselben Freigiebigkeit und Barmherzigkeit inspirieren lässt, mit der Gott neues Leben hervorbringt, und dass er so durch seine bloße Existenz für seine Jünger zum Beispiel und Vorbild wird. Sie sind dazu berufen, wie er und – nach seinem Pascha von Tod und Auferstehung dank der überreichen Gabe des Heiligen Geistes, des Trösters, der in den Herzen die Lebensweise Christi selbst verankert – in ihm und von ihm zu leben.

b) Die Offenbarung der trinitarischen Liebe

30 Mit dem immer neuen Staunen der vom Blitz der unaussprechlichen Liebe Gottes Getroffenen (vgl. Röm 8, 26) und im Licht der im Pascha Jesu Christi vollkommen offenbarten trinitarischen Liebe erfasst das Zeugnis des Neuen Testaments die letzte Bedeutung der Menschwerdung des Sohnes und seiner Sendung unter den Menschen. Der heilige Paulus schreibt: „Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8, 31–32). Ähnlich drückt es auch der heilige Johannes aus: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (1 Joh 4, 10).

31 Das Antlitz Gottes, das im Laufe der Heilsgeschichte nach und nach offenbart worden ist, erstrahlt in vollem Glanz im Antlitz des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Gott ist Dreifaltigkeit: Vater, Sohn, Heiliger Geist, wirklich verschieden und wirklich eins in unendlicher Liebesgemeinschaft. Die ungeschuldete Liebe Gottes zur Menschheit offenbart sich vor allem als die quellende Liebe des Vaters, aus der alles hervorgeht; als das ungeschuldete Mitteilen dieser Liebe durch den Sohn, der sich an den Vater zurück und an die Menschen weiterschenkt; als die immer neue Fruchtbarkeit der göttlichen Liebe, die der Heilige Geist in die Herzen der Menschen ausgießt (vgl. Röm 5, 5).

Mit Worten und Werken sowie auf vollständige und endgültige Weise durch seinen Tod und seine Auferstehung<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 4: AAS 58 (1966) 819.</ref> offenbart Jesus Christus der Menschheit, dass Gott Vater ist und dass wir alle aus Gnade dazu berufen sind, im Geist seine Kinder (vgl. Röm 8, 15; Gal 4, 6) und deshalb untereinander Brüder und Schwestern zu werden. Aus diesem Grund glaubt die Kirche fest, „dass in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der gesamten Menschheitsgeschichte gegeben ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 10: AAS 58 (1966) 1033.</ref>

32 Mit Blick auf das ungeschuldete und überfließende göttliche Schenken des Sohnes durch den Vater, das Jesus dadurch verkündet und bezeugt hat, dass er sein Leben für uns hingab, erfasst der Apostel Johannes seinen tiefen Sinn und seine logischste Konsequenz: „Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet“ (1 Joh 4, 11–12). Die Forderung der gegenseitigen Liebe formuliert Jesus als sein neues Gebot: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13, 23). Das Gebot der gegenseitigen Liebe bezeichnet den Weg, um in Christus das trinitarische Leben in der Kirche zu leben, die der Leib Christi ist, und um mit ihm die Geschichte umzugestalten, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt.

33 Das Gebot der gegenseitigen Liebe, das das Lebensgesetz des Gottesvolkes darstellt,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 9: AAS 57 (1965) 12–14.</ref> muss alle menschlichen Beziehungen im sozialen und politischen Leben beseelen, läutern und erhöhen: „Menschsein bedeutet Berufensein zur interpersonalen Gemeinschaft“,<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Mulieris dignitatem, 7: AAS 80 (1988) 1666.</ref> denn im Bild und Gleichnis des dreifaltigen Gottes „ist das gesamte »Ethos« des Menschen begründet (…), dessen Gipfel das Liebesgebot darstellt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Mulieris dignitatem, 7: AAS 80 (1988) 1665–1666.</ref> Das heutige kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Phänomen der Interdependenz, die die Verflechtungen innerhalb der Menschheitsfamilie verstärkt und in besonderer Weise deutlich macht, rückt einmal mehr im Licht der Offenbarung „ein neues Modell der Einheit des Menschengeschlechtes“ in den Blick, „an dem sich die Solidarität in letzter Konsequenz inspirieren muss. Dieses höchste Modell der Einheit, ein Abbild des innersten Lebens Gottes, des Einen in drei Personen, bezeichnen wir Christen mit dem Wort »Gemeinschaft« (communio)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 569.</ref>

III. DIE MENSCHLICHE PERSON IM PLAN DER LIEBE GOTTES

a) Die trinitarische Liebe als Ursprung und Ziel der menschlichen Person

34 Wenn in Christus das Geheimnis Gottes als trinitarischer Liebe geoffenbart ist, so ist damit zugleich geoffenbart, dass die menschliche Person zur Liebe berufen ist. Diese Offenbarung erhellt die persönliche Würde und Freiheit des Mannes und der Frau und die wesenhaft gesellschaftliche Natur des Menschen in ihrer ganzen Tiefe: „Personsein nach dem Abbild Gottes bedeutet also auch Existenz in Beziehung, in Beziehung zum anderen »Ich«“,<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Mulieris dignitatem, 7: AAS 80 (1988) 1664.</ref> weil der dreieinige Gott selbst Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ist.

Die menschliche Person ist berufen, in der Liebesgemeinschaft, die Gott ist und in der die drei göttlichen Personen einander lieben und der Eine Gott sind, den Ursprung und das Ziel ihres Daseins und der Geschichte zu entdecken. In der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ lehren die Konzilsväter: „Wenn der Herr Jesus zum Vater betet, »dass alle eins seien … wie auch wir eins sind« (Joh 17, 20–22), und damit Horizonte aufreißt, die der menschlichen Vernunft unerreichbar sind, legt er eine gewisse Ähnlichkeit nahe zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe. Dieser Vergleich macht offenbar, dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann (vgl. Lk 17, 33)“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 24: AAS 58 (1966) 1045.</ref>

35 Die christliche Offenbarung wirft ein neues Licht auf die Identität, die Berufung und die letzte Bestimmung der Person und des Menschengeschlechts. Jede Person ist von Gott geschaffen, geliebt und in Jesus Christus erlöst, und sie verwirklicht sich, indem sie vielfältige Beziehungen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Solidarität mit den anderen Personen knüpft, während sie ihre mannigfachen Aktivitäten in der Welt entfaltet. Wenn das menschliche Handeln danach strebt, die Würde und die umfassende Berufung der Person, die Qualität ihrer Lebensbedingungen und die Begegnung und Solidarität der Völker zu fördern, entspricht es dem Plan Gottes, der es nie versäumt, seinen Kindern seine Liebe und die Fürsorge seiner Vorsehung zu erweisen.

36 Die Seiten im ersten Buch der Heiligen Schrift, die die Erschaffung des Mannes und der Frau als Abbild Gottes und Gott ähnlich beschreiben (vgl. Gen 1, 26–27), beinhalten eine grundlegende Lehre über die Identität und die Berufung der menschlichen Person. Sie sagen uns, dass die Erschaffung des Mannes und der Frau ein freier und ungeschuldeter Akt Gottes ist; dass der Mann und die Frau, weil sie frei und intelligent sind, das von Gott geschaffene Du darstellen und nur in der Beziehung mit ihm die echte und volle Bedeutung ihres persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens erkennen und verwirklichen können; dass sie gerade durch ihre Komplementarität und Gegenseitigkeit das Abbild der trinitarischen Liebe im geschaffenen Universum sind; und dass der Schöpfer ihnen als der Krone der Schöpfung die Aufgabe anvertraut, die geschaffene Natur nach seinem Plan zu ordnen (vgl. Gen 1, 28).

37 Das Buch Genesis stellt uns einige Kernaussagen der christlichen Anthropologie vor Augen: die unveräußerliche Würde der menschlichen Person, die in Gottes Schöpferplan wurzelt und verbürgt ist; die wesenhaft gesellschaftliche Natur des Menschen, die in der ursprünglichen Beziehung zwischen Mann und Frau ihr Urbild hat, denn „ihre Verbindung schafft die erste Form personaler Gemeinschaft“;<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 12: AAS 58 (1966) 1034.</ref> die Bedeutung des menschlichen Handelns in der Welt, die an die Entdeckung und Achtung des Naturrechts geknüpft ist, das Gott dem geschaffenen Universum eingeprägt hat, damit die Menschheit es nach Gottes Plan bewohnt und bewahrt. Diese Sicht der menschlichen Person, der Gesellschaft und der Geschichte wurzelt in Gott und wird von der Verwirklichung seines Heilsplans erhellt.

b) Das christliche Heil: für den ganzen Menschen und für alle Menschen

38 Das Heil, das uns auf die Initiative Gottes des Vaters hin in Jesus Christus geschenkt wird und durch das Wirken des Heiligen Geistes geschieht und sich ausbreitet, ist ein Heil des ganzen Menschen und für alle Menschen: ein universales und umfassendes Heil. Es betrifft die menschliche Person in all ihren Dimensionen: der persönlichen und der sozialen, der geistigen und der körperlichen, der historischen und der transzendenten. Es beginnt sich bereits in der Geschichte zu erfüllen, weil das, was geschaffen ist, gut und gottgewollt und weil der Sohn Gottes unter uns Menschen Mensch geworden ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,22: AAS 58 (1966) 1043.</ref>Seine Vollendung jedoch liegt in der Zukunft, die Gott für uns bereithält, wenn wir berufen sind, gemeinsam mit der gesamten Schöpfung (vgl. Röm 8) in der Freude des Heiligen Geistes an der Auferstehung Christi und an der ewigen Lebensgemeinschaft mit dem Vater teilzuhaben. Diese Sichtweise zeigt deutlich, wie irrig und trügerisch es ist, den Sinn der Geschichte rein immanent zu deuten und zu behaupten, dass der Mensch sich selbst erlösen kann.

39 Das Heil, das Gott seinen Kindern schenkt, erfordert ihrerseits eine freie und zustimmende Antwort. Darin besteht der Glaube, in dem „sich der Mensch als ganzer Gott in Freiheit“ überantwortet<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 5: AAS 58 (1966) 819.</ref> und der ihm von Gott zuerst und im Überfluss geschenkten Liebe (vgl. 1 Joh 4, 10) mit konkreter Nächstenliebe und fester Hoffnung entspricht, „denn er, der die Verheißung gegeben hat, ist treu“ (Hebr 10, 23). Der göttliche Heilsplan nämlich versetzt das Geschöpf nicht in einen Zustand bloßer Passivität oder Minderwertigkeit gegenüber seinem Schöpfer; vielmehr ist das Verhältnis zu Gott, das Jesus Christus uns offenbart und in das er uns durch das Wirken des Heiligen Geistes ungeschuldet einführt, ein Verhältnis der Kindschaft, wie es auch Jesus dem Vater gegenüber lebt (vgl. Joh 15–17; Gal 4, 6–79).

40 Der universale und umfassende Charakter des uns in Jesus Christus geschenkten Heils knüpft ein unzerreißbares Band zwischen dem Verhältnis zu Gott, zu dem die Person berufen ist, und der Verantwortung für den Nächsten in der konkreten historischen Situation. Dies ist, wenn auch nur als verworrene, zum Teil mit Irrtümern behaftete Ahnung, in der universalen menschlichen Suche nach Wahrheit und Sinn angelegt, wird jedoch im Bund zwischen Gott und Israel zum tragenden Fundament, wie es die Gesetzestafeln und die prophetische Verkündigung bezeugen.

Dieses Band wird in der Lehre Jesu Christi klar und in vollendeter Verdichtung zum Ausdruck gebracht und dadurch, dass er aus Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters und aus Liebe zu den Mitmenschen sein Leben hingibt, in letzter Instanz bezeugt und endgültig bestätigt. Dem Schriftgelehrten, der ihn fragt: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ (Mk 12, 28), gibt Jesus zur Antwort: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Mk 12, 29–31).

Im Herzen der menschlichen Person ist die Beziehung zu Gott, der als Schöpfer und Vater, als Quelle und Vollendung des Lebens und des Heils anerkannt wird, untrennbar verbunden mit der Offenheit für die konkrete Liebe zum Menschen, der selbst dann, wenn er ein Feind ist, wie ein zweites Selbst behandelt werden muss (vgl. Mt 5, 43–44). Der Einsatz für Gerechtigkeit und Solidarität und für die Schaffung eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens, das dem Plan Gottes entspricht, ist letztlich im Innern des Menschen verankert.

c) Der Jünger Christi als neues Geschöpf

41 Das persönliche und soziale Leben und das menschliche Handeln in der Welt ist ständig von der Sünde bedroht, doch Jesus Christus hat uns „durch sein Leiden für uns (…) nicht nur das Beispiel gegeben, dass wir seinen Spuren folgen, sondern er hat uns auch den Weg gebahnt, dem wir folgen müssen, damit Leben und Tod geheiligt werden und neue Bedeutung erhalten“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1043.</ref> Im Glauben und durch die Sakramente nimmt der Jünger Christi am österlichen Geheimnis Jesu teil, so dass sein alter Mensch mit seinen bösen Neigungen gemeinsam mit Christus gekreuzigt wird. Als neues Geschöpf wird er sodann in der Gnade fähig, als neuer Mensch zu leben (vgl. Röm 6, 4). Doch dieser Weg „gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1043.</ref>

42 Die innere Umgestaltung der menschlichen Person, die Christus fortschreitend ähnlicher wird, wird für eine wirkliche Erneuerung ihrer Beziehungen zu den anderen Personen als wesentlich vorausgesetzt: „Deshalb ist an die geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen zu appellieren, und es ist daran zu erinnern, dass sich der Mensch dauernd innerlich erneuern muss, um Gesellschaftsveränderungen herbeizuführen, die wirklich im Dienste der Person stehen. Die Bekehrung des Herzens ist an erste Stelle zu setzen. Das enthebt nicht der Pflicht, sondern verstärkt sie vielmehr, Institutionen und Lebensbedingungen, falls sie zur Sünde Anlass geben, zu verbessern, damit sie den Normen der Gerechtigkeit entsprechen und das Gute fördern, statt es zu behindern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1888.</ref>

43 Es ist nicht möglich, den Nächsten wie sich selbst zu lieben und in dieser Haltung zu verharren, wenn man nicht zugleich fest und dauerhaft entschlossen ist, sich für das Wohl aller und eines jeden einzusetzen, denn wir alle sind wahrhaft für alle verantwortlich.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38: AAS 80 (1988) 565–566.</ref> Das Konzil lehrt: „Achtung und Liebe sind auch denen zu gewähren, die in gesellschaftlichen, politischen oder auch religiösen Fragen anders denken oder handeln als wir. Je mehr wir in Menschlichkeit und Liebe inneres Verständnis für ihr Denken auf bringen, desto leichter wird es für uns, mit ihnen ins Gespräch zu kommen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,28: AAS58 (1966)1048.</ref> Für diesen Weg bedarf es der Gnade, die Gott dem Menschen schenkt, um ihn nach Misserfolgen wieder aufzurichten, ihn der Spirale von Lüge und Gewalt zu entreißen, ihm Halt zu geben und ihn zu ermuntern, dass er mit immer neuer Bereitschaft das Netz der wahren und aufrichtigen Beziehungen zu seinesgleichen weiterknüpft.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1889.</ref>

44 Auch die Beziehung zum geschaffenen Universum und die verschiedenen Tätigkeiten, die der Mensch seiner Pflege und Umwandlung widmet und die täglich von Überheblichkeit und ungeordneter Eigenliebe bedroht sind, müssen durch das Kreuz und die Auferstehung Christi geläutert und zur Vollendung gebracht werden: „Als von Christus erlöst und im Heiligen Geist zu einem neuen Geschöpf gemacht, kann und muss der Mensch die von Gott geschaffenen Dinge lieben. Von Gott empfängt er sie, er betrachtet und schätzt sie als Gaben aus Gottes Hand. Er dankt seinem Wohltäter für die Gaben; in Armut und Freiheit des Geistes gebraucht und genießt er das Geschaffene; so kommt er in den wahren Besitz der Welt als einer, der nichts hat und doch alles besitzt. »Alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott« (1 Kor 3, 22–23)“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 37: AAS 58 (1966) 1055.</ref>

d) Transzendenz des Heils und Autonomie der irdischen Wirklichkeiten

45 Jesus Christus ist der Mensch gewordene Sohn Gottes, in dem und durch den die Welt und der Mensch zu ihrer echten und vollen Wahrheit gelangen. Das Geheimnis der unendlichen Nähe Gottes zum Menschen – die in der Menschwerdung Jesu Christi Wirklichkeit wird und bis zur Verlassenheit am Kreuz und zum Tod reicht – zeigt, dass das Menschliche umso mehr in seiner Identität und in eben der Freiheit, die ihm eigen ist, entfaltet und befreit wird, je mehr es im Licht des göttlichen Planes gesehen und in Gemeinschaft mit Gott gelebt wird. Weit davon entfernt, eine demütigende Erfahrung zu sein, setzt die Teilhabe am Leben und Sohn-Sein Christi, die durch die Menschwerdung und die österliche Gabe des Geistes möglich geworden ist, vielmehr die authentische und autonome Wesenhaftigkeit und Identität des Menschen in all ihren Ausprägungen frei.

Diese Sichtweise ist auf eine richtige Bewertung der irdischen Wirklichkeiten und ihrer Autonomie ausgerichtet, die von der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils deutlich unterstrichen wird: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muss, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das (…) entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muss“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 36: AAS 58 (1966) 1054; vgl. Id., Dekr. Apostolicam actuositatem, 7: AAS 58 (1966) 843–844.</ref>

46 Zwischen Gott und dem Menschen herrscht kein konfliktäres, sondern ein Liebesverhältnis, in dem die Welt und die Früchte des menschlichen Handelns in der Welt das Geschenk sind, das der Vater den Kindern, die Kinder dem Vater und die Kinder einander in Christus Jesus machen: in ihm und durch ihn gelangen Welt und Mensch zu ihrer authentischen und ursprünglichen Bedeutung. In einer universalen Sicht der Liebe Gottes, die alles Seiende umfängt, wird Gott selbst uns in Christus als Vater und Lebensspender und wird uns der Mensch als der offenbart, der in Christus alles in Demut und Freiheit von Gott zum Geschenk erhält und erst dann wirklich als sein Eigentum besitzt, wenn er jedes Ding als Gott gehörend, von Gott stammend und auf Gott hin ausgerichtet erkennt und erlebt. In diesem Zusammenhang lehrt das Zweite Vatikanische Konzil: „Wird aber mit den Worten »Autonomie der zeitlichen Dinge« gemeint, dass die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist. Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,36: AAS 58 (1966) 1054.</ref>

47 Die menschliche Person überschreitet in sich selbst und in ihrer Berufung den Horizont des geschaffenen Universums, der Gesellschaft und der Geschichte: Ihr letztes Ziel ist Gott selbst,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2244.</ref> der sich den Menschen offenbart hat, um sie zur Gemeinschaft mit sich selbst einzuladen und zuzulassen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 2: AAS 58 (1966) 818.</ref> „Der Mensch kann sich nicht an ein bloß menschliches Projekt der Wirklichkeit, an ein abstraktes Ideal oder an falsche Utopien verschenken.

Der Mensch als Person kann sich nur an einen anderen oder an andere Menschen und endlich an Gott hingeben, der der Urheber seines Seins und der Einzige ist, der seine Hingabe ganz anzunehmen vermag“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,41: AAS 83 (1991) 844.</ref> Aus diesem Grund wird der Mensch entfremdet, wenn er „es ablehnt, über sich selbst hinauszugehen und die Erfahrung der Selbsthingabe und der Bildung einer an seiner letzten Bestimmung orientierten echten menschlichen Gemeinschaft zu leben. Diese letzte Zielbestimmung des Menschen aber ist Gott selber. Entfremdet wird eine Gesellschaft, die in ihren sozialen Organisationsformen, in Produktion und Konsum, die Verwirklichung dieser Hingabe und die Bildung dieser zwischenmenschlichen Solidarität erschwert“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,41: AAS 83 (1991) 844–845.</ref>

48 Die menschliche Person kann und darf nicht von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen instrumentalisiert werden, weil jeder Mensch die Freiheit hat, sich auf sein letztes Ziel hin auszurichten. Andererseits muss jede kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Leistung, in der sich die gesellschaftliche Natur des Menschen und die Tätigkeit äußern, die er im Hinblick auf die Umwandlung des Universums entfaltet, immer auch in ihrer Eigenschaft als relative und vorübergehende Wirklichkeit betrachtet werden, „denn die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor 7, 31). Hierbei handelt es sich um eine eschatologische Relativität in dem Sinne, dass der Mensch und die Welt einem Ziel entgegengehen, das die Erfüllung ihres Schicksals in Gott ist; und um eine theologische Relativität insofern, als das Geschenk Gottes, durch das sich das endgültige Schicksal der Menschheit und der Schöpfung erfüllen wird, die Möglichkeiten und Erwartungen des Menschen unendlich übertrifft. Jegliche totalitäre Sicht der Gesellschaft und des Staates und jegliche rein innerweltliche Fortschrittsideologie sind der umfassenden Wahrheit der menschlichen Person und dem, was Gott mit der Geschichte plant, entgegengesetzt.

IV. DER PLAN GOTTES UND DIE SENDUNG DER KIRCHE

a) Die Kirche als Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person

49 Die Kirche als die Gemeinschaft derjenigen, die von dem auferstandenen Jesus Christus zusammengerufen worden sind und sich in seine Nachfolge begeben, ist „Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099.</ref> Sie ist „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 1: AAS 57 (1965) 5.</ref> Die Sendung der Kirche besteht darin, das in Jesus Christus verwirklichte Heil, das er selbst als „Reich Gottes“ bezeichnet (Mk 1, 15), nämlich die Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander, zu verkünden und weiterzugeben. Das Ziel des Heils, das Reich Gottes, umfasst alle Menschen und wird sich jenseits der Geschichte, in Gott, voll und ganz erfüllen. Die Kirche hat die Sendung empfangen, „das Reich Christi und Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen. So stellt sie Keim und Anfang dieses Reiches auf Erden dar“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 5: AAS 57 (1965) 8.</ref>

50 Die Kirche stellt sich vor allem dadurch ganz konkret in den Dienst des Reiches Gottes, dass sie das Evangelium des Heils verkündet und weitergibt und neue christliche Gemeinschaften bildet. Ferner dient sie dem Reich, „indem sie auf der Welt die »evangelischen Werte« der Seligpreisungen bekannt macht, die authentischer Ausdruck des Reiches sind und die den Menschen helfen, Gott mit seinem Vorhaben einzulassen. Es ist also wahr, dass die Wirklichkeit des Reiches in Ansätzen sich auch jenseits der Grenzen der Kirche in der gesamten Menschheit finden kann, insofern diese die »evangelischen Werte« lebt und sich der Tätigkeit des Geistes öffnet, der weht, wo und wie er will (vgl. Joh 3, 9); es ist aber auch zu sagen, dass diese zeitliche Dimension des Reiches unvollständig bleibt, wenn sie nicht zusammen mit dem Reich Christi ausgesagt wird, das in der Kirche anwesend und auf die eschatologische Vollendung ausgerichtet ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 20: AAS 83 (1991) 267.</ref> Daraus ergibt sich insbesondere, dass die Kirche nicht mit der politischen Gemeinschaft verschmilzt und an kein politisches System gebunden ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099 Katechismus der Katholischen Kirche, 2245.</ref> Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf ihrem je eigenen Gebiet voneinander unabhängig und autonom und dienen beide, wenn auch mit unterschiedlichem Anspruch, „der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099.</ref> Man kann sogar sagen, dass die Unterscheidung zwischen Religion und Politik und der Grundsatz der religiösen Freiheit eine besondere Errungenschaft des Christentums darstellen, die in historischer und kultureller Hinsicht von großer Bedeutung ist.

51 Der Identität und der Sendung der Kirche in der Welt entspricht nach dem in Christus verwirklichten Plan Gottes ihre Ausrichtung auf „das endzeitliche Heil (…), das erst in der künftigen Weltzeit voll verwirklicht werden kann“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 40: AAS 58 (1966) 1058.</ref> Gerade deshalb leistet die Kirche mit ihrem Bestreben, die Menschheitsfamilie und ihre Geschichte menschlicher zu gestalten und sich wie ein Bollwerk jeder totalitären Versuchung entgegenzustemmen, einen eigenständigen und unersetzlichen Beitrag,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2244.</ref> indem sie dem Menschen seine umfassende und endgültige Berufung aufzeigt.

Mit der Verkündigung des Evangeliums, der Gnade der Sakramente und der Erfahrung der brüderlichen Gemeinschaft bewirkt die Kirche „die Heilung und Hebung der Personwürde, (…) die Festigung des menschlichen Gemeinschaftsgefüges“ und „die Erfüllung des alltäglichen menschlichen Schaffens mit tieferer Sinnhaftigkeit und Bedeutung“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 40: AAS 58 (1966) 1058.</ref> Das Kommen des Gottesreiches lässt sich also nicht im konkreten Lauf der Geschichte an der Zielvorstellung einer bestimmten und endgültigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Organisationsform festmachen. Es wird vielmehr durch die Entwicklung einer menschlichen Gesellschaftlichkeit bezeugt, die wie ein Sauerteig in den Menschen wirkt, sie zu umfassender Selbstverwirklichung, zu Gerechtigkeit und Solidarität führt und sie für das Transzendente als Bezugspunkt ihrer eigenen, endgültigen persönlichen Vollendung öffnet.

b) Kirche, Reich Gottes und die Erneuerung der sozialen Beziehungen

52 Gott erlöst in Christus nicht nur die einzelne Person, sondern auch die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Das Leben in Christus, so lehrt der Apostel Paulus, bringt die Identität und die gesellschaftliche Natur der menschlichen Person mit allen Konsequenzen auf der konkreten historischen Ebene zu voller und neuer Entfaltung: „Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid »einer« in Christus Jesus“ (Gal 3, 26–28). In diesem Sinne verstehen sich die von der Botschaft Jesu Christi zusammengerufenen und im Heiligen Geist um den Auferstandenen vereinten kirchlichen Gemeinden als Orte der Gemeinschaft, des Zeugnisses und der Mission und als Ferment der Erlösung und der Umwandlung der sozialen Beziehungen. Die Verkündigung des Evangeliums Jesu führt die Jünger dazu, in der Erneuerung der gegenseitigen Beziehungen die Zukunft vorwegzunehmen.

53 Die Umwandlung der sozialen Beziehungen im Einklang mit den Forderungen des Gottesreiches wird nicht ein für alle Mal in konkreten Bestimmungen festgelegt. Vielmehr handelt es sich um eine den christlichen Gemeinschaften anvertraute Aufgabe und muss von diesen durch ein vom Evangelium inspiriertes Denken und Handeln erarbeitet und verwirklicht werden. Derselbe Heilige Geist, der das Volk Gottes leitet und gleichzeitig das Universum erfüllt,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 11: AAS 58 (1966) 1033.</ref> gibt auch der verantwortungsvollen Kreativität der Menschen und der Gemeinschaft der Christen von Zeit zu Zeit neue, aktuelle Lösungen ein<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 37: AAS 63 (1971) 426–427.</ref> – einer Gemeinschaft von Christen, die Teil der Welt und der Geschichte und deshalb offen ist für das Gespräch mit allen Menschen guten Willens, die gemeinsam nach den auf dem weiten Feld der Menschheit ausgesäten Keimen der Wahrheit und Freiheit suchen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 11: AAS 71 (1979) 276: „Zu Recht sahen die Kirchenväter in den verschiedenen Religionen gleichsam auch Reflexe einer einzigen Wahrheit als »Keime des Wortes«, die bezeugen, dass das tiefste Streben des menschlichen Geistes, wenn auch auf verschiedenen Wegen, so doch in eine einzige Richtung ausgerichtet ist“.</ref> Die Dynamik einer solchen Erneuerung muss in den unveränderlichen Grundsätzen des Naturrechts verankert werden, das der Schöpfergott jedem seiner Geschöpfe eingeprägt hat (vgl. Röm 2, 14–15) und das durch Jesus Christus eschatologisch verklärt worden ist.

54 „Gott ist die Liebe“ (1Joh 4, 8), das offenbart uns Jesus Christus, und er lehrt uns, dass „das Grundgesetz der menschlichen Vervollkommnung und deshalb auch der Umwandlung der Welt das neue Gebot der Liebe ist. Denen also, die der göttlichen Liebe glauben, gibt er die Sicherheit, dass allen Menschen der Weg der Liebe offen steht und dass der Versuch, eine allumfassende Brüderlichkeit herzustellen, nicht vergeblich ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 38: AAS 58 (1966) 1055–1056.</ref> Dieses Gebot ist dazu bestimmt, zum Maßstab und zur letztgültigen Regel aller Prozesse zu werden, in denen sich die menschlichen Beziehungen entfalten. Kurz gesagt erhalten die Person, die gesellschaftliche Natur und das Handeln des Menschen in der Welt ihre Bedeutung und ihren Wert aus dem eigentlichen Geheimnis Gottes, der trinitarischen Liebe, die der Menschheit durch Jesus Christus in seinem Geist geoffenbart und mitgeteilt worden ist.

55 Die Umwandlung der Welt erweist sich auch in unserer Zeit als eine grundlegende Forderung. Auf diese Notwendigkeit will die Soziallehre der Kirche mit den von den Zeichen der Zeit gebotenen Antworten reagieren und vor allem die in der Verantwortung vor Gott gelebte gegenseitige Liebe der Menschen untereinander als das mächtigste Werkzeug einer persönlichen wie auch gesellschaftlichen Veränderung herausstellen. Denn die gegenseitige, der unendlichen Liebe Gottes teilhaftige Liebe ist das authentische historische und transzendente Ziel der Menschheit. Deshalb gilt: „Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 39: AAS 58 (1966) 1057.</ref>

c) Ein neuer Himmel und eine neue Erde

56 Die Verheißung Gottes und die Auferstehung Jesu Christi wecken in den Christen die tiefe Hoffnung, dass allen menschlichen Personen eine neue und ewige Wohnstatt bereitet ist, eine Erde, in der die Gerechtigkeit wohnt (vgl. 2 Kor 5, 1–2; 2 Petr 3, 13): „Der Tod wird besiegt sein, die Kinder Gottes werden in Christus auferweckt werden, und was in Schwachheit und Verweslichkeit gesät wurde, wird sich mit Unverweslichkeit bekleiden. Die Liebe wird bleiben, wie das, was sie einst getan hat, und die ganze Schöpfung, die Gott um des Menschen willen schuf, wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit sein“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 39: AAS 58 (1966) 1057.</ref> Diese Hoffnung soll jedoch den Eifer in den Bemühungen um die gegenwärtigen Wirklichkeiten nicht schmälern, sondern im Gegenteil noch steigern.

57 Die Güter – die Würde des Menschen, die Brüderlichkeit und die Freiheit, alle guten Früchte der Natur und unserer Arbeit –, die im Geist des Herrn und nach seiner Weisung über die Erde ausgebreitet, von allem Makel geläutert, verklärt und verwandelt sind, gehören dem Reich der Wahrheit und des Lebens, der Heiligkeit und der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens an, das Christus dem Vater übergeben wird und in dem wir uns wiederfinden werden. Dann wird für alle die feierliche Wahrheit der Worte Christi erklingen: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. (…) Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 34–36.40).

58 Die in Christus dank der Gabe des Geistes vollendete Verwirklichung der menschlichen Person reift in der Geschichte heran und wird durch die Beziehungen der Person zu anderen Personen vermittelt, Beziehungen, die ihrerseits dank des Engagements für eine bessere Welt in Gerechtigkeit und Frieden ihrer Vollendung entgegengehen. Das menschliche Handeln in der Geschichte ist an und für sich im Hinblick auf die endgültige Errichtung des Reiches bedeutsam und wirksam, auch wenn dieses als Geschenk Gottes vollkommen transzendent bleibt. Dieses Handeln wird, wenn es die objektive Ordnung der zeitlichen Wirklichkeiten respektiert und von der Wahrheit und der Liebe erleuchtet ist, zum Werkzeug einer immer vollkommeneren und umfassenderen Umsetzung der Gerechtigkeit und des Friedens, die das verheißene Reich in der Gegenwart vorwegnimmt.

Wenn der Mensch dem Erlöser Christus ähnlich wird, nimmt er sich als ein von Gott gewolltes und von ihm von Ewigkeit her auserwähltes Geschöpf wahr, das in der ganzen Fülle des Geheimnisses, dessen er in Jesus Christus teilhaftig geworden ist, zur Gnade und zur Herrlichkeit berufen ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 13: AAS 71 (1979) 283–284.</ref> Christus ähnlich zu werden und sein Antlitz zu betrachten<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 16–28: AAS 93 (2001) 276–285.</ref> erfüllt den Christen mit einer unstillbaren Sehnsucht, in dieser Welt, im Bereich der menschlichen Beziehungen das vorwegzunehmen, was letztlich Wirklichkeit werden wird, und alles daranzusetzen, dem Herrn, der an die Tür klopft, zu essen, zu trinken oder Kleidung zu geben, ihn in seinem Haus willkommen zu heißen, ihn zu pflegen oder ihm Gesellschaft zu leisten (vgl. Mt 25, 35–37).

d) Maria und ihr „fiat“ zum Plan der Liebe Gottes

59 Die Erbin der Hoffnung der Gerechten Israels und die erste unter den Jüngern Jesu Christi ist Maria, seine Mutter. Mit ihrem „fiat“, ihrem Ja zum Plan der Liebe Gottes empfängt sie im Namen der gesamten Menschheit den Gesandten des Vaters, den Erlöser der Menschen in der Geschichte: Im Gesang des „Magnifikat“ verkündet sie das Eintreffen des Heilsgeheimnisses, die Ankunft des „Messias der Armen“ (vgl. Jes 11, 4; 61, 1). Der Gott des Bundes, den die Jungfrau von Nazaret in seinem Geist jubelnd besingt, ist der, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, die Hungernden mit Gaben überhäuft und die Reichen leer ausgehen lässt, die Hochmütigen zerstreut und sein Erbarmen für die bereithält, die ihn fürchten (vgl. Lk 1, 50–53).

Die Jünger Christi sind dazu berufen, aus dem Herzen Marias und aus der Tiefe ihres Glaubens zu schöpfen, der in den Worten des Magnifikat zum Ausdruck kommt, und sich immer wieder neu und stärker bewusst zu machen, „dass man die Wahrheit über Gott, der rettet, über Gott, die Quelle jeglicher Gabe, nicht von der Bekundung seiner vorrangigen Liebe für die Armen und Niedrigen trennen kann, wie sie, bereits im Magnifikat besungen, dann in den Worten und Taten Jesu ihren Ausdruck findet“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris Mater, 37: AAS 79 (1987) 410.</ref> Völlig von Gott abhängig und ganz und gar auf ihn hin ausgerichtet ist Maria mit der Kraft ihres Glaubens „das vollkommenste Bild der Freiheit und der Befreiung der Menschheit und des Kosmos“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia,97: AAS 79 (1987) 597.</ref>

ZWEITES KAPITEL: DIE SENDUNG DER KIRCHE UND DIE SOZIALLEHRE

I. EVANGELISIERUNG UND SOZIALLEHRE

a) Die Kirche: Wohnung Gottes unter den Menschen

60 Die Kirche, die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen teilt, ist mit jedem Mann und jeder Frau an jedem Ort und zu jeder Zeit solidarisch und bringt ihnen die frohe Botschaft vom Reich Gottes, das mit Jesus Christus in ihre Mitte gekommen ist und kommt.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 1: AAS 58 (1966) 1025–1026.</ref> Sie ist in der Menschheit und in der Welt das Sakrament der Liebe Gottes und damit der größten Hoffnung, die jedes echte Projekt und Streben nach menschlicher Befreiung und Entfaltung vorantreibt und stützt. Die Kirche ist unter den Menschen das Zelt der begleitenden Nähe Gottes – „die Wohnung Gottes unter den Menschen“ (Offb 21, 3) –, sodass der Mensch in seinem Bestreben, die Welt menschlicher zu gestalten, nicht allein, verloren oder hilflos ist, sondern in der Erlöserliebe Christi Halt findet. Sie ist Dienerin des Heils, und das nicht im abstrakten oder mehr spirituellen Sinne, sondern im Kontext der Geschichte und der Welt, in der der Mensch lebt,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 40: AAS 58 (1966) 1057–1059; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 53–54: AAS 83 (1991) 859–860; Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 1: AAS 80 (1988) 513–514.</ref> wo ihn die Liebe Gottes und die Berufung, dem göttlichen Plan zu entsprechen, erreicht.

61 Jeder Mensch ist in seiner einzigartigen und unwiederholbaren Individualität offen für die Beziehung zu den anderen in der Gesellschaft. Das Zusammenleben im Netz der Verhältnisse, das Individuen, Familien und Gruppen in Begegnung, Kommunikation und im Austausch miteinander verknüpft, gewährleistet eine höhere Lebensqualität. Das Gemeinwohl, das die Menschen durch die Bildung der sozialen Gemeinschaft anstreben und erreichen, ist eine Garantie für das Wohl der Personen, Familien und Vereinigungen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 32: AAS 58 (1966) 1051.</ref> Aus diesen Gründen wird die Gesellschaft mit ihren strukturellen, das heißt politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Ordnungen hervorgebracht und gestaltet. Die Kirche wendet sich mit ihrer Soziallehre an den Menschen, „insofern er in das komplexe Beziehungsgeflecht der modernen Gesellschaften eingebunden ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 859.</ref> „Auf Grund ihrer Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft“,<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 13: AAS 59 (1967) 263.</ref> ist sie in der Lage, ihn in seiner Berufung und in seinem Streben, in seiner Begrenztheit und in seiner Unzufriedenheit, in seinen Rechten und in seinen Aufgaben zu verstehen und ein Wort des Lebens für ihn bereitzuhalten, das er in den historischen und sozialen Wechselfällen des menschlichen Daseins zum Klingen bringen kann.

b) Die Gesellschaft mit dem Evangelium fruchtbar machen und durchsäuern

62 Mit ihrer Soziallehre will die Kirche das Evangelium im komplexen Netz der sozialen Beziehungen verkünden und aktualisieren. Es geht nicht einfach darum, den Menschen in der Gesellschaft, den Menschen als Adressaten des zu verkündenden Evangeliums zu erreichen, sondern die Gesellschaft selbst mit dem Evangelium fruchtbar zu machen und zu durchsäuern.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 40: AAS 58 (1966) 1057–1059.</ref> Sich um den Menschen zu sorgen bedeutet daher für die Kirche, auch die Gesellschaft in ihre missionarischen und heilbringenden Bemühungen einzubeziehen. Oft sind die Lebensqualität und damit die Umstände, in denen jeder Mann und jede Frau sich selbst begreift und über sich und die eigene Berufung entscheidet, durch das soziale Zusammenleben bedingt. Aus diesem Grund steht die Kirche allem, was in der Gesellschaft geschieht, hervorgebracht und gelebt wird, sowie der moralischen, das heißt wahrhaft menschlichen und menschlich machenden Qualität des gesellschaftlichen Lebens nicht gleichgültig gegenüber. Die Gesellschaft und mit ihr die Politik, die Wirtschaft, die Arbeit, die Rechtsordnung und die Kultur sind keine rein säkulare und weltliche Wirklichkeit, für die deshalb die Botschaft und Ökonomie des Heils unbedeutend und fremd wären. Denn die Gesellschaft und alles, was in ihr geschieht, betrifft den Menschen. Sie ist die Gesellschaft von Menschen, die „der erste und grundlegende Weg der Kirche“ sind.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 14: AAS 71 (1979) 284.</ref>

63 Mit ihrer Soziallehre nimmt die Kirche den Verkündigungsauftrag wahr, den der Herr ihr anvertraut hat. In den historischen Wechselfällen aktualisiert sie die befreiende und erlösende Botschaft Christi, das Evangelium vom Reich. Mit der Verkündigung des Evangeliums „bescheinigt sie dem Menschen im Namen Christi seine Würde und seine Berufung zu personaler Gemeinschaft; sie lehrt ihn die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe, die der göttlichen Weisheit entsprechen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2419.</ref>

Als Evangelium, das durch die Kirche im Heute des Menschen widerhallt,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt bei der Eucharistiefeier am Pfingstsonntag zum Abschluss der „Rerum novarum“-Feiern (19. Mai 1991): AAS 84 (1992) 282.</ref> ist die Soziallehre befreiendes Wort. Das bedeutet, dass sie die Wirksamkeit der Wahrheit und der Gnade des Geistes Gottes besitzt, der die Herzen durchdringt und sie bereit macht, Gedanken und Pläne der Liebe, der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens zu hegen. Das Soziale zu evangelisieren heißt also, dem Herzen der Menschen die Sinn gebende und befreiende Dynamik des Evangeliums einzugießen, so dass sie auf eine Gesellschaft hinarbeiten, die Christus und damit dem Menschen wahrhaft angemessen ist: es heißt, eine Stadt des Menschen zu bauen, die menschlicher ist, weil sie dem Reich Gottes mehr entspricht.

64 Mit ihrer Soziallehre entfernt sich die Kirche nicht nur nicht von ihrer eigenen Sendung, sondern ist ihr im strengen Sinne treu. Die von Christus vollbrachte und der heilbringenden Sendung der Kirche anvertraute Erlösung gehört sicherlich der übernatürlichen Ordnung an. Diese Dimension ist aber kein einschränkender, sondern ein umfassender Ausdruck des Heils.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 9. 30: AAS 68 (1976) 10–11. 25–26; Johannes Paul II., Ansprache auf der Dritten Allgemeinen Konferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe, Puebla (28. Januar 1979), III/4–7: AAS 71 (1979) 199–204; Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 63–64. 80: AAS 79 (1987)581–582. 590–591.</ref> Das Übernatürliche hat man sich nicht als eine Größe oder einen Raum vorzustellen, der dort beginnt, wo das Natürliche endet, sondern als Erhöhung des Natürlichen, so dass nichts aus der Ordnung der Schöpfung und des Menschlichen der übernatürlichen und theologischen Ordnung des Glaubens und der Gnade fremd oder von ihr ausgeschlossen, sondern vielmehr alles in ihr erkannt, aufgenommen und emporgehoben ist: „In Jesus Christus erhält die sichtbare Welt, die von Gott für den Menschen geschaffen ist (vgl. Gen 1, 26–30) – jene Welt, die mit der Sünde »der Vergänglichkeit unterworfen« wurde (Röm 8, 20; vgl. ibid., 8, 19–22) – erneut ihre ursprüngliche Verbindung mit eben dieser göttlichen Quelle der Weisheit und Liebe zurück. In der Tat, »Gott hat die Welt so geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16). Wie im Menschen-Adam diese Verbindung zerbrochen ist, so wird sie im Menschen-Christus wiederhergestellt (vgl. Röm 5, 12–21)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 8: AAS 71 (1979) 270.</ref>

65 Die Erlösung beginnt mit der Menschwerdung, durch die sich der Sohn Gottes gemäß der von der Weisheit des Schöpfergottes eingesetzten Solidarität alles Menschliche außer der Sünde zu Eigen macht und in sein Geschenk der Erlöserliebe mit hineinnimmt. Diese Liebe erreicht den Menschen in der Ganzheit seines Seins: körperlich und geistig und in der solidarischen Beziehung zu den anderen. Der ganze Mensch – keine losgelöste Seele und kein in seiner Individualität eingeschlossenes Wesen, sondern die Person und die Gesellschaft der Personen – ist in die Heilsökonomie des Evangeliums miteinbezogen. Als Trägerin der Botschaft des Evangeliums von der Menschwerdung und Erlösung kann die Kirche keinen anderen Weg gehen: mit ihrer Soziallehre und mit der durch diese in Gang gesetzten wirkungsvollen Tätigkeit nimmt sie ihrem Profil und ihrer Sendung nicht nur nichts an Kraft, sondern ist Christus treu und offenbart sich den Menschen als „allumfassendes Heilssakrament“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 48: AAS 57 (1965) 53.</ref> Und dies gilt besonders für eine Epoche wie die unsrige, die von einer zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeit und weltumspannenden Relevanz der sozialen Fragen gekennzeichnet ist.

c) Soziallehre, Evangelisierung und menschlicher Fortschritt

66 Die Soziallehre ist wesentlicher Bestandteil des Evangelisierungsauftrags der Kirche. Alles, was die Gemeinschaft der Menschen betrifft – Situationen und Probleme im Kontext der Gerechtigkeit, der Befreiung, der Entwicklung, der Beziehungen zwischen den Völkern, des Friedens – hat auch mit der Evangelisierung zu tun, und diese wäre nicht vollständig, wenn sie die fordernde Wechselbeziehung zwischen dem Evangelium und dem konkreten, persönlichen und sozialen Leben des Menschen nicht berücksichtigen würde.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 29: AAS 68 (1976) 25.</ref> Zwischen der Evangelisierung und dem menschlichen Fortschritt gibt es tiefe Verbindungen: „Verbindungen anthropologischer Natur, denn der Mensch, dem die Evangelisierung gilt, ist kein abstraktes Wesen, sondern sozialen und wirtschaftlichen Problemen unterworfen; Verbindungen theologischer Natur, da man ja den Schöpfungsplan nicht vom Erlösungsplan trennen kann, der hineinreicht bis in die ganz konkreten Situationen des Unrechts, das es zu bekämpfen, und der Gerechtigkeit, die es wiederherzustellen gilt. Verbindungen schließlich jener ausgesprochen biblischen Ordnung, nämlich der der Liebe: Wie könnte man in der Tat das neue Gebot verkünden, ohne in der Gerechtigkeit und im wahren Frieden das echte Wachstum des Menschen zu fördern?“.<ref> Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 31: AAS 68 (1976) 26.</ref>

67 Der Soziallehre kommt „die Bedeutung eines Instrumentes der Glaubensverkündigung zu“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 860.</ref> und sie entwickelt sich in der immer neuen Begegnung zwischen der Botschaft des Evangeliums und der menschlichen Geschichte. So gesehen ist diese Lehre für die Kirche ein besonderer Weg, um den Dienst am Wort und ihre prophetische Funktion auszuüben:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 570–572.</ref> „Die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus, den Erlöser, miteinbezieht“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref> Wir sprechen hier nicht von einem Interesse oder einer Tätigkeit „am Rande“, die zum Auftrag der Kirche hinzukommt, sondern wir haben es mit dem eigentlichen Kern ihres dienenden Charakters zu tun: Mit der Soziallehre verkündet die Kirche „jedem Menschen Gott und das Heilsmysterium in Christus und enthüllt dadurch den Menschen dem Menschen selbst“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 860.</ref> Hierbei handelt es sich um einen Dienst, der sich nicht nur aus der Verkündigung, sondern auch aus der Zeugenschaft ergibt.

68 Die Kirche kommt ihrer Verantwortung für das Leben in der Gesellschaft nicht unter jedem beliebigen Blickwinkel nach, sondern mit der ihr eigenen Kompetenz der Verkündigung Christi, des Erlösers:<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2420.</ref> „Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fließen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Auf bau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 42: AAS 58 (1966) 1060.</ref> Das bedeutet, dass sich die Kirche mit ihrer Soziallehre nicht zu technischen Fragen äußert und keine Systeme oder Modelle der sozialen Organisation aufstellt oder vorschlägt:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 570–572.</ref> das gehört nicht zu der ihr von Christus anvertrauten Sendung. Die Kompetenz der Kirche stammt aus dem Evangelium: der Botschaft von der Befreiung des Menschen, die der Mensch gewordene Sohn Gottes verkündet und bezeugt hat.

d) Recht und Pflicht der Kirche

69 Mit ihrer Soziallehre verfolgt die Kirche den Zweck, „dem Menschen auf dem Weg zu seinem Heil beizustehen“:<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 860.</ref> das ist ihr vorrangiges und einziges Ziel. Es gibt keine anderen Absichten – etwa die, die Aufgaben anderer zu ersetzen oder zu übernehmen und dabei die eigenen zu vernachlässigen, oder Pläne zu verfolgen, die nichts mit ihrer Sendung zu tun haben. Diese Sendung besteht in dem Recht und zugleich der Pflicht der Kirche, eine eigene Soziallehre zu erarbeiten und mit ihr in die Gesellschaft und ihre Strukturen einzugreifen, indem sie die Verantwortung und die Aufgaben wahrnimmt, die diese Lehre formuliert hat.

70 Die Kirche hat das Recht, für den Menschen Lehrerin der Glaubenswahrheit zu sein: nicht nur der dogmatischen, sondern auch der moralischen Wahrheit, die aus der Natur des Menschen selbst und aus dem Evangelium entspringt.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 14: AAS 58 (1966) 940; Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 27. 64. 110: AAS 85 (1993) 1154–1155. 1183–1184. 1219–1220.</ref> Denn das Wort des Evangeliums soll nicht nur gehört, sondern in die Tat umgesetzt werden (vgl. Mt 7, 24; Lk 6, 46–47; Joh 14, 21.23–24; Jak 1, 22): die Glaubenstreue äußert sich in einem in sich stimmigen Verhalten, das nicht auf das im engeren Sinne kirchliche oder spirituelle Umfeld beschränkt ist, sondern alle Lebens- und Verantwortungsbereiche des Menschen miteinbezieht. Auch wenn diese weltlicher Natur sind, haben sie doch den Menschen zum Gegenstand – und damit den, den Gott durch die Kirche dazu beruft, an seinem Heilsgeschenk teilzuhaben.

Auf das Geschenk des Heils soll der Mensch nicht mit einer partiellen, abstrakten oder verbalen Zustimmung, sondern mit seinem ganzen Leben und allen Beziehungen, die es prägen, reagieren und nichts einem profanen und weltlichen, nicht heilsrelevanten oder dem Heil fern stehenden Bereich überlassen. Deshalb ist die Soziallehre für die Kirche kein Privileg, keine Extravaganz, keine besondere Gunst und auch keine Einmischung: es ist ihr Recht, den sozialen Bereich zu evangelisieren, das heißt, dem befreienden Wort des Evangeliums in der vielschichtigen Welt der Produktion, der Arbeit, des Unternehmertums, der Finanzen, des Handels, der Politik, der Rechtsprechung, der Kultur und der sozialen Kommunikation, in der der Mensch lebt, Gehör zu verschaffen.

71 Dieses Recht ist zugleich auch eine Pflicht, auf die die Kirche nicht verzichten kann, ohne sich selbst und ihre Treue zu Christus zu verleugnen: „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ (1 Kor 9, 16). Diese Mahnung, die der heilige Paulus an sich selber richtet, hallen im Bewusstsein der Kirche nach und erinnern sie daran, alle Wege der Evangelisierung zu beschreiten; nicht nur die, die sich auf das Gewissen des Einzelnen, sondern auch die, die sich auf die öffentlichen Einrichtungen erstrecken: einerseits wäre eine „Einschränkung der Religiösen auf den rein privaten Bereich“ falsch,<ref> Johannes Paul II., Botschaft zum 30. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Erklärung über die Menschenrechte am 10. Dezember (2. Dezember 1978): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, I (1978) 261.</ref> andererseits kann man die christliche Botschaft nicht auf ein rein überirdisches Heil ausrichten, das nicht in der Lage wäre, die irdische Gegenwart zu erleuchten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref> Aufgrund der öffentlichen Relevanz des Evangeliums und des Glaubens und aufgrund der zerstörerischen Auswirkungen der Ungerechtigkeit, das heißt der Sünde, kann die Kirche den sozialen Angelegenheiten gegenüber nicht gleichgültig bleiben:<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi,34: AAS 68 (1976) 28.</ref> „Der Kirche kommt es zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“.<ref> CIC, can. 747, § 2.</ref>

II. DAS WESEN DER SOZIALLEHRE

a) Die vom Glauben erleuchtete Erkenntnis

72 Die Soziallehre war nicht von Anfang an als ein organisches System beabsichtigt, sondern hat sich im Lauf der Zeit durch die zahlreichen lehramtlichen Äußerungen zu sozialen Fragen herausgebildet. Diese Entstehungsgeschichte macht die Tatsache verständlich, dass es im Hinblick auf das Wesen, die Methode und die epistemologische Struktur der Soziallehre der Kirche zu einigen Schwankungen hat kommen können. In dieser Hinsicht enthält die Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ eine entscheidende Klarstellung, der ein bedeutsamer Hinweis in „Laborem exercens“<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 3: AAS 73 (1981) 583–584.</ref> vorangegangen war: die kirchliche Soziallehre „gehört … nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie, insbesondere der Moraltheologie“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 571.</ref> Sie lässt sich nicht nach sozioökonomischen Parametern definieren. Sie ist kein ideologisches oder pragmatisches System, das die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen festlegen und zusammenfügen soll, sondern eine Kategorie für sich: sie ist „die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene, und dies im Licht des Glaubens und der kirchlichen Überlieferung. Ihr Hauptziel ist es, solche Wirklichkeiten zu deuten, wobei sie prüft, ob diese mit den Grundlinien der Lehre des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Berufung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten der Christen eine Orientierung zu geben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 571.</ref>

73 Daher ist die Soziallehre theologischer und insbesondere moraltheologischer Natur, „weil es sich um eine Lehre handelt, die darauf abzielt, das Verhalten der Personen zu beeinflussen“:<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 572.</ref> „Sie liegt im Schnittpunkt des christlichen Lebens und Bewusstseins mit den Situationen der Welt und findet ihren Ausdruck in den Anstrengungen, die einzelne, Familien, im Kultur- und Sozialbereich Tätige, Politiker und Staatsmänner unternehmen, um dem christlichen Leben Gestalt und Anwendung in der Geschichte zu verleihen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 59: AAS 83 (1991) 864–865.</ref> In der Tat spiegelt die Soziallehre die drei Ebenen der moraltheologischen Lehre wider: die Begründungsebene der Motivationen; die Richtungsebene der Normen des gesellschaftlichen Lebens; und die Entscheidungsebene des Gewissens, das aufgerufen ist, die objektiven und allgemeinen Normen auf die konkreten und besonderen gesellschaftlichen Situationen zu übertragen. Diese drei Ebenen bestimmen implizit auch die eigene Methode und die spezifische epistemologische Struktur der kirchlichen Soziallehre.

74 Die Soziallehre basiert im Wesentlichen auf der biblischen Offenbarung und der Überlieferung der Kirche. Aus dieser Quelle, die von oben kommt, schöpft sie die Inspiration und das Licht, um die menschliche Erfahrung und die Geschichte zu begreifen, zu beurteilen und zu lenken. Vor und über allem steht der Plan Gottes im Hinblick auf die Schöpfung und insbesondere im Hinblick auf das Leben und das Schicksal des Menschen, der zur trinitarischen Gemeinschaft berufen ist.

Der Glaube, der das göttliche Wort annimmt und in die Tat umsetzt, arbeitet wirkungsvoll mit der Vernunft zusammen. Die Intelligenz des Glaubens und vor allem des auf die Praxis hin ausgerichteten Glaubens wird von der Vernunft strukturiert und macht von allen Leistungen Gebrauch, die diese ihr anbietet. Und auch die Soziallehre als ein auf den zufälligen und historischen Charakter der Praxis angewandtes Wissen verbindet „fides et ratio“<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Fides et ratio: AAS 91 (1999) 5–88.</ref> miteinander und ist ein beredter Ausdruck ihrer fruchtbaren Beziehung.

75 Der Glaube und die Vernunft bilden die beiden Erkenntniswege der Soziallehre, die ja aus zwei Quellen schöpft: der Offenbarung und der menschlichen Natur. Die Glaubenserkenntnis versteht und lenkt das Leben des Menschen im Licht des Heilsgeheimnisses in der Geschichte: dass Gott sich uns Menschen in Christus offenbart und schenkt. Diese Intelligenz des Glaubens schließt die Vernunft mit ein, durch die sie, soweit möglich, die geoffenbarte Wahrheit erklärt und versteht. Sie verschmilzt mit der Wahrheit der menschlichen Natur, wie sie im göttlichen Schöpfungsplan zum Ausdruck kommt,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 14: AAS 58 (1966) 940.</ref> oder besser mit der umfassenden Wahrheit der Person als eines spirituellen und körperlichen Wesens verschmilzt, das zu Gott, zu den anderen Menschen und zu den anderen Geschöpfen in Beziehung steht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 13. 50. 79: AAS 85 (1993) 1143–1144. 1173–1174. 1197.</ref>

Jedoch wird die Rolle der Vernunft durch die zentrale Ausrichtung auf das Geheimnis Christi nicht geschwächt oder ausgeschlossen, sodass die rationale Plausibilität und folglich auch die Allgemeingültigkeit der Soziallehre gewahrt bleiben. Da das Geheimnis Christi das Geheimnis des Menschen erhellt, verleiht die Vernunft dem Verständnis der menschlichen Würde und den zu ihrem Schutz erhobenen moralischen Forderungen die Fülle des Sinns. Die Soziallehre ist ein vom Glauben erleuchtetes Erkennen, das – gerade deshalb – eine größere Erkenntnisfähigkeit zum Ausdruck bringt. Alle Wahrheiten, die sie verkündet, und alle Pflichten, die sich daraus ergeben, entsprechen der Vernunft: Sie können von allen angenommen und geteilt werden.

b) In engem Dialog mit allen Wissensbereichen

76 Die Soziallehre der Kirche nutzt alle kognitiven Beiträge aus sämtlichen Wissensbereichen und verfügt über eine wichtige interdisziplinäre Dimension: „Um in verschiedenen und sich ständig verändernden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen die eine Wahrheit über den Menschen besser zur Geltung zu bringen, tritt diese Lehre mit den verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen, in einen Dialog ein, integriert ihre Beiträge“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 59: AAS 83 (1991) 864.</ref> Die Soziallehre bedient sich der für sie relevanten Beiträge der Philosophie und ebenso der beschreibenden Beiträge der Humanwissenschaften.

77 Wesentlich ist vor allem der Beitrag des Philosophie, der aus der Rückbesinnung auf die menschliche Natur als Quelle und auf die Vernunft als Weg der Erkenntnis hervorgegangen ist, wie sie auch der Glaube fordert. Durch die Vernunft nimmt die Soziallehre die Philosophie in der ihr eigenen inneren Logik oder Argumentationsweise in sich auf.

Mit der Aussage, dass die Soziallehre eher der Theologie als der Philosophie zuzuordnen ist, sollen die Rolle und der Beitrag der Philosophie nicht etwa verkannt oder unterbewertet werden. Denn die Philosophie ist ein geeignetes und unverzichtbares Werkzeug im Hinblick auf das richtige Verständnis grundlegender Gehalte der Soziallehre – etwa der Person, der Gesellschaft, der Freiheit, des Bewusstseins, der Ethik, des Rechts, der Justiz, des Gemeinwohls, der Solidarität, der Subsidiarität, des Staates –, und dieses Verständnis wiederum ist geeignet, ein harmonisches Zusammenleben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Und ebenso lässt die Philosophie die rationale Plausibilität der Deutung erkennen, die die Gesellschaft im Licht des Evangeliums erfährt, und drängt jede Intelligenz und jedes Bewusstsein dazu, sich der Wahrheit zu öffnen und ihr zuzustimmen.

78 Ein wichtiger Beitrag zur kirchlichen Soziallehre stammt auch aus den Human- und Sozialwissenschaften:109 <ref> In diesem Zusammenhang ist die Einrichtung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften von Bedeutung; in dem anlässlich ihrer Errichtung herausgegebenen Motu proprio heißt es: „Die sozialwissenschaftlichen Forschungen können wirksam zur Verbesserung der menschlichen Beziehungen beitragen, wie die auf den verschiedenen Gebieten des Zusammenlebens erreichten Fortschritte zeigen, vor allem in unserem Jahrhundert, das bald zu Ende geht. Aus diesem Grund hat sich die Kirche, immer auf das wahre Wohl des Menschen bedacht, mit wachsendem Interesse diesem Bereich der wissenschaftlichen Forschung zugewandt, um so konkrete Hinweise für die Erfüllung ihrer Lehraufgaben zu erhalten“: Johannes Paul II., Motu proprio Socialium Scientiarum (1. Januar 1994): AAS 86 (1994) 209.</ref> 110 <ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 860.</ref> aufgrund ihres jeweiligen Anteils an der Wahrheit ist keine Wissenschaft ausgeschlossen. Die Kirche erkennt alles an und nimmt alles auf, was zum Verständnis des Menschen im ständig zunehmenden, veränderlichen und komplexen Netz der sozialen Beziehungen beiträgt. Sie ist sich der Tatsache bewusst, dass man nicht mit der Theologie allein und ohne die Beiträge vieler Wissensbereiche, auf die die Theologie selbst sich immer wieder bezieht, zu einer tieferen Kenntnis des Menschen gelangt.

Durch die aufmerksame und beständige Offenheit für die Wissenschaften wird die Soziallehre kompetent, konkret und aktuell. Dank dieser kann die Kirche den Menschen in der Gesellschaft genauer begreifen, überzeugender zu den Menschen ihrer eigenen Zeit sprechen und ihre Aufgabe wirksamer erfüllen, die darin besteht, dem Wort Gottes und dem Glauben, von dem die Soziallehre ausgeht,110 im Bewusstsein und im sozialen Empfinden unserer Zeit Gestalt zu geben.

Ein solcher interdisziplinärer Dialog regt auch die Wissenschaften dazu an, die Bedeutung, den Wert und das Engagement aufzugreifen, die die Soziallehre erschließt, und „sich in einem breiteren Horizont dem Dienst am einzelnen, in seiner vollen Berufung erkannten und geliebten Menschen zu öffnen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 59: AAS 83 (1991) 864.</ref>

c) Ausdruck des Lehramts der Kirche

79 Die Soziallehre stammt von der Kirche, weil die Kirche das Subjekt ist, das sie erarbeitet, verbreitet und lehrt. Sie ist nicht das Vorrecht eines Teils, sondern der ganzen kirchlichen Gemeinschaft: sie ist Ausdruck des Verständnisses, das die Kirche von der Gesellschaft hat, und des Standpunkts, den sie gegenüber ihren Strukturen und Veränderungen einnimmt. Die gesamte kirchliche Gemeinschaft – Priester, Ordensleute und Laien – ist je nach ihren unterschiedlichen Aufgaben, Charismen und Diensten an der Entstehung der Soziallehre beteiligt.

Die vielfältigen und vielgestaltigen Beiträge – auch sie Ausdruck des „übernatürlichen Glaubenssinns des ganzen Volkes“<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 12: AAS 57 (1965) 16.</ref> – werden vom Lehramt aufgenommen, interpretiert und vereinheitlicht und sodann als Soziallehre der Kirche promulgiert. Das Lehramt steht in der Kirche denjenigen zu, die das „munus docendi“ innehaben, also den Auftrag, mit der von Christus empfangenen Autorität im Bereich des Glaubens und der Moral zu lehren. Die Soziallehre ist nicht nur das Ergebnis des Denkens und Wirkens von Personen, die mit bestimmten Qualifikationen ausgestattet sind, sondern sie ist das Denken der Kirche, insofern es vom Lehramt mit jener Autorität artikuliert wird, die Christus den Aposteln und ihren Nachfolgern verliehen hat: dem Papst und den in Gemeinschaft mit ihm stehenden Bischöfen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2034.</ref>

80 In der Soziallehre der Kirche wird das ganze Lehramt in all seinen Bestandteilen und Ausdrucksformen tätig. An erster Stelle steht das universale Lehramt des Papstes und des Konzils: dieses Lehramt bestimmt die Richtung und Entwicklung der Soziallehre. Es wird durch das Lehramt der Bischöfe ergänzt, das seine Lehre in den konkreten und je eigenen vielfältigen und unterschiedlichen Situationen vor Ort verdeutlicht, übersetzt und aktualisiert.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 3–5: AAS 63 (1971) 402–405.</ref>

Die Soziallehre der Bischöfe enthält wertvolle Beiträge und Anregungen für das Lehramt des Römischen Pontifex. Auf diese Weise vollzieht sich ein Austausch, der die Kollegialität der mit dem Papst vereinten Hirten in der sozialen Lehre der Kirche faktisch zum Ausdruck bringt. Die Gesamtheit der Lehre, die daraus entsteht, umfasst und ergänzt die allgemeine Lehre des Papstes und die besondere der Bischöfe.

Als Teil der Sittenlehre der Kirche besitzt die Soziallehre dieselbe Würde und dieselbe Autorität wie diese. Sie ist authentische Lehre, die von den Gläubigen angenommen und befolgt werden soll.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2037.</ref> Das lehramtliche Gewicht der verschiedenen Unterweisungen und die ihnen geschuldete Zustimmung müssen je nach ihrer Eigenart, dem Grad ihrer Unabhängigkeit von zufälligen und veränderlichen Bestandteilen und nach der Häufigkeit bewertet werden, mit der sie herangezogen werden.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Donum veritatis,16–17. 23: AAS 82 (1990) 1557–1558. 1559–1560.</ref>

d) Für eine in Gerechtigkeit und Liebe versöhnte Gesellschaft

81 Der Gegenstand der Soziallehre ist im Wesentlichen auch ihre Daseinsberechtigung: der Mensch, der zum Heil berufen und deshalb von Christus der Sorge und Verantwortung der Kirche anvertraut worden ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 53: AAS 83 (1991) 859.</ref> In ihrer Soziallehre befasst sich die Kirche mit dem menschlichen Leben in der Gesellschaft, und sie tut dies in dem Bewusstsein, dass der Schutz und die Entfaltung der Personen, die das Ziel jeder Gemeinschaft sind, entscheidend von der Qualität des gesellschaftlichen Lebens oder den Beziehungen der Gerechtigkeit und der Liebe abhängen, aus denen dieses gewoben ist. Denn in der Gesellschaft geht es um die Würde und die Rechte der Person und um den Frieden in den Beziehungen zwischen Personen und Personengemeinschaften. Diese Güter muss die soziale Gemeinschaft anstreben und gewährleisten.

So gesehen erfüllt die Soziallehre eine Aufgabe der Verkündigung, aber auch der Anklage.

Der Verkündigung vor allem dessen, was Eigentum der Kirche ist: „eine umfassende Sicht des Menschen und des Menschentums“,<ref> PaulVI., Enz. Populorum progressio,13: AAS 59 (1967) 264.</ref> und dies nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf praktischer Ebene. Denn die Soziallehre bietet nicht nur Bedeutungen, Werte und Urteilskriterien, sondern auch die daraus abgeleiteten Normen und Richtlinien des Handelns.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 4: AAS 63 (1971) 403–404; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 570–572; Katechismus der Katholischen Kirche, 2423; Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia,72: AAS 79 (1987) 586.</ref> Mit dieser Lehre verfolgt die Kirche nicht das Ziel, die Gesellschaft zu strukturieren und zu organisieren, sondern die Gewissen anzuspornen, anzusprechen und zu bilden.

In Gegenwart der Sünde kommt der Soziallehre auch eine Aufgabe der Anklage zu: die Sünde der Ungerechtigkeit und der Gewalt durchzieht die Gesellschaft in vielfältiger Weise und nimmt in ihr Gestalt an.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 25: AAS 58 (1966) 1045–1046.</ref> Mit dieser Anklage macht sie sich zum Richter und Anwalt der missachteten und verletzten Rechte, insbesondere der Rechte der Armen, der Kleinen und der Schwachen,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099–1100; Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 196–197.</ref> und sie tut dies umso nachdrücklicher, je weiter sich diese Ungerechtigkeiten und Gewalttaten ausbreiten, ganze Gruppen von Personen und große geographische Gebiete der Welt erfassen und soziale Fragen, Unterdrückung und Ungleichgewichte aufkommen lassen, die die Gesellschaften erschüttern. Ein großer Teil der kirchlichen Soziallehre ist von den großen sozialen Fragen ausgelöst und bestimmt, auf die sie eine Antwort der sozialen Gerechtigkeit geben will.

82 Die Zielsetzung der Soziallehre ist religiöser und moralischer Natur.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 190; Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 196–197; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 42: AAS 58 (1966) 1079; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 570–572; Id., Enz. Centesimus annus, 53: AAS 83 (1991) 859; Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia,72: AAS 79 (1987) 585–586.</ref> Religiös, weil der Evangelisierungs- und Heilsauftrag der Kirche den Menschen „in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins“<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 14: AAS 71 (1979) 284; vgl. Id., Ansprache auf der Dritten Allgemeinen Konferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe, Puebla (28. Januar 1979), III/2: AAS 71 (1979) 199.</ref> umfasst. Moralisch, weil die Kirche einen „Humanismus im Vollsinn des Wortes“,<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 42: AAS 59 (1967) 278.</ref> das heißt die „Befreiung von all dem, von dem der Mensch niedergedrückt wird“,<ref> Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 9: AAS 68 (1976) 10.</ref> und die „umfassende Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit“<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 42: AAS 59 (1967) 278.</ref> anstrebt. Die Soziallehre zeichnet die Wege vor, die gegangen werden müssen, um eine in der Gerechtigkeit und in der Liebe versöhnte und harmonische Gesellschaft zu verwirklichen, die „einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt“ (2 Petr 3, 13) als Beginn und Präfiguration in der Geschichte vorwegnimmt.

e) Eine Botschaft für die Söhne und Töchter der Kirche und für die Menschheit

83 Erster Adressat der Soziallehre ist die kirchliche Gemeinschaft in allen ihren Gliedern, weil diese alle in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen müssen. Die Soziallehre ruft das Gewissen dazu auf, die Pflichten der Gerechtigkeit und der Liebe im gesellschaftlichen Leben zu erkennen und zu erfüllen. Diese Lehre ist ein Licht sittlicher Wahrheit, das je nach der Berufung und der Aufgabe eines jeden Christen geeignete Antworten hervorbringt. Die Aufgaben der Evangelisierung, das heißt der Lehre, der Katechese und der Bildung, die sich aus der kirchlichen Soziallehre ergeben, wenden sich an jeden einzelnen Christen seinen jeweiligen Kompetenzen, Charismen, Ämtern und seinem Verkündigungsauftrag entsprechend.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2039.</ref>

Die Soziallehre betrifft außerdem Verantwortlichkeiten im Hinblick auf die Errichtung, die Organisation und das Funktionieren der Gesellschaft: politische, wirtschaftliche, verwaltungstechnische, also Verpflichtungen weltlicher Art, die den gläubigen Laien und nicht den Priestern und Ordensleuten obliegen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2442.</ref> Für diese Aufgaben sind die Laien aufgrund der Weltlichkeit ihres Lebensstatus’ und ihrer Berufung in besonderer Weise zuständig:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 15: AAS 81 (1989) 413; II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.</ref> indem sie diese Verantwortung wahrnehmen, setzen die Laien die Soziallehre in die Tat um und erfüllen den weltlichen Sendungsauftrag der Kirche.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 43: AAS 58 (1966) 1061–1064; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 81: AAS 59 (1967) 296–297.</ref>

84 Über ihre vorrangige und besondere Bestimmung für die Söhne und Töchter der Kirche hinaus hat die Soziallehre eine universale Bestimmung. Das Licht des Evangeliums, das die Soziallehre in der Gesellschaft verbreitet, erleuchtet alle Menschen, und jedes Bewusstsein und jede Intelligenz ist in der Lage, die menschliche Tiefe der von ihr formulierten Inhalte und Werte und die menschliche und humanisierende Kraft ihrer Handlungsnormen zu ermessen. Und so sind alle im Namen des Menschen, seiner einen und einzigartigen Würde sowie seines Schutzes und seiner Entfaltung in der Gesellschaft, alle im Namen des einen Gottes, der der Schöpfer und das letzte Ziel des Menschen ist, Adressaten der Soziallehre der Kirche.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra, AAS 53 (1961) 453.</ref> Die Soziallehre richtet sich ausdrücklich an alle Menschen guten Willens<ref> Hierauf wird seit der Enzyklika Johannes’ XXIII. Pacem in terris in den Grußworten aller sozialen Dokumente hingewiesen.</ref> und wird in der Tat gehört von den Mitgliedern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, den Anhängern anderer religiöser Traditionen und von Personen, die keiner religiösen Gruppe angehören.

f) Im Zeichen von Kontinuität und Erneuerung

85 Da sich die Soziallehre vom ewigen Licht des Evangeliums leiten lässt und die Entwicklung der Gesellschaft beständig im Blick hat, ist sie von Kontinuität und Erneuerung gekennzeichnet.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 3: AAS 80 (1988) 515; Pius XII.,Ansprache an die Teilnehmer der Versammlung der Katholischen Aktion (29. April 1945): Discorsi e Radiomessaggi di Pio XII,VII,37–38; Johannes Paul II., Ansprache beim Internationalen Symposion „Von »Rerum novarum« zu »Laborem exercens«: in Richtung auf das Jahr 2000“ (3. April 1982): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, V, 1 (1982) 1095–1096.</ref>

Sie weist vor allem die Kontinuität einer Lehre auf, die sich auf universale, aus der Offenbarung und von der menschlichen Natur abgeleitete Werte beruft. Deshalb ist die Soziallehre von den verschiedenen Kulturen, den unterschiedlichen Ideologien, den vielfältigen Meinungen unabhängig: sie ist eine konstante Lehre, die sich „gleich bleibt in ihrer Grundidee, in ihren »Leitprinzipien«, in ihren »Urteilskriterien«, in ihren wesentlichen »Richtlinien für das konkrete Handeln« und vor allem in ihrer lebendigen Verbindung mit der Botschaft des Herrn“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 3: AAS 80 (1988) 515.</ref> In diesem ihrem zentralen und dauerhaften Kern bewegt sich die Soziallehre durch die Geschichte, ohne von ihr beeinflusst zu werden und ohne dass sie Gefahr läuft, sich selbst untreu zu werden.

Andererseits bezieht die Soziallehre der Kirche in ihrer beständigen Hinwendung zur Geschichte Stellung zu den Ereignissen, die in dieser geschehen, und legt damit eine Fähigkeit der beständigen Erneuerung an den Tag. Die Festigkeit in den Prinzipien macht aus ihr kein starres Lehrsystem, sondern ein Lehramt, das sich dem Neuen zu öffnen vermag, ohne dadurch seine Identität zu verlieren,<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 72: AAS 79 (1987) 585–586.</ref> weil es „die notwendigen und ratsamen Anpassungen erfährt, die vom Wandel der geschichtlichen Bedingungen und vom unaufhörlichen Fluss der Ereignisse nahe gelegt werden, in dem das tägliche Leben der Menschen und Gesellschaften verläuft“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 3: AAS 80 (1988) 515.</ref>

86 Die Soziallehre präsentiert sich als eine „Baustelle“, auf der immer gearbeitet wird und wo die ewige Wahrheit das jeweils Neue durchdringt und durchwirkt und Wege der Gerechtigkeit und des Friedens aufzeigt. Der Glaube will die veränderliche soziale und politische Wirklichkeit nicht in ein geschlossenes Schema einsperren.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46 AAS 83 (1991) 850–851.</ref> 138 <ref> Paul >VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 42: AAS 63 (1971) 431.</ref> 139 <ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 179; Pius XII. spricht in der Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 197, von der „katholischen Soziallehre“, und im Ap. Schr. Menti nostrae vom 23. September 1950: AAS 42 (1950) 657, von der „Soziallehre der Kirche“. Johannes XXIII. verwendet die Begriffe „Soziallehre der Kirche“ (Enz. Mater et magistra: AAS 53 [1961] 453; Enz. Pacem in terris: AAS 55 [1963] 300–301), „christliche Soziallehre“ (Enz. Mater et magistra: AAS 53 [1961] 453) oder auch „katholische Soziallehre“ (Enz. Mater et magistra: AAS 53 [1961] 454).</ref> Vielmehr trifft das Gegenteil zu: der Glaube ist der Sauerteig des Neuen und der Kreativität. Die beständig aus ihm hervorgehende Lehre „entfaltet sich durch Überlegung und Forschung in ständiger Anwendung auf den ständigen Wechsel der Dinge dieser Welt, alles unter dem Impuls des Evangeliums als einer Quelle der Erneuerung“.138

Als Mutter und Lehrmeisterin ist die Kirche nicht verschlossen und nicht in sich selbst zurückgezogen, sondern immer auf den Menschen hin offen, hingeordnet und ihm zugewandt, dessen Heilsbestimmung ihre Daseinsberechtigung ist. Sie ist unter den Menschen das Bildnis des Guten Hirten, der den Menschen dort sucht und findet, wo er steht, in seiner existentiellen und historischen Lebenssituation. Und hier ermöglicht ihm die Kirche auch die Begegnung mit dem Evangelium, der Botschaft der Befreiung und Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens.

III. DIE SOZIALLEHRE IN UNSERER ZEIT: HISTORISCHE HINWEISE

a) Der Beginn eines neuen Weges

87 Der Begriff der Soziallehre geht auf Pius XI. zurück139 und bezeichnet das „Corpus“ der Lehre zu sozial relevanten Themen, die sich seit der Enzyklika „Rerum novarum“ Leos XIII.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 97–144.</ref> in der Kirche durch das Lehramt der römischen Päpste und der mit ihnen in Gemeinschaft stehenden Bischöfe entwickelt hat.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 3: AAS 73 (1981) 583–584; Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 1: AAS 80 (1988) 513–514.</ref> Die Sorge um die sozialen Belange hat natürlich nicht erst mit diesem Dokument ihren Anfang genommen, denn die Kirche hat der Gesellschaft nie gleichgültig gegenübergestanden; nichtsdestoweniger ist die Enzyklika „Rerum novarum“ der Ausgangspunkt eines neuen Weges: gestützt auf eine jahrhundertealte Tradition markiert sie einen Neubeginn und eine wesentliche Entwicklung der Lehre im sozialen Bereich.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2421.</ref>

In ihrer kontinuierlichen Aufmerksamkeit für den Menschen in der Gesellschaft hat die Kirche auf diese Weise einen reichen Bestand an Lehraussagen angesammelt. Dieser hat seine Wurzeln in der Heiligen Schrift, insbesondere im Evangelium und in den Schriften der Apostel, und er hat unter den Händen der Kirchenväter und der großen Theologen des Mittelalters Form und Gestalt angenommen, bis auf diese Weise eine Lehre entstanden ist, in der sich die Kirche – wenn auch ohne ausdrückliche und direkte Eingriffe von Seiten des Lehramts – nach und nach wiedererkannt hat.

88 Die ökonomischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts hatten einschneidende soziale, politische und kulturelle Folgen. Die Geschehnisse im Zusammenhang mit der industriellen Revolution stürzten jahrhundertealte soziale Ordnungen um und warfen schwerwiegende Probleme der Gerechtigkeit sowie die erste große soziale Frage, die Arbeiterfrage, auf, die aus dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit entstand. In dieser Situation erkannte die Kirche die Notwendigkeit, auf neue Weise einzugreifen: die „res novae“, die diese Ereignisse darstellten, waren eine Herausforderung an ihre Lehre und Anlass für eine besondere pastorale Sorge für die breiten Massen von Männern und Frauen. Es bedurfte einer neuen Einschätzung der Situation, die auch für ungewohnte und unerforschte Probleme geeignete Lösungen aufzeigen konnte.

b) Von „Rerum novarum“ bis heute

89 Als Antwort auf die erste große soziale Frage promulgiert Leo XIII. die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 97–144.</ref> Sie untersucht die Situation der Lohnarbeiter, die damals vor allem für die Arbeiter in den Industriebetrieben erbärmlich ist und sie einem unwürdigen Elend aussetzt. Die Arbeiterfrage wird in ihrer tatsächlichen Tragweite behandelt: sie wird in all ihren sozialen und politischen Ausprägungen untersucht, um sodann im Licht der auf der Offenbarung und dem natürlichen Sittengesetz basierenden Lehrgrundsätze angemessen bewertet zu werden.

Die Enzyklika „Rerum novarum“ listet die Irrtümer auf, die die sozialen Missstände hervorrufen, schließt den Sozialismus als Lösungsweg aus und bietet in einer präzisierten und aktualisierten Fassung „die katholische Lehre über die Arbeit (…), über das Eigentumsrecht, über das Prinzip der Zusammenarbeit im Gegensatz zum Klassenkampf als Hauptmittel für die soziale Veränderung, über die Rechte der Schwachen, die Würde der Armen und die Pflichten der Reichen, über die Vervollkommnung der Gerechtigkeit durch die Liebe, endlich über das Recht, Berufsverbände zu gründen“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 20: Der Apostolische Stuhl 1989, 1376.</ref>

Die Enzyklika „Rerum novarum“ ist zur Quelle der Inspiration und zum Bezugspunkt für die christliche Aktivität im sozialen Bereich geworden.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 189; Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 198.</ref> Zentrales Thema der Enzyklika ist die Schaffung einer gerechten sozialen Ordnung: hierzu müssen Urteilskriterien gefunden werden, die helfen, die bestehenden soziopolitischen Ordnungen zu bewerten und Handlungsentwürfe für ihre angemessene Umgestaltung vorzulegen.

90 Die Enzyklika „Rerum novarum“ hat in ihrer Auseinandersetzung mit der Arbeiterfrage eine Methode verwendet, die „ein bleibendes Beispiel“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref> für die nachfolgenden Entwicklungen der Soziallehre geworden ist. Die von Leo XIII. formulierten Grundsätze sind in den darauf folgenden Sozialenzykliken aufgegriffen und vertieft worden. Man könnte die gesamte Soziallehre als Aktualisierung, Vertiefung und Ausweitung des ursprünglichen Kernstücks der in „Rerum novarum“ dargelegten Prinzipien verstehen. Mit diesem mutigen und weitblickenden Text hat Leo XIII. „der Kirche gleichsam das »Statut des Bürgerrechtes« in der wechselvollen Wirklichkeit des öffentlichen Lebens der Menschen und der Staaten“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref> verliehen und „einen entscheidenden Satz“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 56: AAS 83 (1991) 862.</ref> geschrieben, der „zu einem bleibenden Element der Soziallehre der Kirche geworden“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 60: AAS 83 (1991) 865.</ref> ist, als er versicherte, dass die großen sozialen Probleme „nur durch die Zusammenarbeit aller Kräfte gelöst werden“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 60: AAS 83 (1991) 865.</ref> können und hinzufügte: „Was aber die Kirche angeht, so wird diese keinen Augenblick ihre allseitige Hilfe vermissen lassen“.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 143. Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 56: AAS 83 (1991) 862.</ref>

91 Anfang der dreißiger Jahre veröffentlicht Pius XI. unter dem Eindruck der schweren Wirtschaftskrise des Jahres 1929 die Enzyklika „Quadragesimo anno“<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 177–228.</ref> zum vierzigjährigen Gedenken an „Rerum novarum“. Der Papst deutet die Vergangenheit im Licht einer sozioökonomischen Situation, in der auf nationaler und internationaler Ebene der Machtzuwachs der Finanzgruppen zur Industrialisierung hinzukommt. In der Nachkriegszeit setzten sich in Europa die totalitären Regime durch, während der Konflikt zwischen den Klassen an Schärfe zunahm. Die Enzyklika weist mahnend auf den fehlenden Respekt vor der Vereinigungsfreiheit hin und hebt erneut die Prinzipien der Solidarität und Zusammenarbeit hervor, um die sozialen Gegensätze zu überwinden. Die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit müssen im Zeichen der Zusammenarbeit stehen.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 186–189.</ref>

Die Enzyklika „Quadragesimo anno“ betont den Grundsatz, dass der Lohn nicht nur den Bedürfnissen des Arbeiters, sondern auch denen seiner Familie angemessen sein muss. In den Beziehungen mit dem Privatbereich muss der Staat das Subsidiaritätsprinzip anwenden, das zu einem festen Bestandteil der Soziallehre werden wird. Die Enzyklika lehnt den Liberalismus im Sinne eines unbegrenzten Wettbewerbs der wirtschaftlichen Kräfte ab, unterstreicht aber die Bedeutung des Privateigentums, auf dessen gesellschaftliche Funktion sie sich bezieht. In einer Gesellschaft, die von den wirtschaftlichen Grundlagen her wieder aufgebaut werden muss und die selbst als Ganzes „die Frage“ ist, der man sich zu stellen hat, „sah es Pius XI. als seine Pflicht und Verantwortung an, eine größere Kenntnis, eine genauere Interpretation und eine dringliche Anwendung des moralischen Gesetzes als Regulativ der menschlichen Beziehungen in jenem Bereich anzuregen. Damit sollte der Klassenkampf überwunden und eine neue Sozialordnung, auf Gerechtigkeit und Liebe beruhend, erreicht werden“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 21: Der Apostolische Stuhl 1989, 1377.</ref>

92 Pius XI. versäumte es nicht, seine Stimme gegen die totalitären Regime zu erheben, die während seines Pontifikats in Europa an die Macht gelangten. Schon am 29. Juni 1931 hatte er mit der Enzyklika „Non abbiamo bisogno“<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Non abbiamo bisogno: AAS 23 (1931) 285–312.</ref> gegen die Übergriffe des faschistischen Regimes in Italien protestiert. 1937 veröffentlichte er die Enzyklika „Mit brennender Sorge“<ref> Offizieller Text (deutsch): AAS 29 (1937) 145–167.</ref> zur Situation der katholischen Kirche im Dritten Reich. Der Text wurde von den Kanzeln aller katholischen Kirchen Deutschlands verlesen, nachdem er unter größter Geheimhaltung verbreitet worden war. Die Enzyklika erschien nach Jahren der Unterdrückung und Gewalt und nachdem die deutschen Bischöfe Pius XI. ausdrücklich darum gebeten hatten, weil das Reich vor allem den Jugendlichen gegenüber, die dazu verpflichtet wurden, der „Hitlerjugend“ beizutreten, seit 1936 immer repressivere Maßnahmen anwandte. Der Papst wendet sich an die Priester, Ordensleute und Laien, um ihnen Mut zu machen und sie zum Widerstand aufzurufen, solange noch kein echter Friede zwischen Kirche und Staat geschlossen sei. 1938 sagte der Papst angesichts des sich ausbreitenden Antisemitismus: „Wir sind Semiten im Geist“.<ref> Pius XI., Ansprache an belgische Rundfunkjournalisten (6. September 1938), in Johannes Paul II., Ansprache an führende Vertreter der „Anti-Defamation League of B’nai B’rith“ (22. März 1984): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, VII, 1 (1984) 740–742.</ref>

Mit der Enzyklika „Divini Redemptoris“<ref> Offizieller Text (lateinisch): AAS 29 (1937) 65–106.</ref> über den atheistischen Kommunismus und die christliche Soziallehre legte Pius XI. eine systematische Kritik des Kommunismus vor, der als „in sich verdorben“<ref> Pius XI., Enz. Divini Redemptoris: AAS 29 (1937) 96.</ref> definiert wird, und nannte als wichtigste Mittel zur Heilung der von diesem verursachten Übel die Erneuerung des christlichen Lebens, die Übung der Nächstenliebe des Evangeliums, die auf das Gemeinwohl ausgerichtete Erfüllung der Gerechtigkeitspflichten auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene sowie die Institutionalisierung von beruflichen und berufsübergreifenden Körperschaften.

93 Die weihnachtlichen Rundfunkbotschaften Pius XII.<ref> Vgl. Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaften: über den Frieden und die internationale Ordnung aus den Jahren: 1939: AAS 32 (1940) 5–13; 1940: AAS 33 (1941) 5–14; 1941: AAS 34 (1942) 10–21; 1945: AAS 38 (1946) 15–25; 1946: AAS 39 (1947) 7–17; 1948: AAS 41 (1949) 8–16; 1950: AAS 43 (1951) 49–59; 1951: AAS 44 (1952) 5–15; 1954: AAS 47 (1955) 15–28); 1955: AAS 48 (1956) 26–41; über die innere Ordnung der Völker, von 1942: AAS 35 (1943) 9–24; über die Demokratie, von 1944: AAS 37 (1945) 10–23; über die Aufgabe der christlichen Zivilisation, vom 1. September 1944: AAS 36 (1944) 249–258; über die Rückkehr zu Gott in Großmut und Brüderlichkeit, von 1947: AAS 40 (1948) 8–16; über das Jahr der großen Rückkehr und der großen Vergebung, von 1949: AAS 42 (1959) 121–133; über die Entpersönlichung des Menschen, von 1952: AAS 45 (1953) 33–46; über die Rolle des technischen Fortschritts und den Frieden der Völker, von 1953: AAS 46 (1954) 5–16.</ref> vertiefen in Verbindung mit anderen wichtigen Stellungnahmen zu sozialen Themen die lehramtlichen Überlegungen zu einer neuen, von Moral und Recht bestimmten und auf Gerechtigkeit und Frieden ausgerichteten Gesellschaftsordnung. Das Pontifikat Pius’ XII. fiel in die furchtbaren Jahre des Zweiten Weltkriegs und in die schwierige Zeit des Wiederaufbaus. Er veröffentlichte keine Sozialenzykliken, verlieh aber immer wieder in unzähligen Zusammenhängen seiner Sorgen um die erschütterte internationale Ordnung Ausdruck: „In den Kriegs- und Nachkriegsjahren war das soziale Lehramt Pius’ XII. für viele Völker aller Kontinente und für Millionen Gläubige und Nichtgläubige die Stimme des Weltgewissens, interpretiert und verkündet in inniger Verbundenheit mit dem Wort Gottes. Mit seiner moralischen Autorität und seinem Ansehen brachte Pius XII. zahllosen Menschen jeglicher Art und sozialen Stellung das Licht der christlichen Weisheit“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 22: Der Apostolische Stuhl 1989, 1377–1378.</ref> Einer der charakteristischen Züge der Stellungnahmen Pius’ XII. liegt in der Betonung der Beziehung zwischen Moral und Recht. Der Papst besteht auf dem Begriff des Naturrechts als der Seele der auf nationaler wie internationaler Ebene zu errichtenden Ordnung. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Lehre Pius’ XII. ist seine Aufmerksamkeit für die Berufs- und Unternehmerstände, die in besonderer Weise dazu berufen sind, miteinander um die Verwirklichung des Gemeinwohls zu wetteifern: „Aufgrund der Sensibilität und Intelligenz, mit der er die »Zeichen der Zeit« erfasste, kann Pius XII. sich als unmittelbaren Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Soziallehre seiner Nachfolger im Papstamt betrachten“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 22 (1989).</ref>

94 Die sechziger Jahre eröffnen viel versprechende Horizonte: die Erholung nach den Verwüstungen des Krieges, der Beginn der Entkolonialisierung, die ersten zaghaften Signale einer Erwärmung der Beziehungen zwischen den beiden Blöcken, dem amerikanischen und dem sowjetischen. In diesem Klima deutet der selige Johannes XXIII. mit großem Scharfblick die „Zeichen der Zeit“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 267–269. 278–279. 291. 295–296.</ref> Die soziale Frage erlangt universale Bedeutung und betrifft alle Länder: neben der Arbeiterfrage und der industriellen Revolution zeichnen sich die Probleme der Landwirtschaft, der in der Entwicklung begriffenen Gebiete, des Bevölkerungswachstums und einer notwendigen weltweiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit ab. Die zuvor innerhalb der einzelnen Nationen empfundenen Ungleichheiten treten nun auf internationaler Ebene auf und enthüllen mit immer größerer Klarheit die dramatische Situation der Dritten Welt.

In der Enzyklika „Mater et magistra“<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 401–464.</ref> verfolgt Johannes XXIII. das Ziel, „die schon bekannten Dokumente auf den neuesten Stand zu bringen und einen weiteren Schritt vorwärts zu tun, um die ganze christliche Gemeinschaft noch mehr darin einzubeziehen“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 23: Der Apostolische Stuhl 1989, 1378.</ref> Die Schlüsselbegriffe der Enzyklika sind Gemeinschaft und Sozialisation:<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 415–418.</ref> die Kirche ist berufen, in der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe mit allen Menschen zusammenzuarbeiten, um eine echte Gemeinschaft zu schaffen. Auf diesem Weg wird sich das wirtschaftliche Wachstum nicht darauf beschränken, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern wird außerdem ihre Würde fördern können.

95 Mit der Enzyklika „Pacem in terris“<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris, AAS 55 (1963) 257–304.</ref> macht Johannes XXIII. in einer Zeit der nuklearen Aufrüstung den Frieden zum zentralen Thema. „Pacem in terris“ enthält darüber hinaus eine erste, vertiefte Reflexion der Kirche über die Rechte: sie ist die Enzyklika des Friedens und der Menschenwürde. Sie setzt die Ausführungen von „Mater et magistra“ fort und ergänzt sie, und sie folgt der von Leo XIII. eingeschlagenen Richtung, indem sie unterstreicht, wie wichtig es ist, dass alle zusammenarbeiten: zum ersten Mal richtet sich ein Dokument der Kirche auch „an alle Menschen guten Willens“,<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris, Anrede: AAS 55 (1963) 257.</ref> denen „eine große Aufgabe gestellt“ ist: „die Beziehungen des Zusammenlebens in der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit neu zu knüpfen“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris, Anrede: AAS 55 (1963) 301.</ref> Die Enzyklika „Pacem in terris“ befasst sich auch mit den öffentlichen Gewalten der Weltgemeinschaft, die dazu aufgerufen sind, „jene Fragen zu behandeln und zu entscheiden, die sich bezüglich des universalen Gemeinwohls stellen, und zwar in wirtschaftlicher, sozialer und politischer wie auch in kultureller Hinsicht“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris, Anrede: AAS 55 (1963) 294.</ref> Zum zehnten Jahrestag von „Pacem in terris“ sandte Kardinal Maurice Roy, der Vorsitzende der Päpstlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, einen Brief an Paul VI., dem er ein Dokument mit einer Reihe von Überlegungen darüber beifügte, ob die Lehre der Enzyklika Johannes’ XXIII. geeignet sei, ein helleres Licht auf die in Bezug auf die Förderung des Friedens neu entstandenen Probleme zu werfen.171 <ref> Vgl. Roy Kard. Maurice, Brief an Paul VI. und Dokument anlässlich des 10. Jahrestags der Enzyklika „Pacem in terris“: L’Osservatore Romano, 11. April 1973, S. 3–6.</ref>

96 Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes: AAS 58 (1966) 1025–1120.</ref> des Zweiten Vatikanischen Konzils stellt eine bedeutsame Antwort der Kirche auf die Erwartungen der heutigen Welt dar. In dieser Konstitution spiegelt sich „in Einklang mit der ekklesiologischen Erneuerung ein neues Bewusstsein von Glaubensgemeinschaft und Volk-Gottes-Sein. Die Pastoralkonstitution hat daher neues Interesse geweckt für die in den vorausgehenden Dokumenten enthaltene Lehre über das Zeugnis und das Leben der Christen als authentische Wege, um die Gegenwart Gottes in der Welt sichtbar zu machen“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 24: Der Apostolische Stuhl 1989, 1379.</ref> Die Konstitution „Gaudium et spes“ zeichnet das Bild einer Kirche, die „sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ fühlt,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 1: AAS 58 (1966) 1026.</ref> die mit der gesamten Menschheit unterwegs und demselben irdischen Schicksal unterworfen ist wie die Welt, zugleich aber „gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ ist.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 40: AAS 58 (1966) 1058.</ref>

„Gaudium et spes“ setzt sich im Licht der christlichen Anthropologie und der Sendung der Kirche in organischer Weise mit den Themen der Kultur, des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, der Ehe und Familie, der politischen Gemeinschaft, des Friedens und der Völkergemeinschaft auseinander. Alles wird von der Person her und auf die Person hin gedeutet: „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 24: AAS 58 (1966) 1045.</ref> Die Gesellschaft, ihre Strukturen und ihre Entwicklung müssen auf den „Fortschritt der menschlichen Person“ ausgerichtet sein.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 25: AAS 58 (1966) 1045.</ref> Zum ersten Mal äußert sich das Lehramt der Kirche auf seiner höchsten Ebene in so ausführlicher Weise über die verschiedenen zeitlichen Aspekte des christlichen Lebens: „Man muss erkennen, dass die Aufmerksamkeit, die die Konstitution den sozialen, psychologischen, politischen, wirtschaftlichen, sittlichen und religiösen Veränderungen widmete, … die pastorale Besorgnis der Kirche für die Probleme der Menschen und für den Dialog mit der Welt geweckt hat“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 24: Der Apostolische Stuhl 1989, 1380.</ref>

97 Ein weiteres im „Corpus“ der kirchlichen Soziallehre sehr bedeutendes Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils ist die Erklärung „Dignitatis humanae“,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae: AAS 58 (1966) 929–946.</ref> in der das Recht auf Religionsfreiheit verkündet wird. Das Dokument behandelt dieses Thema in zwei Kapiteln. Im ersten, das eher allgemein gehalten ist, wird erklärt, dass das Recht auf religiöse Freiheit auf der Würde der menschlichen Person basiert und als Bürgerrecht in der Rechtsordnung der Gesellschaft verankert sein muss. Das zweite Kapitel setzt sich im Licht der Offenbarung mit dem Thema auseinander und erläutert die seelsorgerischen Konsequenzen, wobei es darauf hinweist, dass es sich um ein Recht handelt, das nicht nur die einzelnen Personen, sondern auch die verschiedenen Gemeinschaften betrifft.

98 „Entwicklung“ ist „der neue Name für Friede“,<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio 76–80: AAS 59 (1967) 294–296.</ref> schreibt Paul VI. in der Enzyklika „Populorum progressio“,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio: AAS 59 (1967) 257–299.</ref> die als eine Erweiterung des Kapitels der Konstitution „Gaudium et spes“ über das ökonomisch-soziale Leben angesehen werden kann, wobei sie allerdings auf einige bedeutsame neue Erkenntnisse hinweist. Im Besonderen legt das Dokument die Grundlinien für eine umfassende Entwicklung des Menschen und eine solidarische Entwicklung der Menschheit fest: „zwei Themenbereiche, die man als Achsen ansehen kann, um die herum das Gewebe der Enzyklika strukturiert ist.

Der Papst will die Adressaten von der Dringlichkeit einer gemeinsamen Aktion überzeugen. Er will unter Fortschritt »den Übergang von wenig humanen Lebensbedingungen zu humaneren« verstanden wissen und nennt ihre Eigenschaften“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 25: Der Apostolische Stuhl 1989, 1380.</ref> Dieser Weg wird nicht nur in seinen rein wirtschaftlichen und technischen Dimensionen beschrieben, sondern setzt für jede Person den Erwerb von Kultur, den Respekt vor der Würde der anderen sowie „die Anerkennung letzter Werte von Seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles“ voraus.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 21: AAS 59 (1967) 267.</ref> Die Entwicklung zugunsten aller entspricht der Forderung nach einer weltweiten Gerechtigkeit, die einen universalen Frieden garantiert und einen von spirituellen Werten gelenkten „Humanismus im Vollsinn des Wortes“<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 42: AAS 59 (1967) 278.</ref> ermöglicht.

99 Mit dieser Zielsetzung richtet Paul VI. 1967 die Päpstliche Kommission „Iustitia et Pax“ ein und folgt damit dem Votum der Konzilsväter, die es „für sehr zweckmäßig“ gehalten hatten, „ein Organ der Gesamtkirche zu schaffen, um die Gerechtigkeit und Liebe Christi den Armen in aller Welt zuteil werden zu lassen. Seine Aufgabe soll es sein, die Gemeinschaft der Katholiken immer wieder anzuregen, den Aufstieg der Not leidenden Gebiete und die soziale Gerechtigkeit unter den Völkern zu fördern“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 90: AAS 58 (1966) 1112.</ref> Der Weltfriedenstag, der seit 1968 am ersten Tag eines jeden Jahres von der Kirche begangen wird, geht ebenfalls auf eine Initiative Pauls VI. zurück. Derselbe Pontifex führt auch die Tradition der Botschaften ein, die sich mit dem jeweils für den Weltfriedenstag gewählten Thema auseinandersetzen und so das „Corpus“ der Soziallehre vergrößern.

100 Zu Beginn der siebziger Jahre greift Paul VI. in einem turbulenten Klima stark ideologisch gefärbter Proteste mit dem apostolischen Schreiben „Octogesima adveniens“<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens: AAS 63 (1971) 401–441.</ref> zum achtzigsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum novarum“ die Soziallehre Leos XIII. wieder auf und aktualisiert sie. Der Papst reflektiert über die postindustrielle Gesellschaft mit all ihren komplexen Problemen und stellt die mangelnde Fähigkeit der Ideologien heraus, auf diese Herausforderungen zu reagieren: die Urbanisierung, die Situation der Jugendlichen, die Lage der Frau, die Arbeitslosigkeit, die Diskriminierungen, die Emigration, das Bevölkerungswachstum, den Einfluss der sozialen Kommunikationsmittel, die Umweltproblematik.

101 Neunzig Jahre nach „Rerum novarum“ widmet Johannes Paul II. die Enzyklika „Laborem exercens“<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens: AAS 73 (1981) 577–647.</ref> der Arbeit als grundlegendem Gut der Person, vorrangigem Faktor der wirtschaftlichen Aktivität und als Schlüssel zur sozialen Frage in ihrer Gesamtheit. „Laborem exercens“ zeichnet eine Spiritualität und eine Ethik der Arbeit und stellt diese in den Kontext einer profunden theologischen und philosophischen Reflexion. Die Arbeit darf nicht nur im objektiven und materiellen Sinn verstanden, sondern muss als eine Aktivität, die Ausdruck der Person ist, auch in ihrer subjektiven Dimension gebührend berücksichtigt werden. Die Arbeit ist nicht nur ein entscheidendes Paradigma des sozialen Lebens, sie besitzt darüber hinaus die ganze Würde eines Umfelds, in dem sich die natürliche und übernatürliche Berufung der Person verwirklichen muss.

102 Mit der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis: AAS 80 (1988) 513–586.</ref> gedenkt Johannes Paul II. des zwanzigsten Jahrestags von „Populorum progressio“ und setzt sich erneut mit dem Thema der Entwicklung auseinander, wobei ihn vor allem zwei Leitgedanken beschäftigen: „einerseits die dramatische Lage der heutigen Welt unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Entwicklung in der Dritten Welt, und andererseits der Sinn, die Bedingungen und die Erfordernisse eines menschenwürdigen Fortschritts“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 26: Der Apostolische Stuhl 1989, 1382.</ref> Die Enzyklika unterscheidet zwischen Fortschritt und Entwicklung und bekräftigt, dass „der echte Fortschritt sich nicht darauf beschränken kann, Güter und Dienstleistungen bei den Besitzenden zu vermehren, sondern dass er zum vollen »Sein« des Menschen beitragen muss. Auf diese Weise tritt die sittliche Natur des echten Fortschritts klar hervor“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 26: Der Apostolische Stuhl 1989, 1383.</ref> Unter Anspielung auf den Leitspruch des Pontifikats Pius’ XII., „Opus iustitiae pax“, der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit, schreibt er: „Heute könnte man mit derselben Genauigkeit und der gleichen Kraft biblischer Inspiration (vgl. Jes 32, 17; Jak 3, 18) sagen: Opus solidaritatis pax – Friede, die Frucht der Solidarität“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 39: AAS 80 (1988) 568.</ref>

103 Zum hundertsten Jahrestag von „Rerum novarum“ veröffentlicht Johannes Paul II. seine dritte Sozialenzyklika, „Centesimus annus“,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus: AAS 83 (1991) 793–867.</ref> an der die Kontinuität des hundertjährigen sozialen Lehramts der Kirche erkennbar wird. Mit Bezug auf eines der grundlegenden Prinzipien des christlichen Verständnisses von sozialer und politischer Organisation, das das zentrale Thema der vorangegangenen Enzyklika gewesen war, schreibt der Papst: „Das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen (…) wird von Leo XIII. mehrmals unter dem Namen »Freundschaft« angeführt (…). Von Pius XI. wird es mit dem nicht weniger bedeutungsvollen Namen »soziale Liebe« bezeichnet. Paul VI. hat den Begriff mit den heutigen vielfältigen Dimensionen der sozialen Frage erweitert und von »Zivilisation der Liebe« gesprochen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 10: AAS 83 (1991) 805.</ref> Johannes Paul II. macht deutlich, wie die Soziallehre der Kirche entlang der Achse der wechselseitigen Beziehung zwischen Gott und dem Menschen verläuft: Gott in jedem Menschen und jeden Menschen in Gott zu erkennen ist die Voraussetzung für eine echte menschliche Entwicklung. Die klar strukturierte und eingehende Analyse der „res novae“ und insbesondere der großen Wende von 1989 mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems beinhaltet eine Würdigung der Demokratie und der freien Marktwirtschaft im Rahmen einer unverzichtbaren Solidarität.

c) Vom Evangelium erleuchtet und angespornt

104 Die hier erwähnten Dokumente sind die Meilensteine auf dem Weg, den die kirchliche Soziallehre von den Zeiten Leos XIII. bis in unsere Tage zurückgelegt hat. Dieser knappe Überblick würde sehr viel länger ausfallen, wenn man auch alle diejenigen Stellungnahmen berücksichtigen wollte, die über ein spezielles Thema hinaus von der pastoralen Sorge bestimmt gewesen sind, „der christlichen Gemeinschaft und allen Menschen guten Willens die Grundprinzipien, die allgemeinen Kriterien und die Richtlinien vorzulegen, die dazu geeignet sind, eine gute Entscheidung zu treffen und der konkreten Situation entsprechend zu handeln“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 27: Der Apostolische Stuhl 1989, 1383.</ref>

Die Ausarbeitung und Verkündigung der Soziallehre war und ist nicht theoretisch, sondern seelsorgerisch motiviert, weil die Kirche sich mit den Auswirkungen der sozialen Veränderungen auf die einzelnen Menschen, auf die große Zahl der Männer und Frauen und auf deren Würde befassen muss, und das in einem Kontext, in welchem man „unverdrossen nach einer vollkommeneren Ordnung im irdischen Bereich [strebt], aber das geistliche Wachstum (…) damit nicht gleichen Schritt“ hält.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 4: AAS 58 (1966) 1028.</ref> Aus diesen Gründen hat sich die Soziallehre herausgebildet, „ein zeitgemäßes Lehrgebäude (…), das sich in dem Maße entwickelt, wie die Kirche aus der Fülle der von Jesus Christus offenbarten Wahrheit und mit dem Beistand des Heiligen Geistes (vgl. Joh 14, 16.26; 16, 13–15) die Ereignisse deutet, die sich im Verlauf der Geschichte zutragen“.<ref>Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 1: AAS 80 (1988) 514; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2422.</ref>

DRITTES KAPITEL: DIE MENSCHLICHE PERSON UND IHRE RECHTE

I. DIE SOZIALLEHRE UND IHR PERSONALES FUNDAMENT

105 Die Kirche erblickt im Menschen – in jedem Menschen – das lebendige Abbild Gottes selbst: ein Abbild, das im Geheimnis Christi seine vollkommene Erklärung findet und dazu berufen ist, sich im Mysterium dessen immer tiefer selbst zu erkennen, der das vollkommene Abbild Gottes ist, der dem Menschen Gott und den Menschen sich selbst offenbart. An diesen Menschen, der von Gott selbst eine unvergleichliche und unveräußerliche Würde empfangen hat, wendet sich die Kirche und erweist ihm dadurch den höchsten und einzigartigen Dienst, dass sie ihn beständig an seine erhabenste Berufung erinnert, damit diese ihm immer bewusster und er ihrer immer würdiger wird. Christus, der Sohn Gottes, „hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“;<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1042.</ref> deshalb erkennt die Kirche ihre grundlegende Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass diese Vereinigung sich beständig vollziehen und erneuern kann. In Christus, dem Herrn, zeigt die Kirche den Weg des Menschen auf und geht uns voran,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 14: AAS 71 (1979) 284.</ref> und sie ruft uns dazu auf, in jedem, nahe oder fern stehend, bekannt oder unbekannt, vor allem aber im Armen und im Leidenden den Bruder zu erkennen, „für den Christus gestorben ist“ (1 Kor 8, 11; Röm 14, 15).<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1931.</ref>

106 Das gesamte gesellschaftliche Leben ist Ausdruck seines unverwechselbaren Trägers: der menschlichen Person. Dieses Bewusstsein hat die Kirche mehrfach und in vielfältiger Weise glaubwürdig darzustellen vermocht, indem sie die zentrale Bedeutung der menschlichen Person in jedem Bereich und in jeder Erscheinungsform der Gesellschaftlichkeit hervorgehoben hat: „Die menschliche Gesellschaft ist daher der Gegenstand der Soziallehre der Kirche, die sich ja weder außerhalb noch über den sozial miteinander verbundenen Menschen befindet, sondern ausschließlich in ihnen, und deshalb für sie da ist“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 35: Der Apostolische Stuhl 1989, 1387.</ref> Diese wichtige Erkenntnis drückt sich auch in der Aussage aus, dass der Mensch, „weit davon entfernt, das Objekt und ein passiver Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens zu sein (…) im Gegenteil sein Subjekt, seine Grundlage und sein Zweck ist und sein und bleiben muss“.<ref> Pius II., Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1944), 5: AAS 37 (1945) 12.</ref> Deshalb ist er der Ursprung des sozialen Lebens, das nicht umhin kann, ihn als sein aktives und verantwortliches Subjekt anzuerkennen, und deshalb muss jede Ausdrucksform der Gesellschaft auf ihn ausgerichtet sein.

107 Der Mensch in seiner konkreten historischen Situation bildet das Herz und die Seele der katholischen Soziallehre.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 11: AAS 83 (1991) 807.</ref> Denn die gesamte Soziallehre geht von dem Grundsatz aus, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 453, 459.</ref> Dieses Bewusstsein hat die Kirche in vielfältiger Weise formuliert und die Würde des Menschen damit insbesondere vor jedem Versuch schützen wollen, sie in verkürzter oder verzerrter Weise darzustellen; ferner hat sie wiederholt auf die zahlreichen Verletzungen dieser Würde hingewiesen. Die Geschichte beweist, dass das Geflecht der sozialen Beziehungen einige der großartigsten Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen hervorbringt – doch es ist zugleich auch die Brutstätte der schändlichsten Missachtungen seiner Würde.

II. DIE MENSCHLICHE PERSON ALS „IMAGO DEI“

a) Als Abbild Gottes geschaffen

108 Die grundlegende Botschaft der Heiligen Schrift besagt, dass die menschliche Person ein Geschöpf Gottes ist (vgl. Ps 139, 14–18), und macht das für sie charakteristische und sie unterscheidende Merkmal daran fest, dass sie nach dem Bild Gottes geschaffen ist: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1, 27). Gott stellt das menschliche Geschöpf in die Mitte und auf den Gipfel alles Geschaffenen: Dem Menschen (hebräisch „adam“), den er aus Erde (hebräisch „adamah“) geformt hat, haucht er den Lebensatem in die Nase (vgl. Gen 2, 7). „Weil er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, hat der Mensch die Würde, Person zu sein; er ist nicht bloß etwas, sondern jemand. Er ist imstande, sich zu erkennen, über sich Herr zu sein, sich in Freiheit hinzugeben und in Gemeinschaft mit anderen Personen zu treten, und er ist aus Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen, um diesem eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an seiner Stelle geben kann.“<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 357.</ref>

109 Die Ähnlichkeit mit Gott macht deutlich, dass das Wesen und das Dasein des Menschen in denkbar tiefer Weise grundlegend auf Gott bezogen sind.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 356, 358.</ref> Diese Bezogenheit besteht für sich und kommt folglich nicht nachträglich oder von außen hinzu. Das gesamte Leben des Menschen ist ein Fragen und Suchen nach Gott. Diese Beziehung zu Gott kann ignoriert, vergessen oder beiseite geschoben, aber niemals aufgehoben werden. Denn unter allen Geschöpfen der sichtbaren Welt ist allein der Mensch „»gottfähig«“ („homo est Die capax“).<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1. Teil, 1. Abschnitt, 1. Kapitel, Titel; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 12: AAS 58 (1966) 1034; Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 34: AAS 87 (1995) 440.</ref> Der Mensch ist ein personales Wesen, das von Gott für die Beziehung mit ihm geschaffen worden ist. Deshalb kann er nur in der Beziehung leben und sich ausdrücken und strebt von Natur aus zu Gott.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 35: AAS 87 (1995) 440–441; Katechismus der Katholischen Kirche,1721.</ref>

110 Die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen spiegelt sich in der Beziehungs- und Gesellschaftsdimension der menschlichen Natur. Denn der Mensch ist kein Einzelgänger, sondern „aus seiner innersten Natur ein gesellschaftliches Wesen; ohne Beziehung zu den anderen kann er weder leben, noch seine Anlagen zur Entfaltung bringen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 12: AAS 58 (1966) 1034.</ref> In dieser Hinsicht ist die Tatsache von Bedeutung, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 369.</ref> (vgl. Gen 1, 27): „Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2, 23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 35: AAS 87 (1995) 440.</ref>

111 Mann und Frau besitzen dieselbe Würde und sind gleichwertig,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2334.</ref> und das nicht nur, weil beide in ihrer Unterschiedlichkeit Abbild Gottes sind, sondern in noch tieferem Sinne, weil die Dynamik der Gegenseitigkeit, die das Wir des Menschenpaares beseelt, Abbild Gottes ist.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 371.</ref> In der Beziehung wechselseitiger Gemeinsamkeit gelingt dem Mann und der Frau eine tiefe Selbstverwirklichung, und durch die aufrichtige Selbsthingabe entdecken sie sich selbst als Personen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane,6. 8.14. 16. 19–20: AAS 86 (1994) 873–874. 876–878. 893–896. 899–903. 910–919.</ref> Der Bund ihrer Einheit wird in der Heiligen Schrift als Bild des Bundes zwischen Gott und den Menschen (vgl. Hos 1–3; Jes 54; Eph 5, 21–33) und zugleich als ein Dienst am Leben dargestellt.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 50: AAS 58 (1966) 1070–1072.</ref> Denn das Menschenpaar darf an der Schöpferkraft Gottes teilhaben: „Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde“ (Gen 1, 28).

112 Mann und Frau stehen mit den anderen vor allem als Hüter ihres Lebens in Beziehung:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 19: AAS 87 (1995) 421–422.</ref> „Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder“ (Gen 9, 5), schärft Gott Noach nach der Sintflut ein. So gesehen ist mit der Beziehung zu Gott die Forderung verbunden, dass das Leben des Menschen als heilig und unverletzlich betrachtet wird.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2258.</ref>

Die Gültigkeit des fünften Gebots: „Du sollst nicht töten!“ (Ex 20, 13; Dtn 5, 17) beruht darauf, dass Gott allein Herr über Leben und Tod ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 27: AAS 58 (1966) 1047–1048; Katechismus der Katholischen Kirche, 2259–2261.</ref> Der gebührende Respekt vor der Unverletzlichkeit und Unversehrtheit des physischen Lebens gipfelt in dem positiven Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19, 18), aus dem Jesus Christus die Verpflichtung ableitet, sich um den Nächsten zu kümmern (vgl. Mt 22, 37–40; Mk 12, 29–31; Lk 10, 27–28).

113 Mit dieser besonderen Berufung zum Leben begegnen Mann und Frau auch allen anderen Geschöpfen. Sie dürfen und sollen diese in ihren Dienst nehmen und nutzen, aber ihre Herrschaft über die Welt verlangt auch Verantwortung und gibt ihnen nicht die Freiheit zu willkürlicher und egoistischer Ausbeutung. Denn die gesamte Schöpfung ist von Gott, ihrem Urheber, für „gut“ befunden worden (vgl. Gen 1, 4.10.12.18.21.25) und daher kostbar. Der Mensch muss ihren Wert entdecken und achten: Dies ist eine wunderbare Herausforderung an seine Intelligenz, mit der er sich wie mit einem Flügel<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Fides et ratio. Prolog: AAS 91 (1999) 5.</ref> zur Betrachtung der Wahrheit aller Geschöpfe und damit des Guten erhebt, das Gott in ihnen sieht. Das Buch Genesis lehrt nämlich, dass die Herrschaft des Menschen über die Welt darin besteht, den Dingen einen Namen zu geben (vgl. Gen 2, 19–20): Mit dieser Namensgebung soll der Mensch die Dinge als das erkennen, was sie sind, und zu jedem von ihnen eine verantwortungsvolle Beziehung knüpfen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 373.</ref>

114 Der Mensch steht auch zu sich selbst in Beziehung und kann über sich selbst nachdenken. Die Heilige Schrift spricht in diesem Zusammenhang vom Herz des Menschen. Das Herz bezeichnet die spirituelle Innerlichkeit des Menschen und damit das, was ihn von jedem anderen Geschöpf unterscheidet: Gott „hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in ihre Herzen hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte“ (Koh 3, 11). Das Herz bezeichnet letztlich die spezifischen geistigen Eigenschaften des Menschen, die Besonderheiten, die ihn auszeichnen, weil er nach dem Bild seines Schöpfers geschaffen ist: die Vernunft, die Unterscheidung von Gut und Böse, den freien Willen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 34: AAS 87 (1995) 438–440.</ref> Wenn er auf die tiefe Sehnsucht seines Herzens achtet, dann kann der Mensch nicht anders als sich jene Wahrheit zu Eigen zu machen, die der heilige Augustinus in Worte gefasst hat: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, Herr, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir“.<ref> Augustinus, Confessiones, 1, 1: PL 32, 661: „Tu excitas, ut laudare te delectet; quia fecisti nos ad te, et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te“.</ref>

b) Das Drama der Sünde

115 Die wunderbare Darstellung von der Erschaffung des Menschen durch Gott ist untrennbar mit dem dramatischen Bild der Ursünde verbunden. Mit einer lapidaren Feststellung fasst der heilige Paulus den Sündenfall des Menschen, von dem die ersten Seiten der Bibel erzählen, zusammen: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod“ (Röm 5, 12). Trotz des göttlichen Verbots lässt sich der Mensch von der Schlange verführen: Er streckt seine Hände nach dem Baum des Lebens aus und verfällt dadurch der Macht des Todes. Mit dieser Tat versucht der Mensch seine Begrenztheit als Geschöpf zu überwinden und Gott, seinen einzigen Herrn und den Ursprung des Lebens, herauszufordern. Eine Sünde des Ungehorsams (vgl. Röm 5, 19) trennt den Menschen von Gott.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1850.</ref>

Aus der Offenbarung wissen wir, dass Adam, der erste Mensch, dadurch, dass er das Gebot Gottes übertritt, die Heiligkeit und die Gerechtigkeit verliert, in der er geschaffen worden war und die er nicht nur um seiner selbst, sondern um der gesamten Menschheit willen empfangen hatte: „Indem Adam und Eva dem Versucher nachgeben, begehen sie eine persönliche Sünde, aber diese Sünde trifft die Menschennatur, die sie in der Folge im gefallenen Zustand weitergeben. Sie ist eine Sünde, die durch Fortpflanzung an die ganze Menschheit weitergegeben wird, nämlich durch die Weitergabe einer menschlichen Natur, die der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ermangelt“.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 404.</ref>

116 Die persönlichen und sozialen Verletzungen, die den Wert und die Würde der menschlichen Person in vielfältigem Maß beeinträchtigen, wurzeln in einer Verwundung im Innersten des Menschen: „Im Licht des Glaubens nennen wir sie Sünde: beginnend mit der Ursünde, die jeder von Geburt an wie ein von den Eltern empfangenes Erbe in sich trägt, bis hin zur Sünde, die ein jeder begeht, wenn er die eigene Freiheit gegen den Plan Gottes benutzt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia, 2: AAS 77 (1985) 188; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1849.</ref> Die Folge der Sünde im Sinne einer aktiven Trennung von Gott ist die Entfremdung, das heißt die Abspaltung des Menschen nicht nur von Gott, sondern auch von sich selbst, von den anderen Menschen und von der Welt, die ihn umgibt: „Der Bruch mit Gott [mündet] dramatisch ein in eine Trennung zwischen den Brüdern. In der Beschreibung der »ersten Sünde« löst der Bruch mit Jahwe zugleich die Freundschaft auf, die die Menschheitsfamilie verband, sodass uns die folgenden Seiten der Genesis den Mann und die Frau zeigen, wie sie gleichsam gegeneinander den Anklagefinger erheben (vgl. Gen 3, 12), und dann den Sohn, der in seiner Feindschaft zum Bruder so weit kommt, dass er ihm das Leben nimmt (vgl. Gen 4, 2–16). Nach der Erzählung des Geschehens von Babel ist die Folge der Sünde die Zersplitterung der Menschheitsfamilie, die schon mit der ersten Sünde begonnen hatte und nun im gesellschaftlichen Bereich ihren Höhepunkt erreicht“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia, 15: AAS 77 (1985) 212–213.</ref> Wer über das Geheimnis der Sünde nachdenkt, kann diese tragische Verkettung von Ursache und Wirkung nicht übersehen.

117 Das Geheimnis der Sünde besteht in einer doppelten Verletzung, die der Sünder sich selbst und seiner Beziehung zum Nächsten zufügt. Deshalb kann man von persönlicher und sozialer Sünde sprechen: Jede Sünde ist zum einen persönlich; zum anderen ist sie sozial, insofern und weil sie stets auch gesellschaftliche Auswirkungen hat. Im wahren und eigentlichen Sinne ist die Sünde immer ein Akt der Person, weil sie ein Akt der Freiheit eines einzelnen Menschen und eben nicht einer Gruppe oder einer Gemeinschaft ist; andererseits lässt sich jede Sünde zweifellos auch als soziale Sünde charakterisieren, wenn man berücksichtigt, dass „die Sünde eines jeden Einzelnen kraft einer menschlichen Solidarität, die so geheimnisvoll und verborgen und doch real und konkret ist, sich in irgendeiner Weise auf die anderen auswirkt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia, 16: AAS 77 (1985) 214. Der Text erklärt außerdem, dass diesem Gesetz des Abstiegs, dieser Gemeinschaft der Sünde, durch welche eine Seele, die sich durch die Sünde erniedrigt, auch die Kirche und in gewisser Weise die ganze Welt erniedrigt, das Gesetz des Aufstiegs entspricht, das tiefe und großartige Geheimnis der Gemeinschaft der Heiligen, dank deren jede Seele, die sich emporhebt, die Welt emporhebt.</ref> Es ist jedoch nicht legitim und darf nicht akzeptiert werden, wenn die persönliche Komponente durch den Begriff der sozialen Sünde mehr oder weniger bewusst verwässert und praktisch aufgehoben und infolgedessen nur mehr von sozialer Schuld und Verantwortung gesprochen wird. Jede Situation der Sünde beginnt in der Person dessen, der die Sünde begeht.

118 Einige Sünden stellen darüber hinaus durch ihren Tatbestand selbst einen direkten Angriff auf den Nächsten dar. Vor allem diese Sünden lassen sich als soziale Sünden bezeichnen. Sozial ist jede Sünde, die gegen die Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen Personen, zwischen der Person und der Gemeinschaft und auch zwischen der Gemeinschaft und der Person verstößt. Sozial ist jede Sünde, die, angefangen beim Lebensrecht auch des Ungeborenen, die Rechte der menschlichen Person oder die körperliche Unversehrtheit eines Menschen verletzt; jede Sünde gegen die Freiheit des anderen, vor allem die Freiheit, an Gott zu glauben und ihn anzubeten; jede Sünde gegen die Würde und die Ehre des Nächsten. Sozial ist jede Sünde gegen das Gemeinwohl und die damit verbundenen Forderungen im ganzen weiten Feld der bürgerlichen Rechte und Pflichten. Sozial ist schließlich auch jene Sünde, „die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften der Menschen [meint]. Diese Beziehungen sind nicht immer in Übereinstimmung mit dem Plan Gottes, der in der Welt Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden zwischen den Individuen, den Gruppen und den Völkern will“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia, 16: AAS77(1985) 216.</ref>

119 Die Auswirkungen der Sünde stärken die Strukturen der Sünde. Diese wurzeln in der persönlichen Sünde und sind damit immer an die konkreten Taten derjenigen Personen gebunden, die sie hervorbringen, verfestigen und ihre Beseitigung erschweren. Auf diese Weise gewinnen sie an Kraft, breiten sich aus, werden zur Quelle für weitere Sünden und bedingen das Verhalten der Menschen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1869.</ref> Hierbei handelt es sich um Einflüsse und Hindernisse, die die kurze Lebensspanne eines einzelnen Menschen bei weitem überdauern und sich auf den Prozess der Entwicklung der Völker auswirken, dessen Verzögerung oder Langsamkeit auch unter diesem Aspekt beurteilt werden muss.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 36: AAS 80 (1988) 561–563.</ref> Die dem Willen Gottes und dem Wohl des Nächsten entgegengesetzten Handlungen und Haltungen und die durch sie herbeigeführten Strukturen scheinen heute vor allem durch zweierlei gekennzeichnet: „auf der einen Seite die ausschließliche Gier nach Profit und auf der anderen Seite das Verlangen nach Macht mit dem Vorsatz, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Jeder dieser Verhaltensweisen kann man, um sie noch treffender zu kennzeichnen, die Qualifizierung hinzufügen: »um jeden Preis«“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 37: AAS 80 (1988) 563.</ref>

c) Universalität der Sünde und Universalität des Heils

120 Die Lehre von der Erbsünde, die die Universalität der Sünde beinhaltet, ist von grundlegender Bedeutung: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1 Joh 1, 8). Diese Lehre drängt den Menschen dazu, nicht in der Sünde zu verharren und sie nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, indem er die Schuld immer bei den anderen sucht oder sich mit dem Hinweis auf Umfeld, Erbanlagen, Institutionen, Strukturen und Beziehungen rechtfertigt. Es ist eine Lehre, die solche Täuschungsmanöver aufdeckt.

Die Lehre von der Universalität der Sünde darf jedoch nicht vom Wissen um die Universalität des Heils in Jesus Christus getrennt werden. Davon isoliert führt sie zu einer falschen Angst vor der Sünde, einer pessimistischen Sicht der Welt und des Lebens und damit letztlich zu einer Geringschätzung der kulturellen und zivilen Leistungen des Menschen.

121 Der christliche Realismus sieht die Abgründe der Sünde, doch er sieht sie im Licht der Hoffnung, die größer ist als alles Böse und die uns geschenkt ist, weil die Erlösertat Jesu Christi die Sünde und den Tod vernichtet hat (vgl. Röm 5, 18–21; 1 Kor 15, 56–57): „In ihm hat Gott den Menschen mit sich versöhnt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia, 10: AAS 77 (1985) 205.</ref> Christus, das Ebenbild Gottes (vgl. 2 Kor 4, 4; Kol 1, 15), erleuchtet und vollendet das Bild und die Ähnlichkeit Gottes im Menschen. Das Wort, das in Christus Mensch geworden ist, ist immer schon das Leben und das Licht des Menschen, ein Licht, das jeden Menschen erleuchtet (vgl. Joh 1, 4.9). In dem einen Mittler Jesus Christus, seinem Sohn, will Gott das Heil aller Menschen (vgl. 1 Tim 2, 4–5). Jesus ist der Sohn Gottes und zugleich der neue Adam, das heißt der neue Mensch (vgl. 1 Kor 15, 47–49; Röm 5, 14): „Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1042.</ref> In ihm sind wir von Gott „im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei“ (Röm 8, 29).

122 Die neue, uns durch Jesus Christus geschenkte Wirklichkeit ist der menschlichen Natur nicht aufgepfropft und wird ihr nicht von außen hinzugefügt: Sie ist im Gegenteil jene Wirklichkeit der Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott, auf die die Menschen in der Tiefe ihres Seins dank ihrer geschöpflichen Ähnlichkeit mit Gott schon immer ausgerichtet sind; doch es handelt sich auch um eine Realität, die sie nicht aus eigener Kraft erreichen können. Durch den Geist Jesu Christi, des Mensch gewordenen Gottessohnes, in dem diese Wirklichkeit der Gemeinschaft bereits auf einzigartige Weise erfüllt ist, werden die Menschen als Kinder Gottes angenommen (vgl. Röm 8, 14–17; Gal 4, 4–7). Durch Christus haben wir an der Natur Gottes teil, der uns unendlich mehr schenkt, „als wir erbitten oder uns ausdenken können“ (Eph 3, 20). Das, was die Menschen bereits empfangen haben, ist lediglich ein Unterpfand oder ein „erster Anteil“ (2 Kor 1, 22; Eph 1, 14) dessen, was sie erst dann in seiner ganzen Fülle erhalten werden, wenn sie Gott „von Angesicht zu Angesicht“ schauen (1 Kor 13, 12), mit anderen Worten ein erster Anteil des ewigen Lebens: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Joh 17, 3).

123 Die Universalität der christlichen Hoffnung schließt nicht nur die Männer und Frauen aller Völker, sondern auch den Himmel und die Erde mit ein: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor, sie lasse Gerechtigkeit sprießen. Ich, der Herr, will es vollbringen“ (Jes 45, 8). Dem Neuen Testament zufolge erwartet nämlich die gesamte Schöpfung gemeinsam mit der ganzen Menschheit den Erlöser: Der Vergänglichkeit unterworfen sehnt sie sich voller Hoffnung unter Seufzen und Geburtswehen danach, von der Verlorenheit befreit zu werden (vgl. Röm 8, 18–22).

III. DIE MENSCHLICHE PERSON UND IHRE ZAHLREICHEN PROFILE

124 Die Soziallehre der Kirche schöpft aus dem reichen Schatz der wunderbaren biblischen Botschaft und verweilt dabei vor allem auch auf den wichtigsten und unveräußerlichen Dimensionen der menschlichen Person, um auf diese Weise die bedeutendsten Züge ihres Geheimnisses und ihrer Würde zu erfassen. Es hat nämlich in der Vergangenheit – und dies setzt sich auf der Bühne der gegenwärtigen Geschichte in dramatischer Weise fort – unter dem Einfluss von Ideologien oder auch einfach aufgrund einer mangelnden Klarheit der Sitten und des Denkens viele Formen einer verkürzten Sicht des Menschen, seines Lebens und seines Schicksals gegeben, denen das Bestreben gemeinsam war, sein Bild durch die einseitige Betonung eines seiner Merkmale auf Kosten aller anderen zu verdunkeln.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 26–39: AAS 63 (1971) 420–428.</ref>

125 Die Person kann niemals ausschließlich als absolute, von sich selbst und auf sich selbst gegründete Individualität gedacht werden, die in ihren charakteristischen Eigenschaften von niemand anderem abhängig ist als von sich selbst. Und ebenso wenig kann sie als bloße Zelle eines Organismus gedacht werden, der allenfalls eine dienende Aufgabe innerhalb eines Systems zukommt. Die eingeschränkte Sicht auf die volle Wahrheit des Menschen ist schon oft Gegenstand der sozialen Besorgnis der Kirche gewesen, die es nicht versäumt hat, ihre Stimme gegen diese und andere drastisch verkürzende Sichtweisen zu erheben, um stattdessen zu verkünden, „dass die Individuen uns nicht wie Sandkörner voneinander getrennt, sondern in organischen, harmonischen und gegenseitigen Beziehungen miteinander vereint zu sein scheinen“<ref> Pius XII., Enz. Summi Pontificatus: AAS 31 (1939) 463.</ref> und dass der Mensch nicht „lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 13: AAS 83 (1991) 809.</ref> verstanden werden darf, und um auf diese Weise deutlich zu machen, dass weder Individualismus noch Vermassung dem Primat der Person entsprechen.

126 Der christliche Glaube fordert dazu auf, überall nach dem Guten und dem, was des Menschen würdig ist, zu suchen (vgl. 1 Thess 5, 21), und steht zugleich über den Ideologien „und in wesentlichen Stücken gegen sie, insoweit er einen überweltlichen Gott als Schöpfer aller anerkennt, der durch alle Stufen der Schöpfung den Menschen ruft und anspricht, den Menschen, der mit Freiheit begabt und seinem Gewissen verantwortlich ist“.<ref> Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 27: AAS 63 (1971) 421.</ref>

Die Soziallehre befasst sich mit dem Geheimnis des Menschen in seinen unterschiedlichen Dimensionen, dem man sich „in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins“<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 14: AAS 71 (1979) 284.</ref> und mit besonderer Aufmerksamkeit nähern muss, um zu einer möglichst genauen Wertung zu gelangen.

A) Die Einheit der Person

127 Der Mensch ist von Gott als Einheit aus Seele und Leib geschaffen worden:<ref> Vgl. IV. Konzil im Lateran,Kap. 1, De fide catholica:DS 800, S. 259; I. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Filius,c. 1, De Deo rerum omnium Creatore: DS 3002, S. 587; Id., Ibidem, cann. 2.5: DS 3022. 3025, S. 592. 593.</ref> „Die geistige und unsterbliche Seele ist das einheitsstiftende Prinzip des menschlichen Seins; sie ist es, wodurch dieses – als Person – ein Ganzes – corpore et anima unus – ist. Diese Definitionen weisen nicht nur darauf hin, dass auch der Leib, dem die Auferstehung verheißen ist, an der Herrlichkeit teilhaben wird; sie erinnern ebenso an die Einbindung von Vernunft und freiem Willen in alle leiblichen und sinnlichen Kräfte. Die menschliche Person ist, einschließlich des Leibes, ganz sich selbst überantwortet und gerade in der Einheit von Seele und Leib ist sie das Subjekt ihrer sittlichen Akte“.239 <ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 48: AAS 85 (1993) 1172.</ref>

128 Durch seine Körperlichkeit vereint der Mensch in sich die Elemente der materiellen Welt: „Durch ihn erreichen diese die Höhe ihrer Bestimmung und erheben ihre Stimme zum freien Lob des Schöpfers“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 14: AAS 58 (1966) 1035; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 364.</ref> Diese Dimension ermöglicht es dem Menschen, sich in die stoffliche Welt, den Ort seiner Verwirklichung und seiner Freiheit, einzufügen und sie nicht als Gefängnis oder als den Ort seiner Verbannung zu betrachten. Das körperliche Leben darf nicht gering geschätzt werden; der Mensch „muss im Gegenteil seinen Leib als von Gott geschaffen und zur Auferweckung am Jüngsten Tage bestimmt für gut und der Ehre würdig halten“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,14: AAS 58 (1966) 1036.</ref> Dennoch lässt die körperliche Dimension infolge ihrer Verwundung durch die Sünde den Menschen den Ungehorsam des Körpers und die abwegigen Neigungen des Herzens spüren, denen gegenüber er immer wachsam sein muss, um nicht zu ihrem Sklaven und zum Opfer einer rein irdischen Sicht seines eigenen Lebens zu werden.

Mit seiner Spiritualität erhebt sich der Mensch über die Gesamtheit der Dinge und dringt in die tiefsten Strukturen der Wirklichkeit ein. Wenn er in sein Herz hineinsieht, das heißt, wenn er über sein eigenes Schicksal nachdenkt, dann entdeckt der Mensch, dass seine einzigartige Würde als Gesprächspartner Gottes, vor dem er seine Lebensentscheidungen trifft, ihn über die materielle Welt erhebt. In seinem inneren Leben bejaht er „die Geistigkeit und Unsterblichkeit seiner Seele“ und weiß, dass er „sich selbst nicht nur als Teil der Natur oder als anonymes Element in der menschlichen Gesellschaft“ betrachten darf.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 14: AAS 58 (1966) 1036; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 363, 1703.</ref>

129 Folglich hat der Mensch zwei unterschiedliche Merkmale: Er ist ein materielles Wesen, dass durch seinen Leib an diese Welt gebunden ist, und er ist ein spirituelles Wesen, dass offen ist für die Transzendenz und dafür, „eine tiefere Wahrheit“ zu entdecken, durch die er „am Licht des göttlichen Geistes“ teilhat.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,15: AAS 58 (1966) 1036.</ref> Die Kirche bekennt: „Die Einheit von Seele und Leib ist so tief, dass man die Seele als die »Form« des Leibes zu betrachten hat, das heißt die Geistseele bewirkt, dass der aus Materie gebildete Leib ein lebendiger menschlicher Leib ist. Im Menschen sind Geist und Materie nicht zwei vereinte Naturen, sondern ihre Einheit bildet eine einzige Natur“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 365.</ref> Weder der Spiritualismus, der die Wirklichkeit des Leibes verachtet, noch der Materialismus, der den Geist als bloße Manifestation der Materie betrachtet, werden der Vielschichtigkeit, der Gesamtheit und der Einheit des menschlichen Wesens gerecht.

B) Offen für die Transzendenz und Einzigartigkeit der Person

a) Offen für die Transzendenz

130 Die Offenheit für die Transzendenz gehört zur menschlichen Person: Der Mensch ist offen für das Unendliche und für alles Geschaffene. Vor allem ist er für das Unendliche, also für Gott, offen, weil er sich mit seiner Intelligenz und mit seinem Willen über das Geschaffene und über sich selbst erhebt, sich von den Geschöpfen unabhängig macht, allem Geschaffenen gegenüber frei ist und nach der absoluten Wahrheit und dem absoluten Guten strebt. Er ist auch für den anderen, für die anderen Menschen und die Welt, offen, weil er nur dann Ich sagen kann, wenn er sich selbst in Bezug auf ein Du begreift. Er tritt aus sich und aus dem egoistischen Selbsterhaltungstrieb heraus, um mit dem anderen in eine Beziehung des Dialogs und der Gemeinschaft einzutreten.

Die Person ist offen für die Gesamtheit und den unbegrenzten Horizont des Seins. Dank dieser ihrer Offenheit für das grenzenlose Sein trägt sie die Fähigkeit in sich, über die einzelnen, besonderen Objekte, die sie erkennt, hinauszugehen. In gewisser Hinsicht ist die menschliche Seele durch ihre Erkenntnisdimension alle Dinge: „Von beiden Seiten aber haben die nicht stofflichen Dinge gewissermaßen die Unendlichkeit, weil sie in gewisser Weise alles sind, entweder insofern es im Wesen der nicht stofflichen Dinge liegt, allem beispielhaft und ähnlich zu sein, wie dies bei Gott der Fall ist, oder weil sie die Ähnlichkeit mit allem im Akt oder in der Potenz besitzen, wie es bei den Engeln und den Seelen der Fall ist“.<ref> Thomas von Aquin, Commentum in tertium librum Sententiarum, d. 27, q. 1, a. 4: „Ex utraque autem parte res immateriales infinitatem habent quodammodo, quia sunt quodammodo omnia, sive inquantum essentia rei immaterialis est exemplar et similitudo omnium, sicut in Deo accidit, sive quia habet similitudinem omnium vel actu vel potentia, sicut accidit in Angelis et animabus“; vgl. Id., Summa theologiae,1, q. 75, a. 5.</ref>

b) Einzigartig und unwiederholbar

131 Der Mensch existiert als ein einzigartiges und unwiederholbares Wesen, ein „Ich“, das in der Lage ist, sich selbst zu begreifen, sich selbst zu beherrschen, sich selbst zu bestimmen. Die menschliche Person ist ein intelligentes und bewusstes Wesen, das über sich selbst nachdenken und sich folglich seiner selbst und der eigenen Taten bewusst sein kann. Dennoch definiert die Person sich nicht über Intelligenz, Bewusstsein und Freiheit, sondern ist selbst die Wurzel aller intelligenten, bewussten und freien Handlungen. Solche Handlungen können auch ausbleiben, ohne dass der Mensch deswegen aufhört, Person zu sein.

Die menschliche Person muss immer in ihrer unwiederholbaren und unauslöschlichen Einzigartigkeit begriffen werden. Denn der Mensch existiert vor allem als Subjektivität, als Zentrum des Bewusstseins und der Freiheit, dessen einzigartige und mit keiner anderen vergleichbare Entwicklung jeden wie auch immer gearteten Versuch verbietet, ihn in gedankliche Schemata oder mehr oder weniger ideologische Machtsysteme zu pressen. Daraus ergibt sich zunächst für den Einzelnen und insbesondere für die politischen und sozialen Institutionen und ihre Vertreter nicht nur die Forderung, jeden Menschen auf dieser Erde schlichtweg zu respektieren – weit mehr noch setzt dies voraus, dass es im Hinblick auf den anderen das erste Anliegen eines jeden und vor allem der genannten Institutionen sein muss, die umfassende Entwicklung der Person zu fördern.

c) Die Achtung vor der Menschenwürde

132 Eine gerechte Gesellschaft kann nur in der Achtung vor der transzendenten Würde der menschlichen Person verwirklicht werden. Diese stellt das letzte Ziel der auf sie hingeordneten Gesellschaft dar: „Die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung müssen sich dauernd am Wohl der Personen orientieren; denn die Ordnung der Dinge muss der Ordnung der Personen dienstbar werden und nicht umgekehrt“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047.</ref> Die Achtung vor der Menschenwürde ist untrennbar mit dem folgenden Grundsatz verbunden: „Alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein »anderes Ich« ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 27: AAS 58 (1966) 1047.</ref> Alle gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Vorhaben müssen von dem Wissen um den Primat eines jeden Menschen bestimmt sein.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,2235.</ref>

133 Auf keinen Fall darf die menschliche Person für Ziele instrumentalisiert werden, die außerhalb ihrer eigenen Entwicklung liegen, einer Entwicklung, die sich nur in Gott und in seinem Heilsplan ganz und endgültig erfüllen kann: Denn in seiner Innerlichkeit steht der Mensch über dem Universum, und er ist das einzige Geschöpf, das von Gott um seiner selbst willen geschaffen worden ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 24: AAS 58 (1966) 1045; Katechismus der Katholischen Kirche, 27, 356 und 358.</ref> Aus diesem Grund dürfen weder sein Leben noch die Entwicklung seines Denkens noch seine Güter noch diejenigen, die sein persönliches und familiäres Leben mit ihm teilen, in der Wahrnehmung ihrer eigenen Rechte und ihrer eigenen Freiheit ungerechten Einschränkungen unterworfen werden. Die Person darf nicht für wirtschaftliche, soziale und politische Ziele benutzt werden, welche Autorität diese auch formulieren mag, auch dann nicht, wenn dies im Namen angeblicher Fortschritte der Zivilgemeinschaft in ihrer Gesamtheit oder anderer Personen in der Gegenwart oder in der Zukunft geschieht. Daher ist es notwendig, dass die öffentlichen Autoritäten aufmerksam darüber wachen, dass keine Freiheitsbeschränkung und auch keine dem persönlichen Handeln auferlegte Belastung die personale Würde verletzt und dass die praktische Umsetzbarkeit der Menschenrechte effektiv gewährleistet ist. All dies gründet sich, um es noch einmal zu sagen, auf die Sicht des Menschen als Person, das heißt als aktives Subjekt, das gemeinsam mit der Gemeinschaft, der es angehört, für seinen eigenen Wachstumsprozess verantwortlich ist.

134 Die echten gesellschaftlichen Veränderungen sind nur dann wirksam und von Dauer, wenn sie auf entschlossenen Veränderungen des persönlichen Verhaltens basieren. Eine wirkliche moralische Ordnung des gesellschaftlichen Lebens ist nur möglich, wenn sie von den Personen ausgeht und sich auf diese bezieht, denn: „im sittlichen Handeln zeigt sich die Würde des Menschen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,1706.</ref> Unbestreitbar kommt den Personen die Entwicklung jener sittlichen Verhaltensweisen zu, die für jedes wahrhaft menschliche Zusammenleben grundlegend sind (Gerechtigkeit, Anstand, Ehrlichkeit, usw.) und auf keinen Fall einfach von den anderen erwartet oder an die Institutionen delegiert werden können. Alle und insbesondere diejenigen, die in vielfältiger Weise politische, rechtliche oder berufliche Verantwortung für andere tragen, sind dazu aufgerufen, das wachsame Gewissen der Gesellschaft und in erster Linie Zeugen eines zivilen und menschenwürdigen Zusammenlebens zu sein.

C) Die Freiheit der Person

a) Wert und Grenzen der Freiheit

135 Der Mensch kann sich dem Guten nur in der Freiheit zuwenden, die Gott ihm als das erhabenste Zeichen seiner Gottähnlichkeit gegeben hat:<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1705.</ref> „Gott wollte nämlich den Menschen »in der Hand seines Entschlusses lassen« (vgl. Sir 15, 14), sodass er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange. Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußerem Zwang“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 17: AAS 58 (1966) 1037; Katechismus der Katholischen Kirche, 1730–1732.</ref>

Zu Recht schätzt der Mensch die Freiheit und sucht sie mit Leidenschaft: Zu Recht will und muss er aus eigener, freier Initiative heraus sein personales und soziales Leben gestalten und führen und persönlich dafür verantwortlich sein.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 34: AAS 85 (1993) 1160–1161; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,17: AAS 58 (1966)1038.</ref> Denn die Freiheit erlaubt es dem Menschen nicht nur, den Zustand der äußeren Dinge in angemessener Weise zu verändern, sondern bestimmt über Entscheidungen, die dem wahren Guten entsprechen, auch das Wachstum seines Personseins:<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1733.</ref> Auf diese Weise bringt sich der Mensch selbst hervor, ist Vater seines eigenen Seins<ref> Vgl. Gregor von Nyssa, De vita Moysis, 2, 2–3: PG 44, 327B-328B: „… unde fit, ut nos ipsi patres quodammodo simus nostri … vitii ac virtutis ratione fingentes“.</ref> und errichtet die soziale Ordnung.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 13: AAS 83 (1991) 809–810.</ref>

136 Die Freiheit steht nicht im Gegensatz zur geschöpflichen Abhängigkeit des Menschen von Gott.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1706.</ref> Die Offenbarung lehrt, dass nicht der Mensch, sondern Gott allein die Macht hat, über Gut und Böse zu bestimmen (vgl. Gen 2, 16–17): „Gewiss, der Mensch ist von dem Augenblick an frei, in dem er die Gebote Gottes erkennen und aufnehmen kann. Und er ist im Besitz einer sehr weitgehenden Freiheit, denn er darf »von allen Bäumen des Gartens« essen. Aber es ist keine unbegrenzte Freiheit: Sie muss vor dem »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« Halt machen, da sie dazu berufen ist, das Sittengesetz, das Gott dem Menschen gibt, anzunehmen. Tatsächlich findet gerade in dieser Annahme die Freiheit des Menschen ihre wahre und volle Verwirklichung“.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 35: AAS 85 (1993) 1161–1162.</ref>

137 Die richtige Ausübung der persönlichen Freiheit erfordert exakte Voraussetzungen wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher, politischer und kultureller Art, die „allzu oft verkannt oder verletzt werden. Solche Verblendung und Ungerechtigkeit belasten das sittliche Leben und bringen Starke und Schwache in Versuchung, gegen die Liebe zu sündigen. Wenn sich der Mensch vom sittlichen Gesetz entfernt, beeinträchtigt er seine Freiheit, kettet sich an sich selbst, zerreißt die Bande der Brüderlichkeit und lehnt sich gegen die göttliche Wahrheit auf“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,1740.</ref> Die Befreiung von Ungerechtigkeiten kommt der Freiheit und Würde des Menschen zugute: Dennoch muss man „zuerst an die geistigen und moralischen Fähigkeiten der Person appellieren und an die fortwährende Notwendigkeit innerer Bekehrung erinnern, wenn man wirtschaftliche und soziale Veränderungen erreichen will, die dem Menschen wahrhaft dienen“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 75: AAS 79 (1987) 587.</ref>

b) Die Verbindung der Freiheit mit der Wahrheit und dem Naturgesetz

138 In der Ausübung seiner Freiheit vollbringt der Mensch sittlich gute Taten, die zur Entwicklung seiner Person und der Gesellschaft beitragen, wenn er der Wahrheit gehorcht, das heißt wenn er sich nicht anmaßt, der Schöpfer und oberste Herr dieser Wahrheit und der ethischen Normen zu sein.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1749–1756.</ref> Denn die Freiheit hat „ihren absoluten und bedingungslosen Ausgangspunkt nicht in sich selbst, sondern in der Existenz, innerhalb deren sie sich findet und die für sie gleichzeitig eine Grenze und eine Möglichkeit darstellt. Es ist die Freiheit eines Geschöpfes, das heißt geschenkte Freiheit, die als Keim empfangen und verantwortungsvoll zur Reife gebracht werden soll“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor,86: AAS 85 (1993) 1201.</ref> Andernfalls bringt der Tod der Freiheit Zerstörung über den Menschen und die Gesellschaft.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 44. 99: AAS 85 (1993) 1168–1169.1210–1211.</ref>

139 In der konkreten Praxis lässt sich die Wahrheit über das Gute und das Böse mit Hilfe des Gewissensurteils erkennen, das den Menschen dazu veranlasst, die Verantwortung für das Gute und das Böse, das er getan hat, zu übernehmen:„So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit »Urteils«-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in willkürlichen »Entscheidungen«. Und die Reife und Verantwortung dieser Urteile – und letztlich des Menschen, der ihr Subjekt ist – lässt sich nicht an der Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer mutmaßlichen Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, dass man sich von ihr beim Handeln leiten lässt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 61: AAS 85 (1993) 1181–1182.</ref>

140 Die Ausübung der Freiheit beinhaltet den Bezug auf ein allgemeingültiges natürliches Sittengesetz, das allen Rechten und Pflichten vorangeht und ihnen gemeinsam ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 50: AAS 85 (1993) 1173–1174.</ref> Dieses Naturgesetz „ist nichts anderes als das von Gott in uns hineingelegte Licht der Erkenntnis, durch das wir einsehen, was zu tun und was zu vermeiden ist. Dieses Licht und dieses Gesetz hat Gott dem Menschen bei der Schöpfung gegeben“,<ref> Thomas von Aquin , In duo praecepta caritatis et in decem Legis praecepta expositio,c. 1: „Nunc autem de scientia operandorum intendimus: ad quam tractandam quadruplex lex invenitur. Prima dicitur lex naturae; et haec nihil aliud est nisi lumen intellectus insitum nobis a Deo, per quod cognoscimus quid agendum et quid vitandum. Hoc lumen et hanc legem dedit Deus homini in creatione“.</ref> und es besteht in der Teilhabe an seinem ewigen Gesetz, das mit Gott selbst identifiziert wird.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 91, a. 2, c: „… partecipatio legis aeternae in rationali creatura lex naturalis dicitur“.</ref> Dieses Gesetz wird als natürlich bezeichnet, weil die Vernunft, die es verkündet, der menschlichen Natur eigen ist. Es ist allgemeingültig, es erstreckt sich auf alle Menschen, insofern es in der Vernunft gründet. In seinen wichtigsten Vorschriften findet sich das göttliche und natürliche Gesetz in den Zehn Geboten und formuliert die ersten und wesentlichen Regeln des sittlichen Lebens.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1955.</ref> Es wird getragen von einer Haltung der Sehnsucht und der Unterwerfung gegenüber Gott, der Quelle und dem Richter alles Guten, sowie von der Empfindung, dass der andere uns gleich ist. Das Naturgesetz bringt die Würde der Person zum Ausdruck und stellt die Basis ihrer grundlegenden Rechte und Pflichten dar.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1956.</ref>

141 In der Unterschiedlichkeit der Kulturen verbindet das Naturgesetz die Menschen untereinander, indem es ihnen gemeinsame Grundsätze schenkt. Auch wenn deren Anwendung je nach Ort, Zeit und Situation eine Anpassung an die vielfältigen Lebensumstände erforderlich macht,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1957.</ref> ist das Naturgesetz unveränderlich: „In der Flut der Vorstellungen und der Sitten bleibt es bestehen und unterstützt ihren Fortschritt. (…) Selbst wenn man es einschließlich seiner Grundsätze bestreitet, kann man es weder zerstören noch aus dem Herzen des Menschen reißen. Es taucht im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft immer wieder auf“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,1958.</ref>

Seine Vorschriften werden jedoch nicht von allen klar und unmittelbar erkannt. Die religiösen und sittlichen Wahrheiten können nur mit der Hilfe der Gnade und der Offenbarung „von allen ohne Schwierigkeit, mit sicherer Gewissheit und ohne Beimischung eines Irrtums erkannt werden“. <ref> I. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Filius, c. 2: DS 3005, S. 588; vgl. Pius XII., Enz. Humani generis: AAS 42 (1950) 562.</ref> In voller Harmonie mit dem Wirken des Geistes ist das Naturgesetz der Boden, den Gott dem offenbarten Gesetz und der Gnade bereitet hat.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1960.</ref>

142 Das Naturgesetz, das von Gott stammt, kann von keiner menschlichen Bosheit aufgehoben werden.<ref> Vgl. Augustinus, Confessiones, 2, 4, 9: PL 32, 678: „Furtum certe punit lex tua, Domine, et lex scripta in cordibus hominum, quam ne ipsa quidem delet iniquitas“.</ref> Es stellt die unverzichtbare moralische Grundlage für die Schaffung der menschlichen Gemeinschaft und die Ausarbeitung des bürgerlichen Gesetzes dar, welches aus den Prinzipien des Naturgesetzes die jeweiligen konkreten Konsequenzen zieht.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1959.</ref> Wenn die Wahrnehmung der Allgemeingültigkeit des natürlichen Sittengesetzes verdunkelt wird, kann keine wirkliche und dauerhafte Gemeinschaft mit dem anderen geschaffen werden, weil durch eine mangelnde Übereinstimmung im Hinblick auf die Wahrheit und das Gute „mit oder ohne Schuld (…) unsere Handlungen die Gemeinschaft der Personen zum Schaden jedes einzelnen [verletzen]“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 51: AAS 85 (1993) 1175.</ref> Nur eine in der gemeinsamen Natur verwurzelte Freiheit kann allen Menschen Verantwortung übertragen und ist geeignet, die öffentliche Moral zu rechtfertigen. Wer sich selbst zum einzigen Maßstab der Dinge und der Wahrheit erklärt, kann nicht friedlich mit seinesgleichen zusammenleben und zusammenarbeiten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 19–20: AAS 87 (1995) 421–424.</ref>

143 Die Freiheit neigt auf unerklärliche Weise dazu, sich der Wahrheit und dem Wohl des Menschen zu verschließen und gibt allzu oft dem Bösen und der egoistischen Selbstbezogenheit den Vorzug, wodurch sie sich zur schöpferischen Gottheit über Gut und Böse erhebt: „Obwohl in Gerechtigkeit von Gott begründet, hat der Mensch unter dem Einfluss des Bösen gleich von Anfang der Geschichte an durch Auflehnung gegen Gott und den Willen, sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen, seine Freiheit missbraucht. (…) Oft weigert er sich, Gott als seinen Ursprung anzuerkennen; er durchbricht dadurch auch die geschuldete Ausrichtung auf sein letztes Ziel, zugleich aber auch seine ganze Ordnung hinsichtlich seiner selbst wie hinsichtlich der anderen Menschen und der ganzen Schöpfung“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,13: AAS 58 (1966)1034–1035.</ref> Deshalb bedarf die Freiheit des Menschen der Befreiung. Christus befreit den Menschen mit der Kraft seines Ostergeheimnisses von der ungeordneten Eigenliebe,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1741.</ref> die die Quelle der Missachtung des Nächsten und der Beziehungen ist, die darauf ausgerichtet sind, über den anderen zu herrschen; er offenbart, dass die Freiheit sich in der Selbsthingabe erfüllt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 87: AAS 85 (1993) 1202–1203.</ref> Durch sein Kreuzesopfer bringt Jesus jeden Menschen zurück in die Gemeinschaft mit Gott und mit seinesgleichen.

D) Die Gleichheit der Würde aller Personen

144 „Gott schaut nicht auf die Person“ (Gal 2, 6; vgl. Apg 10, 34; Röm 2, 11; Eph 6, 9), weil alle Menschen dieselbe Würde von Geschöpfen besitzen, die er nach seinem Bild und ihm ähnlich geschaffen hat.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1934.</ref> Die Menschwerdung des Sohnes Gottes macht deutlich, dass hinsichtlich ihrer Würde alle Personen gleich sind: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid »einer« in Christus Jesus“ (Gal 3, 28; vgl. Röm 10, 12; 1 Kor 12, 13; Kol 3, 11).

Weil auf dem Antlitz eines jeden Menschen etwas von der Herrlichkeit Gottes erstrahlt, basiert die Würde eines jeden Menschen vor Gott auf der Würde des Menschen vor den anderen Menschen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 29: AAS 58 (1966) 1048–1049.</ref> Das ist überdies das letzte Fundament der grundlegenden Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Nation, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, Kultur oder Gesellschaftsschicht.

145 Nur die Anerkennung der Menschenwürde kann ein gemeinsames und personales Wachstum aller ermöglichen (vgl. Jak 2, 1–9). Um ein solches Wachstum zu begünstigen, ist es vor allem notwendig, den Benachteiligten zu helfen, auf wirkungsvolle Weise Bedingungen der Chancengleichheit zwischen Mann und Frau zu schaffen und eine objektive Gleichheit der verschiedenen sozialen Schichten vor dem Gesetz zu garantieren.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 16: AAS 63 (1971) 413.</ref>

Auch in den Beziehungen zwischen Völkern und Staaten sind Bedingungen der Vorurteilslosigkeit und Gleichheit die Voraussetzung für einen echten Fortschritt der internationalen Gemeinschaft.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 279–281; Paul VI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (4. Oktober 1965), 5: AAS 57 (1965) 881; Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 13: Der Apostolische Stuhl 1995, 520–521.</ref> Trotz der Schritte, die bereits in diese Richtung getan worden sind, darf nicht vergessen werden, dass es noch immer zahlreiche Formen der Ungleichheit und Abhängigkeit gibt.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 84: AAS 58 (1966) 1107–1108.</ref>

Einer Gleichheit in der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen und eines jeden Volkes muss das Bewusstsein entsprechen, dass die menschliche Würde nur gemeinsam, von der gesamten Menschheit gehütet und gestärkt werden kann. Nur durch das einträchtige Handeln von Menschen und Völkern, die aufrichtig am Wohl aller anderen interessiert sind, lässt sich eine echte weltumspannende Brüderlichkeit erreichen;<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (4. Oktober 1965), 5: AAS 57 (1965) 881; Id., Enz. Populorum progressio, 43–44: AAS 59 (1967) 278–279.</ref> und umgekehrt gereicht das Fortbestehen von Bedingungen schwerer Ungleichheit und fehlender Gleichberechtigung allen zum Nachteil.

146 Das „Männliche“ und das „Weibliche“ unterscheidet zwei Individuen von gleicher Würde, die jedoch keine statische Gleichheit aufweisen, weil das spezifisch Weibliche anders ist als das spezifisch Männliche und diese Verschiedenheit in der Gleichheit eine unverzichtbare Bereicherung für ein harmonisches menschliches Zusammenleben darstellt: „Voraussetzung für die Anerkennung der Präsenz der Frau in der Kirche und in der Gesellschaft ist eine sorgsame und tiefer gehende Untersuchung der anthropologischen Fundierung des Frauseins und des Mannseins. Dadurch muss die personale Identität der Frau in ihrer Beziehung, Verschiedenheit und Komplementarität zum Mann präzisiert werden, und das nicht nur im Hinblick auf die Rollen, die sie übernehmen, und die Aufgaben, die sie erfüllen soll, sondern auch und tiefer noch im Hinblick auf ihre Struktur und auf ihre personale Bedeutung“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Christifideles laici, 50: AAS 81 (1989) 489.</ref>

147 Die Frau ist die Ergänzung des Mannes, so wie der Mann die Ergänzung der Frau ist: Mann und Frau vervollständigen einander, und das nicht nur in physischer und psychischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht. Nur dank der Dualität des „Männlichen“ und des „Weiblichen“ kann das „Menschliche“ voll und ganz verwirklicht werden. Die „Einheit der zwei“<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Mulieris dignitatem, 11: AAS 80 (1988) 1678.</ref> oder, wenn man so will, die „Einzweiheit“ in der Beziehung versetzt jeden in die Lage, das wechselseitige Verhältnis der Personen zueinander als Geschenk und Auftrag zugleich zu erfahren: „Dieser »Einheit der zwei« wurde von Gott nicht nur das Werk der Fortpflanzung und das Leben der Familie anvertraut, sondern der eigentliche Auf bau der Geschichte“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Frauen, 8: AAS 87 (1995) 808.</ref> „Die Frau ist »eine Hilfe« für den Mann, wie der Mann »eine Hilfe« für die Frau ist!“:<ref> Johannes Paul II., Angelusgebet (9. Juli 1995): Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XVIII, 2 (1995) 74; vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt (31. Mai 2004), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 166.</ref> In ihrer Begegnung verwirklicht sich ein einheitlicher Begriff der menschlichen Person, der nicht auf einer Logik der Egozentrik und Selbstbehauptung, sondern auf der Logik der Liebe und Solidarität beruht.

148 Behinderte Personen sind im vollen Sinne menschliche Subjekte und Inhaber von Rechten und Pflichten, „die gerade angesichts der dem Körper und seinen Fähigkeiten auferlegten Behinderungen und Leiden die Würde und Größe des Menschen besonders sichtbar machen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 22: AAS 73 (1981) 634.</ref> Weil eine Person mit Behinderung ein Subjekt mit allen Rechten ist, muss man ihr helfen, am familiären und gesellschaftlichen Leben in all seinen Dimensionen und auf allen Ebenen, die sie mit ihren Möglichkeiten erreichen kann, teilzunehmen.

Die Rechte der behinderten Personen müssen mit wirkungsvollen und geeigneten Maßnahmen gestärkt werden: „Es wäre des Menschen von Grund auf unwürdig und eine Verleugnung der gemeinsamen Menschennatur, wenn man zum Leben der Gesellschaft und so auch zur Arbeit nur voll Leistungsfähige zuließe, weil man damit in eine schwere Form von Diskriminierung verfiele, nämlich in die Aufteilung von Starken und Gesunden auf der einen und den Schwachen und Kranken auf der anderen Seite“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 22: AAS 73 (1981) 634.</ref> Große Aufmerksamkeit muss nicht nur den physischen und psychologischen Arbeitsbedingungen, der gerechten Entlohnung, den Aufstiegsmöglichkeiten und der Beseitigung der verschiedenen Hindernisse, sondern auch der Emotionalität und der Sexualität der behinderten Person gewidmet werden: „Auch sie hat ein Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, hat ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Nähe und Intimität“,<ref> Johannes Paul II., Botschaft zum internationalen Symposium „Würde und Rechte der Personen mit geistiger Behinderung“ (5. Januar 2004): L’Osservatore Romano, 9. Januar 2004, S. 5.</ref> je nach ihren eigenen Möglichkeiten und unter Berücksichtigung der sittlichen Ordnung, die für die Gesunden und für die Personen mit Behinderung in gleicher Weise gilt.

E) Die menschliche Sozialität

149 Die Person ist ihrem Wesen nach sozial,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 12: AAS 58 (1966) 1034; Katechismus der Katholischen Kirche,1879.</ref> weil Gott sie so gewollt und geschaffen hat.<ref> Vgl. Pius XII., Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1942), 6: AAS 35 (1943) 11–12; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 264–265.</ref> Die Natur des Menschen manifestiert sich als die Natur eines Wesens, das auf die eigenen Bedürfnisse auf der Grundlage einer Beziehungssubjektivität, das heißt als freies und verantwortliches Wesen reagiert, das die Notwendigkeit, sich zu integrieren und mit seinesgleichen zusammenzuarbeiten, anerkennt und in der Lage ist, mit ihnen auf der Ebene des Bewusstseins und der Liebe eine Gemeinschaft zu bilden: „Eine Gesellschaft ist eine Gruppe von Personen, die organisch durch ein Einheitsprinzip verbunden sind, das über den Einzelnen hinausgeht. Als zugleich sichtbare und geistige Vereinigung dauert eine Gesellschaft in der Zeit fort: sie empfängt das Vergangene und bereitet die Zukunft vor“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1880.</ref>

Deshalb muss betont werden, dass das gemeinschaftliche Leben ein natürliches Kennzeichen ist, das den Menschen vom Rest der irdischen Geschöpfe unterscheidet. Das soziale Handeln trägt einen besonderen Stempel des Menschen und des Menschseins, den Stempel einer Person, die in einer Gemeinschaft von Personen wirkt: Dieser Stempel bestimmt ihre innere Qualifikation und bildet in gewisser Hinsicht ihre eigentliche Natur.<ref> Die natürliche Sozialität des Menschen wird auch daran deutlich, dass die Gesellschaft ihren Ursprung nicht in einem konventionalen „Vertrag“ oder „Pakt“, sondern in der Natur des Menschen selbst hat; und aus dieser folgt auch die Fähigkeit, in Freiheit verschiedene Abkommen über Zusammenschlüsse zu treffen. Man darf nicht vergessen, dass den Ideologien vom Sozialvertrag eine falsche Anthropologie zugrunde liegt; entsprechend können auch ihre Ergebnisse für die Gesellschaft und die Personen nicht von Nutzen sein – und sind dies auch tatsächlich nicht gewesen. Das Lehramt hat diese Auffassungen als offenkundig absurd und in höchstem Maße schädlich verurteilt: vgl. Leo XIII., Enz. Libertas praestantissimum: Acta Leonis XIII, 8 (1889) 226–227.</ref> Eine solche charakteristische Rolle der Beziehung erhält im Licht des Glaubens eine tiefere Bedeutung und Bestätigung. Nach dem Bild Gottes und ihm ähnlich geschaffen (vgl. Gen 1, 26) und in das sichtbare Universum hineingestellt, um in Gesellschaft zu leben (vgl. Gen 2, 20.23) und über die Erde zu herrschen (vgl. Gen 1, 26.28–30), ist die menschliche Person damit von Anfang an zum sozialen Leben berufen: „Gott hat den Menschen nicht als »einsames Wesen« geschaffen, sondern hat ihn als »soziales Wesen« gewollt. Das gesellschaftliche Leben ist deshalb dem Menschen nicht äußerlich: Er kann nur in Verbindung mit anderen wachsen und seine Berufung verwirklichen“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 32: AAS 79 (1987) 567.</ref>

150 Die menschliche Sozialität mündet nicht automatisch in die Gemeinschaft der Personen und in die Selbsthingabe. Aufgrund von Hochmut und Egoismus entdeckt der Mensch in sich selbst Keime von Asozialität, individualistischer Verschlossenheit und der Neigung, den anderen zu unterdrücken.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 25: AAS 58 (1966) 1045–1046.</ref> Jede Gesellschaft, die diesen Namen verdient, kann in der Wahrheit bleiben, wenn jedes einzelne ihrer Mitglieder dank seiner eigenen Fähigkeit, das Gute zu erkennen, dieses für sich und für die anderen anstrebt. Man schließt sich aus Liebe zum eigenen Wohl und zum Wohl der anderen zu festen Gruppen zusammen, deren Ziel es ist, ein gemeinsames Wohl zu erreichen. Auch die verschiedenen Gesellschaften müssen im Dienst am Menschen und am Gemeinwohl Beziehungen der Solidarität, der Kommunikation und der Zusammenarbeit miteinander eingehen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 26: AAS 80 (1988) 544–547; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099–1100.</ref>

151 Die menschliche Sozialität ist nicht einförmig, sondern nimmt vielfältige Ausdrucksformen an. Denn das Gemeinwohl hängt von einem gesunden sozialen Pluralismus ab. Die vielfältigen Gesellschaften sind dazu aufgerufen, ein einheitliches und harmonisches Gewebe zu bilden, innerhalb dessen eine jede ihre eigene Physiognomie und Autonomie bewahren und entfalten kann. Einige Gesellschaftsformen wie die Familie, die Zivil- und die Religionsgemeinschaft entsprechen der innersten Natur des Menschen in unmittelbarerer Weise, andere gehen eher aus der Willensfreiheit hervor: „Um die Beteiligung möglichst vieler am gesellschaftlichen Leben zu fördern, ist die Schaffung von »Verbänden, Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, kultureller, unterhaltender, sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen Raum wie auf Weltebene« zu fördern. Diese Sozialisation gründet auch auf der natürlichen Neigung der Menschen, sich zusammenzuschließen, um Ziele zu erreichen, welche die Kräfte der Einzelnen übersteigen. Sie bringt die Anlagen der Person, insbesondere ihren Unternehmungsgeist und ihren Sinn für Verantwortung zur Entfaltung und hilft, ihre Rechte zu gewährleisten“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1882.</ref>

IV. DIE MENSCHENRECHTE

a) Der Wert der Menschenrechte

152 Das Bemühen um die Festlegung und Verkündung der Menschenrechte ist eine der wichtigsten Anstrengungen, um wirkungsvoll auf die unverzichtbaren Forderungen der Menschenwürde einzugehen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 1: AAS 58 (1966) 929–930.</ref> Die Kirche betrachtet diese Rechte und ihre Anerkennung als eine außerordentliche Gelegenheit in unserer Zeit, um die Menschenwürde als charakteristischen Stempel, den der Schöpfergott seinem Geschöpf aufgedrückt hat, weltweit auf wirkungsvollere Weise zur Geltung zu bringen und zu fördern.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 41: AAS 58 (1966) 1059–1060; Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 32: Der Apostolische Stuhl 1989, 1385–1386.</ref> Das kirchliche Lehramt hat es nicht versäumt, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 positiv zu bewerten, die von Johannes Paul II. als „wahrer Meilenstein auf dem Weg des moralischen Fortschritts der Menschheit“ bezeichnet worden ist.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen (2. Oktober 1979), 7: AAS 71 (1979) 1147–1148; für Johannes Paul II. bleibt diese Erklärung „eine der höchsten Ausdrucksformen des menschlichen Gewissens in unserer Zeit“: Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 2: Der Apostolische Stuhl 1995, 514.</ref>

153 Die Wurzel der Menschenrechte ist nämlich in der Würde zu suchen, die jedem Menschen zu Eigen ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 27: AAS 58 (1966) 1047–1048; Katechismus der Katholischen Kirche, 1930.</ref> Diese Würde, die in der Natur des menschlichen Lebens liegt und in jeder Person gleich ist, wird vor allem mit der Vernunft erfasst und begriffen. Die natürliche Grundlage der Rechte erscheint noch fester, wenn man sich im Licht einer übernatürlichen Sichtweise vor Augen hält, dass die gottgegebene und von der Sünde tief verletzte menschliche Würde von Jesus Christus durch seine Menschwerdung, seinen Tod und seine Auferstehung angenommen und erlöst worden ist.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 259; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1079.</ref>

Die letzte Quelle der Menschenrechte liegt nicht im reinen Willen der Menschen,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 278–279.</ref> nicht in der Wirklichkeit des Staates, nicht in den öffentlichen Gewalten, sondern im Menschen selbst und in Gott, seinem Schöpfer. Diese Rechte sind universal, unverletzlich und unveräußerlich.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 259.</ref> Universal, weil sie unabhängig von Ort, Zeit oder Subjekt ausnahmslos in allen Menschen vorhanden sind. Unverletzlich insofern, als sie „aus der Würde und dem Wert erwachsen, die der menschlichen Person innewohnen“<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 3: AAS 91 (1999) 379.</ref> und weil „es müßig wäre, die Rechte zu verkünden und nicht gleichzeitig alles zu tun, um den ihnen gebührenden Respekt von Seiten aller überall und gegenüber jedem zu gewährleisten“.<ref> Paul VI., Botschaft an die internationale Menschenrechtskonferenz (15. April 1968): AAS 60 (1968) 285.</ref> Unveräußerlich insofern, als „niemand irgendeinen seiner Mitmenschen dieser Rechte rechtmäßig berauben darf; denn das würde bedeuten, seiner Natur Gewalt anzutun“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 3: AAS 91 (1999) 379.</ref>

154 Die Menschenrechte müssen nicht nur im Einzelnen, sondern in ihrer Gesamtheit geschützt werden: Ein partieller Schutz käme einer nur unvollständigen Anerkennung gleich. Sie entsprechen den Forderungen der Menschenwürde und beinhalten in erster Linie die Befriedigung der wesentlichen materiellen und spirituellen Bedürfnisse der Person: „Diese Rechte [gelten] für alle Lebensphasen und jeden politischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Kontext. Sie bilden ein einziges Ganzes, das eindeutig auf die Förderung aller Aspekte des Wohls der Person und der Gesellschaft ausgerichtet ist. (…) Die ganzheitliche Förderung beider Kategorien der Menschenrechte ist die wahre Garantie dafür, dass jedes einzelne Recht voll geachtet wird“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 3: AAS 91 (1999) 379.</ref> Die wesentlichen Kennzeichen der Menschenrechte sind ihre Allgemeingültigkeit und Unteilbarkeit, „zwei Grundprinzipien, die jedenfalls die Forderung voraussetzen, die Menschenrechte in den verschiedenen Kulturen zu verwurzeln und ihr gesetzliches Profil zu vertiefen, um ihre volle Respektierung sicherzustellen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1998, 2: AAS 91 (1999) 149.</ref>

b) Die nähere Bestimmung der Rechte

155 Die Lehren Johannes’ XXIII.,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 259–264.</ref> des Zweiten Vatikanischen Konzils<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047.</ref> und Pauls VI.<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (4. Oktober 1965), 6: AAS 57 (1965) 883–884; Id., Botschaft an die zur Synode versammelten Bischöfe (26. Oktober 1974): AAS 66 (1974) 631–639.</ref> enthalten umfangreiche Hinweise auf die vom kirchlichen Lehramt entworfene Konzeption der Menschenrechte. Johannes Paul II. hat ihre Grundzüge in der Enzyklika „Centesimus annus“ aufgelistet: „das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 47: AAS 83 (1991) 851–852; vgl. auch Id., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (2. Oktober 1979), 13: AAS 71 (1979) 1152–1153.</ref>

Das erste Recht, das in dieser Aufzählung genannt wird, ist das Recht auf Leben vom Augenblick der Empfängnis an bis hin zu seinem natürlichen Ende,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 2: AAS 87 (1995) 402.</ref> das Voraussetzung für die Wahrnehmung aller anderen Rechte ist und jede Form von Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie verbietet.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 27: AAS 58 (1966) 1047–1048; Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 80: AAS 85 (1993) 1197–1198; Id., Enz. Evangelium vitae, 7–28: AAS 87 (1995) 408–433.</ref> Auch auf das Recht der Religionsfreiheit wird allergrößter Wert gelegt: „Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, sodass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 2: AAS 58 (1966) 930–931.</ref> Der Respekt vor diesem Recht ist ein vielsagendes Zeichen „für den wahren Fortschritt des Menschen in einem jeden Regime, in jeder Gesellschaft, in jedem System und in jeder Lage“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 17: AAS 71 (1979) 300.</ref>

c) Rechte und Pflichten

156 Untrennbar mit dem Thema der Rechte verbunden ist die Frage nach den Pflichten des Menschen, die in den Stellungnahmen des Lehramts eine angemessene Berücksichtigung findet. Oftmals wird auf die unauflösliche Verbindung zwischen Rechten und Pflichten hingewiesen, die einander in erster Linie in der menschlichen Person, die sie innehat,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 259–264; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047.</ref> ergänzen. Diese Verbindung weist auch eine soziale Dimension auf, da „in der menschlichen Gemeinschaft dem natürlichen Recht des einen eine Pflicht der anderen entspricht: die Pflicht nämlich, jenes Recht anzuerkennen und zu achten“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 264.</ref> Das Lehramt unterstreicht die innere Widersprüchlichkeit einer Formulierung von Rechten, die nicht zugleich auch die entsprechende Verantwortung mit einschließt: „Diejenigen also, die zwar ihre Rechte in Anspruch nehmen, aber ihre Pflichten ganz vergessen oder nicht entsprechend erfüllen, sind denen zu vergleichen, die ein Gebäude mit einer Hand auf bauen und es mit der anderen wieder zerstören“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 264.</ref>

d) Rechte der Völker und Nationen

157 Das Feld der Menschenrechte hat sich auf die Rechte der Völker und der Nationen ausgedehnt,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 33: AAS 80 (1988) 557–559; Id., Enz. Centesimus annus, 21: AAS 83 (1991) 818–819.</ref> denn was „für den Menschen gilt, das gilt ebenso für die Völker“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges (27. August 1989), 8: AAS 82 (1990) 56.</ref> Das Lehramt weist darauf hin, dass das internationale Recht „auf dem Grundsatz der gleichen Achtung für die Staaten, des Rechtes auf Selbstbestimmung eines jeden Volkes und der freiwilligen Zusammenarbeit der Völker für das höhere Gemeinwohl der Menschheit“ beruht.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges (27. August 1989), 8: AAS 82 (1990) 56.</ref> Grundlagen des Friedens sind nicht nur die Achtung der Menschenrechte, sondern auch der Respekt vor den Rechten der Völker, insbesondere dem Recht auf Unabhängigkeit.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (9. Januar 1988), 7–8: AAS 80 (1988) 1139.</ref>

Die Rechte der Nationen sind nichts anderes als „die auf dieser besonderen Ebene des Gemeinschaftslebens gepflegten »Menschenrechte«“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 8: Der Apostolische Stuhl 1995, 518.</ref> Die Nation hat ein fundamentales „Recht auf Existenz“; ein Recht auf „die eigene Sprache und Kultur (…), durch die ein Volk sich ausdrückt und die das fördern, was ich die ihm eigene geistige »Souveränität« nennen möchte“; ein Recht darauf, „ihr Leben nach den eigenen Überlieferungen zu gestalten, ausgeschlossen natürlich jede Verletzung der grundlegenden Menschenrechte und insbesondere die Unterdrückung der Minderheiten“; und ein Recht darauf, „ihre eigene Zukunft aufzubauen und für eine angemessene Ausbildung ihrer jüngeren Generationen zu sorgen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 8: Der Apostolische Stuhl, 518.</ref> Die internationale Ordnung setzt ein Gleichgewicht zwischen Partikularität und Universalität voraus, zu dessen Verwirklichung alle Nationen aufgerufen sind, deren erste Pflicht es ist, in einer Haltung des Friedens, des Respekts und der Solidarität mit den anderen Nationen zu leben.

e) Die Kluft zwischen Buchstabe und Geist überwinden

158 Der feierlichen Proklamation der Menschenrechte widerspricht die schmerzliche Realität ihrer Verletzung durch Kriege und jede Art von Gewalt, in erster Linie Völkermorde und Massendeportationen, die sich fast überall ausbreitenden, immer neuen Formen der Sklaverei wie Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Ausbeutung der Arbeiter, illegaler Drogenhandel, Prostitution: „Auch in den Ländern mit demokratischen Regierungsformen werden diese Rechte nicht immer voll respektiert“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 47: AAS 83 (1991) 852.</ref>

Leider gibt es eine Kluft zwischen dem „Buchstaben“ und dem „Geist“ der Menschenrechte,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis. 17: AAS 71 (1979) 295–300.</ref> denen oft nur ein rein formaler Respekt gezollt wird. Die Soziallehre weist im Gedanken an die Vorrangstellung, die das Evangelium den Armen einräumt, wiederholt darauf hin, dass „die mehr Begüterten verpflichtet [sind], auf gewisse Rechte zu verzichten, um großzügiger mit ihren Mitteln anderen zu helfen“, und dass eine übertriebene Betonung der Gleichheit „zu einem überspannten Individualismus führen [kann], wo jeder nur seine eigenen Rechte geltend macht auf Kosten des Gemeinwohls“.<ref> Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 23: AAS 63 (1971) 418.</ref>

159 In dem Bewusstsein, dass ihre im Wesentlichen religiöse Sendung die Verteidigung und Stärkung der grundlegenden Rechte des Menschen mit einschließt,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 859–860.</ref> schätzt die Kirche „die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 41: AAS 58 (1966) 1060.</ref> Die Kirche ist zutiefst auf die Notwendigkeit bedacht, die Gerechtigkeit<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Amtsträger und Anwälte des Gerichtshofs der Römischen Rota (17. Februar 1979), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, II, 1 (1979) 413–414.</ref> und die Menschenrechte<ref> Vgl. CIC, cann. 208–223.</ref> in ihrem eigenen Inneren zu respektieren.

Das seelsorgerische Engagement nimmt die zweifache Aufgabe wahr, die christlichen Grundlagen der Menschenrechte zu verkünden und die Verletzungen dieser Rechte anzuklagen:<ref> Vgl. Päpstliche Kommission Iustitia et Pax, La Chiesa e i diritti dell’uomo,70–90, Vatikanstadt 1975, S. 47–55.</ref> In jedem Fall aber gilt, „dass Verkündigung wichtiger ist als Anklage, und dass diese nicht von jener absehen darf, da sie nur von dort ihre wahre Berechtigung und die Kraft einer höchsten Motivation erhält“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 572.</ref> Um wirkungsvoller zu sein, ist dieses Engagement offen für die ökumenische Zusammenarbeit, für den Dialog mit den anderen Religionen, für alle sachdienlichen Kontakte mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene. Die Kirche vertraut vor allem auf die Hilfe des Herrn und seines Geistes, der, wenn er in die Herzen eingegossen ist, die sicherste Garantie für die Achtung vor der Gerechtigkeit und den Menschenrechten und für den damit geleisteten Beitrag zum Frieden darstellt: „Es ist immer das beständige Bestreben der Kirche im Namen ihres vom Herrn empfangenen Auftrags gewesen, die Gerechtigkeit und den Frieden zu fördern und alle gesellschaftlichen Daseinsbereiche mit dem Licht und dem Sauerteig des Evangeliums zu durchdringen“.<ref> Paul VI., Motu proprio Iustitiam et Pacem (10. Dezember 1976): AAS 68 (1976) 700.</ref>

VIERTES KAPITEL: DIE PRINZIPIEN DER SOZIALLEHRE DER KIRCHE

I. BEDEUTUNG UND EINHEIT

160 Die bleibenden Prinzipien der Soziallehre der Kirche<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 29–42: Der Apostolische Stuhl 1989, 1384–1390.</ref> bilden die wahren und eigentlichen Angelpunkte der katholischen Soziallehre: Es handelt sich um das Prinzip der Würde der menschlichen Person – von dem im vorangegangenen Kapitel bereits die Rede war –, das die Grundlage jedes anderen Prinzips und Inhalts der Soziallehre darstellt,342<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 453.</ref> des Gemeinwohls,der Subsidiarität und der Solidarität. Diese Prinzipien, die die ganze mit Hilfe der Vernunft und des Glaubens erkannte Wahrheit über den Menschen zum Ausdruck bringen, entspringen „aus der Begegnung der Botschaft des Evangeliums und ihrer Forderungen, wie sie im Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe und der Gerechtigkeit zusammengefasst sind, mit den Problemen, die sich aus dem Leben der Gesellschaft ergeben“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre , Instr. Libertatis conscientia, 72: AAS 79 (1987) 585.</ref> In dem Bemühen, konsequent auf die Erfordernisse der Zeiten und die beständigen Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens einzugehen, hat die Kirche diese Prinzipien nach und nach herausgearbeitet und ihnen so im Lauf der Geschichte und im Licht des Geistes durch kluges Nachdenken über die eigene Glaubensüberlieferung eine immer klarere Grundlage und Gestalt geben können.

161 Diese Prinzipien haben einen allgemeinen und grundlegenden Charakter, weil sie sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit beziehen: von den durch Nähe und Unmittelbarkeit gekennzeichneten zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zu jenen, die von der Politik, der Wirtschaft und der Rechtsordnung vermittelt sind; von den Beziehungen zwischen Gemeinschaften oder Gruppen bis hin zu den Beziehungen zwischen Völkern und Nationen. Aufgrund ihrer zeitlichen Dauer und universalen Bedeutung sieht die Kirche in ihnen das erste und grundlegende Bezugssystem für die Interpretation und Bewertung der gesellschaftlichen Erscheinungen, das notwendig ist, weil man in ihm zu Kriterien der Einschätzung und Orientierung für alle Bereiche des sozialen Handelns gelangen kann.

162 Die Prinzipien der Soziallehre müssen in ihrer Einheitlichkeit, in ihrem Zusammenhang und in ihrem Ineinandergreifen betrachtet werden. Diese Forderung wurzelt in der Bedeutung, die die Kirche selbst ihrer eigenen Soziallehre als einem „Corpus“ der Lehre beimisst, das die sozialen Wirklichkeiten organisch interpretiert.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 1: AAS 80 (1988) 513–514.</ref> Die Aufmerksamkeit für jedes einzelne Prinzip in seiner Besonderheit darf nicht zu seiner nur teilweisen und verfehlten Anwendung führen, zu der es immer dann kommt, wenn man sich so auf es beruft, als ob es von allen anderen getrennt und losgelöst wäre. Die theoretische Vertiefung und die Anwendung auch nur eines einzelnen der sozialen Prinzipien lassen ihre wechselseitigen, einander ergänzenden und miteinander vernetzten Strukturen klar zutage treten. Diese grundlegenden Angelpunkte der kirchlichen Lehre sind überdies weit mehr als ein dauerhaftes Erbe an Ideen, sie sind wesentlicher Bestandteil der christlichen Botschaft, weil sie allen die möglichen Wege zu einem guten, wirklich erneuerten gesellschaftlichen Leben aufzeigen.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 47: Der Apostolische Stuhl 1989, 1391–1392.</ref>

163 Die Prinzipien der Soziallehre bilden in ihrer Gesamtheit jene erste Formulierung der Wahrheit über die Gesellschaft, die jedes Gewissen dazu aufruft und einlädt, in Freiheit und voller Mitverantwortlichkeit mit allen und für alle zu handeln. Denn der Mensch kann sich der Frage nach der Wahrheit und der Bedeutung des gesellschaftlichen Lebens nicht entziehen, da die Gesellschaft keine Realität ist, die außerhalb seiner eigenen Existenz liegt.

Diese Prinzipien haben eine zutiefst moralische Bedeutung, weil sie auf die letzten und Richtung gebenden Grundlagen des sozialen Lebens verweisen. Um sie voll und ganz zu verstehen, muss man sein Handeln nach ihnen ausrichten und dem Weg der von ihnen aufgezeigten Entwicklung hin zu einem menschenwürdigen Leben folgen. Die den großen sozialen Prinzipien innewohnende moralische Forderung betrifft sowohl das persönliche Handeln der einzelnen, insofern sie die unersetzbaren Träger der Verantwortung auf jeder Ebene sind, als auch zugleich die Institutionen, die durch Gesetze, gewohnheitsmäßige Normen und zivile Strukturen repräsentiert werden, weil diese die Fähigkeit haben, die Entscheidungen vieler über lange Zeiträume hinweg zu beeinflussen und darauf einzuwirken. Die Prinzipien erinnern nämlich daran, dass die historisch bestehende Gesellschaft aus den sich ineinander verflechtenden Freiheiten aller Personen entsteht, die in ihr handeln und durch ihre Entscheidungen zu ihrer Entfaltung oder Verarmung beitragen.

II. DAS PRINZIP DES GEMEINWOHLS

a) Bedeutung und hauptsächliche Implikationen

164 Aus der Würde, Einheit und Gleichheit aller Personen ergibt sich vor allem das Prinzip des Gemeinwohls, auf das sich jeder Aspekt des sozialen Lebens beziehen muss, um zur Fülle seiner Bedeutung zu gelangen. Einer ersten und weithin anerkannten Definition zufolge versteht man unter Gemeinwohl „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1905–1912; Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 417–421; Id., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 272–273; Paul VI.,Enz. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435.</ref>

Das Gemeinwohl besteht nicht in der einfachen Summe der Einzelgüter eines jeden Subjekts im sozialen Gefüge. Als Wohl aller und jedes Einzelnen ist und bleibt es gemeinsam, weil es unteilbar ist und nur gemeinsam erreicht, gesteigert und auch im Hinblick auf die Zukunft bewahrt werden kann. Wie sich das moralische Handeln des Einzelnen darin erfüllt, das Gute zu tun, erfüllt sich das gesellschaftliche Handeln in der Verwirklichung des Gemeinwohls. Denn das Gemeinwohl kann als die soziale und gemeinschaftliche Dimension des moralisch Guten verstanden werden.

165 Eine Gesellschaft, die auf allen Ebenen bewusst im Dienst des Menschen bleiben will, setzt sich das Gemeinwohl als Wohl aller Menschen und des ganzen Menschen als vorrangiges Ziel.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1912.</ref> Die Person kann nicht nur in sich selbst Erfüllung finden und damit die Tatsache übergehen, dass sie in ihrem Sein wesentlich „mit“ den anderen und „für“ die anderen besteht. Diese Wahrheit drängt sie nicht nur dazu, auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft und der Beziehungen mit anderen zusammenzuleben, sondern unermüdlich in praktischer und nicht bloß idealer Form das Gute oder die Bedeutung und die Wahrheit anzustreben, die in den bestehenden Ausprägungen des gesellschaftlichen Lebens liegen. Keine Ausprägung der Gesellschaftlichkeit – von der Familie über die soziale Zwischengruppe, den Verband, das Wirtschaftsunternehmen, die Stadt, die Region, den Staat bis hin zur Gemeinschaft der Völker und Nationen – kann der Frage nach dem eigenen Gemeinwohl aus dem Weg gehen, die wesentlich für ihre Bedeutung und eine echte Daseinsberechtigung für ihr Bestehen ist.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 272.</ref>

b) Die Verantwortung aller für das Gemeinwohl

166 Die Forderungen des Gemeinwohls ergeben sich aus den sozialen Bedingungen einer jeden Epoche und sind eng mit der Achtung und umfassenden Förderung der Person und ihrer grundlegenden Rechte verbunden.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1907.</ref> Diese Forderungen betreffen vor allem das Engagement für den Frieden, die Organisation der staatlichen Macht, eine stabile Rechtsordnung, den Umweltschutz, die Gewährleistung jener grundlegenden Dienste an der Person, die zum Teil mit den Menschenrechten identisch sind: Ernährung, Wohnung, Arbeit, Erziehung und Zugang zur Bildung, Verkehrsmittel, Gesundheit, freier Austausch von Informationen und Schutz der Religionsfreiheit.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047.</ref> Dabei darf auch der Beitrag nicht vergessen werden, den jede Nation zu einer echten internationalen Zusammenarbeit im Hinblick auf das Gemeinwohl der gesamten Menschheit und auch der künftigen Generationen leisten muss.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 421.</ref>

167 Das Gemeinwohl verpflichtet alle Mitglieder der Gesellschaft: Niemand ist davon ausgenommen, je nach seinen Fähigkeiten an seiner Verwirklichung und Entfaltung mitzuarbeiten.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 417; Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435; Katechismus der Katholischen Kirche,1913.</ref> Dem Gemeinwohl muss in umfassender Weise gedient werden: nicht unter dem eingeschränkten Blickwinkel von Teilvorteilen, die daraus gezogen werden können, sondern auf der Grundlage einer Logik, die auf eine denkbar breite Übernahme von Verantwortung abzielt. Das Gemeinwohl ist ein Ergebnis der erhabensten Neigungen des Menschen,<ref> Der heilige Thomas von Aquin siedelt das „Erkennen der Wahrheit über Gott“ und das „Leben in Gesellschaft“ auf der höchsten und eigensten Ebene der „inclinationes naturales“ des Menschen an (Summa theologiae, I-II, q. 94, a. 2: „Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae … Tertio modo inest homini inclinatio ad bonum secundum naturam rationis, quae est sibi propria; sicut homo habet naturalem inclinationem ad hoc quod veritatem cognoscat de Deo, et ad hoc quod in societate vivat“).</ref> doch es ist ein schwer erreichbares Gut, weil es die Fähigkeit voraussetzt, beständig nach dem Wohl des anderen zu streben, so als ob es das eigene wäre.

Ebenso haben alle das Recht, aus den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens Nutzen zu ziehen, die sich aus dem Streben nach dem Gemeinwohl ergeben. Die Lehre Pius’ XI. wirkt noch heute aktuell: „Im Ergebnis muss die Verteilung der geschaffenen Güter, die heute durch den ungeheuren Gegensatz von wenigen Überreichen und einer unübersehbaren Masse von Eigentumslosen aufs schwerste gestört ist – keiner, der das Herz am rechten Fleck hat, kann sich darüber einer Täuschung hingeben –, wieder mit den Normen des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit in Übereinstimmung gebracht werden“.<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 197.</ref>

c) Die Aufgaben der politischen Gemeinschaft

168 Die Verantwortung für das Gemeinwohl kommt nicht nur den einzelnen Personen, sondern auch dem Staat zu, weil das Gemeinwohl die Daseinsberechtigung der politischen Autorität ist.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1910.</ref> Der Staat nämlich muss den Zusammenhalt, die Einheitlichkeit und die Organisation der zivilen Gesellschaft, deren Ausdruck er ist,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1095–1097; Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 17: AAS 71 (1979) 295–300.</ref> dergestalt garantieren, dass das Gemeinwohl durch die Mitwirkung aller Bürger erreicht werden kann. Der einzelne Mensch, die Familien, die mittleren Körperschaften sind nicht in der Lage, aus eigener Kraft zu ihrer vollen Entfaltung zu gelangen; daraus folgt die Notwendigkeit politischer Institutionen, deren Zweck darin besteht, die – materiellen, kulturellen, moralischen, spirituellen – Güter den Personen zugänglich zu machen, die erforderlich sind, um ein wahrhaft menschliches Leben zu führen. Das Ziel des gesellschaftlichen Lebens ist das historisch realisierbare Gemeinwohl.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 133–135; Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 200.</ref>

169 Um das Gemeinwohl zu gewährleisten, hat die Regierung eines jeden Landes die spezifische Aufgabe, die Interessen der unterschiedlichen Bereiche auf gerechte Weise miteinander in Einklang zu bringen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1908.</ref> Die richtige Vermittlung zwischen dem besonderen Wohl von Gruppen und Individuen ist eine der schwierigsten Aufgaben der öffentlichen Macht. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass in einem demokratischen Staat, in dem die Entscheidungen in der Regel von einer Mehrheit der Vertreter des Volkswillens getroffen werden, die Träger der Regierungsverantwortung verpflichtet sind, das Gemeinwohl ihres Landes nicht nur nach den Maßgaben der Mehrheit, sondern unter dem Blickwinkel des tatsächlichen Wohls aller Mitglieder der Zivilgemeinschaft, also auch der Minderheiten, zu interpretieren.

170 Das Gemeinwohl der Gesellschaft ist kein Selbstzweck; sein Wert besteht in seiner Bedeutung für die Verwirklichung der letzten Ziele der Person und des universalen Gemeinwohls der gesamten Schöpfung. Gott ist das letzte Ziel seiner Geschöpfe, und das Gemeinwohl darf unter keinen Umständen seiner transzendenten Dimension beraubt werden, die die historische übersteigt und zugleich vollendet.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 41: AAS 83 (1991) 843–845.</ref> Diese Perspektive erreicht die Fülle ihrer Bedeutung durch den Glauben an das Pascha Jesu, das die volle Wahrheit über die Verwirklichung des Gemeinwohls der Menschheit offenbart. Unsere Geschichte – das persönliche und gemeinsame Bemühen, die menschliche Situation zu verbessern – beginnt und gipfelt in Jesus: Dank seiner, durch ihn und auf ihn hin kann jede Realität einschließlich der menschlichen Gesellschaft zu ihrem höchsten Gut und zu ihrer Erfüllung gebracht werden. Eine rein historische und materialistische Sichtweise würde das Gemeinwohl auf einen bloßen sozioökonomischen Wohlstand reduzieren und ihm damit jede transzendente Zielsetzung, das heißt also letztlich seine Daseinsberechtigung nehmen.

III. DIE ALLGEMEINE BESTIMMUNG DER GÜTER

a) Ursprung und Bedeutung

171 Unter den vielfältigen Aspekten des Gemeinwohls kommt dem Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter unmittelbare Bedeutung zu: „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 69: AAS 58 (1966) 1090.</ref> Dieses Prinzip beruht auf der Tatsache, dass „der erste Ursprung alles Guten (…) Gottes Handeln selbst [ist], der die Welt und den Menschen geschaffen und dem Menschen die Erde übergeben hat, damit er sie sich durch seine Arbeit unterwerfe und ihre Früchte genieße (vgl. Gen 1, 28–29). Gott hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt, ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf dass sie alle seine Mitglieder ernähre. Hier liegt die Wurzel der universalen Bestimmung der Güter der Erde. Sie ist auf Grund ihrer Fruchtbarkeit und Fähigkeit, die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen, die erste Gabe Gottes für den Lebensunterhalt des Menschen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 31: AAS 83 (1991) 831.</ref> Denn die Person kann nicht auf die materiellen Güter verzichten, die ihren vorrangigen Bedürfnissen entsprechen und die Grundlagen ihrer Existenz darstellen; diese Güter sind absolut unverzichtbar, damit sie sich ernähren und wachsen, kommunizieren, sich mit anderen zusammenschließen und das höchste Ziel, zu dem sie berufen ist, erreichen kann.<ref> Vgl. Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 199–200.</ref>

172 Das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Erdengüter liegt dem allgemeinen Recht auf den Gebrauch dieser Güter zugrunde. Jeder Mensch muss die Möglichkeit zur Nutznießung des zu seiner vollen Entwicklung notwendigen Wohlstands haben: Das Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der Güter ist das „Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung“<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 525.</ref> und „das kennzeichnende Prinzip der christlichen Soziallehre“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 42: AAS 80 (1988) 573.</ref> Aus diesem Grund hat die Kirche es als ihre Pflicht betrachtet, sein Wesen und seine Kennzeichen näher zu bestimmen. Es handelt sich vor allem um ein natürliches Recht, das in der Natur des Menschen liegt, und nicht um ein bloß positives, an die historische Zufälligkeit gebundenes Recht; außerdem ist dieses Recht „naturgegeben“.<ref> Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“:AAS 33 (1941) 199.</ref> Es ist jeder einzelnen Person zu Eigen, und es ist vorrangig in Bezug auf jegliches Eingreifen des Menschen hinsichtlich der Güter, auf jegliche rechtliche Reglementierung derselben, auf jegliches System und jegliche Methode wirtschaftlicher und sozialer Art: „Alle anderen Rechte, ganz gleich welche, auch das des Eigentums und des freien Tausches, sind diesem Grundgesetz untergeordnet. Sie dürfen seine Verwirklichung nicht erschweren, sondern müssen sie im Gegenteil erleichtern. Es ist eine ernste und dringende soziale Aufgabe, alle diese Rechte zu ihrem ursprünglichen Sinn zurückzuführen“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 22: AAS 59 (1967) 268.</ref>

173 Die konkrete Anwendung des Prinzips der allgemeinen Bestimmung der Güter auf die je unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexte setzt eine genaue Definition der Arten, der Grenzen und der Gegenstände voraus. Allgemeine Bestimmung und Nutznießung bedeuten nicht, dass alles jedem oder allen oder dass jedem oder allen dasselbe zur Verfügung stehen soll. Wenn es zutrifft, dass alle mit dem Recht auf die Nutznießung der Güter geboren werden, dann trifft es auch zu, dass im Hinblick auf eine gerechte und geordnete Ausübung dieses Rechts Regelungen auf der Basis nationaler und internationaler Übereinkünfte vonnöten sind sowie eine Rechtsordnung, die diese Ausübung festlegt und spezifiziert.

174 Das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter ruft dazu auf, die Wirtschaftsauffassung an moralischen Werten zu inspirieren, die es ermöglichen, weder den Ursprung noch das Ziel dieser Güter jemals aus den Augen zu verlieren, damit eine ausgewogene und solidarische Welt verwirklicht wird, in der die Bildung von Reichtum eine positive Rolle spielen kann. Denn die Wertigkeit des Reichtums in der Vielfalt der Formen, die er annehmen kann, besteht darin, dass er das Ergebnis eines produktiven Prozesses der technisch-ökonomischen Umsetzung verfügbarer natürlicher und abgeleiteter Ressourcen ist, der von Erfindungsreichtum, Planungsfähigkeit und menschlicher Arbeit gelenkt und als nützliches Mittel eingesetzt wird, um den Wohlstand der Menschen und der Völker zu steigern und ihrer Ausgrenzung und Ausbeutung entgegenzuwirken.

175 Die allgemeine Bestimmung der Güter setzt eine gemeinsame Anstrengung voraus, um für jede Person und für alle Völker die für ihre umfassende Entwicklung notwendigen Bedingungen zu schaffen, sodass alle an einer menschlicheren Welt mitarbeiten können, „wo jeder geben und empfangen kann, und wo der Fortschritt der einen kein Hindernis für die Entwicklung der anderen noch ein Vorwand zu deren Beherrschung ist“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 90: AAS 79 (1987) 594.</ref> Dieses Prinzip entspricht dem Appell, den das Evangelium immer und immer wieder an die Personen und Gesellschaften aller Epochen richtet, denn diese sind den Versuchungen der Habgier beständig ausgesetzt, denen auch der Herr Jesus selbst nicht aus dem Weg gegangen ist (vgl. Mk 1, 12–13; Mt 4, 1–11; Lk 4, 1–13), weil er uns zeigen wollte, wie wir sie mit seiner Gnade überwinden können.

b) Allgemeine Bestimmung der Güter und Privateigentum

176 Durch die Arbeit und den Einsatz seiner Intelligenz gelingt es dem Menschen, die Erde zu beherrschen und sie zu seiner würdigen Wohnstätte zu machen:„Auf diese Weise macht er sich einen Teil der Erde zu eigen, den er sich durch Arbeit erworben hat. Hier liegt der Ursprung des Privateigentums“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 31: AAS 83 (1991) 832.</ref> Das Privateigentum und die anderen Formen von privatem Güterbesitz „vermitteln den unbedingt nötigen Raum für eigenverantwortliche Gestaltung des persönlichen Lebens jedes Einzelnen und seiner Familie; sie müssen als eine Art Verlängerung der menschlichen Freiheit betrachtet werden; auch spornen sie an zur Übernahme von Aufgaben und Verantwortung; damit zählen sie zu den Voraussetzungen staatsbürgerlicher Freiheit“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 71: AAS 58 (1966) 1092–1093; vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 103–104; Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“: AAS 33 (1941) 199; Id., Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1942): AAS 35 (1943) 17; Id., Rundfunkbotschaft (1. September 1944): AAS 36 (1944) 253; Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 428–429.</ref> Das Privateigentum ist wesentlicher Bestandteil einer wirklich sozialen und demokratischen Wirtschaftspolitik und Garantie für eine gerechte Gesellschaftsordnung. Die Soziallehre fordert, dass der Besitz der Güter für alle gleichermaßen zugänglich sein soll,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 6: AAS 83 (1991) 800–801.</ref> sodass alle zumindest in gewissem Maße zu Eigentümern werden, und schließt den Rückgriff auf Formen einer „Gemeinschaft der Güter“ aus.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 102.</ref>

177 Die christliche Überlieferung hat das Recht auf privates Eigentum nie als absolut und unantastbar verstanden: „Ganz im Gegenteil, sie hat es immer im größeren Rahmen des gemeinsamen Rechtes aller auf die Nutzung der Güter der Schöpfung insgesamt gesehen: das Recht auf Privateigentum als dem gemeinsamen Recht auf Nutznießung untergeordnet, als untergeordnet der Bestimmung der Güter für alle.“<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 14: AAS 73 (1981) 613.</ref> Das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter bestätigt sowohl die vollkommene und ewige Herrschaft Gottes über jede Realität als auch die Forderung, dass die Güter der Schöpfung in ihrer Bestimmung auf die Entwicklung des ganzen Menschen und der gesamten Menschheit ausgerichtet bleiben sollen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 69: AAS 58 (1966) 1090–1092; Katechismus der Katholischen Kirche, 2402–2406.</ref> Dieses Prinzip steht nicht im Widerspruch zum Recht auf Eigentum,<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 102.</ref> aber es zeigt die Notwendigkeit, dieses zu regeln. Das Privateigentum ist nämlich, unabhängig davon, wie die konkreten Formen der darauf bezogenen Regeln und rechtlichen Normen auch beschaffen sein mögen, seinem Wesen nach nur ein Instrument im Hinblick auf die Einhaltung des Prinzips von der allgemeinen Bestimmung der Güter und damit letztlich kein Zweck, sondern ein Mittel.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 22–23: AAS 59 (1967) 268–269.</ref>

178 Die Soziallehre der Kirche ruft dazu auf, die soziale Funktion jeglicher Form von Privatbesitz anzuerkennen,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 430–431; Johannes Paul II., Ansprache auf der Dritten Allgemeinen Konferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe, Puebla (28. Januar 1979), III/4: AAS 71 (1979) 199–201.</ref> und bezieht sich dabei unmissverständlich auf die unumgänglichen Forderungen des Gemeinwohls.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 191–192. 193–194. 196–197.</ref> Der Mensch soll „die äußeren Dinge, die er rechtmäßig besitzt, nicht nur als ihm persönlich zu Eigen, sondern (…) zugleich auch als Gemeingut ansehen in dem Sinn, dass sie nicht ihm allein, sondern auch anderen von Nutzen sein können“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 69: AAS 58 (1966) 1090.</ref> Die allgemeine Bestimmung der Güter bringt im Hinblick auf ihren Gebrauch durch die rechtmäßigen Eigentümer Einschränkungen mit sich. Die einzelne Person darf nicht handeln, ohne die Folgen des Gebrauchs ihrer eigenen Ressourcen zu bedenken, sondern muss über den persönlichen und familiären Nutzen hinaus auch das Gemeinwohl im Auge haben. Daraus ergibt sich die Pflicht von Seiten der Eigentümer, die Güter, die sie besitzen, nicht ungenutzt ruhen zu lassen, sondern sie für die produktive Tätigkeit zu bestimmen und sie auch denjenigen anzuvertrauen, die den Wunsch und die Fähigkeit haben, sie dem Produktionsprozess zuzuführen.

179 Die gegenwärtige historische Epoche stellt der Gesellschaft neue Güter zur Verfügung, die noch bis vor kurzem völlig unbekannt waren, und macht es damit notwendig, das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der irdischen Güter zu überdenken und auf die Früchte des jüngsten wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts auszudehnen. Der Besitz der neuen Güter, die auf Kenntnissen, Technik und Wissen basieren, wird immer entscheidender, weil „der Reichtum der Industrienationen (…) zu einem viel größeren Teil auf dieser Art des Eigentums als auf dem der natürlichen Ressourcen“ beruht.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 832.</ref>

Die neuen technischen und wissenschaftlichen Kenntnisse müssen in den Dienst der vorrangigen Bedürfnisse des Menschen gestellt werden, damit der gemeinsame Besitz der Menschheit schrittweise anwachsen kann. Die vollständige Umsetzung des Prinzips von der allgemeinen Bestimmung der Güter macht deshalb ein Handeln auf internationaler Ebene und Initiativen erforderlich, die von allen Ländern gemeinsam geplant werden: „Es gilt, die Barrieren und Monopole zu durchbrechen, die so viele Völker am Rande der Entwicklung liegenlassen. Es gilt, für alle – einzelne und Nationen – die Grundbedingungen für die Teilnahme an der Entwicklung sicherzustellen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 837.</ref>

180 Auch wenn im Verlauf der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Formen des Eigentums merklich an Bedeutung gewinnen, die in der Vergangenheit unbekannt waren, darf man doch auch jene traditionellen Formen nicht vergessen. Das individuelle Eigentum ist nicht die einzige rechtmäßige Form des Besitzes. Auch die alte Form des gemeinschaftlichen Eigentums ist von besonderer Wichtigkeit, die zwar auch in wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern vorhanden, aber doch vor allem für die Gesellschaftsstruktur autochthoner Völker kennzeichnend ist. Hierbei handelt es sich um eine Form von Eigentum, die das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben dieser Völker so einschneidend prägt, dass sie ein grundlegendes Element ihres Überlebens und ihres Wohlstands ausmacht. Der Schutz und die Anerkennung des gemeinschaftlichen Eigentums dürfen jedoch nicht von der Tatsache ablenken, dass auch diese Form von Eigentum dazu bestimmt ist, sich weiterzuentwickeln. Wenn man nur seinen Erhalt sicherstellen wollte, würde man Gefahr laufen, es an die Vergangenheit zu ketten und auf diese Weise seinen Fortbestand aufs Spiel zu setzen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 69: AAS 58 (1966) 1090–1092.</ref>

Die gerechte Aufteilung des Bodens bleibt vor allem in Ländern, die noch in der Entwicklung begriffen oder aus kollektivistischen oder kolonialen Systemen hervorgegangen sind, immer eine entscheidende Frage. In den ländlichen Gebieten ist die Möglichkeit, auf den vom Arbeits- und Kreditmarkt gebotenen Wegen zu Grund und Boden zu gelangen, eine notwendige Voraussetzung für den Zugang zu anderen Gütern und Diensten; diese Möglichkeit bildet nicht nur ein wirksames Mittel zum Schutz der Umwelt, sondern stellt ein System der sozialen Absicherung dar, das auch in Ländern mit schwacher Verwaltungsstruktur verwirklicht werden kann.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Für eine bessere Landverteilung. Die Herausforderung der Agrarreform (23. November 1997), 27–31, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 140, S. 28–31.</ref>

181 Für das besitzende Subjekt, sei es ein Einzelner oder eine Gemeinschaft, ergeben sich aus dem Eigentum eine Reihe von objektiven Vorteilen: bessere Lebensbedingungen, Sicherheit für die Zukunft, größere Wahlmöglichkeiten. Andererseits bringt das Eigentum jedoch auch eine Reihe von trügerischen Versprechungen und Versuchungen mit sich. Der Mensch oder die Gesellschaft, die so weit gehen, seine Rolle zu verabsolutieren, machen schließlich die Erfahrung radikalster Sklaverei. Aufgrund seines Einflusses sowohl auf die Einzelnen als auch auf die Institutionen kann nämlich kein Besitz als indifferent betrachtet werden: Der Besitzer, der seine Güter unvorsichtigerweise zu Götzen macht (vgl. Mt 6, 24; 19.21–26; Lk 16, 13), wird mehr als je zuvor von ihnen besessen und geknechtet.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 27–34. 37: AAS 80 (1988) 547– 560. 563–564; Id., Enz. Centesimus annus, 41: AAS 83 (1991) 843–485.</ref> Nur wenn man ihre Abhängigkeit von Gott, dem Schöpfer, erkennt und sie folgerichtig auf das Gemeinwohl hin ausrichtet, ist es möglich, den materiellen Gütern Funktionen zuzuweisen, die dem Wachstum der Menschen und der Völker dienlich sind.

c) Allgemeine Bestimmung der Güter und vorrangige Option für die Armen

182 Das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter erfordert, dass man mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Armen achtet, auf die, die sich am Rand befinden, und auf die Personen, die in irgendeiner Weise durch ihre Lebensbedingungen an der ihnen gebührenden Entfaltung gehindert werden. In diesem Zusammenhang muss die vorrangige Option für die Armen mit allem Nachdruck unterstrichen werden:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache auf der Dritten Allgemeinen Konferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe, Puebla (28. Januar 1979), I/8: AAS 71 (1979) 194–195.</ref> „Dies ist eine Option oder ein besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt. Sie bezieht sich auf das Leben eines jeden Christen, insofern er dem Leben Christi nachfolgt; sie gilt aber gleichermaßen für unsere sozialen Verpflichtungen und daher auch für unseren Lebensstil sowie für die entsprechenden Entscheidungen die hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter zu treffen sind. Heute muss angesichts der weltweiten Bedeutung, die die Soziale Frage erlangt hat, diese vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne medizinische Hilfe und vor allem ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft umfassen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 42: AAS 80 (1988) 572–573; vgl. Id., Enz. Evangelium vitae, 32: AAS 87 (1995) 436–437; Id., Ap. Schr. Tertio millennio adveniente, 51: AAS 87 (1995) 36; Id., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 49–50: AAS 93 (2001) 302–303.</ref>

183 Das menschliche Elend ist das sichtbare Zeichen für den Zustand der Schwäche des Menschen und seiner Heilsbedürftigkeit.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2448.</ref> Mit diesem Zustand hatte Christus, der Erlöser, Mitleid, als er sich „mit seinen geringsten Brüdern“ (vgl. Mt 25, 40.45) identifizierte: „An dem, was sie für die Armen getan haben, wird Jesus Christus seine Auserwählten erkennen. Wenn »den Armen das Evangelium verkündet« wird (Mt 11,5), ist dies ein Zeichen für die Gegenwart Christi“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2443.</ref>

Jesus sagt: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer“ (Mt 26, 11; vgl. Mk 14, 7; Joh 12, 8), aber er sagt dies nicht, um zwischen der ihm zugewandten Aufmerksamkeit und dem Dienst an den Armen einen Gegensatz herzustellen. Während der christliche Realismus auf der einen Seite die lobenswerten Anstrengungen würdigt, die im Kampf gegen die Armut unternommen werden, warnt er auf der anderen Seite vor ideologischen Positionen und Formen des Messianismus, die die Illusion nähren, dass man das Problem der Armut auf dieser Welt vollkommen beseitigen könnte. Das wird erst bei seiner Wiederkunft geschehen, wenn er wieder und für immer bei uns sein wird. In der Zwischenzeit bleiben die Armen uns anvertraut, und wir werden am Ende über sie Rechenschaft abzulegen haben (vgl. Mt 25, 31–46): „Unser Herr macht uns darauf aufmerksam, dass wir von ihm getrennt werden, wenn wir es unterlassen, uns der schweren Nöte der Armen und Geringen, die seine Brüder und Schwestern sind, anzunehmen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1033.</ref>

184 Die Liebe der Kirche zu den Armen ist vom Evangelium der Seligpreisungen, von der Armut Jesu und von seiner Aufmerksamkeit für die Armen inspiriert. Diese Liebe betrifft die materielle, aber auch die zahlreichen Formen der kulturellen und religiösen Armut.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2444.</ref> Die Kirche hat „seit ihren Anfängen, ungeachtet der Schwächen vieler ihrer Glieder, unaufhörlich dafür gewirkt (…), die Bedrückten zu stützen, zu verteidigen und zu befreien. Das hat sie getan durch zahllose Werke der Wohltätigkeit, die immer und überall unentbehrlich bleiben“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2448.</ref> Ausgehend von dem Gebot des Evangeliums: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben“ (Mt 10, 8) lehrt die Kirche, dem Nächsten in seinen verschiedenen Nöten beizustehen, und vollbringt in der menschlichen Gemeinschaft auf leiblicher wie geistiger Ebene unzählige Werke der Barmherzigkeit: „Unter diesen Werken ist das Almosenspenden an Arme eines der Hauptzeugnisse der Bruderliebe; es ist auch eine Gott wohlgefällige Tat der Gerechtigkeit“,<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,2447.</ref> auch wenn die tätige Nächstenliebe sich nicht auf das Almosenspenden reduziert, sondern auch die Aufmerksamkeit für die soziale und politische Dimension des Problems der Armut beinhaltet. Immer wieder kommt die Lehre der Kirche auf den Zusammenhang zwischen Liebe und Gerechtigkeit zurück: „Denn wenn wir die Bedürftigen mit dem Notwendigen versorgen, geben wir ihnen das Ihre zurück und verschenken nicht das Unsrige. Wir lösen eher das ein, was wir der Gerechtigkeit schulden, als dass wir ein Werk der Barmherzigkeit vollbringen“.<ref> Gregor der Große, Regula pastoralis, 3, 21: PL 77, 87: „Nam cum quaelibet necessaria indigentibus ministramus, sua illis reddimus, non nostra largimur; iustitiae potius debitum soluimus, quam misericordiae opera implemus“.</ref> Die Konzilsväter empfehlen mit Nachdruck, diese Pflicht zu erfüllen, denn „man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Apostolicam actuositatem, 8: AAS 58 (1966) 845; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2446.</ref> Die Liebe zu den Armen ist ganz sicher „mit der ungezügelten Liebe zum Reichtum oder mit dessen egoistischem Gebrauch unvereinbar“<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2445.</ref> (vgl. Jak 5, 1–6).

IV. DAS PRINZIP DER SUBSIDIARITÄT

a) Ursprung und Bedeutung

185 Die Subsidiarität gehört seit der ersten großen Sozialenzyklika zu den beständigsten und charakteristischsten Leitgedanken der kirchlichen Soziallehre.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 101–102. 123.</ref> Es ist unmöglich, die Würde der Person zu stärken, ohne die Familie, die Gruppen, die Verbände, die örtlichen territorialen Gegebenheiten, kurz: diejenigen Assoziationsformen in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Kultur, Sport, Freizeit, Beruf oder Politik zu berücksichtigen, die die Personen spontan ins Leben rufen und die ihnen ein effektives soziales Wachstum ermöglichen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1882.</ref> Das ist das Gebiet der Zivilgesellschaft im Sinne der Gesamtheit von Beziehungen zwischen Individuen und mittleren Gesellschaftsformen, die auf ursprüngliche Weise und dank der „Kreativität des Bürgers“<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988) 529; vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 203; Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 439; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 65: AAS 58 (1966) 1086–1087; Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 73. 85–86: AAS 79 (1987) 586. 592–593; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854; Katechismus der Katholischen Kirche, 1883–1885.</ref> verwirklicht werden. Das Netz dieser Beziehungen festigt das soziale Gewebe und bildet die Grundlage einer wahren Gemeinschaft von Personen, indem es die Anerkennung höher entwickelter Formen der Gesellschaftlichkeit möglich macht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 49: AAS 83 (1991) 854–856 und ebenso Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988) 528–530.</ref>

186 Die Forderung, die ursprünglichen Ausdrucksformen der Gesellschaftlichkeit zu schützen und zu fördern, unterstreicht die Kirche in der Enzyklika „Quadragesimo anno“, in der das Subsidiaritätsprinzip als oberstes Prinzip der „Sozialphilosophie“ bezeichnet wird: „Wie das, was von einzelnen Menschen auf eigene Faust und in eigener Tätigkeit vollbracht werden kann, diesen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf, so ist es ein Unrecht und zugleich ein schwerer Schaden und eine Störung der rechten Ordnung, das auf eine größere und höhere Gemeinschaft zu übertragen, was von kleineren und niedrigeren Gemeinschaften erreicht und geleistet werden kann; denn jede gesellschaftliche Tätigkeit muss ihrem Wesen und ihrer Natur nach den Gliedern des gesellschaftlichen Leibes Unterstützung leisten, darf sie aber niemals zerstören und aufsaugen“.<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 203; vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 49: AAS 83 (1991) 852–854; Katechismus der Katholischen Kirche, 1883.</ref> Aufgrund dieses Prinzips müssen alle Gesellschaften höherer Ordnung den niedrigeren gegenüber eine Haltung der Hilfeleistung („subsidium“) – also der Unterstützung, Förderung und Entwicklung – einnehmen. Auf diese Weise können die mittleren sozialen Körperschaften die ihnen zustehenden Funktionen in angemessener Weise erfüllen, ohne sie zu Unrecht an andere gesellschaftliche Vereinigungen abtreten zu müssen, die einer höheren Ebene angehören und von denen sie andernfalls absorbiert und ersetzt und schließlich ihrer eigenen Würde und ihres Lebensraumes beraubt würden. Der positiv verstandenen Subsidiarität im Sinne einer den kleineren gesellschaftlichen Einheiten angebotenen wirtschaftlichen, institutionellen oder legislativen Hilfe entspricht eine Reihe negativ formulierter Implikationen, die den Staat dazu verpflichten, alles zu unterlassen, was den Lebensraum der kleineren und wesentlichen Zellen der Gesellschaft faktisch einschränken würde. Ihre Initiative, Freiheit und Verantwortlichkeit dürfen nicht verdrängt werden.

b) Konkrete Hinweise

187 Das Subsidiaritätsprinzip schützt die Personen vor dem Missbrauch der übergeordneten gesellschaftlichen Institutionen und fordert die letztgenannten dazu auf, den einzelnen Individuen und den mittleren Körperschaften bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu helfen. Dieses Prinzip ist deshalb notwendig, weil jede Person, jede Familie und jede mittlere Körperschaft der Gesellschaft etwas Ureigenes anzubieten hat. Die Erfahrung bestätigt, dass die Aufhebung der Subsidiarität oder ihre Einschränkung im Namen einer vermeintlichen Demokratisierung oder Gleichheit aller in der Gesellschaft den Geist der Freiheit und der Initiative einengt und zuweilen auch erstickt.

Im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip stehen Formen der Zentralisierung, der Bürokratisierung, des Wohlfahrtsstaats, kurz: einer ungerechtfertigten und übertriebenen Präsenz des Staates und des öffentlichen Apparats: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Auf blähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen; Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 854.</ref> Das Subsidiaritätsprinzip wird zum einen durch die fehlende oder unzureichende Anerkennung der Privatinitiative auch im wirtschaftlichen Bereich und ihrer öffentlichen Funktion und zum anderen durch die Monopole untergraben.

Die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips setzt voraus: dass der Vorrang der Person und der Familie respektiert und wirksam gefördert wird; dass die mittleren Verbände und Organisationen in ihren eigenen grundlegenden Entscheidungen und in allem, was nicht delegiert oder von anderen übernommen werden kann, geschätzt werden; dass die Privatinitiativen dadurch erleichtert werden, dass jeder gesellschaftliche Organismus seine je besonderen Eigenschaften in den Dienst des Gemeinwohls stellt; dass die Gesellschaft sich pluralistisch artikuliert und ihre Lebenskraft nach außen darstellt; dass die Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten geschützt werden; dass Bürokratie und Verwaltung dezentralisiert sind; dass zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre ein Gleichgewicht herrscht und folgerichtig auch das Private in seiner sozialen Funktion anerkannt wird; und dass der Bürger seine Verantwortung als aktiver Teil der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit seines Landes in angemessener Weise wahrnehmen kann.

188 Verschiedene Umstände können es als ratsam erscheinen lassen, dass der Staat eine ergänzende Funktion ausübt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854.</ref> Man denke etwa an Situationen, in denen der Staat selbst die Wirtschaft fördern muss, weil es der zivilen Gesellschaft nicht möglich ist, von sich aus die Initiative zu ergreifen; oder an Verhältnisse schweren Ungleichgewichts und sozialer Ungerechtigkeit, die nur durch ein öffentliches Eingreifen in Bedingungen von größerer Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden verwandelt werden können. Im Licht des Subsidiaritätsprinzips betrachtet darf diese institutionelle Ergänzung sich jedoch nicht über das strikt Notwendige hinaus verlängern und ausdehnen, da sie sich nur durch den Ausnahmecharakter der Situation rechtfertigen lässt. In jedem Fall muss das recht verstandene Gemeinwohl, dessen Forderungen dem Schutz und der Stärkung des Vorrangs der Person und ihrer wichtigsten sozialen Ausdrucksformen niemals widersprechen dürfen, immer das Kriterium bleiben, anhand dessen über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips entschieden wird.

V. DIE BETEILIGUNG

a) Bedeutung und Gültigkeit

189 Eine charakteristische Konsequenz der Subsidiarität ist die Beteiligung,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 22.46: AAS 63 (1971) 417. 433–435; Kongregation für das Katholische Bildungswesen , Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 40: Der Apostolische Stuhl 1989, 1389.</ref> die ihren Ausdruck vor allem in einer Reihe von Tätigkeiten findet, durch die der Bürger einzeln oder gemeinsam mit anderen direkt oder durch die Vermittlung der jeweiligen Repräsentanten zum kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben der Zivilgemeinschaft beiträgt, der er angehört.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 75: AAS 58 (1966) 1097–1099.</ref> Die Beteiligung ist eine Pflicht, die von allen bewusst, auf verantwortungsvolle Weise und im Sinne des Gemeinwohls wahrgenommen werden muss.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1913–1917.</ref>

Sie kann nicht auf einen bestimmten Sektor des gesellschaftlichen Lebens begrenzt oder beschränkt werden, da sich ihre Bedeutung für das vor allem menschliche Wachstum auf Bereiche wie die Arbeitswelt und die wirtschaftlichen Aktivitäten in ihrer inneren Dynamik,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 423–425; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 14: AAS 73 (1981) 612–616; Id., Enz. Centesimus annus,35: AAS 83 (1991) 836–838.</ref> auf Information und Kultur und ganz besonders auch auf die höchsten Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens erstreckt, jene Ebenen nämlich, von denen die Zusammenarbeit aller Völker an der Schaffung einer internationalen Solidargemeinschaft abhängig ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 44–45: AAS 80 (1988) 575–578.</ref> So gesehen ist es unumgänglich, die Beteiligung vor allem der eher Benachteiligten und den Wechsel in der politischen Führung zu begünstigen, um zu verhindern, dass sich verborgene Privilegien etablieren; überdies ist eine starke Anspannung der moralischen Kräfte erforderlich, damit die Organisation des öffentlichen Lebens das Ergebnis der Mitverantwortung aller für das Gemeinwohl ist.

b) Beteiligung und Demokratie

190 Die Beteiligung am gemeinschaftlichen Leben ist nicht nur eines der wichtigsten Ziele des Bürgers, der aufgerufen ist, seine eigene Bürgerrolle frei und verantwortungsbewusst mit den anderen und für die anderen wahrzunehmen, sondern auch einer der Pfeiler aller demokratischen Ordnungen<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 278.</ref> und zudem eine der wichtigsten Garantien für den Fortbestand der Demokratie. Denn die demokratische Regierung definiert sich über die ihr vom Volk anvertrauten Vollmachten und Funktionen, die im Namen und Auftrag des Volkes und zu seinen Gunsten ausgeübt werden; damit liegt es auf der Hand, dass jede Demokratie auf dem Prinzip der Beteiligung zu basieren hat.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850–851.</ref> Das bedeutet, dass sie bei der Ausübung ihrer Funktionen die verschiedenen Subjekte der Zivilgemeinschaft auf ihrer jeweiligen Ebene informieren, anhören und mit einbeziehen muss.

191 Die Beteiligung kann in allen möglichen Beziehungen zwischen dem Bürger und den Institutionen verwirklicht werden: Zu diesem Zweck müssen die historischen und sozialen Zusammenhänge, in denen ihre praktische Umsetzung erfolgen soll, besonders berücksichtigt werden. Die Überwindung der kulturellen, juristischen und sozialen Hindernisse, die sich der solidarischen Beteiligung der Bürger am Schicksal ihrer eigenen Gemeinschaft oft als echte Barrieren entgegenstellen, erfordert Erziehung und Information.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1917.</ref> In dieser Hinsicht erfordern alle Haltungen besondere Aufmerksamkeit, die den Bürger zu unzulänglichen oder unrichtigen Formen der Beteiligung verleiten und zu einem weit verbreiteten Desinteresse an allem, was den Bereich des sozialen und politischen Lebens betrifft – man denke etwa an die Versuche der Bürger, mit den Institutionen die günstigsten Bedingungen „auszuhandeln“ und diese damit in den Dienst ihrer eigenen egoistischen Interessen zu stellen, und an die Praxis, sich auf die Ausübung des Wahlrechts zu beschränken und manchmal nicht einmal von diesem Gebrauch zu machen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 30–31: AAS 58 (1966) 1049–1050; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 47: AAS 83 (1991) 851–852.</ref>

Einen weiteren Anlass zur Sorge bieten in diesem Zusammenhang Länder mit totalitärem oder diktatorischem Regime, in denen das fundamentale Recht auf Beteiligung am öffentlichen Leben als Bedrohung des Staates verstanden und damit von Grund auf verweigert wird;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 44–45: AAS 83 (1991) 848–849.</ref> Länder, in denen dieses Recht nur formal verkündet, jedoch nicht konkret ausgeübt wird; und schließlich Länder, deren gigantischer bürokratischer Apparat dem Bürger faktisch die Möglichkeit nimmt, im sozialen und politischen Leben wirklich eine aktive Rolle zu spielen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988) 528–530; vgl. Pius XII., Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1952): AAS 45 (1953) 37; Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 47: AAS 63 (1971) 435–437.</ref>

VI. DAS SOLIDARITÄTSPRINZIP

a) Bedeutung und Gültigkeit

192 Die Solidarität bringt die angeborene Sozialität der menschlichen Person, die Gleichheit der Würde und der Rechte aller sowie den gemeinsamen Weg der Menschen und Völker zu einer immer festeren Einheit in besonderer Weise zur Geltung. Nie zuvor war das Wissen um das Band der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Menschen und Völkern, die sich auf allen Ebenen manifestiert, so weit verbreitet wie heute.<ref> Die wechselseitige Abhängigkeit oder Interdependenz lässt sich mit dem klassischen Thema der Vergesellschaftung in Verbindung bringen, das von der kirchlichen Soziallehre bereits mehrfach behandelt worden ist; vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 415–417; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 42: AAS 58 (1966) 1060–1061; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens,14–15: AAS 73 (1981) 612–618.</ref> Die sich rasend schnell vervielfältigenden Wege und Mittel einer Kommunikation „in Echtzeit“ etwa im Bereich der Telematik, die außerordentlichen Fortschritte der Informatik, der wachsende Umfang des kommerziellen und des Informationsaustauschs beweisen, dass es mittlerweile zum ersten Mal seit Beginn der Menschheitsgeschichte zumindest technisch möglich ist, auch zwischen Personen, die weit voneinander entfernt sind oder einander nicht kennen, Beziehungen herzustellen.

Gegenüber dem Phänomen der wechselseitigen Abhängigkeit und seiner kontinuierlichen Ausbreitung bestehen jedoch andererseits in der ganzen Welt krasseste Ungleichheiten zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern, die durch verschiedene Formen der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Korruption noch verstärkt werden, die das innere und internationale Leben vieler Staaten negativ beeinflussen. Der Prozess der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Personen und Völkern muss von einem ebenfalls immer intensiveren Engagement auf ethisch-sozialer Ebene begleitet werden, um die unheilvollen Konsequenzen einer Unrechtssituation von weltweiten Ausmaßen zu verhindern, die sich auch auf die derzeit eher begünstigten Länder spürbar negativ auswirken wird.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 11–22: AAS 80 (1988) 525–540.</ref>

b) Die Solidarität als soziales Prinzip und als moralische Tugend

193 Die neuen Beziehungen der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Menschen und Völkern, bei denen es sich de facto um Formen der Solidarität handelt, müssen sich in Beziehungen verwandeln, die auf eine wahre und eigentliche ethisch-moralische Solidarität ausgerichtet sind, denn das ist die moralische Forderung, die allen menschlichen Beziehungen innewohnt. Die Solidarität hat also zwei einander ergänzende Aspekte: den eines sozialen Prinzips<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1939–1941.</ref> und den einer moralischen Tugend.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1942.</ref>

Die Solidarität muss vor allem in ihrer Bedeutung als soziales Ordnungsprinzip der Institutionen begriffen werden, auf dessen Grundlage die „Strukturen der Sünde“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 36.37: AAS 80 (1988) 561–564; vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Reconciliatio et paenitentia,16: AAS 77 (1985) 213–217.</ref> die die Beziehungen zwischen den Personen und den Völkern beherrschen, durch die Schaffung oder die angemessene Veränderung von Gesetzen, Marktregeln und Normierungen überwunden und in Strukturen der Solidarität verwandelt werden müssen.

Die Solidarität ist auch eine wahre und eigentliche moralische Tugend, „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit,sichfür das»Gemeinwohl« einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38: AAS 80 (1988) 565–566.</ref> Die Solidarität nimmt den Rang einer grundlegenden sozialen Tugend ein, weil sie im Raum der Gerechtigkeit angesiedelt ist, der Tugend schlechthin, was die Ausrichtung auf das Gemeinwohl betrifft, und im „Einsatz für das Wohl des Nächsten zusammen mit der Bereitschaft, sich im Sinne des Evangeliums für den anderen zu »verlieren«, anstatt ihn auszubeuten, und ihm zu »dienen«, anstatt ihn um des eigenen Vorteils willen zu unterdrücken (vgl. Mt 10, 40–42; 20, 25; Mk 10, 42–45; Lk 22, 25–27)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38: AAS 80 (1988) 566. </ref> Vgl. außerdem: Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 8: AAS 73 (1981) 594–598; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 57: AAS 83 (1991) 862–863.</ref>

c) Solidarität und gemeinsames menschliches Wachstum

194 Die Botschaft der Soziallehre zur Solidarität unterstreicht die Tatsache, dass zwischen Solidarität und Gemeinwohl, Solidarität und allgemeiner Bestimmung der Güter, Solidarität und Gleichheit der Menschen und Völker, Solidarität und Weltfrieden eine enge Verbindung besteht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 17.39.45: AAS 80 (1988) 532–533. 566–568. 577–578. Auch die internationale Solidarität ist eine moralische Forderung; der Weltfrieden hängt in hohem Maße von ihr ab: vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 83–86: AAS 58 (1966) 1107–1110; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 48: AAS 59 (1967) 281; Päpstliche Kommission Iustitia et Pax, Im Dienste der menschlichen Gemeinschaft: Ein ethischer Ansatz zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise (27. Januar 1987), I, 1, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 50, S. 11; Katechismus der Katholischen Kirche, 1941 und 2438. </ref> Der Begriff „Solidarität“, von dem das Lehramt umfassenden Gebrauch macht,<ref> Auch wenn der Begriff explizit noch nicht existiert, ist die Solidarität eines der Grundprinzipien der Enzyklika „Rerum novarum“ (vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 [1961] 407). „Das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen (…) wird von Leo XIII. mehrmals unter dem Namen »Freundschaft« angeführt, ein Ausdruck, den wir schon in der griechischen Philosophie finden. Von Pius XI. wird es mit dem nicht weniger bedeutungsvollen Namen »soziale Liebe« bezeichnet. Paul VI. hat den Begriff mit den heutigen vielfältigen Dimensionen der sozialen Frage erweitert und von »Zivilisation der Liebe« gesprochen“ (Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 10: AAS 83 [1991] 805). Die Solidarität ist eines der Grundprinzipien der gesamten kirchlichen Soziallehre (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 73: AAS 79 [1987] 586). Seit Pius XII. (vgl. Enz. Summi Pontificatus:AAS 31 [1939] 426–427) wird der Begriff „Solidarität“ mit zunehmender Häufigkeit verwendet und in seiner Bedeutung immer weiter gefasst: als „Gesetz“ in der genannten Enzyklika, später dann als „Prinzip“ (vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 [1961] 407), als „Pflicht“ (vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 17.48: AAS 59 [1967] 265–266. 281), als „Wert“ (vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38: AAS 80 [1988] 564–566) und schließlich als „Tugend“ (vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38.40: AAS 80 [1988] 564–566. 568–569).</ref> bringt zusammenfassend die Forderung zum Ausdruck, in der Gesamtheit der Bindungen, die die Menschen und die sozialen Gruppen miteinander vereinen, Raum für die menschliche Freiheit zu lassen und so für ein gemeinsames Wachstum zu sorgen, an dem alle Anteil haben. Das diesbezügliche Engagement besteht in dem positiven Beitrag, sich der gemeinsamen Sache nicht zu entziehen, in der Suche nach möglichen Berührungspunkten auch dort, wo eine Logik der Spaltung und Aufsplitterung vorherrscht, in der Bereitschaft, sich über allen Individualismus und Partikularismus hinweg für das Wohl des anderen einzusetzen.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 38: Der Apostolische Stuhl 1989, 1388.</ref>

195 Das Prinzip der Solidarität setzt voraus, dass die Menschen unserer Zeit sich ihrer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, der sie angehören, stärker bewusst werden: Sie sind Schuldner der Bedingungen, die die menschliche Existenz lebbar machen, zum Beispiel jenes unteilbaren und unverzichtbaren Guts der Kultur, der wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, der materiellen und immateriellen Güter und all dessen, was die Entwicklung der Menschheit hervorgebracht hat. Diese Schuld wird in den verschiedenen Formen des sozialen Handelns beglichen, sodass der Weg der Menschen nicht unterbrochen wird, sondern für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen offen bleibt, die gemeinsam dazu berufen sind, dasselbe Geschenk solidarisch miteinander zu teilen.

d) Die Solidarität im Leben und in der Botschaft Jesu Christi

196 Der absolute Gipfel des hier entworfenen Panoramas ist das Leben Jesu von Nazareth, des neuen Menschen, der bis zum „Tod am Kreuz“ (Phil 2, 8) mit der Menschheit solidarisch war: In ihm ist das lebendige Zeichen jener unermesslichen, alles übersteigenden Liebe des Gott-mit-uns immer erkennbar, der sich der Schwäche seines Volkes annimmt, mit ihm unterwegs ist, es rettet und in der Einheit begründet.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 32: AAS 58 (1966) 1051.</ref> In ihm und durch ihn kann auch das Leben in der Gesellschaft trotz seiner Widersprüchlichkeit und Ambiguität als Ort des Lebens und der Hoffnung wiederentdeckt werden, in dem sich eine Gnade ausdrückt, die allen beständig geschenkt wird und zu den erhabensten und mitreißendsten Formen des Miteinanders einlädt.

Jesus von Nazareth lässt das Band zwischen Solidarität und Liebe vor den Augen aller Menschen sichtbar werden und in seiner ganzen Bedeutung erstrahlen:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 568: „Die Solidarität ist zweifellos eine christliche Tugend. Bereits in der vorangegangenen Darlegung war es möglich, zahlreiche Berührungspunkte zwischen ihr und der Liebe auszumachen, dem Erkennungszeichen der Jünger Christi (vgl. Joh 13, 35).“</ref> „Im Licht des Glaubens strebt die Solidarität danach, sich selbst zu übersteigen, um die spezifisch christlichen Dimensionen des völligen Ungeschuldetseins, der Vergebung und der Versöhnung anzunehmen. Dann ist der Nächste nicht mehr nur ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern wird das lebendige Abbild Gottes, des Vaters, erlöst durch das Blut Jesu Christi und unter das ständige Wirken des Heiligen Geistes gestellt. Er muss also, auch als Feind, mit derselben Liebe geliebt werden, mit der ihn der Herr liebt, und man muss für ihn zum Opfer bereit sein, auch zum höchsten: »das Leben für die eigenen Brüder geben« (vgl. Joh 3, 16)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 569.</ref>

VII. DIE GRUNDWERTE DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS

a) Verhältnis zwischen Prinzipien und Werten

197 Neben den Prinzipien, die der Schaffung einer menschenwürdigen Gesellschaft zugrunde liegen müssen, beinhaltet die Soziallehre der Kirche auch grundlegende Werte. Prinzipien und Werte stehen zweifellos in einem Verhältnis der Wechselseitigkeit, denn die sozialen Werte bringen die Wertschätzung zum Ausdruck, die bestimmten Aspekten des moralisch Guten entgegengebracht werden muss, während die Prinzipien sich im Hinblick auf die Verwirklichung derselben Aspekte als Bezugspunkte für eine angemessene Strukturierung und geordnete Gestaltung des sozialen Lebens anbieten. Deshalb erfordern die Werte sowohl die praktische Umsetzung der Grundprinzipien des gesellschaftlichen Lebens wie auch die persönliche Übung der Tugend und folglich der den Werten selbst entsprechenden moralischen Einstellungen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1886.</ref>

Alle sozialen Werte hängen mit der Würde der menschlichen Person zusammen und fördern ihre authentische Entwicklung. Im Wesentlichen handelt es sich um: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 265–266.</ref> Ihre praktische Umsetzung ist ein sicherer und notwendiger Weg zur persönlichen Vervollkommnung und zu einem menschlicheren Zusammenleben; sie bilden das unverzichtbare Bezugssystem für die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens, die dazu aufgerufen sind, „eine wirksame Reform der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und technologischen Strukturen sowie die notwendigen Veränderungen in den Institutionen zu bewerkstelligen“.<ref> Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 43: Der Apostolische Stuhl 1989, 1390.</ref> Der Respekt vor der rechtmäßigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten veranlasst die Kirche dazu, sich keine spezifischen technischen und weltlichen Kompetenzen vorzubehalten,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 36: AAS 58 (1966) 1053–1054.</ref> aber er hindert sie nicht daran, einzugreifen und deutlich zu machen, wie diese Werte in den verschiedenen Entscheidungen des Menschen bestätigt oder missachtet werden.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 1: AAS 58 (1966) 1025–1026; Paul VI., Enz. Populorum progressio,13: AAS 59 (1967)263–264.</ref>

b) Die Wahrheit

198 Die Menschen sind in besonderer Weise dazu bestimmt, beständig nach der Wahrheit zu streben, sie zu achten und sie verantwortungsbewusst zu bezeugen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,2467.</ref> In der Wahrheit zu leben hat vor allem in den sozialen Beziehungen eine besondere Bedeutung: Das Zusammenleben von Menschen innerhalb einer Gemeinschaft ist nämlich nur dann geordnet, fruchtbar und ihrer personalen Würde angemessen, wenn es sich auf die Wahrheit gründet.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 265–266. 281.</ref> Je mehr sich die Personen und sozialen Gruppen bemühen, die gesellschaftlichen Probleme der Wahrheit gemäß zu lösen, desto mehr entfernen sie sich von der Willkür und nähern sich den objektiven Forderungen der Moral.

Unsere Zeit erfordert eine intensive erzieherische Tätigkeit<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 61: AAS 58 (1966) 1081–1082; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 35.40: AAS 59 (1967) 274–275. 277; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 44: AAS 80 (1988) 575–577. Für die Reform der Gesellschaft „ist die vorrangige Aufgabe, die den Erfolg aller anderen bedingt, (…) erzieherischer Natur“: Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 99: AAS 79 (1987) 599.</ref> und ein entsprechendes Engagement aller, damit das Streben nach der Wahrheit, die sich nicht auf die Gesamtheit der verschiedenen Meinungen oder auf eine beliebige Einzelmeinung beschränken lässt, in jedem Bereich gefördert wird und stärker ist als jeder Versuch, seine Forderungen zu relativieren oder sich ihm entgegenzustellen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 16: AAS 58 (1966) 1037; Katechismus der Katholischen Kirche,2464–2487.</ref> Dieses Problem betrifft besonders die Welt der öffentlichen Kommunikation und der Wirtschaft. Hier wirft der skrupellose Gebrauch des Geldes immer drängendere Fragen auf, die zwingend auf ein Bedürfnis nach Transparenz und Ehrlichkeit im persönlichen und sozialen Handeln schließen lassen.

c) Die Freiheit

199 Die Freiheit ist das größte Zeichen der Gottähnlichkeit des Menschen und damit Zeichen der erhabenen Würde jeder menschlichen Person:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 17: AAS 58 (1966) 1037–1038; Katechismus der Katholischen Kirche, 1705. 1730; Kongregation für dieGlaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 28: AAS 79 (1987) 565.</ref> „Freiheit wird in zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeübt. Jeder Mensch hat das natürliche Recht, als ein freies, verantwortliches Wesen anerkannt zu werden, weil er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Alle Menschen sind einander diese Achtung schuldig. Das Recht, die Freiheit auszuüben, ist untrennbar mit der Würde des Menschen verbunden“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1738.</ref> Die Bedeutung der Freiheit darf nicht eingeschränkt und in einer rein individualistischen Betrachtungsweise auf die willkürliche und unkontrollierte Ausübung der eigenen, personalen Autonomie reduziert werden: „Die Freiheit verwirklicht sich nicht in einer völligen Autarkie des eigenen Ichs und ohne Bezug auf die anderen; sie existiert wahrhaft nur dort, wo gegenseitige Bindungen, die von Wahrheit und Gerechtigkeit bestimmt sind, die Personen vereinen“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 26: AAS 79 (1987) 564–565.</ref> Die Auffassung von Freiheit wird tief und weit, wenn sie auch auf gesellschaftlicher Ebene in der Gesamtheit ihrer Dimensionen geschützt wird.

200 Der Wert der Freiheit als Ausdruck der Einzigartigkeit jeder menschlichen Person wird respektiert, wenn jedem Mitglied der Gesellschaft die Möglichkeit zugestanden wird, seine eigene, personale Berufung zu erfüllen; die Wahrheit zu suchen und die eigenen religiösen, kulturellen und politischen Vorstellungen zu artikulieren; seine eigenen Meinungen zu äußern; über seinen eigenen Lebensstand und, soweit möglich, über die eigene Arbeit zu entscheiden; Initiativen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Art zu ergreifen. Dies alles muss „in eine feste Rechtsordnung eingebunden“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 42: AAS 83 (1991) 846. Die Aussage betrifft hier die wirtschaftliche Initiative, es scheint aber korrekt, sie auch auf die anderen Bereiche des persönlichen Handelns auszudehnen.</ref> sein und sich innerhalb der Grenzen des Gemeinwohls, der öffentlichen Ordnung und in jedem Fall im Zeichen der Verantwortung vollziehen.

Die Freiheit muss sich andererseits auch als die Fähigkeit manifestieren, das moralisch Negative, unter welchen Formen es auch auftreten mag, abzulehnen,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 17: AAS 83 (1991) 814–815.</ref> als Fähigkeit, sich wirksam von allem zu distanzieren, was das personale, familiäre und soziale Wachstum behindern kann. Die Fülle der Freiheit besteht in der Fähigkeit, im Hinblick auf das wahrhaft Gute und im Horizont des weltweiten Gemeinwohls über sich zu verfügen.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 289–290.</ref>

d) Die Gerechtigkeit

201 Die Gerechtigkeit ist ein Wert, der mit der Übung der entsprechenden sittlichen Kardinaltugend einhergeht.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae,I-II, q. 6.</ref> Der klassischsten Formulierung zufolge ist sie „der beständige, feste Wille, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen gebührt“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1807; vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 58, a. 1: „iustitia est perpetua et constans voluntas ius suum unicuique tribuendi“.</ref> Subjektiv betrachtet äußert sich die Gerechtigkeit in einer Haltung, die von dem Willen bestimmt ist, den anderen als Person anzuerkennen, während sie objektiv betrachtet das entscheidende Kriterium der Sittlichkeit im intersubjektiven und sozialen Bereich darstellt.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 282–283.</ref>

Das soziale Lehramt ruft dazu auf, die klassischen Formen der ausgleichenden, der austeilenden und der legalen Gerechtigkeit zu respektieren.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 2411.</ref> Von zunehmender Bedeutung ist dabei die soziale Gerechtigkeit,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1928–1942, 2425–2449, 2832; Pius XI., Enz. Divini Redemptoris: AAS 29 (1937) 92.</ref> die eine wahre und eigentliche Weiterentwicklung der allgemeinen Gerechtigkeit darstellt, welche die sozialen Verhältnisse auf der Grundlage des Kriteriums der Gesetzestreue regelt. Die Forderung der sozialen Gerechtigkeit ist mit der sozialen Frage verknüpft, die mittlerweile globale Ausmaße erreicht hat, und betrifft die sozialen, politischen und ökonomischen Aspekte und vor allem die strukturelle Dimension der Probleme und der dazugehörigen Lösungen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 2: AAS 73 (1981) 580–583.</ref>

202 Die Gerechtigkeit ist vor allem im aktuellen Kontext wichtig, da der Wert der Person, ihrer Würde und ihrer Rechte jenseits aller Absichtserklärungen ernsthaft von der weit verbreiteten Tendenz bedroht ist, ausschließlich auf Kriterien der Nützlichkeit und des Habens zurückzugreifen. Auf der Grundlage solcher Kriterien wird auch die Gerechtigkeit in einer einschränkenden Weise betrachtet, wohingegen sie in der christlichen Anthropologie eine vollständigere und authentischere Bedeutung erhält. Die Gerechtigkeit ist nicht einfach eine menschliche Konvention, denn was „gerecht“ ist, wird in seinem Ursprung nicht vom Gesetz bestimmt, sondern stammt aus der Tiefe der menschlichen Identität.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 568; Katechismus der Katholischen Kirche,1929.</ref>

203 Die volle Wahrheit über den Menschen macht es möglich, die beschränkte Sichtweise, wonach die Gerechtigkeit nur auf einer Übereinkunft beruht, zu überwinden und auch der Gerechtigkeit die Horizonte der Solidarität und der Liebe zu eröffnen: „Die Gerechtigkeit allein genügt nicht. Im Gegenteil, sie kann bis zur Selbstverneinung gehen, wenn sie sich nicht jener tieferen Kraft öffnet, die die Liebe ist“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 10: AAS 96 (2004) 121.</ref> Neben den Wert der Gerechtigkeit nämlich stellt die Soziallehre den der Solidarität als des bevorzugten Wegs zum Frieden. Wenn der Friede die Frucht der Gerechtigkeit ist, dann könnte man heute „mit derselben Genauigkeit und der gleichen Kraft biblischer Inspiration (vgl. Jes 32, 17; Jak 3, 18) sagen: Opus solidaritatis pax – Friede, die Frucht der Solidarität“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 39: AAS 80 (1988) 568.</ref> Denn das Ziel des Friedens „wird gewiss mit der Verwirklichung der sozialen und internationalen Gerechtigkeit erreicht werden, aber auch mit der Übung jener Tugenden, die das Zusammenleben fördern und das Leben in Einheit lehren, um gemeinsam, im Geben und Nehmen, eine neue Gesellschaft und eine bessere Welt zu schaffen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 39: AAS 80 (1988) 568.</ref>

VIII. DER WEG DER LIEBE

204 Zwischen den Tugenden in ihrer Gesamtheit und insbesondere zwischen Tugenden, sozialen Werten und Liebe besteht eine tiefe Verbindung, die immer deutlicher erkannt werden muss. Die Liebe, die oft auf den Bereich naher Beziehungen oder auf die bloß subjektiven Aspekte des Handelns für den anderen beschränkt wird, muss in ihrer ursprünglichen Bedeutung als oberstes und allgemeingültiges Kriterium der gesamten sozialen Ethik wiederentdeckt werden. Von allen Wegen, auch jenen, die gesucht und gegangen werden, um den immer neuen Formen der aktuellen sozialen Frage zu begegnen, ist der eine Weg, „der alles übersteigt“ (1 Kor 12, 31), der Weg der Liebe.

205 Die Werte der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Freiheit entspringen und entwickeln sich aus der inneren Quelle der Liebe: Das menschliche Zusammenleben ist geordnet, bringt Gutes hervor und entspricht der Würde des Menschen, wenn es sich auf die Wahrheit gründet; es vollzieht sich in Gerechtigkeit, das heißt im wirklichen Respekt vor den Rechten und in der treuen Erfüllung der jeweiligen Pflichten; es wird in der Freiheit verwirklicht, die ein Teil der Würde des Menschen ist, wenn dieser sich von seiner eigenen rationalen Natur dazu drängen lässt, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen; es wird von der Liebe beseelt, die uns die Bedürfnisse und Nöte der anderen als unsere eigenen empfinden und die Gemeinschaft der geistigen Werte sowie den Eifer, mit dem wir uns um die materiellen Notwendigkeiten kümmern, immer stärker werden lässt.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 265–266.</ref> Diese Werte bilden die Pfeiler, die dem Gebäude des Lebens und Handelns Festigkeit und Beständigkeit verleihen: Es sind Werte, die die Qualität jeder sozialen Handlung und Einrichtung bestimmen.

206 Die Liebe setzt die Gerechtigkeit voraus und übersteigt sie: Letztere muss „ihre Vervollständigung in der Liebe finden“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 10: AAS 96 (2004) 120.</ref> Wenn die Gerechtigkeit imstande ist, „zwischen den Menschen nach Gebühr »Recht zu sprechen«, wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die Liebe und nur die Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als »Erbarmen« bezeichnen) fähig, den Menschen sich selbst zurückzugeben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1223.</ref> Die menschlichen Verhältnisse können nicht ausschließlich nach dem Maßstab der Gerechtigkeit geregelt werden: „Die Erfahrung der Vergangenheit und auch unserer Zeit lehrt, dass die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann (…). Gerade die geschichtliche Erfahrung hat, unter anderem, zur Formulierung der Aussage geführt: summum ius, summa iniuria – höchstes Recht, höchstes Unrecht“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 12: AAS 72 (1980) 1216.</ref> Denn die Gerechtigkeit „muss in allen Bereichen zwischenmenschlicher Beziehung sozusagen eine tief greifende »Korrektur« erfahren: durch die Liebe, welche nach dem Hohen Lied des heiligen Paulus »langmütig« und »gütig« ist oder, anders ausgedrückt, die für das Evangelium und das Christentum so wesentlichen Züge des Erbarmens trägt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1224; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2212.</ref>

207 Keine Gesetzgebung, kein System von Regeln oder Übereinkünften kann Menschen und Völker davon überzeugen, in Einheit, Brüderlichkeit und Frieden zu leben, keine Argumentation kann den Appell der Liebe übertönen. Nur die Liebe in ihrer Eigenschaft als „forma virtutum“<ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 23, a. 8; Katechismus der Katholischen Kirche, 1827.</ref> kann das soziale Handeln im Zusammenhang einer immer komplexeren Welt auf den Frieden hin beseelen und gestalten. Damit dies alles geschieht, muss die Liebe jedoch nicht nur als Inspirationsquelle für das individuelle Handeln, sondern auch als eine Kraft dargestellt werden, die neue Wege eröffnen kann, um den Problemen der heutigen Welt zu begegnen und Strukturen, soziale Organisationen und Rechtsordnungen von innen heraus und von Grund auf zu erneuern. So gesehen wird die Liebe zu einer sozialen und politischen Liebe: Die soziale Liebe lässt uns das Gemeinwohl lieben<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache am Sitz der FAO zum 25. Jahrestag der Institution (16. November 1970): Insegnamenti di Paolo VI, VIII (1970) 1153.</ref> und auf wirkungsvolle Weise das Wohl aller Personen anstreben, die nicht nur als Individuen, sondern auch in der sozialen Dimension betrachtet werden, die sie vereint.

208 Die soziale und politische Liebe erschöpft sich nicht in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern entfaltet sich in dem Netz, in das diese Beziehungen hineingeflochten sind, nämlich der sozialen und politischen Gemeinschaft, und wirkt im Sinne des für die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit erreichbaren Wohls auf diese ein. Der Nächste, der geliebt werden soll, zeigt sich in so vielen Aspekten „in Gesellschaft“, dass ihn wirklich zu lieben und seinen Bedürfnissen oder seiner Not abzuhelfen auch etwas anderes bedeuten kann als ihm auf einer rein zwischenmenschlichen Ebene zugetan zu sein: Ihn auf der sozialen Ebene zu lieben bedeutet, sich je nach Situation der sozialen Mittel zu bedienen, um sein Leben zu verbessern oder diejenigen sozialen Faktoren zu beseitigen, die seine Not verursacht haben. Das Werk der Barmherzigkeit, mit dem man hier und jetzt auf ein reales und drängendes Bedürfnis des Nächsten reagiert, ist zweifelsohne ein Akt der Liebe; doch ein ebenso unverzichtbarer Akt der Liebe ist das Engagement, das darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft so zu organisieren und zu strukturieren, dass der Nächste nicht im Elend leben muss, vor allem dann, wenn sich eine unüberschaubare Menge von Personen und sogar ganze Völker in dieser Situation befinden, die heute die Proportionen einer wahren und eigentlichen weltweiten sozialen Frage annimmt.

ZWEITER TEIL

„Daraus folgt, dass der Soziallehre die Bedeutung eines Instrumentes der Glaubensverkündigung zukommt: Als solches verkündet sie jedem Menschen Gott und das Heilsmysterium in Christus und enthüllt dadurch den Menschen dem Menschen selbst. In diesem und nur in diesem Licht befasst sie sich mit den anderen Fragen: mit den Menschenrechten jedes Einzelnen, insbesondere des »Proletariats«, mit Familie und Erziehung, mit den Aufgaben des Staates, mit der nationalen und internationalen Ordnung, mit dem Wirtschaftsleben, der Kultur, mit Krieg und Frieden, mit der Achtung des Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum Tod“
(Centesimus annus, 54)

FÜNFTES KAPITEL: DIE FAMILIE: LEBENSZELLE DER GESELLSCHAFT

I. DIE FAMILIE ALS ERSTE NATÜRLICHE GESELLSCHAFT

209 Wiederholt hebt die Heilige Schrift die zentrale Bedeutung der Familie für die Person und für die Gesellschaft hervor: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt“ (Gen 2, 18). Schon in den Texten, die von der Erschaffung des Menschen erzählen (vgl. Gen 1, 26–28; 2, 7–24), wird deutlich, dass das Paar – im Plan Gottes – „die erste Form personaler Gemeinschaft“ ist.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 12: AAS 58 (1966) 1034.</ref> Eva wird dem Adam ähnlich geschaffen als die, die ihn durch ihr Anderssein ergänzt (vgl. Gen 2, 18), um mit ihm „ein Fleisch“ zu werden (Gen 2, 24; vgl. Mt 19, 5–6).<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1605.</ref> Gleichzeitig werden beide in die Aufgabe der Fortpflanzung eingebunden, die sie zu Mitarbeitern des Schöpfers macht: „Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde“ (Gen 1, 28). Im Plan des Schöpfers ist die Familie „als erster Ort der »Humanisierung« der Person und der Gesellschaft“ und als „Wiege des Lebens und der Liebe“ vorgesehen.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 40: AAS 81 (1989) 469.</ref>

210 In der Familie erfährt man die Liebe und Treue des Herrn sowie die Notwendigkeit, ihr zu entsprechen (vgl. Ex 12, 25–27; 13, 8.14–15; Dtn 6, 20–25; 13, 7–11; 1 Sam 3, 13); die Kinder lernen die ersten und entscheidenden Lektionen der praktischen Weisheit, die Grundlage der Tugenden ist (vgl. Spr 1, 8–9; 4, 1–4; 6, 20–21; Sir 3, 1–16; 7, 27–28). Deshalb macht sich der Herr zum Garanten der ehelichen Liebe und Treue (vgl. Mal 2, 14–15).

Jesus wurde in eine konkrete Familie hineingeboren, hat in ihr gelebt und sie dadurch in ihren Grundzügen bejaht,<ref> Die heilige Familie ist ein Vorbild für das Familienleben: „Nazareth erinnert uns daran, was die Familie ist, was die Gemeinschaft der Liebe ist, ihre strenge und schlichte Schönheit, ihr heiliger und unverletzlicher Charakter; es lässt uns erkennen, wie süß und unersetzlich die Erziehung in der Familie ist; es lehrt uns ihre natürliche Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung. Und schließlich lernen wir die Lektion der Arbeit“: Paul VI., Ansprache in Nazareth (5. Januar 1964): AAS 56 (1964) 168.</ref> und er hat der Einrichtung der Ehe eine herausragende Würde verliehen, als er sie zum Sakrament des Neuen Bundes machte (vgl. Mt 19, 3–9). In diesem Kontext entdeckt das Paar seine ganze Würde und die Familie die ihr eigene Stärke.

211 Erleuchtet vom Licht der biblischenBotschaft betrachtet die Kirche die Familie als die erste natürliche Gesellschaft mit ihren eigenen und ursprünglichen Rechten und stellt sie ins Zentrum des sozialen Lebens: Die Familie „in eine untergeordnete und nebensächliche Rolle zu versetzen, sie aus der ihr in der Gesellschaft gebührenden Stellung auszuschließen, heißt, dem echten Wachstum des gesamten Sozialgefüges einen schweren Schaden zufügen“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 17: AAS 86 (1994) 906.</ref> Die Familie, die aus der im Ehebund zwischen Mann und Frau gestifteten innigen Gemeinschaft des Lebens und der Liebe erwächst,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067–1069.</ref> besitzt eine nur ihr eigene und ursprüngliche soziale Dimension, weil sie der erste Schauplatz zwischenmenschlicher Beziehungen, die „Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft“ ist:<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dekr. Apostolicam actuositatem, 11: AAS 58 (1966) 848.</ref> Sie ist eine göttliche Einrichtung, die als Prototyp jeder sozialen Ordnung das Fundament des Lebens der Personen bildet.

a) Die Bedeutung der Familie für die Person

212 Die Familie ist für die Person wichtig und von zentraler Bedeutung. In dieser Wiege des Lebens und der Liebe wird der Mensch geboren und wächst heran: Wenn ein Kind zur Welt kommt, wird der Gesellschaft eine neue Person geschenkt, die „von innen her zur Gemeinschaft mit anderen und zur vollen Hingabe an sie berufen“ ist.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 40: AAS 81 (1989) 468.</ref> Deshalb erzeugt die gegenseitige Hingabe des Mannes und der Frau, die in der Ehe vereint sind, in der Familie eine Atmosphäre des Lebens, in der das Kind „seine Fähigkeiten entfalten kann. Wo es sich seiner Würde bewusst wird und sich auf die Auseinandersetzung mit seinem einmaligen und unwiederholbaren Schicksal vorbereiten kann“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 39: AAS 83 (1991) 841.</ref> Im Klima der natürlichen Zuneigung, die die Mitglieder einer Familiengemeinschaft miteinander verbindet, werden die Personen als Ganzes anerkannt und zur Verantwortung erzogen: „Die erste und grundlegende Struktur zu Gunsten der »Humanökologie« ist die Familie, in deren Schoß der Mensch die entscheidenden Anfangsgründe über die Wahrheit und das Gute empfängt, wo er lernt, was lieben und geliebt werden heißt und was es konkret besagt, Person zu sein“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 39: AAS 83 (1991) 841.</ref> Denn die Pflichten ihrer Mitglieder sind nicht vertraglich festgelegt, sondern ergeben sich aus dem Wesen der Familie selbst, die auf einen unwiderruflichen Ehebund gegründet und von Beziehungen strukturiert ist, die nach der Zeugung oder Adoption von Kindern aus diesem erwachsen.

b) Die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft

213 Als natürliche Gemeinschaft, in der die menschliche Sozialität erfahren wird, leistet die Familie einen einzigartigen und unersetzlichen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft. Denn die Familiengemeinschaft erwächst aus der Gemeinschaft der Personen: „Die »Gemeinsamkeit« betrifft die persönliche Beziehung zwischen dem »Ich« und dem »Du«. Die »Gemeinschaft« dagegen übersteigt dieses Schema in Richtung einer »Gesellschaft«, eines »Wir«. Die Familie als Gemeinschaft von Personen ist daher die erste menschliche »Gesellschaft«“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 7: AAS 86 (1994) 875; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2206.</ref>

Eine nach dem Maßstab der Familie gestaltete Gesellschaft ist der beste Schutz gegen jegliche individualistische oder kollektivistische Verirrung, denn sie stellt immer die Person, und zwar nicht als Mittel, sondern als Zweck, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist vollkommen einleuchtend, dass das Wohl der Personen und das gute Funktionieren der Gesellschaft eng mit dem „Wohlergehen der Ehe- und Familiengemeinschaft verbunden“ sind.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 47: AAS 58 (1966) 1067; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2210.</ref> Ohne Familien, die in der Gemeinschaft stark und in ihrem Engagement beständig sind, verlieren die Völker an Kraft. Von den ersten Lebensjahren an leistet die Familie eine Verinnerlichung der moralischen Werte sowie eine Weitergabe des geistigen und kulturellen Erbes der Religionsgemeinschaft und der Nation. In ihr lernt man soziale Verantwortung und Solidarität.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2224.</ref>

214 Der Familie muss der Vorrang vor der Gesellschaft und dem Staat eingeräumt werden. Zumindest unter dem Aspekt der Fortpflanzung ist die Familie die Voraussetzung dafür, dass Gesellschaft und Staat überhaupt existieren können. Die anderen Funktionen, die sie zum Vorteil ihrer Mitglieder ausübt, sind wichtiger und wertvoller als die, die von der Gesellschaft und vom Staat wahrgenommen werden müssen.<ref> Vgl. Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Präambel, D-E, Der Apostolische Stuhl 1983, 1598.</ref> Als Trägerin unverletzlicher Rechte besitzt die Familie ihre Legitimation in der menschlichen Natur und nicht in der Anerkennung von Seiten des Staates. Sie ist also nicht für die Gesellschaft und den Staat da, sondern die Gesellschaft und der Staat sind für die Familie da.

Kein Gesellschaftsmodell, das dem Wohl des Menschen dienen will, kann über die zentrale Bedeutung und die soziale Verantwortung der Familie hinwegsehen. Gesellschaft und Staat haben im Gegenteil die Verpflichtung, sich in ihren Beziehungen zur Familie an das Subsidiaritätsprinzip zu halten. Aufgrund dieses Prinzips dürfen die öffentlichen Autoritäten der Familie jene Aufgaben, die sie gut allein oder im freien Verband mit anderen Familien erfüllen kann, nicht entziehen; andererseits haben dieselben Autoritäten die Pflicht, die Familie zu unterstützen, indem sie ihr alle Hilfsmittel zur Verfügung stellen, die sie benötigt, um ihre Verantwortung in angemessener Weise wahrzunehmen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 45: AAS 74 (1982) 136–137; Katechismus der Katholischen Kirche, 2209.</ref>

II. DIE EHE ALS FUNDAMENT DER FAMILIE

a) Der Wert der Ehe

215 Die Grundlage der Familie ist der freie Wille der Brautleute, die Ehe miteinander einzugehen und dabei die spezifischen Bedeutungen und Werte dieser Einrichtung, die nicht vom Menschen, sondern von Gott selbst abhängt, zu achten: „Dieses heilige Band unterliegt im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft sowie auf das Wohl der Gesellschaft nicht mehr menschlicher Willkür. Gott selbst ist Urheber der Ehe, die mit verschiedenen Gütern und Zielen ausgestattet ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067–1068.</ref> Die Einrichtung der Ehe – „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe (…), vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt“<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067.</ref> – ist also kein Produkt menschlicher Übereinkünfte und gesetzlicher Vorschriften, sondern verdankt ihre Beständigkeit der göttlichen Ordnung.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1603.</ref> Sie ist eine Einrichtung, die auch in den Augen der Gesellschaft „durch den personal freien Akt, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen“,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067.</ref> entsteht, und sie wurzelt in der Natur der ehelichen Liebe selbst, die als rückhaltloses und ausschließliches Geschenk von Person zu Person eine endgültige Verpflichtung beinhaltet, welche wiederum in einem wechselseitigen, unwiderruflichen und öffentlichen Konsens ausgedrückt wird.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1639.</ref> Diese Verpflichtung setzt voraus, dass die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern auch vom Gerechtigkeitssinn und damit von der Achtung der jeweiligen Rechte und Pflichten geprägt sind.

216 Keine Macht kann das natürliche Recht der Eheschließung außer Kraft setzen noch die Ehe in ihren Eigenschaften und in ihrer Zielsetzung verändern. Die Ehe ist nämlich mit eigenen, ursprünglichen und unveränderlichen Kennzeichen ausgestattet. Trotz der zahlreichen Änderungen, die sie im Lauf der Jahrhunderte in den verschiedenen Kulturen, Gesellschaftsstrukturen und Geisteshaltungen erfahren hat, gibt es in allen Kulturkreisen ein sicheres Gespür für die Würde des Ehebundes, auch wenn dies nicht überall mit derselben Deutlichkeit zutage tritt.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1603.</ref> Diese Würde muss in ihrer besonderen Eigenart respektiert und vor jeder Verzerrung geschützt werden. Die Gesellschaft hat keine Verfügungsgewalt über die eheliche Verbindung, in der die beiden Brautleute einander Treue, Beistand und Offenheit für Kinder versprechen, aber sie ist dazu befugt, ihre zivilen Aspekte zu regeln.

217 Die charakteristischen Züge der Ehe sind: die Ganzheitlichkeit, mit der die Eheleute sich in allem, was die Person leiblich und geistig ausmacht, einander schenken; die Einheit, die sie „ein Fleisch“ (Gen 2, 24) werden lässt; die Unauflöslichkeit und Treue, die die gegenseitige und endgültige Hingabe miteinschließt; die Fruchtbarkeit, für die sie von Natur aus offen ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 13: AAS 74 (1982) 93–96.</ref> Der weise Plan Gottes für die Ehe – ein Plan, der der Vernunft des Menschen trotz der durch seine Hartherzigkeit (vgl. Mt 19, 8; Mk 10,5) bedingten Schwierigkeiten zugänglich ist – darf nicht ausschließlich im Licht der davon abweichenden faktischen Verhaltensweisen und konkreten Situationen beurteilt werden. Die Polygamie steht in grundlegendem Widerspruch zum ursprünglichen Plan Gottes, „denn sie widerspricht der gleichen personalen Würde von Mann und Frau, die sich in der Ehe mit einer Liebe schenken, die total und eben deshalb einzig und ausschließlich ist“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 19: AAS 74 (1982) 102.</ref>

218 In ihrer objektiven Wahrheit ist die Ehe auf die Zeugung und Erziehung von Kindern ausgerichtet.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48.50: AAS 58 (1966) 1067–1069. 1070–1072.</ref> In der ehelichen Gemeinschaft gelangt jene aufrichtige Selbsthingabe zu Leben und Fülle, deren Frucht, die Kinder, ihrerseits ein Geschenk für die Eltern, für die gesamte Familie und die ganze Gesellschaft ist.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 11: AAS 86 (1994) 883–886.</ref> Dennoch ist die Ehe nicht ausschließlich zum Zweck der Fortpflanzung eingesetzt worden:<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 50: AAS 58 (1966) 1070–72.</ref> Ihr unauflöslicher Charakter und ihr Wert als Gemeinschaft bestehen auch dann, wenn das Eheleben nicht durch die sehnlichst erwünschten Kinder vervollkommnet wird. In diesem Fall können die Eheleute „ihre Großmut zeigen, indem sie verlassene Kinder adoptieren oder anspruchsvolle Dienste an ihnen erfüllen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,2379.</ref>

b) Das Sakrament der Ehe

219 Die menschliche und ursprüngliche Realität der Ehe wird von den Getauften in der von Christus eingesetzten übernatürlichen Form des Sakraments, das Zeichen und Werkzeug der Gnade ist, gelebt. Die Heilsgeschichte ist durchzogen vom Thema des bräutlichen Bundes, der ein bedeutsamer Ausdruck für die Liebesgemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und ein Schlüssel ist, um die Stationen des großen Bundes, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat, in ihrer Symbolik zu begreifen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 12: AAS 74 (1982) 93: „Deshalb wird das im Mittelpunkt der Offenbarung stehende Wort »Gott liebt sein Volk« auch in den persönlichen Worten ausgesprochen, mit denen Mann und Frau einander ihre eheliche Liebe konkret kundtun. Ihr Liebesband wird zum Abbild und Symbol des Bundes, der Gott und sein Volk verbindet (vgl. z. B. Hos 2, 21; Jes 54). Selbst die Sünde, die den ehelichen Bund verletzen kann, wird zum Abbild der Untreue des Volkes gegen seinen Gott: der Götzendienst ist Prostitution (vgl. Jer 3, 6–13; Ez 16, 25), die Untreue ist Ehebruch, der Ungehorsam gegen das Gesetz ist ein Verrat an der bräutlichen Liebe des Herrn. Die Untreue Israels zerstört jedoch nicht die ewige Treue des Herrn, und somit wird die immer treue Liebe Gottes zum Vorbild für das Verhältnis treuer Liebe, das zwischen den Eheleuten bestehen muss (vgl. Hos 3)“.</ref> Kern der Offenbarung des Plans der Liebe Gottes ist das Geschenk, das Gott der Menschheit in seinem Sohn Jesus Christus macht, „dem liebenden Bräutigam, der sich hingibt als Erlöser der Menschheit und sie als seinen Leib mit sich vereint. Er offenbart die Urwahrheit über die Ehe, die Wahrheit des »Anfangs« (vgl. Gen 2, 24; Mt 19, 5), und macht den Menschen fähig, sie vollends zu verwirklichen, indem er ihn von seiner Herzenshärte befreit“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 13: AAS 74 (1982) 93–94.</ref> Aus der bräutlichen Liebe Christi zu seiner Kirche, deren Fülle sich im Kreuzesopfer erweist, geht der sakramentale Charakter der Ehe hervor, deren Gnade die Liebe der Brautleute der Liebe Christi zur Kirche angleicht. Die Ehe als Sakrament ist der in der Liebe geschlossene Bund eines Mannes und einer Frau.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067–69.</ref>

220 Das Sakrament der Ehe umfasst die menschliche Wirklichkeit der ehelichen Liebe mit allen Konsequenzen und „befähigt und verpflichtet (…) die christlichen Ehegatten und Eltern, ihre Berufung als Laien zu leben, und so »in der Behandlung und gottgewollten Gestaltung der weltlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen«“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 47: AAS 74 (1982) 139. Das Zitat stammt aus: II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.</ref> Durch das sakramentale Band, das sie zu einer Hauskirche oder Kirche im Kleinen macht, ist die christliche Familie zuinnerst mit der Kirche verbunden und dazu berufen, „Zeichen der Einheit für die Welt zu sein und so ihr prophetisches Amt auszuüben, indem sie Christi Herrschaft und Frieden bezeugt, woraufhin die ganze Welt unterwegs ist“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 48: AAS 74 (1982) 140; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1656–1657. 2204.</ref>

Die im Sakrament geschenkte eheliche Liebe, die aus der Liebe Christi selbst erwächst, macht die christlichen Eheleute zu Zeugen einer neuen, vom Evangelium und vom Ostergeheimnis inspirierten Sozialität. Die natürliche Dimension ihrer Liebe wird durch die sakramentale Gnade beständig geläutert, gefestigt und erhöht. Auf diese Weise stehen die christlichen Eheleute sich nicht nur gegenseitig auf dem Weg der Heiligung bei, sondern werden darüber hinaus zu Zeichen und Werkzeug der Liebe Christi in der Welt. Sie sind dazu berufen, die religiöse Bedeutung der Ehe mit ihrem eigenen Leben zu bezeugen und zu verkündigen, zumal es der gegenwärtigen Gesellschaft immer schwerer fällt, diese zu erkennen – insbesondere dann, wenn sie sich Sichtweisen zu Eigen macht, die auch die natürliche Grundlage der Institution der Ehe relativieren.

III. DER SOZIALE SUBJEKTCHARAKTER DER FAMILIE

a) Die Liebe und die Bildung einer Gemeinschaft von Personen

221 Die Familie bietet sich als Raum für jene in einer zunehmend individualistischen Gesellschaft so notwendige Gemeinschaft an, in der dank der unermüdlichen Dynamik der Liebe eine authentische Gemeinsamkeit der Personen<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 18: AAS 74 (1982) 100–101.</ref> entstehen kann. Diese Dynamik der Liebe ist die grundlegende Dimension der menschlichen Erfahrung und hat gerade in der Familie den Ort, an dem sie bevorzugt in Erscheinung tritt: „Die Liebe sorgt dafür, dass sich der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe verwirklicht: Lieben heißt, alles geben und empfangen, was man weder kaufen noch verkaufen, sondern sich nur aus freien Stücken gegenseitig schenken kann“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 11: AAS 86 (1994) 883.</ref>

Dank der Liebe, die für die Definition von Ehe und Familie wesentlich ist, wird jede Person, Mann und Frau, in ihrer Würde anerkannt, angenommen und respektiert. Die Liebe bringt Beziehungen hervor, die im Zeichen des ungeschuldeten Schenkens gelebt werden, das „in allen und in jedem einzelnen die Personwürde als einzig entscheidenden Wertmaßstab achtet und fördert, woraus dann herzliche Zuneigung und Begegnung im Gespräch, selbstlose Einsatzbereitschaft und hochherziger Wille zum Dienen sowie tief empfundene Solidarität erwachsen können“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 43: AAS 74 (1982) 134.</ref> Die Existenz von Familien, die in diesem Geist leben, stellt die Mängel und Widersprüchlichkeiten einer Gesellschaft bloß, die sich überwiegend, wenn nicht ausschließlich von Kriterien der Effizienz und Funktionalität leiten lässt. Ein Familienleben, das Tag für Tag nach innen und außen ein Netz von zwischenmenschlichen Beziehungen knüpft, wird dagegen „zu einer ersten unersetzlichen Schule für gemeinschaftliches Verhalten, zu einem Beispiel und Ansporn für weiterreichende zwischenmenschliche Beziehungen im Zeichen von Achtung,Gerechtigkeit, Dialog und Liebe“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 43: AAS 74 (1982) 134.</ref>

222 Die Liebe drückt sich auch in der aufmerksamen Fürsorge für die älteren Menschen aus, die in der Familie leben: Ihre Anwesenheit kann sich als sehr wertvoll erweisen. Sie sind ein Beispiel der Verbundenheit zwischen den Generationen und eine Quelle des Wohlergehens für die Familie und die gesamte Gesellschaft: „Nicht nur können sie für die Tatsache Zeugnis geben, dass gewisse Aspekte des Lebens, wie menschliche und kulturelle, moralische und soziale Werte, nicht nach wirtschaftlichen oder funktionellen Kriterien gemessen werden; ebenso sind sie in der Lage, einen konkreten Beitrag im Bereich der Arbeit und als Verantwortungsträger zu leisten. Schließlich geht es nicht allein darum, etwas für die alten Menschen zu tun, es gilt vielmehr, diese Personen auf konkrete Weise auch als verantwortliche Mitarbeiter, als Förderer von Projekten zu akzeptieren, an denen sie sowohl in der Phase der Planung als auch des Dialogs und der Durchführung teilnehmen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Zweiten Weltversammlung über das Altern (3. April 2002): AAS 94 (2002) 582; vgl. ID., Ap. Schr. Familiaris consortio, 27: AAS 74 (1982) 113–114.</ref> „Sie tragen Frucht noch im Alter“ (Ps 92, 15), so heißt es in der Heiligen Schrift. Die älteren Menschen stellen eine wichtige Schule des Lebens dar, denn sie können Werte und Traditionen vermitteln und das Wachstum der Jüngeren fördern, die auf diese Weise lernen, nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das der anderen anzustreben. Wenn ältere Menschen sich in einer Situation des Leids und der Abhängigkeit befinden, sind sie nicht nur auf medizinische Pflege und entsprechende Versorgung, sondern vor allem auf eine liebevolle Behandlung angewiesen.

223 Der Mensch ist geschaffen, um zu lieben, und er kann ohne Liebe nicht leben. Wenn sie sich in der völligen Hingabe zweier sich ergänzender Personen äußert, kann die Liebe nicht auf Stimmungen und Gefühle und schon gar nicht auf ihre bloß sexuelle Ausdrucksform reduziert werden. Eine Gesellschaft, die immer mehr dazu tendiert, die Erfahrung der Liebe und der Sexualität zu relativieren und zu banalisieren, überschätzt die vergänglichen Aspekte des Lebens und missachtet seine grundlegenden Werte: Umso dringender ist es, zu verkünden und zu bezeugen, dass die Wahrheit der ehelichen Liebe und Sexualität dort existiert, wo sich die Personen einander in Einheit und Treue voll und ganz hingeben.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 48: AAS 58 (1966) 1067–1069; Katechismus der Katholischen Kirche, 1644–1651.</ref> Diese Wahrheit, Quelle der Freude, der Hoffnung und des Lebens, ist für niemanden zu durchdringen und zu erreichen, der sich ihr in Relativismus und Skeptizismus verschließt.

224 Gegenüber denjenigen Theorien, die die Geschlechteridentität lediglich als ein kulturelles und soziales Produkt der Interaktion zwischen Gemeinschaft und Individuum betrachten, ohne die personale sexuelle Identität zu berücksichtigen oder die wahre Bedeutung der Sexualität in irgendeiner Weise in Betracht zu ziehen, wird die Kirche es nicht müde, ihre eigene Lehre immer wieder deutlich zu formulieren: „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen. Die leibliche, moralische und geistige Verschiedenheit und gegenseitige Ergänzung sind auf die Güter der Ehe und auf die Entfaltung des Familienlebens hingeordnet. Die Harmonie des Paares und der Gesellschaft hängt zum Teil davon ab, wie Gegenseitigkeit, Bedürftigkeit und wechselseitige Hilfe von Mann und Frau gelebt werden“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2333.</ref> Aus dieser Sichtweise ergibt sich die Verpflichtung, das positive Recht dem Naturgesetz anzugleichen, dem zufolge die sexuelle Identität als objektive Voraussetzung dafür, in der Ehe ein Paar zu bilden, nicht beliebig ist.

225 Die Natur der ehelichen Liebe erfordert die Beständigkeit und Unauflöslichkeit des Ehebundes. Das Fehlen dieser Eigenschaften beeinträchtigt die für den Ehebund charakteristische Ausschließlichkeit und Totalität der Liebesbeziehung, hat schweres Leid für die Kinder zufolge und wirkt sich auch auf das soziale Gefüge schädlich aus.

Die Beständigkeit und Unauflöslichkeit der ehelichen Verbindung dürfen nicht ausschließlich der Absicht und dem Engagement der einzelnen Betroffenen überlassen werden: Vielmehr ist die gesamte Gesellschaft gerade im Hinblick auf die lebenswichtigen und unverzichtbaren Aspekte der Familie dafür verantwortlich, sie als eine grundlegende natürliche Einrichtung zu schützen und zu fördern. Die Notwendigkeit, der Ehe einen institutionellen Charakter zu verleihen und sie auf das Fundament eines öffentlichen, sozial und rechtlich anerkannten Akts zu stellen, leitet sich von grundlegenden gesellschaftlichen Forderungen ab.

Mit der Einführung der Ehescheidung in die bürgerliche Rechtsprechung wurde einer relativistischen Deutung des ehelichen Bundes Vorschub geleistet, die „zu einer tiefen Wunde“ geworden ist und in der Gesellschaft weit um sich greift.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2385; vgl. auch 1650–1651. 2384.</ref> Die Paare, die die Güter der Beständigkeit und der Unauflöslichkeit bewahren und entfalten, „erfüllen so (…) die ihnen anvertraute Aufgabe, in der Welt ein »Zeichen« zu sein – ein kleines und wertvolles Zeichen, das manchmal Versuchungen ausgesetzt ist und doch immer wieder erneuert wird – für die unerschütterliche Treue, mit der Gott in Jesus Christus alle Menschen und jeden Menschen liebt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 20: AAS 74 (1982) 104.</ref>

226 Die Kirche lässt die Menschen, die nach einer Scheidung wieder geheiratet haben, nicht im Stich. Sie betet für sie, ermutigt sie in den spirituellen Schwierigkeiten, die ihnen begegnen, und stärkt sie im Glauben und in der Hoffnung. Ihrerseits können und müssen diese Personen, weil sie getauft sind, am kirchlichen Leben teilnehmen: Sie sind dazu aufgerufen, das Wort Gottes zu hören, dem Messopfer beizuwohnen, beharrlich zu beten, sich vermehrt für die Werke der Nächstenliebe und die gemeinschaftlichen Initiativen zugunsten des Friedens und der Gerechtigkeit einzusetzen, ihre Kinder im Glauben zu erziehen und sich im Geist und in den Werken der Buße zu üben, um auf diese Weise Tag für Tag die Gnade Gottes zu erflehen. Die Versöhnung im Sakrament der Buße – die den Weg zum Empfang des eucharistischen Sakraments ebnen würde – kann nur denjenigen gewährt werden, die voller Reue aufrichtig zu einer Lebensweise entschlossen sind, die nicht mehr im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe steht.<ref> Der gebührende Respekt sowohl vor dem Sakrament der Ehe als auch vor den Eheleuten und ihren Familien selbst als auch vor der Gemeinschaft der Gläubigen verbietet es jedem Seelsorger, aus irgendeinem Grund oder unter irgendeinem Vorwand, und sei dieser auch pastoraler Natur, eine wie auch immer geartete Zeremonie für Geschiedene zu vollziehen, die sich wieder verheiraten wollen. Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 20: AAS 74 (1982) 104.</ref> Durch dieses Verhalten bekennt die Kirche ihre eigene Treue zu Christus und seiner Wahrheit; gleichzeitig wendet sie sich mit mütterlichem Sinn diesen ihren Kindern zu, vor allem denjenigen, die ohne eigene Schuld von ihrem rechtmäßigen Ehepartner verlassen worden sind. Mit fester Zuversicht glaubt sie, dass auch die, die sich vom Gebot des Herrn entfernt haben und in diesem Zustand leben, von Gott die Gnade der Umkehr und des Heils erhalten können, wenn sie in der Haltung des Gebets, der Buße und der Liebe verharren.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 77. 84: AAS 74 (1982) 175–178. 184–186.</ref>

227 Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften, deren Zahl fortlaufend gestiegen ist, beruhen auf einer falschen Vorstellung von der individuellen Wahlfreiheit<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 14: AAS 86 (1994) 893–896; Katechismus der Katholischen Kirche, 2390.</ref> und auf einer Haltung, die Ehe und Familie als eine reine Privatangelegenheit betrachtet. Die Ehe ist nicht einfach ein durch Vereinbarung geregeltes Zusammenleben, sondern eine Beziehung, die, verglichen mit allen anderen Beziehungen, über eine einzigartige soziale Dimension verfügt, weil die Familie dadurch, dass sie für die Kinder und deren Erziehung sorgt, im Hinblick auf das umfassende Wachstum jeder Person und ihre positive Eingliederung in das gesellschaftliche Leben eine ganz besondere Funktion erfüllt.

Die mögliche gesetzliche Gleichstellung zwischen der Familie und den „nichtehelichen Lebensgemeinschaften“ würde sich nachteilig auf das Modell der Familie auswirken. Dieses kann nicht in einer zerbrechlichen Beziehung zwischen Personen,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2390.</ref> sondern nur in einer beständigen Verbindung verwirklicht werden, die ihren Ursprung in der Ehe hat, das heißt in einem Pakt zwischen einem Mann und einer Frau, der auf der beiderseitigen und freien Entscheidung für eine vollgültige, auf die Fortpflanzung ausgerichtete eheliche Gemeinschaft beruht.

228 Im Zusammenhang mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften stellt die in der Öffentlichkeit immer stärker diskutierte Forderung nach rechtlicher Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ein besonderes Problem dar. Nur eine Anthropologie, die die volle Wahrheit über den Menschen in den Blick nimmt, kann auf diese Frage eine angemessene Antwort geben, die sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf kirchlicher Ebene verschiedene Aspekte beinhaltet.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Brief Die Seelsorge der homosexuellen Personen (1. Oktober 1986), 1–2: AAS 79 (1987) 543–544.</ref> Eine solche Anthropologie macht deutlich, „wie unangemessen es ist, den Verbindungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen eine »eheliche« Realität zuzuschreiben. Dem steht in erster Linie die objektive Unmöglichkeit entgegen, eine solche Verbindung durch die Weitergabe des Lebens Frucht bringen zu lassen – gemäß dem von Gott in die Struktur des Menschen eingeschriebenen Plan. Ein Hindernis sind die mangelnden Voraussetzungen für jene interpersonale Komplementarität, die der Schöpfer für Mann und Frau gewollt hat, und zwar sowohl auf physisch-biologischer als auch besonders auf psychologischer Ebene. Nur in der Verbindung zwischen zwei geschlechtlich verschiedenen Personen kann sich die Vervollkommnung des Einzelnen in einer Synthese der Einheit und der gegenseitigen psycho-physischen Ergänzung verwirklichen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache zur Eröffnung des Gerichtsjahres der Römischen Rota (21. Januar 1999), 5: AAS 91 (1999) 625.</ref>

Die homosexuellen Personen müssen in ihrer Würde voll respektiert<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Anmerkungen zur gesetzlichen Nichtdiskriminierung von Homosexuellen (23. Juli 1992): L’Osservatore Romano, 24. Juli 1992, S. 4; Id., Erkl. Persona humana (29. Dezember 1975), 8: AAS 68 (1976) 84–85.</ref> und dazu ermutigt werden, dem Plan Gottes Folge zu leisten, indem sie sich in besonderer Weise um Keuschheit bemühen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2357–2359.</ref> Der ihnen gebührende Respekt darf jedoch nicht zu einer Legitimierung von Verhaltensweisen führen, die mit dem moralischen Gesetz nicht vereinbar sind, und noch weniger dazu, dass Personen des gleichen Geschlechts ein Recht auf Ehe zugestanden und ihre Verbindung damit der Familie gleichgestellt wird:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache beim Ad-limina-Besuch der Bischöfe Spaniens (19. Februar 1998), 4: AAS 90 (1998) 809–810; Päpstlicher Rat für die Familie, Ehe, Familie und „faktische Lebensgemeinschaften“ (26. Juli 2000), 23, Libreria Editrice Vaticana,Vatikanstadt 2000, S. 42–44 (deutscher Text unter: www.vatican.va/romancuria/pontifical_councils/family/documents/rc_pc_family_doc_20001109_de-facto-unions_ge.html); Kongregation für die Glaubenslehre, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen (3. Juni 2003), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 162.</ref> „Wenn die Ehe zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts in rechtlicher Hinsicht nur als eine mögliche Form der Ehe betrachtet würde, brächte dies eine radikale Veränderung des Begriffs der Ehe zum schweren Schaden für das Gemeinwohl mit sich. Wenn der Staat die homosexuelle Lebensgemeinschaft auf eine rechtliche Ebene stellt, die jener der Ehe und Familie analog ist, handelt er willkürlich und tritt in Widerspruch zu seinen eigenen Verpflichtungen“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen (3. Juni 2003), 8, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolivschen Stuhls 162, S. 12–13.</ref>

229 Die Festigkeit der Kernfamilie ist eine entscheidende Grundlage für das soziale Zusammenleben, und deshalb kann die Zivilgemeinschaft den zersetzenden Tendenzen gegenüber, die ihre eigenen tragenden Stützen untergraben, nicht gleichgültig bleiben. Eine Gesetzgebung kann zuweilen moralisch inakzeptable Verhaltensweisen tolerieren<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 71: AAS 87 (1995) 483; Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 96, a. 2 („Utrum ad legem humanam pertineat omnia vitia cohibere“).</ref> – aber sie darf niemals zulassen, dass die Anerkennung der unauflöslichen monogamen Ehe als einziger authentischer Form der Familie geschwächt wird. Daher ist es notwendig, dass sich die öffentlichen Autoritäten „diesen Tendenzen mit ihren zersetzenden Wirkungen auf die Gesellschaft und ihren Schäden für die Würde, Sicherheit und das Wohl der einzelnen Bürger entschieden widersetzen; sie sollen sich bemühen, dass die öffentliche Meinung nicht zu einer Unterbewertung der Bedeutung der Institution von Ehe und Familie verleitet werde“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 81: AAS 74 (1982) 183.</ref>

Es ist die Aufgabe der christlichen Gemeinschaft und all derjenigen, denen das Wohl der Gesellschaft am Herzen liegt, wieder sicherzustellen, dass „die Familie, die viel mehr ist als eine bloße juridische, soziale und ökonomische Einheit, eine Gemeinschaft der Liebe und der Solidarität bildet, die in einzigartiger Weise geeignet ist, kulturelle, ethische, soziale, geistige und religiöse Werte zu lehren und zu übermitteln, wie sie wesentlich sind für die Entwicklung und das Wohlergehen ihrer eigenen Mitglieder und der ganzen Gesellschaft“.<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Präambel, E, Der Apostolische Stuhl 1983, 1598.</ref>

b) Die Familie ist das Heiligtum des Lebens

230 Die eheliche Liebe ist von Natur aus offen für das Leben.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1652.</ref> In der Aufgabe der Fortpflanzung wird die Würde des Menschen, der dazu berufen ist, die von Gott stammende Güte und Fruchtbarkeit zu verkünden, in herausragender Weise offenbar: „Die menschliche Elternschaft hat, obwohl sie jener anderer Lebewesen in der Natur biologisch ähnlich ist, an sich wesenhaft und ausschließlich eine »Ähnlichkeit« mit Gott, auf die sich die Familie gründet, die als menschliche Lebensgemeinschaft, als Gemeinschaft von Personen, die in der Liebe vereint sind (communio personarum), verstanden wird“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 6: AAS 86 (1994) 874; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2366.</ref>

Die Fortpflanzung bringt den sozialen Subjektcharakter der Familie zum Ausdruck und setzt eine Dynamik der Liebe und Solidarität zwischen den Generationen in Gang, die die Grundlage der Gesellschaft bildet. Es gilt, die soziale Bedeutung der Tatsache wiederzuentdecken, dass in jedem neuen menschlichen Wesen ein kleines Stück des Gemeinwohls verborgen liegt: Jedes Kind „wird von sich aus zu einem Geschenk für die Geschwister, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Leben wird zum Geschenk für die Geber des Lebens, die nicht umhin können werden, die Anwesenheit des Kindes, seine Teilnahme an ihrer Existenz, seinen Beitrag zu ihrem und zum gemeinsamen Wohl der Familiengemeinschaft wahrzunehmen“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 11: AAS 86 (1994) 884.</ref>

231 Die auf der Ehe gegründete Familie ist wahrhaft das Heiligtum des Lebens, „der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 39: AAS 83 (1991) 842.</ref> Die Familie spielt eine entscheidende und unersetzliche Rolle für die Förderung und Schaffung der Kultur des Lebens<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 92: AAS87(1995)505–507.</ref> und gegen die Ausbreitung „einer destruktiven »Anti-Zivilisation« (…), wie das in der Tat heute von vielen Tendenzen und Situationen bestätigt wird“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 13: AAS 86 (1994) 891.</ref>

In der Kraft des empfangenen Sakraments haben die christlichen Familien den besonderen Auftrag, das Evangelium des Lebens zu bezeugen und zu verkünden. Dieser Aufgabe kommt in der Gesellschaft die Bedeutung einer wahren und mutigen Prophezeiung zu. Aus diesem Grund „ist der Dienst am Evangelium vom Leben damit verbunden, dass sich die Familien besonders durch aktive Mitgliedschaft in eigenen Familienverbänden darum bemühen, dass die Gesetze und Einrichtungen des Staates auf keinen Fall das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod verletzen, sondern es schützen und fördern“.<ref> Johannes Paul I., Enz. Evangelium vitae,93: AAS 87 (1995) 507–508.</ref>

232 Die Familie leistet durch die verantwortliche Mutter- und Vaterschaft, mit der die Eheleute in besonderer Weise am schöpferischen Wirken Gottes teilhaben, einen herausragenden Beitrag zum Wohl der Gesellschaft.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,50: AAS 58 (1966) 1070–1072; Katechismus der Katholischen Kirche, 2367.</ref> Die Last einer solchen Verantwortung darf nicht als Rechtfertigung für eine egoistische Verweigerungshaltung herangezogen werden, sondern muss die Entscheidungen der Eheleute so lenken, dass sie sich in großzügiger Weise dem Leben öffnen: „Im Hinblick schließlich auf die gesundheitliche, wirtschaftliche, seelische und soziale Situation bedeutet verantwortungsbewusste Elternschaft, dass man entweder, nach klug abwägender Überlegung, sich hochherzig zu einem größeren Kinderreichtum entschließt, oder bei ernsten Gründen und unter Beobachtung des Sittengesetzes zur Entscheidung kommt, zeitweise oder dauernd auf weitere Kinder zu verzichten“.<ref> Paul VI., Enz. Humanae vitae, 10: AAS 60 (1968) 487; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 50: AAS 58 (1966) 1070–1072.</ref> Die Beweggründe, die die Eheleute in der verantwortlichen Ausübung ihrer Vaterschaft und Mutterschaft lenken müssen, ergeben sich aus der vollen Anerkennung der eigenen Pflichten gegenüber Gott, gegenüber sich selbst, gegenüber der Familie und gegenüber der Gesellschaft unter Beachtung einer gerechten Hierarchie der Werte.

233 Was die „Methoden“ einer verantwortungsbewussten Fortpflanzung angeht, sind vor allem Sterilisierung und Schwangerschaftsabbruch als moralisch unzulässig abzulehnen.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Humanae vitae, 14: AAS 60 (1968) 490–491.</ref> Vor allem letzterer ist ein abscheuliches Verbrechen und stellt immer eine besonders schwere moralische Verirrung dar;<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 51: AAS 58 (1966) 1072–1073; Katechismus der Katholischen Kirche, 2271–2272; Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 21: AAS 86 (1994) 919–920; Id., Enz. Evangelium vitae, 58.59.61–62: AAS 87 (1995) 466–468. 470–472.</ref> weit davon entfernt, ein Recht zu sein, ist es im Gegenteil eine traurige Erscheinung, die sehr zur Ausbreitung einer lebensfeindlichen Mentalität beiträgt und ein gerechtes und demokratisches Zusammenleben in der Gesellschaft in gefährlicher Weise bedroht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 21: AAS 86 (1994) 919–920; Id., Enz. Evangelium vitae, 72.101: AAS 87 (1995) 484–485.516–518; Katechismus der Katholischen Kirche, 2273.</ref>

Auch der Rückgriff auf empfängnisverhütende Mittel in ihren verschiedenen Formen ist abzulehnen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 51: AAS 58 (1966) 1072–1073; Paul VI., Enz. Humanae vitae, 14: AAS 60 (1968) 490–491; Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 32: AAS 74 (1982) 118–120; Katechismus der Katholischen Kirche, 2370; Pius XI., Enz. Casti connubii: AAS 22 (1930) 559–561.</ref> Diese Ablehnung basiert auf einem richtigen und umfassenden Verständnis der menschlichen Person und Sexualität<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Humanae vitae, 7: AAS 60 (1968) 485; Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 32: AAS 74 (1982) 118–120.</ref> und hat das Gewicht einer moralischen Forderung zur Verteidigung der wahren Entwicklung der Völker.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Humanae vitae, 17: AAS 60 (1968) 493–494.</ref> Dieselben anthropologischen Gründe rechtfertigen jedoch die Inanspruchnahme einer zeitweisen Abstinenz in den Perioden der weiblichen Fruchtbarkeit.<ref> Paul VI., Enz. Humanae vitae, 16: AAS 60 (1968) 491–492; Johannes Paul II., Aps Schr. Familiaris consortio, 32: AAS 74 (1982) 118–120; Katechismus der Katholischen Kirche, 2370.</ref> Die Empfängnisverhütung abzulehnen und auf natürliche Methoden der Geburtenregelung zurückzugreifen bedeutet, die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Eheleuten auf gegenseitigen Respekt und völlige Offenheit zu gründen, was sich auch auf die Verwirklichung einer menschlicheren Gesellschaftsordnung positiv auswirkt.

234 Die Entscheidung über den Zeitraum zwischen den Geburten und über die Zahl der zu zeugenden Kinder ist allein Sache der Eheleute. Dies ist ihr unveräußerliches Recht, das sie vor Gott und mit Rücksicht auf ihre Pflichten sich selbst, den schon geborenen Kindern, der Familie und der Gesellschaft gegenüber ausüben.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,50: AAS 58 (1966) 1070–1072; Katechismus der Katholischen Kirche, 2368; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 37: AAS 59 (1967) 275–276.</ref> Wenn öffentliche Autoritäten zum Zweck einer angemessenen Information und der Ergreifung geeigneter Maßnahmen auf dem demographischen Sektor in ihren Zuständigkeitsbereich eingreifen, so müssen sie dies im Respekt vor den Personen und vor der Freiheit der Paare tun: Auf keinen Fall dürfen sie ihnen ihre Entscheidung abnehmen,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2372.</ref> und ebenso wenig ist dies den verschiedenen in diesem Bereich tätigen Organisationen erlaubt.

Alle wirtschaftlichen Hilfsprogramme, die dazu bestimmt sind, Sterilisierungsoder Verhütungskampagnen oder die Vorbereitung solcher Kampagnen zu finanzieren, sind Angriffe auf die Würde der Person und der Familie und als solche moralisch verwerflich. Die Lösung der mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Fragen muss vielmehr im gleichzeitigen Respekt sowohl vor der Sexual- als auch vor der Sozialmoral erfolgen und eine größere und echte Solidarität fördern, um, angefangen bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen, dem Leben überall Würde zu geben.

235 Der Wunsch, Mutter oder Vater zu werden, beinhaltet kein „Recht auf das Kind“, wohingegen die Rechte des ungeborenen Lebens auf der Hand liegen: Ihm müssen mit der Beständigkeit einer auf der Ehe gegründeten Familie und der auf wechselseitiger Ergänzung beruhenden Vater-Mutter-Beziehung optimale Daseinsbedingungen garantiert werden.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2378.</ref> Die rasche Entwicklung der Forschung und ihrer technischen Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Reproduktion wirft neue und heikle Fragen auf, die die Gesellschaft und die Normen des menschlichen Zusammenlebens angehen.

Es muss betont werden, dass alle Fortpflanzungstechnologien – die Spende von Sperma oder Eizellen; die Leihmutterschaft; die heterologe künstliche Befruchtung – moralisch nicht zu akzeptieren sind, die die Verwendung der Gebärmutter oder der Geschlechtszellen anderer Personen als der betreffenden Ehepartner vorsehen und damit das Recht der Kinder verletzen, von Eltern geboren zu werden, die dies im biologischen und juristischen Sinne sind, oder die den Akt der Vereinigung von dem der Zeugung trennen, indem sie Labortechniken wie die homologe künstliche Besamung oder Befruchtung anwenden, sodass das Kind eher das Resultat eines technischen Vorgangs als die natürliche Frucht des menschlichen Akts der völligen und totalen Hingabe der Eheleute zu sein scheint.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Donum vitae, II, 2.3.5: AAS 80 (1988) 88–89. 92–94; Katechismus der Katholischen Kirche, 2376–2377.</ref> Wenn man darauf verzichtet, sich der verschiedenen Formen der so genannten unterstützten Fortpflanzung, die den ehelichen Akt ersetzt, zu bedienen, bedeutet dies, die ganzheitliche Würde der menschlichen Person – in den Eltern ebenso wie in den Kindern, die sie zeugen wollen – zu respektieren.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Donum vitae, II, 7: AAS 80 (1988) 95–96.</ref> Erlaubt sind dagegen diejenigen Mittel, die den ehelichen Akt oder das Erreichen seiner Ziele unterstützen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2375.</ref>

236 Eine Frage, die aufgrund ihrer zahlreichen und schwerwiegenden moralischen Folgen von besonderer sozialer und kultureller Bedeutung ist, betrifft das menschliche Klonen. Der Begriff an sich bedeutet allgemein gesprochen die Reproduktion einer biologischen Größe, die genetisch mit der Ursprungsgröße identisch ist. Im heutigen Sprachgebrauch und in der experimentellen Praxis bezeichnet er jedoch Vorgehensweisen, die sich in der Art ihrer technischen Durchführung und der damit verfolgten Ziele unterscheiden. Er kann die einfache Replikation von Zellen oder DNA-Teilen im Labor bezeichnen, doch versteht man unter Klonen heute insbesondere die durch nicht natürliche Befruchtungsmethoden herbeigeführte Reproduktion von Einzellebewesen im embryonalen Stadium, die mit dem Individuum, von dem sie abstammen, genetisch identisch sind. Diese Art des Klonens kann zur Reproduktion von menschlichen Embryonen oder zu so genannten therapeutischen Zwecken eingesetzt werden, wenn die genannten Embryonen in der wissenschaftlichen Forschung oder, genauer, für die Gewinnung von Stammzellen benutzt werden sollen. Vom ethischen Standpunkt aus betrachtet wirft die einfache Replikation normaler Zellen oder DNA-Teile keine besonderen ethischen Probleme auf. Ganz anders lautet dagegen das Urteil des Lehramts über das Klonen im eigentlichen Sinne. Es steht im Widerspruch zur Würde der menschlichen Fortpflanzung, weil es sich als agame und asexuelle Form der Reproduktion völlig außerhalb des Aktes der personalen Liebe zwischen den Eheleuten vollzieht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Päpstliche Akademie für das Leben (21. Februar 2004), 2: AAS 96 (2004) 418.</ref> Zweitens stellt es eine Form der totalen Herrschaft des Reproduzierenden über das reproduzierte Individuum dar.<ref> Vgl. Päpstliche Akademie für das Leben, Reflexionen über Klonierung: L’Osservatore Romano, 5. September 1997, S. 9–11; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, L’Eglise face au racisme. Contribution du Saint-Siège à la Conférence mondiale contre le Racisme, la Discrimination raciale, la Xénophobie et l’Intolérance qui y est associée (29. August 2001), 21, Tipografia Vaticana, Vatikanstadt 2001, S. 23.</ref> Die Tatsache, dass das Klonen durchgeführt wird, um Embryonen zu reproduzieren, aus denen Zellen zu therapeutischen Zwecken gewonnen werden sollen, kann die moralische Schwere nicht mindern, auch deshalb, weil für die Gewinnung solcher Zellen der Embryo zunächst produziert und dann vernichtet werden muss.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache auf dem 18. Internationalen Kongress der Transplantationsgesellschaft (29. August 2000), 8: AAS 92 (2000) 826.</ref>

237 Als Diener des Lebens dürfen die Eltern nie vergessen, dass die spirituelle Dimension der Fortpflanzung größere Berücksichtigung verdient als jeder andere Aspekt: „Die Elternschaft stellt eine Aufgabe nicht nur physischer, sondern geistlicher Natur dar; denn über sie verläuft die Genealogie der Person, die ihren ewigen Anfang in Gott hat und zu Ihm hinführen soll“.<ref> Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 10: AAS 86 (1994) 881.</ref> Indem sie das menschliche Leben als Einheit aus seiner leiblichen und seiner geistigen Dimension annehmen, tragen die Familien zur „Gemeinschaft der Generationen“ und damit wesentlich und unabdingbar zur Entwicklung der Gesellschaft bei. Aus diesem Grund hat die Familie „ein Recht auf Unterstützung durch die Gesellschaft bei der Geburt und Erziehung von Kindern. Jene Ehepaare, die eine große Familie haben, haben ein Recht auf angemessene Hilfe und sollten keiner Diskrimination ausgesetzt werden“.<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 3, c, Der Apostolische Stuhl 1983, 1601; in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“ (Art. 16.3); Allgemeine Erklärung derMenschenrechte, Frankfurt 1990, S. 42.</ref>

c) Die Aufgabe der Erziehung

238 In der Erziehung formt die Familie den Menschen und führt ihn in all seinen Dimensionen, einschließlich der sozialen, zur Fülle seiner Würde. Denn die Familie bildet „eine Gemeinschaft der Liebe und der Solidarität (…), die in einzigartiger Weise geeignet ist, kulturelle, ethische, soziale, geistige und religiöse Werte zu lehren und zu übermitteln, wie sie wesentlich sind für die Entwicklung und das Wohlergehen ihrer eigenen Mitglieder und der ganzen Gesellschaft“.<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Präambel, E, Der Apostolische Stuhl 1983, 1598.</ref> Indem sie ihren Erziehungsauftrag erfüllt, trägt die Familie zum Gemeinwohl bei und bildet die erste Schule der sozialen Tugenden, auf die alle Gesellschaften angewiesen sind.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Gravissimum educationis, 3: AAS 58 (1966) 731–732; Id., Pastoralkonst. Gaudium et spes, 52: AAS 58 (1966) 1073–1074; Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 37: AAS 74 (1982) 127–129; Katechismus der Katholischen Kirche, 1653. 2228.</ref> Die Familie hilft den Personen, in der Freiheit und in der Verantwortung zu wachsen, was für die Übernahme aller Arten von Aufgaben in der Gesellschaft die unverzichtbare Voraussetzung ist. In der Erziehung werden ihnen überdies Werte zur Aneignung vermittelt, die für jeden freien, ehrbaren und verantwortungsbewussten Bürger grundlegend sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 43: AAS 74 (1982) 134–135.</ref>

239 Die Familie spielt für die Erziehung der Kinder eine ursprüngliche und unersetzliche Rolle.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Gravissimum educationis, 3: AAS 58 (1966) 731–732; Id., Pastoralkonst. Gaudium et spes, 61: AAS 58 (1966) 1081–1082; Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 5, Der Apostolische Stuhl 1983,1602; Katechismus der Katholischen Kirche, 2223. Der Kodex des Kanonischen Rechts widmet diesem Recht und dieser Pflicht der Eltern die Kanones 793–799 und den Kanon 1136.</ref> Die Liebe der Eltern, die sich in den Dienst ihrer Kinder stellen, weil sie ihnen dabei helfen wollen, das Beste aus sich zu machen, findet gerade in der erzieherischen Aufgabe ihre volle Verwirklichung: „Die Liebe der Eltern bleibt nicht nur Quelle, sie wird die Seele und somit die Norm, die das gesamte konkrete erzieherische Wirken prägt und leitet und mit jenen Werten wie Verständnis, Beständigkeit, Güte, Dienen, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft bereichert, die die kostbarsten Früchte der Liebe sind“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 36: AAS 74 (1982) 127.</ref>

Das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, „sind als wesentlich zu bezeichnen, da sie mit der Weitergabe des menschlichen Lebens verbunden sind; als unabgeleitet und ursprünglich, verglichen mit der Erziehungsaufgabe anderer, aufgrund der Einzigartigkeit der Beziehung, die zwischen Eltern und Kindern besteht; als unersetzlich und unveräußerlich, weshalb sie anderen nicht völlig übertragen noch von anderen in Beschlag genommen werden können“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 36: AAS 74 (1982) 126; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2221.</ref> Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, ihren Kindern eine religiöse Erziehung und eine moralische Bildung zuteil werden zu lassen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 5: AAS 58 (1966) 933; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1994, 5: AAS 86 (1994) 159–160.</ref> ein Recht, das ihnen der Staat nicht nehmen kann, sondern respektieren und stärken muss; eine vorrangige Pflicht, die die Familie nicht vernachlässigen oder an andere abtreten darf.

240 Die Eltern sind die ersten, aber nicht die einzigen Erzieher ihrer Kinder. Es ist daher an ihnen, ihre erzieherische Aufgabe verantwortungsbewusst und in enger und wachsamer Zusammenarbeit mit den zivilen und kirchlichen Organisationen wahrzunehmen: „Die soziale Dimension des Menschen, zivil und kirchlich gesehen, verlangt und bedingt von sich aus ein umfassenderes, gegliedertes Werk als Ergebnis der geordneten Zusammenarbeit verschiedener Erziehungsinstanzen. Diese Instanzen sind alle notwendig, wenn auch jede einzelne nach der jeweiligen Kompetenz ihren speziellen Beitrag leisten kann und muss“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 40: AAS 74 (1982) 131.</ref> Die Eltern haben das Recht, diejenigen Bildungsinstrumente auszuwählen, die ihren eigenen Überzeugungen entsprechen, und die Mittel zu suchen, die ihnen bei ihrer Aufgabe als Erzieher auch im spirituellen und religiösen Bereich helfen. Die öffentlichen Autoritäten haben die Pflicht, dieses Recht zu garantieren und die konkreten Bedingungen zu schaffen, die seine Ausübung ermöglichen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Gravissimum educationis, 6: AAS 58 (1966) 733–734; Katechismus der Katholischen Kirche, 2229.</ref> In diesem Zusammenhang ist vor allem auch das Thema der Zusammenarbeit zwischen den Familien und den schulischen Einrichtungen zu erwähnen.

241 Die Eltern haben das Recht, Erziehungseinrichtungen zu gründen und zu unterstützen. Die öffentlichen Autoritäten müssen dafür sorgen, dass „die staatlichen Unterstützungen so zugeteilt werden, dass die Eltern dieses Recht wirklich frei ausüben können, ohne ungerechtfertigte Lasten tragen zu müssen. Es dürfte nicht sein, dass Eltern direkt oder indirekt Sonderlasten tragen müssen, die die Ausübung dieser Freiheit unmöglich machen oder in ungerechter Weise einschränken würden“.<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 5, b, Der Apostolische Stuhl 1983, 1602; vgl. auch II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 5: AAS 58 (1966) 933.</ref> Es ist als Unrecht anzusehen, wenn nichtstaatlichen Schulen, die der Zivilgesellschaft einen Dienst leisten, die öffentliche wirtschaftliche Unterstützung verweigert wird, auf die sie angewiesen sind: „Wenn der Staat das Erziehungsmonopol beansprucht, so überschreitet er seine Rechte und verletzt die Gerechtigkeit. (…) Der Staat kann sich nicht ohne Ungerechtigkeit damit begnügen, die so genannten Privatschulen nur zu tolerieren. Diese leisten einen öffentlichen Dienst und haben folglich das Recht, auch finanziell unterstützt zu werden“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 94: AAS 79 (1987) 595–596.</ref>

242 Es liegt in der Verantwortung der Familie, eine umfassende Erziehung anzubieten. Jede echte Erziehung muss „die Bildung der menschlichen Person in Hinordnung auf ihr letztes Ziel, zugleich aber auch auf das Wohl der Gemeinschaften, deren Glied der Mensch ist und an deren Aufgaben er als Erwachsener einmal Anteil erhalten soll“ anstreben.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Gravissimum educationis, 1: AAS 58 (1966) 729.</ref> Eine umfassende Erziehung ist dann gewährleistet, wenn die Kinder – durch das lebendige Beispiel und durch das Wort – zum Dialog, zur Begegnung, zur Gesellschaftlichkeit, zur Gesetzestreue, zur Solidarität und zum Frieden hingeführt werden, indem sie lernen, die grundlegenden Tugenden der Gerechtigkeit und der Liebe zu üben.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 43: AAS 74 (1982) 134–135.</ref>

Bei der Erziehung der Kinder sind Vater- und Mutterrolle gleichermaßen wichtig.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,52: AAS 58 (1966) 1073–1074.</ref> Die Eltern müssen folglich zusammenarbeiten. Sie sollen ihre Autorität respektvoll und feinfühlig, aber auch mit Festigkeit und Stärke ausüben: Sie muss glaubwürdig, konsequent, klug und immer auf das Gesamtwohl der Kinder ausgerichtet sein.

243 Die Eltern tragen ferner eine besondere Verantwortung im Bereich der Sexualerziehung. Für eine ausgewogene Entwicklung ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass die Kinder nach und nach in geordneter Weise die Bedeutung der Sexualität kennen und die mit ihr verbundenen menschlichen und moralischen Werte schätzen lernen: „Aufgrund der engen Verbindungen zwischen der geschlechtlichen Dimension der Person und ihren ethischen Werten muss die Erziehung die Kinder dazu führen, die sittlichen Normen als notwendige und wertvolle Garantie für ein verantwortliches persönliches Wachsen in der menschlichen Geschlechtlichkeit zu erkennen und zu schätzen“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 37: AAS 74 (1982) 128; vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Orientierungshilfen für die Erziehung in der Familie (8. Dezember 1995), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 127.</ref> Die Eltern sollten die Methoden der Sexualerziehung in den Erziehungseinrichtungen überprüfen, um zu kontrollieren, ob ein so wichtiges und heikles Thema in angemessener Weise behandelt wird.

d) Würde und Rechte der Kinder

244 Die kirchliche Soziallehre weist immer wieder auf die Notwendigkeit hin, die Würde der Kinder zu achten: „In der Familie als einer Gemeinschaft von Personen muss dem Kind ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, in tiefem Gespür für seine personale Würde, in großer Achtung und selbstlosem Dienst für seine Rechte. Das gilt für jedes Kind, gewinnt aber eine besondere Dringlichkeit, wenn das Kind noch klein und hilflos ist, krank, leidend oder behindert“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 26: AAS 74 (1982) 111–112.</ref>

Die Rechte der Kinder müssen von der Rechtsordnung geschützt werden. Es ist vor allen Dingen unerlässlich, dass der gesellschaftliche Wert der Kindheit in allen Ländern öffentlich anerkannt wird: „Kein Land der Welt, kein politisches System kann anders an seine eigene Zukunft denken als nur mit dem Blick auf diese neuen Generationen, die von ihren Eltern das vielfältige Erbe an Werten, Verpflichtungen und Hoffnungen der Nation, zu der sie gehören, zusammen mit dem Erbe der gesamten Menschheitsfamilie übernehmen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen (2. Oktober 1979), 21: AAS 71 (1979) 1159; vgl. auch Id., Botschaft an den UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar anlässlich des Welt-Gipfeltreffens zum Schutz der Kinder (22. September 1990): AAS 83 (1991) 358–361.</ref> Das erste Recht des Kindes ist das Recht darauf, „in einer wahren Familie geboren zu werden“,<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor dem Komitee der europäischen Journalisten für die Rechte des Kindes (13. Januar 1979): AAS 71 (1979) 360.</ref> ein Recht, dessen Beachtung immer problematisch gewesen ist und dessen Verletzungen heute infolge der Entwicklung der Gentechnologien neue Formen annehmen.

245 Die Situation eines großen Teils der Kinder auf der Welt ist alles andere als zufrieden stellend, weil es an Voraussetzungen fehlt, die ihre umfassende Entwicklung begünstigen, obwohl mittlerweile ein eigenes internationales Rechtsinstrument zum Schutz der Rechte des Kindes existiert,<ref> Vgl. die 1990 in Kraft getretene und auch vom Heiligen Stuhl mit unterzeichnete Konvention über die Rechte des Kindes.</ref> das für fast alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verbindlich ist. Es geht um Bedingungen im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es an medizinischer Versorgung, angemessener Ernährung, einem Mindestangebot an schulischer Bildung und an einem Zuhause fehlt. Zudem sind einige äußerst schwerwiegende Probleme nach wie vor ungelöst: Kinderhandel, Kinderarbeit, das Phänomen der „Straßenkinder“, der Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten, die Verheiratung von Kindern, der Missbrauch von Kindern für den auch mit den modernsten sozialen Kommunikationsmitteln betriebenen Handel mit pornographischem Material. Es ist unerlässlich, auf nationaler wie internationaler Ebene gegen die Verletzung der Würde von Jungen und Mädchen zu kämpfen, die durch sexuelle Ausbeutung, durch Personen mit pädophilen Neigungen und durch alle Arten von Gewalt verursacht werden, die diese schutzbedürftigsten menschlichen Personen erleiden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1996,2–6:AAS 88 (1996) 104–107.</ref> Es handelt sich um Straftaten, die wirkungsvoll und mit geeigneten vorbeugenden sowie strafrechtlichen Maßnahmen durch ein entschlossenes Handeln der verschiedenen Autoritäten bekämpft werden müssen.

IV. DIE FAMILIE ALS GESTALTENDE KRAFT DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS

a) Familiäre Solidarität

246 Der soziale Subjektcharakter sowohl der einzelnen als auch der miteinander verbundenen Familien drückt sich außerdem in Bekundungen der Solidarität und des Miteinanders nicht nur unter den Familien selbst, sondern auch auf den unterschiedlichen Wegen der Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Leben aus. Es handelt sich hierbei um die Konsequenz aus der auf Liebe gegründeten familiären Wirklichkeit: Die Solidarität geht aus der Liebe hervor und wächst in der Liebe, und deshalb gehört sie wesentlich und strukturell zur Familie dazu.

Diese Solidarität kann sich im Dienst und in Zuwendung denjenigen gegenüber äußern, die in Armut und Bedürftigkeit leben, Waisen, Behinderte, Kranke, Alte, Menschen, die kämpfen, zweifeln, einsam oder verlassen sind; es ist eine Solidarität, die sich der Aufnahme, Pflegschaft oder Adoption öffnet; die sich bei den Institutionen zum Sprachrohr jeglichen Missstands macht, damit diese ihrer jeweiligen Zielsetzung entsprechend eingreifen.

247 Weit davon entfernt, nur Objekt des politischen Handelns zu sein, können und müssen die Familien zum Subjekt dieser Tätigkeit werden, indem sie sich dafür einsetzen, dass „die Gesetze und Einrichtungen des Staates die Rechte und Pflichten der Familie nicht nur nicht beeinträchtigen, sondern positiv stützen und verteidigen. In diesem Sinne sollen die Familien sich dessen immer mehr bewusst werden, dass in erster Linie sie selbst im Bereich der so genannten »Familienpolitik« die Initiative ergreifen müssen; sie sollen die Verantwortung für die Veränderung der Gesellschaft übernehmen“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 44: AAS 74 (1982) 136; vgl. Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 9, Der Apostolische Stuhl 1983, 1604–1605.</ref> Zu diesem Zweck müssen die Familien darin bestärkt werden, sich zusammenzuschließen: „Familien haben das Recht, Vereinigungen mit anderen Familien und Institutionen zu bilden, um die Aufgaben der Familie in geeigneter und wirksamer Weise zu erfüllen sowie ihre Rechte zu schützen, ihr Wohlergehen zu fördern und ihre Interessen zu vertreten. Auf wirtschaftlichem, sozialem, juristischem und kulturellem Gebiet muss die rechtmäßige Rolle der Familien und Familienverbände für die Planung und Entwicklung von Programmen, die das Familienleben berühren, anerkannt werden“.<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 8, a-b, Der Apostolische Stuhl 1983, 1604.</ref>

b) Familie, Wirtschaftsleben und Arbeit

248 Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung zwischen der Familie und dem Wirtschaftsleben. Einerseits nämlich ist die „Öko-nomie“ aus der häuslichen Arbeit hervorgegangen: Das Haus ist lange Zeit Grundlage der Produktion und Zentrum des Lebens gewesen und ist es vielerorts noch heute. Andererseits entfaltet sich die Dynamik des wirtschaftlichen Lebens durch die Initiative der Personen und setzt sich in konzentrischen Kreisen und in immer größeren Netzen der Produktion und des Austauschs von Gütern und Dienstleistungen fort, die in zunehmendem Maße auch die Familie betreffen. Die Familie kann also mit gutem Recht als eine gestaltende Kraft des gesellschaftlichen Lebens betrachtet werden, die nicht von der Logik des Markts, sondern von der Logik des Teilens und der Solidarität zwischen den Generationen gelenkt wird.

249 Ein ganz besonderes Verhältnis besteht zwischen der Familie und der Arbeit: „Die Familie [bildet] einen der wichtigsten Bezugspunkte für den rechten Aufbau einer sozial-ethischen Ordnung der menschlichen Arbeit“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 601.</ref> Dieses Verhältnis wurzelt in der Beziehung zwischen der Person und ihrem Recht, die Frucht ihrer eigenen Arbeit zu besitzen, und sie betrifft den Einzelnen nicht nur als Individuum, sondern auch als Mitglied einer als „häusliche Gemeinschaft“<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 104.</ref> verstandenen Familie.

Die Arbeit ist wesentlich, weil sie die Voraussetzung für die Gründung einer Familie ist, deren Lebensunterhalt durch die Arbeit erworben wird. Die Arbeit prägt auch den Entwicklungsprozess der Personen, denn eine Familie, die von Arbeitslosigkeit betroffen ist, läuft Gefahr, ihre Bestimmung nicht voll und ganz zu verwirklichen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 600–602.</ref>

Der Beitrag, den die Familie zur Arbeitswirklichkeit leisten kann, ist kostbar und in vielerlei Hinsicht unersetzlich. Es handelt sich um einen Beitrag, der sich sowohl in wirtschaftlichen Begriffen als auch in dem großen Vorrat an Solidarität fassen lässt, über den die Familie verfügt und der eine wichtige Unterstützung für diejenigen ihrer Mitglieder darstellen, die keine Arbeit haben oder nach einer Beschäftigung suchen. Grundsätzlich wird dieser Beitrag vor allem durch eine Erziehung geleistet, die den Wert der Arbeit deutlich macht und angesichts beruflicher Entscheidungen Orientierung und Hilfe bietet.

250 Um dieses Verhältnis zwischen Familie und Arbeit zu bewahren, muss der Familienlohn, das heißt ein Lohn, der ausreicht, um der Familie ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, berücksichtigt und geschützt werden.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 200; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 67: AAS 58 (1966) 1088–1089; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> Dieser Lohn muss die Bildung von Ersparnissen ermöglichen, die den Erwerb von Eigentum erlauben und damit Freiheit garantieren: Das Recht auf Eigentum ist eng mit der Existenz der Familien verbunden, die sich auch dank ihrer Ersparnisse und der Bildung von Familieneigentum vor der Bedürftigkeit schützen können.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 105; Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 193–194.</ref> Es gibt vielfältige Möglichkeiten, den Familienlohn konkret werden zu lassen. Zu seinem Zustandekommen tragen einige wichtige gesellschaftliche Maßnahmen bei wie etwa das Kindergeld und andere Leistungen für Personen, die eine Familie zu ernähren haben, oder auch die Vergütung der von Vater oder Mutter geleisteten häuslichen Arbeit.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629; Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 10, a, Der Apostolische Stuhl 1983, 1605.</ref>

251 Im Verhältnis von Familie und Arbeit verdient die Arbeit der Frau in der Familie, die so genannte Pflegearbeit, die auch einen Appell an die Verantwortung des Mannes als Ehepartner und Vater darstellt, besondere Aufmerksamkeit. Die Pflegearbeit, angefangen bei der mütterlichen Pflege, stellt, gerade weil sie dem Dienst an der Lebensqualität gewidmet und auf diesen ausgerichtet ist, eine Tätigkeit dar, die in herausragender Weise persönlich und persönlichkeitsbildend ist. Sie muss sozial entsprechend anerkannt und aufgewertet werden,<ref> Vgl. Pius XII., Ansprache an die Frauen über die Würde und Sendung der Frau (21. Oktober 1945): AAS 37 (1945) 284–295; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS73 (1981) 625–629; Id., Ap. Schr. Familiaris consortio, 23: AAS 74 (1982) 107–109; Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 10, b, Der Apostolische Stuhl 1983, 1605.</ref> womöglich durch eine wirtschaftliche Vergütung ähnlich derjenigen, die auch für andere Arbeiten geleistet wird.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane, 17: AAS 86 (1994) 903–906.</ref>

Gleichzeitig muss alles beseitigt werden, was die Eheleute daran hindert, ihre Verantwortung für die Fortpflanzung in Freiheit wahrzunehmen, und insbesondere alles, was die Frau davon abhält, ihr Muttersein voll und ganz zu entfalten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629; Id., Ap. Schr. Familiaris consortio, 23: AAS 74 (1982) 107–109.</ref>

V. DIE GESELLSCHAFT IM DIENST DER FAMILIE

252 Der Ausgangspunkt für ein richtiges und konstruktives Verhältnis zwischen Familie und Gesellschaft ist die Anerkennung des Subjektcharakters und der sozialen Vorrangstellung der Familie. Ihre innere Zuordnung macht es erforderlich, „dass die Gesellschaft stets ihrem grundlegenden Auftrag nachkommt, ihrerseits die Familie zu achten und zu fördern“.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 45: AAS 74 (1982) 136.</ref> Die Gesellschaft und insbesondere die staatlichen Einrichtungen – die den Vorrang und die „Ursprünglichkeit“ der Familie zu respektieren haben – sind dazu aufgerufen, die ureigene Identität des Familienlebens zu gewährleisten und zu begünstigen und alles das zu unterbinden und zu bekämpfen, was diese verzerrt und verletzt. Das setzt voraus, dass das politische und gesetzgeberische Handeln die Werte der Familie bewahrt: angefangen bei der Stärkung des vertrauten Zusammenlebens innerhalb der Familie bis hin zum Respekt vor dem ungeborenen Leben und zur wirklichen Wahlfreiheit hinsichtlich der Erziehung der Kinder. Die Gesellschaft und der Staat dürfen daher die soziale Dimension der Familie selbst weder aufsaugen noch ersetzen noch schmälern; vielmehr müssen sie sie gemäß dem Subsidiaritätsprinzip ehren, anerkennen, respektieren und stärken.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2211.</ref>

253 Der Dienst der Gesellschaft an der Familie konkretisiert sich in der Anerkennung, Achtung und Stärkung der Rechte der Familie.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 46: AAS 74 (1982) 137–139.</ref> All das erfordert die Umsetzung einer echten und wirkungsvollen Familienpolitik mit präzisen Maßnahmen, die geeignet sind, den aus den Rechten der Familie als solcher abgeleiteten Forderungen zu begegnen. In diesem Zusammenhang muss als wesentliche und unverzichtbare Vorbedingung die Identität der Familie als einer auf der Ehe gegründeten natürlichen Gemeinschaft anerkannt – das heißt geschützt, angemessen bewertet und gestärkt – werden. Diese Anerkennung zieht eine klare Demarkationslinie zwischen der Familie im eigentlichen Sinne und den anderen Formen des Zusammenlebens, die – aufgrund ihrer Natur – weder den Namen noch den Status der Familie für sich in Anspruch nehmen können.

254 Wenn die zivilen Einrichtungen und der Staat den Vorrang der Familie vor jeder anderen Gemeinschaft und vor der Realität des Staates selbst anerkennen, hat dies die Überwindung rein individualistischer Betrachtungsweisen sowie die Akzeptanz der familiären Dimension als einer im Hinblick auf die Person unverzichtbaren kulturellen und politischen Perspektive zur Folge. Dies ist nicht als eine Alternative, sondern als Unterstützung und Schutz der Rechte zu verstehen, die die Personen als einzelne besitzen. Diese Sichtweise ermöglicht die Ausarbeitung normativer Kriterien für eine angemessene Lösung der verschiedenen gesellschaftlichen Probleme, da die Personen nicht nur einzeln betrachtet werden dürfen, sondern auch in ihrer Beziehung zu den Kernfamilien zu sehen sind, denen sie angehören und deren besondere Werte und Ansprüche berücksichtigt werden müssen.

SECHSTES KAPITEL: DIE MENSCHLICHE ARBEIT

I. BIBLISCHE ASPEKTE

a) Die Aufgabe, die Erde zu bebauen und zu hüten===) Das Verhältnis zwischen Arbeit und Privateigentum

255 Das Alte Testament verweist auf Gott als den allmächtigen Schöpfer (vgl. Gen 2, 2; Ijob 38–41; Ps 104; Ps 147), der den Menschen nach seinem Bild formt, ihn auffordert, den Boden zu bearbeiten (vgl. Gen 2,5–6) und den Garten Eden, in den er ihn gestellt hat, zu hüten (vgl. Gen 2, 15). Dem ersten Menschenpaar vertraut Gott die Aufgabe an, sich die Erde zu unterwerfen und über alle Lebewesen zu herrschen (vgl. Gen 1, 28). Die Herrschaft des Menschen über die anderen Lebewesen darf jedoch nicht despotisch oder gegen die Vernunft sein; er muss im Gegenteil die von Gott geschaffenen Güter bebauen und hüten (vgl. Gen 2, 15): Güter, die der Mensch nicht geschaffen, sondern als kostbares Geschenk erhalten hat, das der Schöpfer in seine Verantwortung legt. Die Erde bebauen heißt nicht, sie sich selbst zu überlassen; sie zu beherrschen heißt, für sie zu sorgen, so wie ein weiser König für sein Volk oder ein Hirt für seine Herde sorgt.

Im Plan des Schöpfers sind die geschaffenen Dinge, die in sich gut sind, für den Menschen da. Das Staunen über das Geheimnis der Größe des Menschen lässt den Psalmisten ausrufen: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt“ (Ps 8, 5–7).

256 Die Arbeit gehört schon vor dem Sündenfall zur ursprünglichen Situation des Menschen; deshalb ist sie weder Strafe noch Fluch. Sie wird Mühe und Last aufgrund der Sünde Adams und Evas, die ihre vertrauensvolle und harmonische Beziehung zu Gott abbrechen (vgl. Gen 3, 6–8). Das Verbot, „vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (Gen 2, 17) zu essen, erinnert den Menschen daran, dass er alles zum Geschenk erhalten hat und auch weiterhin ein Geschöpf und nicht der Schöpfer ist. Genau diese Versuchung war es, die Adam und Eva sündigen ließ: „Ihr werdet wie Gott“ (Gen 3, 5). Sie wollten die absolute Herrschaft über alles, ohne sich dem Willen des Schöpfers zu unterwerfen. Seither ist der Boden karg, undankbar, von einer unterschwelligen Feindseligkeit (vgl. Gen 4, 12); nur im Schweiße seines Angesichts wird man seine Nahrung aus ihm gewinnen können (vgl. Gen 3, 17.19). Trotz der Sünde der Stammeltern bleibt jedoch der Plan des Schöpfers, der Daseinszweck seiner Geschöpfe und des Menschen unverändert: Er ist dazu berufen, das Geschaffene zu bebauen und zu hüten.

257 Die Arbeit muss geehrt werden, denn sie ist eine Quelle des Reichtums oder zumindest angemessener Lebensbedingungen und, allgemein gesprochen, ein wirkungsvolles Mittel gegen die Armut (vgl. Spr 10, 4). Dennoch darf man der Versuchung, sie zum Götzen zu machen, nicht nachgeben, denn den letzten und endgültigen Sinn des Lebens wird man in ihr nicht finden. Die Arbeit ist von wesentlicher Bedeutung, doch Gott, nicht die Arbeit, ist die Quelle des Lebens und das Ziel des Menschen. Das grundlegende Prinzip der Weisheit ist die Furcht des Herrn; die Forderung der Gerechtigkeit, die sich daraus ergibt, steht über der des Gewinns: „Besser wenig in Gottesfurcht als reiche Schätze und keine Ruhe“ (Spr 15, 16); „Besser wenig und gerecht als viel Besitz und Unrecht“ (Spr 16, 8).

258 Gipfel der biblischen Lehre über die Arbeit ist das Gebot der Sabbatruhe. Dem Menschen, der an die Notwendigkeit der Arbeit gebunden ist, eröffnet die Ruhe die Möglichkeit einer umfassenderen Freiheit: der des ewigen Sabbats (vgl. Hebr 4, 9–10). Die Ruhe erlaubt es den Menschen, der Werke Gottes von der Schöpfung bis zur Erlösung zu gedenken und sie neu zu erfahren, sich selbst als sein Werk zu erkennen (vgl. Eph 2, 10) und ihm, dem Urheber all dessen, für das eigene Leben und den eigenen Unterhalt zu danken.

Das Gedenken und die Erfahrung des Sabbats bilden ein Bollwerk gegen eine freiwillige oder erzwungene Versklavung durch die Arbeit und gegen jegliche Form der heimlichen oder offenen Ausbeutung. Die Sabbatruhe ist nämlich nicht nur eingerichtet worden, um die Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen, sondern auch zum Schutz der Armen; ihre Funktion besteht auch in der Befreiung von den antisozialen Entartungen der Arbeit. Denn diese Ruhezeit, die auch ein ganzes Jahr dauern kann, sieht außerdem eine Enteignung von den Früchten der Erde zugunsten der Armen und die Aussetzung der Eigentumsrechte der Grundbesitzer vor: „Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten sollst du es brachliegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen. Das gleiche sollst du mit deinem Weinberg und deinen Ölbäumen tun“ (Ex 23, 10–11). Dieser Brauch entspricht einer tiefen Ahnung: Die Anhäufung von Gütern durch die einen kann dazu führen, dass diese Güter anderen vorenthalten werden.

b) Jesus als Mann der Arbeit

259 Jesus lehrt in seiner Verkündigung, die Arbeit zu schätzen. Er selbst, der uns „in allem gleich geworden ist, [hat] den größten Teil seiner irdischen Lebensjahre der körperlichen Arbeit in der Werkstatt eines Zimmermanns gewidmet“<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 6: AAS 73 (1981) 591.</ref> – der Werkstatt Josefs (vgl. Mt 13, 55; Mk 6, 3), dem er gehorsam war (vgl. Lk 2,51). Jesus verurteilt das Verhalten des faulen Dieners, der sein Talent in der Erde vergräbt (vgl. Mt 25, 14–30), und lobt den tüchtigen und treuen Diener, der, wie sein Herr feststellen darf, bemüht ist, den ihm anvertrauten Auftrag zu erfüllen (vgl. Mt 24, 46). Seine eigene Sendung beschreibt er als eine Werktätigkeit: „Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk“(Joh 5, 17), und seine Jünger als Arbeiter in der Ernte des Herrn, der Menschheit, der das Evangelium verkündet werden soll (vgl. Mt 9, 37–38). Für diese Arbeiter gilt der allgemeine Grundsatz: „Wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn“ (Lk 10, 7); sie sind dazu befugt, in den Häusern, in denen man sie aufnimmt, zu verweilen und zu essen und zu trinken, was ihnen angeboten wird (vgl. ibidem).

260 Jesus lehrt die Menschen in seiner Verkündigung, sich nicht von der Arbeit versklaven zu lassen. Sie müssen sich vor allem anderen um ihre Seele kümmern; das Ziel ihres Lebens besteht nicht darin, die ganze Welt zu gewinnen (vgl. Mk 8, 36). Die Schätze der Erde vergehen, während die Schätze des Himmels unvergänglich sind: An diese soll man sein Herz hängen (vgl. Mt 6, 19–21). Die Arbeit darf nicht zur Sorge werden (vgl. Mt 6, 25.31.34): Der viel beschäftigte und umtriebige Mensch läuft Gefahr, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und damit das, was er eigentlich braucht, zu vernachlässigen (vgl. Mt 6, 33); alles Übrige einschließlich der Arbeit findet seinen Platz, seinen Sinn und seinen Wert nur dann, wenn es auf jenes einzig Notwendige ausgerichtet ist, das dem Menschen nicht genommen werden wird (vgl. Lk 10, 40–42).

261 Während seines Erdenlebens arbeitet Jesus unermüdlich und vollbringt machtvolle Taten, um den Menschen von Krankheit, Leid und Tod zu befreien. Der Sabbat, den das Alte Testament als Tag der Befreiung vorgesehen hatte und der nur noch in einer formalen, sinnentleerten Weise begangen wurde, wird von Jesus in seiner ursprünglichen Bedeutung wiederhergestellt: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2, 27). Mit den an diesem Ruhetag vollbrachten Heilungen (vgl. Mt 12, 9–14; Mk 3, 1–6; Lk 6, 6–11; 13, 10–17; 14, 1–6) will er deutlich machen, dass er wahrhaftig der Sohn Gottes und damit Herr über den Sabbat ist und dass der Sabbat der Tag ist, an dem man sich Zeit für Gott und für die anderen nehmen soll. Vom Bösen zu befreien und ein brüderliches Miteinander zu praktizieren heißt, der Arbeit ihre vornehmste Bedeutung zu geben: jene Bedeutung, die die Menschheit dem ewigen Sabbat entgegenführt, wo die Ruhe zu jenem Fest wird, nach dem sich der Mensch in seinem Innersten sehnt. Gerade dadurch, dass sie den Menschen dazu bringt, den Sabbat Gottes und seine lebendige Mahlgemeinschaft zu erfahren, stellt die Arbeit den Beginn der neuen Schöpfung auf Erden dar.

262 Die menschliche Tätigkeit der Bereicherung und Umgestaltung des Universums kann und soll die darin verborgene Vollkommenheit zutage fördern, die im ungeschaffenen Wort ihren Anfang und ihr Vorbild hat. Die paulinischen und johanneischen Schriften lassen die trinitarische Dimension der Schöpfung und insbesondere die Beziehung zwischen dem Sohn-Wort, dem „Logos“,und der Schöpfung deutlich werden (vgl. Joh 1, 3; 1 Kor 8, 6; Kol 1, 15–17). Von ihm und durch ihn geschaffen und von ihm erlöst, ist das Universum keine zufällige Anhäufung, sondern ein „Kosmos“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 1: AAS 71 (1979) 257.</ref> dessen Ordnung der Mensch entdecken, befolgen und zur Vollendung führen soll: „In Jesus Christus erhält die sichtbare Welt, die von Gott für den Menschen geschaffen ist – jene Welt, die mit der Sünde »der Vergänglichkeit unterworfen« wurde (Röm 8, 20; vgl. ibid., 8, 19–22) – erneut ihre ursprüngliche Verbindung mit eben dieser göttlichen Quelle der Weisheit und Liebe zurück“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 8: AAS 71 (1979) 270.</ref> Auf diese Weise wird die menschliche Arbeit, indem sie „den unergründlichen Reichtum Christi“ (Eph 3, 8) in der Schöpfung immer mehr ans Licht bringt, zu einem Dienst an der Größe Gottes.

263 Die Arbeit ist eine grundlegende Dimension des menschlichen Daseins, weil sie den Menschen nicht nur am Werk der Schöpfung, sondern auch am Werk der Erlösung beteiligt. Wer die Mühe und Anstrengung der Arbeit auf sich nimmt und sich darin mit Jesus vereint, wirkt in gewisser Hinsicht gemeinsam mit dem Sohn Gottes an seinem Erlösungswerk mit und erweist sich als Jünger Christi, indem er jeden Tag in der Tätigkeit, zu der er berufen ist, sein Kreuz auf sich nimmt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Arbeit als ein Mittel der Heiligung und als eine Beseelung der irdischen Wirklichkeiten mit dem Geist Christi betrachten.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2427; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 27: AAS 73 (1981) 644–647.</ref> So gesehen drückt sich in der Arbeit die Fülle der Menschlichkeit des Menschen in ihrer historischen Bedingtheit ebenso wie in ihrer eschatologischen Ausrichtung aus: In seinem freien und verantwortungsbewussten Handeln werden seine innige Beziehung zum Schöpfer und sein kreatives Potential offenbar, während er Tag für Tag gegen die Entstellungen der Sünde kämpft und im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdient.

c) Die Pflicht zu arbeiten

264 Das Wissen um die Vergänglichkeit der „Gestalt dieser Welt“ (1 Kor 7, 31) befreit von keiner historischen Pflicht und schon gar nicht von der Arbeit (vgl. 2 Thess 3, 7–15), die zwar nicht der einzige Daseinsgrund, aber doch ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins ist. Kein Christ darf sich aufgrund der Tatsache, dass er einer solidarischen und brüderlichen Gemeinschaft angehört, dazu berechtigt fühlen, nicht zu arbeiten und auf Kosten der anderen zu leben (vgl. 2 Thess 3, 6–12); vielmehr sind alle vom Apostel Paulus dazu aufgerufen, dass sie „ihre Ehre“ dareinsetzen, mit den eigenen „Händen zu arbeiten“, um „auf niemand angewiesen“ zu sein (1 Thess 4, 11–12), und eine auch materielle Solidarität zu üben, indem sie die Früchte der Arbeit mit „den Notleidenden“ teilen (Eph 4, 28). Der heilige Jakobus verteidigt die Rechte der Arbeiter, die mit Füßen getreten werden: „Der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere“ (Jak 5, 4). Die Gläubigen sollen die Arbeit im Stil Christi verrichten und als eine Chance nutzen, „vor denen, die nicht zu euch gehören“ Zeugnis abzulegen (1 Thess 4, 12).

265 Die Kirchenväter betrachten die Arbeit nie als „opus servile“ – als solche galt sie in der Kultur ihrer Zeit –, sondern stets als „opus humanum“ und sind bestrebt, sie in all ihren Formen zu ehren. Gemeinsam mit Gott lenkt der Mensch durch die Arbeit die Geschicke der Welt, ist Herr über sie und tut Gutes für sich und die anderen. Die Trägheit schadet dem Sein des Menschen, während die Tätigkeit seinen Körper und seinen Geist stärkt.<ref> Vgl. Johannes Chrysostomus, Acta Apostolorum Homiliae 35, 3: PG 60, 258.</ref> Der Christ ist nicht nur zum Arbeiten aufgerufen, um sich sein Brot zu verdienen, sondern auch, um für den Nächsten zu sorgen, der ärmer ist als er und dem er nach dem Gebot des Herrn zu essen, zu trinken, Kleidung, Obdach, Pflege und Gesellschaft gewähren soll (vgl. Mt 25, 35–36).<ref> Vgl. Basilius der Große, Regulae fusius tractatae, 42: PG 31, 1023–1027; Athanasius von Alexandrien, Vita S. Antonii, c. 3: PG 26, 846.</ref> Jeder Arbeiter, so der heilige Ambrosius, ist die Hand Christi, die seine Schöpfung und seine guten Werke fortsetzt.<ref> Vgl. Ambrosius, De obitu Valentiniani consolatio, 62: PL 16, 1438.</ref>

266 Mit seiner Arbeit und seinem Fleiß hat der Mensch Anteil an der göttlichen Kunst und Weisheit, verschönert die Schöpfung und den Kosmos, den der Vater geordnet hat,<ref> Vgl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, 5, 32, 2: PG 7, 1210–1211.</ref> und weckt jene gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kräfte, die dem Gemeinwohl dienen und vor allem den Bedürftigsten zugute kommen.<ref> Vgl. Theodoret von Cyrrhus, De Providentia, Orationes 5–7: PG 83, 625–686.</ref> Die auf die Liebe ausgerichtete menschliche Arbeit verwandelt sich in eine Gelegenheit zur Kontemplation, in andächtiges Gebet, wachsame Askese und bebende Erwartung des Tages ohne Nacht: „In dieser höheren Sicht beinhaltet die Arbeit, Last und zugleich Lohn der menschlichen Tätigkeit, noch einen weiteren Aspekt, nämlich jenen wesentlich religiösen, der in der benediktinischen Formel »Ora et labora!« so glücklich ausgedrückt ist. Das Religiöse verleiht der menschlichen Arbeit eine belebende und erlösende Spiritualität. Diese Verwandtschaft zwischen Arbeit und Religion spiegelt den geheimnisvollen, aber realen Bund zwischen dem Handeln des Menschen und dem der göttlichen Vorsehung wider“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Arbeiter des Industriezentrums von Pomezia, Italien (14. September 1979), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, II, 2 (1979) 299.</ref>

II. DIE PROPHETISCHE BEDEUTUNG DER ENZYKLIKA „RERUM NOVARUM“

267 Der Lauf der Geschichte ist gekennzeichnet von den tief greifenden Veränderungen und den begeisternden Errungenschaften der Arbeit, aber auch von der Ausbeutung und Entwürdigung zahlloser Arbeiter. Die industrielle Revolution war für die Kirche eine große Herausforderung, auf die das soziale Lehramt mit prophetischer Kraft reagiert hat, indem es zur Unterstützung des arbeitenden Menschen und seiner Rechte Grundsätze von allgemeiner Gültigkeit und immerwährender Aktualität verkündete.

Jahrhundertelang hatte sich die Botschaft der Kirche an eine Gesellschaft gerichtet, die von den regelmäßigen und zyklischen Abläufen der Landwirtschaft geprägt war; nun musste das Evangelium vor einem neuen Areopag und inmitten der sozialen Umwälzungen einer dynamischeren Gesellschaft verkündet und gelebt werden, und man musste die Vielschichtigkeit der neuen Gegebenheiten und der unvorstellbaren Veränderungen berücksichtigen, die durch die Technik möglich geworden waren. Im Mittelpunkt der pastoralen Sorge der Kirche stand mit zunehmender Dringlichkeit die Arbeiterfrage, das heißt das vom Kapitalismus herrührende Problem der Ausbeutung der Arbeiter infolge der neuen, industriellen Organisation der Arbeit, und das nicht minder schwere Problem der von Kommunismus und Sozialismus betriebenen ideologischen Instrumentalisierung der Welt der Arbeit und ihrer berechtigten Forderungen. Das ist der historische Kontext, in den die Gedanken und Ermahnungen der Enzyklika „Rerum novarum“ Leos XIII. einzuordnen sind.

268 „Rerum novarum“ ist vor allem eine bewegende Verteidigung der unveräußerlichen Würde der Arbeiter, die mit so wichtigen Punkten wie dem Recht auf Eigentum, dem Prinzip der Zusammenarbeit zwischen den Klassen, den Rechten der Schwachen und Armen, den Pflichten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und dem Recht, Vereinigungen zu bilden, in Verbindung gebracht wird.

Die in der Enzyklika formulierten Leitgedanken stärkten das christliche Engagement im sozialen Leben, wie die Entstehung und Konsolidierung zahlreicher bedeutender ziviler Initiativen zeigt: Vereinigungen und Zentren für soziale Studien, Vereine, Arbeiterverbände, Gewerkschaften, Kooperativen, ländliche Kreditgenossenschaften, Versicherungen, Hilfswerke. Dies alles hat dem Arbeitsrecht zum Schutz der Arbeiter und vor allem der Kinder und Frauen, dem Bildungswesen sowie der Verbesserung der Löhne und der hygienischen Verhältnisse spürbare Impulse gegeben.

269 Seit „Rerum novarum“ hat die Kirche die Probleme der Arbeit stets im Gesamtzusammenhang einer sozialen Frage betrachtet, die nach und nach globale Ausmaße angenommen hat.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 2: AAS 73 (1981) 580–583.</ref> Die Enzyklika „Laborem exercens“ vertieft die für die vorangegangenen Dokumente der Soziallehre charakteristische personale Sicht der Arbeit und weist auf die Notwendigkeit hin, sich eingehender mit den Bedeutungen und Aufgaben zu befassen, die sich aus der Arbeit ergeben: „Da unablässig neue Fragen und Probleme auftreten, entstehen immer neue Erwartungen, aber auch Ängste und Bedrohungen, welche mit dieser grundlegenden Dimension menschlicher Existenz verbunden sind, die Tag für Tag das Leben des Menschen auf baut, aus der es die ihm eigene Würde bezieht, die aber gleichzeitig das nie fehlende Maß menschlicher Mühen, des Leidens und auch der Benachteiligung und Ungerechtigkeit in sich trägt, welche das gesellschaftliche Leben innerhalb der einzelnen Nationen und auf internationaler Ebene zutiefst durchdringen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 1: AAS 73 (1981) 579.</ref> Die Arbeit, „der wesentliche Schlüssel“<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 3: AAS 73 (1981) 584.</ref> der gesamten sozialen Frage, beeinflusst nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die kulturelle und moralische Entwicklung der Personen, der Familie, der Gesellschaft und des ganzen Menschengeschlechts.

III. DIE WÜRDE DER ARBEIT

a) Die subjektive und objektive Bedeutung der Arbeit

270 Die menschliche Arbeit hat zwei Bedeutungen: eine objektive und eine subjektive. Im objektiven Sinne ist sie die Gesamtheit der Tätigkeiten, Ressourcen, Werkzeuge und Techniken, deren der Mensch sich bedient, um zu produzieren, um, entsprechend den Worten des Buches Genesis, über die Erde zu herrschen.Im subjektiven Sinne ist die Arbeit das Handeln des Menschen als eines dynamischen Wesens, das fähig ist, verschiedene Dinge zu tun, die zum Arbeitsprozess gehören und seiner personalen Berufung entsprechen: „Der Mensch soll sich die Erde untertan machen, soll sie beherrschen, da er als »Abbild Gottes« eine Person ist, das heißt ein subjekthaftes Wesen, das imstande ist, auf geordnete und rationale Weise zu handeln, fähig, über sich zu entscheiden, und auf Selbstverwirklichung ausgerichtet. Als Person ist der Mensch daher Subjekt der Arbeit“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 6: AAS 73 (1981) 589–590.</ref>

Die Arbeit im objektiven Sinne stellt den zufälligen Aspekt der menschlichen Tätigkeit dar, dessen Bedingungen sich mit dem Wandel der technischen, kulturellen, sozialen und politischen Gegebenheiten beständig verändern. Im subjektiven Sinn dagegen gestaltet sie sich stabil, weil sie nicht von dem abhängig ist, was der Mensch konkret verwirklicht, noch von der Art der Tätigkeit, die er ausübt, sondern einzig und allein von seiner Würde als personales Wesen. Diese Unterscheidung ist wichtig: zum einen, um zu begreifen, worin der Wert und die Würde der Arbeit letztlich begründet sind, und zum anderen im Hinblick auf das Problem einer Organisation der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, die die Rechte des Menschen respektiert.

271 Die Subjektivität verleiht der Arbeit die ihr eigene Würde, die es verbietet, sie als bloße Ware oder als unpersönlichen Bestandteil des Produktionsprozesses zu betrachten. Unabhängig davon, ob ihr objektiver Wert eher groß oder eher klein ist, ist die Arbeit wesentlicher Ausdruck der Person, ist „actus personae“. Jede Form des Materialismus und des Ökonomismus, die versuchen würde, den Arbeiter als reines Produktionswerkzeug, als bloße Arbeitskraft, als einen ausschließlich materiellen Wert zu betrachten, würde dem Wesen der Arbeit seine vornehmste und zutiefst menschliche Zielsetzung rauben und es damit in nicht wieder gut zu machender Weise verfälschen. Die Würde der Arbeit misst sich an der Person: „Denn es steht außer Zweifel, dass die menschliche Arbeit ihren ethischen Wert hat, der unmittelbar und direkt mit der Tatsache verbunden ist, dass der, welcher sie ausführt, Person ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 6: AAS 73 (1981) 590.</ref>

Die subjektive Dimension der Arbeit muss den Vorrang vor der objektiven haben, weil sie die Dimension des Menschen selbst ist, der die Arbeit verrichtet und dabei ihre Qualität und ihren höchsten Wert bestimmt. Wenn dieses Bewusstsein fehlt oder man diese Wahrheit nicht anerkennen will, verliert die Arbeit ihre wahrhaftigste und tiefste Bedeutung: In diesem Fall, der leider häufig und weit verbreitet ist, werden die Arbeitsaktivität und sogar die angewandten Techniken wichtiger als der Mensch selbst und sind nicht länger Verbündete, sondern Feinde seiner Würde.

272 Die menschliche Arbeit geht nicht nur von der Person aus, sondern ist außerdem wesentlich auf sie hingeordnet und ausgerichtet. Unabhängig von ihrem objektiven Gegenstand muss die Arbeit sich am arbeitenden Subjekt orientieren, weil das Ziel der Arbeit, jeder Arbeit, immer der Mensch bleibt. Auch wenn man nicht außer Acht lassen darf, dass auch der objektive Aspekt der Arbeit für ihre Qualität von Bedeutung ist, muss dieser Aspekt doch der Verwirklichung des Menschen untergeordnet werden – und damit der subjektiven Dimension, die dafür sorgt, dass die Arbeit für den Menschen und nicht der Mensch für die Arbeit da ist und dass „Zweck der Arbeit, jeder vom Menschen verrichteten Arbeit – gelte sie auch in der allgemeinen Wertschätzung als die niedrigste Dienstleistung, als völlig monotone, ja als geächtete Arbeit –, (…) letztlich immer der Mensch selbst [bleibt]“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 6: AAS 73 (1981) 592; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2428.</ref>

273 Die menschliche Arbeit besitzt auch eine ihr wesentlich zugehörige soziale Dimension, denn die Arbeit eines Menschen und die Arbeit anderer Menschen greifen auf natürliche Weise ineinander: „Arbeiten ist heute mehr denn je ein Arbeiten mit den anderen und ein Arbeiten für die anderen: Arbeiten besagt, etwas für jemanden tun“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 31: AAS 83 (1991) 832.</ref> Auch durch die Früchte der Arbeit ergeben sich Gelegenheiten zu Austausch, Beziehung und Begegnung. Man kann die Arbeit daher nicht richtig bewerten, ohne auch ihre soziale Seite in Betracht zu ziehen: „Wenn nämlich kein wahrhaft soziales und organisches Gefüge besteht, wenn keine soziale und rechtliche Ordnung die Ausübung der Arbeit schützt, wenn nicht verschiedene Berufe, von denen die einen von den anderen abhängen, untereinander zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen, wenn, was noch wichtiger ist, sich nicht Geist, Besitz und Arbeit verbinden und gleichsam in eins zusammenkommen, so kann die Tätigkeit der Menschen nicht ihre Früchte erzeugen. Diese kann also weder gerecht bewertet noch nach Billigkeit vergolten werden, wenn ihre soziale und individuelle Natur hintangestellt wird“.<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 200.</ref>

274 Die Arbeit ist auch „eine Pflicht, eine Verpflichtung des Menschen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 16: AAS 73 (1981) 619.</ref> Der Mensch muss arbeiten, zum einen, weil der Schöpfer es ihm aufgetragen hat, und zum anderen, um auf die Notwendigkeit des Erhalts und der Entfaltung seiner eigenen Menschlichkeit zu reagieren. Die Arbeit stellt sich als moralische Verpflichtung gegenüber dem Nächsten dar, also an erster Stelle gegenüber der eigenen Familie, aber auch gegenüber der Gesellschaft, der man angehört, der Nation, deren Sohn oder Tochter man ist, der gesamten Menschheitsfamilie, deren Mitglied man ist: Wir sind Erben der Arbeit von Generationen und zugleich Gestalter der Zukunft für all die Menschen, die nach uns leben werden.

275 Die Arbeit bestärkt den Menschen, der nach dem Bild Gottes und Gott ähnlich geschaffen ist, in der Tiefe seiner Identität: „Während der Mensch durch seine Arbeit immer mehr zum Herrn der Erde wird und wiederum durch die Arbeit seine Herrschaft über die sichtbare Welt festigt, bleibt er in jedem Fall und in jeder Phase dieses Prozesses auf der Linie jener ursprünglichen Weisung des Schöpfers, welche notwendig und unlösbar an die Tatsache gebunden ist, dass der Mensch als Mann und Frau »nach dem Abbild Gottes« geschaffen ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 4: AAS 73 (1981) 586.</ref> So ist die Tätigkeit des Menschen im Universum beschaffen: Er ist nicht sein Herr, sondern sein Treuhänder, und er ist dazu berufen, in seinem eigenen Wirken das Antlitz dessen widerzuspiegeln, dessen Bild er ist.

b) Die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital

276 Aufgrund ihres subjektiven oder personalen Charakters steht die Arbeit über jedem anderen Produktionsfaktor: Dieser Grundsatz gilt insbesondere im Hinblick auf das Kapital. Heute hat der Begriff „Kapital“ unterschiedliche Bedeutungen: Zuweilen bezeichnet er die materiellen Produktionsmittel eines Unternehmens, zuweilen die finanziellen Ressourcen, die in eine Produktionsinitiative oder auch in Börsenmarktoperationen investiert worden sind. Man spricht auch in etwas unpassender Weise von „Humankapital“, womit die menschlichen Ressourcen, also die Menschen selbst bezeichnet werden, insofern sie zu Arbeitsanstrengungen in der Lage sind oder über Kenntnisse, Kreativität, Vorstellungskraft hinsichtlich der Bedürfnisse von ihresgleichen und, als Mitglieder einer Organisation, über Teamfähigkeit verfügen. Und man spricht von „sozialem Kapital“, um die Fähigkeit zur Zusammenarbeit innerhalb einer Gesamtheit zu bezeichnen, die zustande kommt, wenn man in eine wechselseitige Vertrauensbeziehung investiert. Diese Bedeutungsvielfalt bietet weitere Anhaltspunkte, um darüber nachzudenken, was heutzutage mit der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital gemeint sein kann.

277 Die Soziallehre hat sich mit den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital auseinandergesetzt und dabei den Vorrang der ersten vor dem zweiten ebenso herausgestellt wie die Tatsache, dass beide einander ergänzen.

Die Arbeit hat einen ihr wesentlich zugehörigen Vorrang vor dem Kapital: „Dieses Prinzip betrifft direkt den Produktionsprozess, für den die Arbeit immer eine der hauptsächlichen Wirkursachen ist, während das Kapital, das ja in der Gesamtheit der Produktionsmittel besteht, bloß Instrument oder instrumentale Ursache ist. Dieses Prinzip ist eine offensichtliche Wahrheit, die sich aus der ganzen geschichtlichen Erfahrung des Menschen ergibt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 12: AAS 73 (1981) 606.</ref> Es gehört „zum festen Bestand der kirchlichen Lehre“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 12: AAS 73 (1981) 608.</ref>

Arbeit und Kapital müssen einander ergänzen: Die eigene Logik des Produktionsprozesses macht deutlich, wie wichtig ihre wechselseitige Durchdringung ist und wie dringend Wirtschaftssysteme geschaffen werden müssen, in denen der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwunden ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 13: AAS 73 (1981) 608–612.</ref> In Zeiten eines weniger komplexen wirtschaftlichen Systems, da „das Kapital“ und „die Lohnarbeit“ mit einer gewissen Präzision nicht nur zwei Produktionsfaktoren, sondern auch und vor allem zwei konkrete gesellschaftliche Klassen bezeichneten, hat die Kirche bereits darauf hingewiesen, dass beide in sich ihre Berechtigung haben:<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 194–198.</ref> „So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen“.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 109.</ref> Hierbei handelt es sich um eine auch für die Gegenwart gültige Wahrheit, denn „es widerstreitet (…) den Tatsachen, einem der beiden, dem Kapital oder der Arbeit, die Alleinursächlichkeit an dem Ertrag ihres Zusammenwirkens zuzuschreiben; vollends widerspricht es der Gerechtigkeit, wenn der eine oder der andere Teil auf diese angebliche Alleinursächlichkeit pochend das ganze Erträgnis für sich beansprucht“.<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 195.</ref>

278 Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital darf man vor allem angesichts der großen Veränderungen unserer Zeit nicht vergessen, dass „die wichtigste Ressource“ und „der entscheidende Faktor“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 833.</ref> der dem Menschen zur Verfügung steht, der Mensch selbst ist, und dass „die umfassende Entwicklung des Menschen in der Arbeit (…) nicht den Anforderungen einer höheren Produktivität und eines größeren Ertrages der Arbeit [widerspricht]. Im Gegenteil, sie fördert diese sogar, auch wenn das verfestigte Machtverhältnisse schwächen kann“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 43: AAS 83 (1991) 847.</ref> Mehr und mehr stellt die Welt der Arbeit fest, dass der Wert des „Humankapitals“ seinen Ausdruck in den Kenntnissen der Arbeiter findet, in ihrer Bereitschaft, Beziehungen zu knüpfen, in ihrer Kreativität, ihrem selbstständigen Unternehmergeist, in der Fähigkeit, sich bewusst dem Neuen zu stellen, zusammenzuarbeiten und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Dies sind rein personale Qualitäten, die eher dem Subjekt der Arbeit als ihren objektiven, technischen oder praktischen Aspekten angehören. All dies trägt zu einer neuen Sicht der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital bei: Es ist festzuhalten, dass im Gegensatz zu den alten Formen der Arbeitsorganisation, wo das Subjekt letztlich dem Objekt, der Maschine untergeordnet wurde, heute die subjektive Dimension der Arbeit tendenziell entscheidender und wichtiger als die objektive wird.

279 Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital weist häufig Merkmale eines Konflikts auf, der mit den veränderten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen neue Charakterzüge annimmt. Früher entstand der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit vor allem dadurch, „dass die Arbeiter ihre Kräfte der Gruppe der Unternehmer zur Verfügung stellten und diese, weil vom Prinzip des größten Gewinns geleitet, darum bestrebt war, für die Leistung der Arbeiter eine möglichst niedrige Entlohnung festzulegen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 11: AAS 73 (1981) 604.</ref> Der gegenwärtige Konflikt weist neue und vielleicht noch besorgniserregendere Aspekte auf: Der wissenschaftliche und technologische Fortschritt und die Globalisierung der Märkte, die eigentlich Quelle der Entwicklung und des Wachstums sein sollten, setzen die Arbeiter dem Risiko aus, vom Räderwerk der Wirtschaft und von einem ungezügelten Produktivitätsstreben ausgebeutet zu werden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (6. März 1999), 2: AAS 91 (1999) 889.</ref>

280 Man darf nicht in den Irrtum verfallen zu denken, dass mit der Überwindung der Abhängigkeit der Arbeit von der Materie automatisch auch die Entfremdung in der Arbeit und von der Arbeit beseitigt wird. Damit sind nicht nur die vielfältigen Bereiche der Arbeitslosigkeit, der Schwarzarbeit, der Kinderarbeit, der unterbezahlten und der ausgebeuteten Arbeit gemeint, die nach wie vor weiter bestehen, sondern auch die neuen und weitaus subtileren Formen der Ausbeutung der modernen Arbeitswelt: das Übermaß an Arbeit, das Karrieredenken, das zuweilen anderen, für die Person ebenso wichtigen Dimensionen des Menschseins den Raum nimmt, die übertriebene Flexibilität in der Arbeit, die das Familienleben zerbrechlich und manchmal unmöglich macht, die Austauschbarkeit der Arbeitnehmer, die schwere Folgen für die einheitliche Wahrnehmung der eigenen Existenz und die Stabilität der Familienbeziehungen haben kann. Wenn Entfremdung bedeutet, dass der Mensch Mittel und Zweck verwechselt, dann kann es auch in der neuen, immateriellen, leichter gewordenen, eher durch Qualität als durch Quantität bestimmten Arbeitssituation Elemente der Entfremdung des Menschen geben „je nachdem, ob seine Teilnahme an einer echten solidarischen Gemeinschaft wächst oder ob seine Isolierung in einem Komplex von Beziehungen eines erbitterten Konkurrenzkampfes und gegenseitiger Entfremdung zunimmt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 41: AAS 83 (1991) 844.</ref>

c) Die Arbeit: Anspruch auf Beteiligung

281 Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital drückt sich auch in der Beteiligung der Arbeiter am Eigentum, an seiner Verwaltung und an seinen Erträgen aus. Diese allzu oft vernachlässigte Forderung kann gar nicht zu hoch bewertet werden, weil „jeder aufgrund der eigenen Arbeit den vollen Anspruch hat, sich zugleich als Miteigentümer der großen Werkstätte zu betrachten, in der er gemeinsam mit allen anderen arbeitet. Ein Weg auf dieses Ziel hin könnte sein, die Arbeit soweit wie möglich mit dem Eigentum am Kapital zu verbinden und eine große Vielfalt mittlerer Körperschaften mit wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Zielsetzung ins Leben zu rufen: Körperschaften mit echter Autonomie gegenüber den öffentlichen Behörden, Körperschaften, die ihre spezifischen Ziele in ehrlicher Zusammenarbeit und mit Rücksicht auf die Forderungen des Gemeinwohls verfolgen und sich in Form und Wesen als lebensvolle Gemeinschaften erweisen, sodass sie ihre Mitglieder als Personen betrachten und behandeln und zu aktiver Teilnahme an ihrem Leben anregen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 14: AAS 73 (1981) 616.</ref> Die neue Organisation der Arbeit, in der das Wissen mehr zählt als der bloße Besitz von Produktionsmitteln, belegt ganz konkret, dass die Arbeit aufgrund ihres subjektiven Charakters ein Recht auf Beteiligung beinhaltet: Es ist unerlässlich, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, wenn man die Stellung der Arbeit im Produktionsprozess richtig bewerten und Formen der Beteiligung finden will, die in der Besonderheit der vielfältigen konkreten Situationen mit der Subjektivität der Arbeit vereinbar sind.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 9: AAS 58 (1966) 1031–1032.</ref>

d) Das Verhältnis zwischen Arbeit und Privateigentum

282 Das soziale Lehramt der Kirche thematisiert das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital auch in Bezug auf die Einrichtung des Privateigentums, das Recht auf dieses sowie seine Verwendung. Das Recht auf Privateigentum ist dem Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter untergeordnet und darf keinen Grund darstellen, andere in ihrer Arbeit und Entfaltung zu behindern. Das Eigentum, das man vor allem durch die Arbeit erwirbt, soll der Arbeit dienen. Das gilt in besonderer Weise für den Besitz von Produktionsmitteln; doch dieser Grundsatz betrifft auch die finanziellen, technischen, intellektuellen und personalen Güter.

Die Produktionsmittel darf man „nicht gegen die Arbeit besitzen; man darf sie auch nicht um des Besitzes willen besitzen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 14: AAS 73 (1981) 613.</ref> Ihr Besitz wird unrechtmäßig, wenn das Eigentum „nicht aufgewertet wird oder dazu dient, die Arbeit anderer zu behindern, um einen Gewinn zu erzielen, der nicht aus der Gesamtausweitung der Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums erwächst, sondern aus ihrer Unterdrückung, aus der unzulässigen Ausbeutung, aus der Spekulation und aus dem Zerbrechen der Solidarität in der Welt der Arbeit“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 43: AAS 83 (1991) 847.</ref>

283 Das private und öffentliche Eigentum und die verschiedenen Mechanismen des Wirtschaftssystems müssen auf eine Wirtschaft ausgerichtet sein, die dem Menschen dient, das heißt, sie müssen dazu beitragen, das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter umzusetzen. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach dem Besitz und Gebrauch der neuen Technologien und Kenntnisse relevant: Sie stellen in unserer Zeit eine weitere Sonderform des Eigentums dar, die dem Besitz von Land oder Kapital in nichts nachsteht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 832–833.</ref> Diese Ressourcen haben wie alle anderen Güter auch eine allgemeine Bestimmung; auch sie müssen in einen Kontext rechtlicher Normen und sozialer Regeln eingebettet werden, die dafür sorgen, dass ihr Gebrauch sich nach Kriterien der Gerechtigkeit, der Billigkeit und der Achtung vor den Menschenrechten richtet. Die neuen Kenntnisse und Technologien können dank ihres enormen Potentials einen entscheidenden Beitrag zum sozialen Fortschritt leisten, doch sie können ebenso zur Quelle von Arbeitslosigkeit werden und die Kluft zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Gebieten noch vergrößern, wenn sie in den reichsten Ländern oder in der Hand kleiner, mächtiger Gruppierungen verbleiben.

e) Die Feiertagsruhe

284 Die Feiertagsruhe ist ein Recht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629: Id., Enz. Centesimus annus, 9: AAS 83 (1991) 804.</ref> Gott „ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte“ (Gen 2, 2): Auch die Menschen, die nach seinem Bild geschaffen sind, müssen über ein ausreichendes Maß an Ruhe und Freizeit verfügen, um ihr familiäres, kulturelles, soziales und religiöses Leben zu pflegen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 67: AAS 58 (1966) 1088–1089.</ref> Hierzu trägt die „Einsetzung des Tages des Herrn“ bei.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2184.</ref> An den Sonntagen und den übrigen gebotenen Feiertagen sollen die Gläubigen „keine Arbeiten oder Tätigkeiten ausüben, die die schuldige Gottesverehrung, die Freude am Tag des Herrn, das Verrichten von Werken der Barmherzigkeit und die angemessene Erholung von Geist und Körper verhindern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2185.</ref> Familiäre Notsituationen oder gesellschaftliche Verpflichtungen können dazu berechtigen, die Sonntagsruhe nicht einzuhalten, aber sie dürfen nicht zu Gewohnheiten führen, die der Religion, dem Familienleben und der Gesundheit schaden.

285 Der Sonntag ist ein Tag, der mit tätiger Nächstenliebe geheiligt und insbesondere der Familie und den Eltern, aber auch den kranken, schwachen und älteren Menschen vorbehalten sein soll; ebenso dürfen auch die „Brüder und Schwestern“ nicht vergessen werden, „die die gleichen Bedürfnisse und Rechte haben, sich jedoch aus Gründen der Armut und der Not nicht ausruhen können“;<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2186.</ref> außerdem bietet der Sonntag Zeit zum Nachdenken, Schweigen und der Beschäftigung mit Dingen, die das Wachstum des inneren und christlichen Lebens begünstigen. Auch an diesem Tag sollten die Gläubigen daran zu erkennen sein, dass sie Maß halten und Ausschreitungen und Gewalttätigkeit meiden, die für Massenveranstaltungen oft typisch sind.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2187.</ref> Der Tag des Herrn soll stets als Tag der Befreiung gelebt werden, der uns an „einer festlichen Versammlung“ und an der „Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind“ (Hebr 12, 22–23), teilnehmen lässt und die Feier des ewigen Pascha in der Herrlichkeit des Himmels vorwegnimmt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Dies Domini, 26: AAS 90 (1998) 729: „Die Feier des Sonntags, des »ersten« und zugleich »achten« Tages, verweist den Christen auf das Ziel des ewigen Lebens“.</ref>

286 Die öffentlichen Autoritäten haben die Pflicht, darauf zu achten, dass die für die Ruhe und den Gottesdienst bestimmte Zeit den Bürgern nicht aus Gründen der wirtschaftlichen Produktivität entzogen wird. Eine entsprechende Verpflichtung haben auch die Arbeitgeber ihren Beschäftigten gegenüber.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 110.</ref> Mit Rücksicht auf die Religionsfreiheit und das Gemeinwohl aller müssen die Christen sich dafür einsetzen, dass die Gesetze die Sonntage und die anderen liturgischen Feste als Feiertage anerkennen: „Sie sollen allen ein öffentliches Beispiel des Gebetes, der Ehrerbietung und der Freude geben und ihre Überlieferungen als einen wertvollen Beitrag zum geistlichen Leben der menschlichen Gesellschaft verteidigen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2188.</ref> Jeder Christ „soll sich hüten, einen anderen ohne Not zu etwas zu verpflichten, das ihn daran hindern würde, den Tag des Herrn zu feiern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2187.</ref>

IV. DAS RECHT AUF ARBEIT

a) Die Arbeit ist notwendig

287 Die Arbeit ist ein Grundrecht und ein Gut für den Menschen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 26: AAS 58 (1966) 1046–1047; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 9.18: AAS 73 (1981) 598–600. 622–625; Id., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (25. April 1997), 3: AAS 90 (1998) 139–140; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 8: AAS 91 (1999) 382–383.</ref> ein nützliches Gut, das seiner würdig ist, weil es Ausdruck und Steigerung der menschlichen Würde sein kann. Die Kirche verkündet den Wert der Arbeit nicht nur, weil diese immer personal, sondern auch, weil sie notwendig ist.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 128.</ref> Die Arbeit ist notwendig, um eine Familie zu gründen und zu erhalten,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 600–602.</ref> um ein Recht auf Eigentum zu erwerben,<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 103; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 14: AAS 73 (1981) 612–616; Id., Enz. Centesimus annus,31: AAS 83 (1991) 831–832.</ref> um zum Gemeinwohl der Menschheitsfamilie beizutragen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 16: AAS 73 (1981) 618–620.</ref> Die Erwägung der moralischen Auswirkungen, die die Frage der Arbeit auf das gesellschaftliche Leben hat, veranlasst die Kirche dazu, die Arbeitslosigkeit vor allem im Hinblick auf die jungen Generationen als einen „echten sozialen Notstand“ zu bezeichnen.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 18: AAS 73 (1981) 623.</ref>

288 Die Arbeit ist ein allgemeines Gut, das allen, die arbeitsfähig sind, zur Verfügung stehen muss. Die „Vollbeschäftigung“ ist daher ein Pflichtziel für jede auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl ausgerichtete wirtschaftliche Ordnung. Eine Gesellschaft, in der das Recht auf Arbeit ausgehöhlt oder systematisch geleugnet wird und in der die wirtschaftspolitischen Maßnahmen es den Arbeitern nicht ermöglichen, ein zufrieden stellendes Beschäftigungsniveau zu erreichen, „kann weder ihre sittliche Rechtfertigung noch den gerechten sozialen Frieden erlangen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 43: AAS 83 (1991) 848; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2433.</ref> Eine wichtige Rolle und folglich eine besondere und schwere Verantwortung kommen in diesem Bereich dem „indirekten Arbeitgeber“ zu,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 17: AAS 73 (1981) 620–622.</ref> das heißt jenen Subjekten – Personen oder Institutionen verschiedener Art –, die in der Lage sind, die Arbeits- und Wirtschaftspolitik auf nationaler und internationaler Ebene mitzubestimmen.

289 Die Planungsfähigkeit einer auf das Gemeinwohl und auf die Zukunft gerichteten Gesellschaft misst sich auch und vor allem an den Arbeitsperspektiven, die sie zu bieten hat. Die hohe Arbeitslosenquote, das Fortbestehen veralteter Bildungssysteme, die nach wie vor mit dem Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt verbundenen Schwierigkeiten stellen vor allem für viele Jugendliche ein großes Hindernis auf dem Weg ihrer menschlichen und beruflichen Entfaltung dar. Wer arbeitslos oder unterbeschäftigt ist, leidet auch unter den zutiefst negativen Folgen, die diese Situation für die Persönlichkeit hat, und läuft Gefahr, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und sozial ausgegrenzt zu werden.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,2436.</ref> Diese Tragödie trifft neben den Jugendlichen vor allem die Frauen, die weniger spezialisierten Arbeiter, Menschen mit Behinderungen, Einwanderer, ehemalige Strafgefangene, Analphabeten und alle, denen es schwer fällt, ihren Platz in der Welt der Arbeit zu finden.

290 Der Erhalt der Beschäftigung hängt zunehmend von den beruflichen Fähigkeiten ab.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 66: AAS 58 (1966) 1087-1088.</ref> Das Erziehungs- und Bildungssystem darf die menschliche und technische Bildung nicht vernachlässigen, die notwendig ist, um die erforderlichen Aufgaben mit Erfolg zu erfüllen. Die immer weiter verbreitete Notwendigkeit, den Arbeitsplatz im Laufe eines Lebens mehrere Male zu wechseln, stellt das Bildungssystem vor die Aufgabe, in den Personen die Bereitschaft zu fördern, sich beständig auf dem Laufenden zu halten und neu zu qualifizieren. Die Jugendlichen müssen lernen, selbstständig zu handeln, und sie müssen die Fähigkeit erlangen, sich verantwortungsbewusst und mit den entsprechenden Fähigkeiten den Risiken zu stellen, die mit einer veränderlichen und in ihren Entwicklungsszenarien häufig unvorhersehbaren wirtschaftlichen Gesamtsituation verbunden sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 12: AAS 73 (1981) 605–608.</ref> Ebenso unerlässlich ist ein geeignetes Bildungsangebot für Erwachsene, die sich weiterqualifizieren wollen, und für Arbeitslose. Allgemeiner gesprochen müssen die Personen in ihrem beruflichen Werdegang, angefangen beim Bildungssystem, neue, konkrete Formen der Unterstützung finden, die es ihnen erleichtern, auch Phasen der Veränderung, der Ungewissheit oder des Übergangs durchzustehen.

b) Die Rolle des Staates und der Zivilgesellschaft bei der Stärkung des Rechts auf Arbeit

291 Die Probleme der Beschäftigung rufen die Verantwortung des Staates auf den Plan, dem es obliegt, eine aktive Arbeitspolitik zu betreiben, das heißt eine Politik, die die Schaffung von Arbeitsplätzen innerhalb des nationalen Territoriums begünstigt und die Produktion auf diese Weise ankurbelt. Die Pflicht des Staates besteht nicht so sehr darin, das Recht aller Bürger auf Arbeit direkt zu gewährleisten und damit das gesamte Wirtschaftsleben zu reglementieren und die freie Initiative der Einzelpersonen zu unterbinden: Der Staat hat vielmehr die Aufgabe, „die Tätigkeit der Unternehmen dahingehend zu unterstützen, dass er Bedingungen für die Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten schafft. Er muss die Tätigkeit dort, wo sie sich als unzureichend erweist, anregen bzw. ihr in Augenblicken der Krise unter die Arme greifen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 853.</ref>

292 Angesichts eines Arbeitsmarkts und wirtschaftlich-finanzieller Beziehungen, die rasch globale Ausmaße angenommen haben, muss eine wirkungsvolle Zusammenarbeit der Staaten untereinander mit Hilfe von Verträgen, Übereinkünften und gemeinsamen Aktionsplänen gefördert werden, die das Recht auf Arbeit auch in höchst kritischen Phasen des Wirtschaftskreislaufs auf nationaler und internationaler Ebene aufrechterhalten. Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass die menschliche Arbeit ein Recht ist, von der die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und des zivilen Friedens unmittelbar abhängen. In dieser Hinsicht kommen den internationalen und gewerkschaftlichen Organisationen wichtige Aufgaben zu: Sie müssen sich in möglichst geeigneter Weise zusammenschließen und sich vor allem anderen dafür einsetzen, „ein immer engmaschigeres Netz aus juristischen Verfügungen zu flechten, die die Arbeit der Männer, der Frauen, der jungen Menschen schützen und ihre angemessene Vergütung gewährleisten“.<ref> Paul VI., Ansprache vor der Internationalen Arbeitsorganisation (10. Juni 1969), 21: AAS61 (1969) 400; vgl. Johannes Paul II., Ansprache vor der Internationalen Arbeitsorganisation (15. Juni 1982), 13: AAS 74 (1982) 1004–1005.</ref>

293 Für die Förderung des Rechts auf Arbeit ist es heute wie in den Tagen der Enzyklika „Rerum novarum“ wichtig, dass es einen freien Prozess „der organisierten Selbsthilfe der Gesellschaft“ gibt.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 16: AAS 83 (1991) 813.</ref> Bedeutende Zeugnisse und Beispiele einer solchen organisierten Selbsthilfe lassen sich in den zahlreichen unternehmerischen und gesellschaftlichen Initiativen finden, die von Formen der Beteiligung, der Mitwirkung und der Selbstverwaltung getragen sind und eine Verschmelzung solidarischer Kräfte erkennen lassen. Sie bieten sich dem Markt als ein reichhaltiger Sektor von Arbeitsaktivitäten dar, die sich in vielfältigen Bereichen durch eine besondere Aufmerksamkeit für die Beziehungskomponenten der produzierten Güter und der erbrachten Dienstleistungen auszeichnen: in der Bildung, dem Schutz der Gesundheit, den gesellschaftlichen Basisdienstleistungen, der Kultur. Die Initiativen des so genannten „dritten Sektors“ stellen eine immer wichtigere Chance für die Entwicklung von Arbeit und Wirtschaft dar.

c) Die Familie und das Recht auf Arbeit

294 Die Arbeit ist „eine Grundlage für den Aufbau des Familienlebens, welches ein Recht und eine Berufung des Menschen ist“:<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 600.</ref> Sie sichert den Lebensunterhalt und gewährleistet die Erziehung der Kinder.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 600–602; Id., Ap. Schr. Familiaris consortio, 23: AAS 74 (1982) 107–109.</ref> Die Familie und die Arbeit, die somit in der Erfahrungswelt der großen Mehrheit der Personen eng aneinander gebunden sind, verdienen schließlich eine Betrachtungsweise, die der Wirklichkeit eher entspricht, eine Aufmerksamkeit, die sie in ihrem Zusammenhang – ohne die Scheuklappen einer ausschließlich privaten Sicht der Familie oder einer ökonomistischen Sicht der Arbeit – begreift. In dieser Hinsicht ist es notwendig, dass die Unternehmen, die beruflichen Organisationen, die Gewerkschaften und der Staat eine Arbeitspolitik fördern, die die Kernfamilie unter dem Aspekt der Beschäftigung nicht benachteiligt, sondern begünstigt. Das Familienleben und die Arbeit bedingen einander in vielfältiger Weise. Das Pendlerdasein, die Doppelbeschäftigung und die körperliche und psychologische Erschöpfung gehen zu Lasten der Zeit, die dem Familienleben gewidmet wird;<ref> Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 10. Der Apostolische Stuhl 1983, 1605.</ref> die Situationen der Arbeitslosigkeit haben materielle und spirituelle Folgen für die Familien, und ebenso wirken sich auch die Spannungen und Krisen in der Familie negativ auf das Verhalten und die Leistung im Arbeitsleben aus.

d) Die Frauen und das Recht auf Arbeit

295 Das spezifisch Weibliche ist in allen Ausprägungen des gesellschaftlichen Lebens notwendig, und deshalb muss die Anwesenheit der Frauen auch auf dem Sektor der Arbeit gewährleistet sein. Der erste unerlässliche Schritt in diese Richtung ist die konkrete Möglichkeit des Zugangs zur beruflichen Bildung. Die Anerkennung und der Schutz der Rechte der Frau im Bereich der Arbeit hängen im Allgemeinen von der Organisation der Arbeit ab, die die Würde und Berufung der Frau berücksichtigen muss, deren wahre Förderung „eine Arbeitsordnung [erfordert], die so strukturiert ist, dass sie diese Aufwertung nicht mit dem Aufgeben ihrer Eigenheit bezahlen muss und zum Schaden der Familie, wo ihr als Mutter eine unersetzliche Rolle zukommt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 628.</ref> An dieser Frage müssen sich die Qualität einer Gesellschaft und die Wirksamkeit messen lassen, mit der sie das Recht der Frauen auf Arbeit schützt.

Die Tatsache, dass die Würde und Berufung der Frau in der Arbeitswelt nach wie vor in verletzender Weise diskriminiert werden, ist die Folge einer langen Reihe von Benachteiligungen der Frau, die „in ihren Vorzügen entstellt, oft ausgegrenzt und sogar versklavt wurde“<ref> Johannes Paul II., Brief an die Frauen (29. Juni 1995), 3: AAS 87 (1995) 804.</ref> und noch immer wird. Diese Schwierigkeiten sind leider nicht überwunden, wie die verschiedenen Situationen überall dort zeigen, wo Frauen erniedrigt und sogar regelrechten Formen der Ausbeutung unterworfen werden. Die Dringlichkeit einer wirklichen Anerkennung der Rechte der Frauen in der Arbeitswelt wird vor allem unter dem Aspekt der Bezahlung, der Versicherung und der sozialen Versorgung deutlich.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 24: AAS 74 (1982) 109–110.</ref>

e) Kinderarbeit

296 Die Kinderarbeit stellt in ihren nicht zu duldenden Formen eine weniger auffällige, aber deshalb nicht weniger schreckliche Art der Gewalt dar,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1996,5: AAS 88 (1996) 106–107.</ref> eine Gewalt, die über ihre politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Implikationen hinaus im Wesentlichen ein moralisches Problem bleibt. So mahnt Leo XIII.: „Es wäre nicht zuzulassen, dass Kinder in die Werkstatt oder Fabrik eintreten, ehe Leib und Geist zur gehörigen Reife gediehen sind. Die Entfaltung der Kräfte wird in den jungen Wesen durch vorzeitige Anspannung erstickt, und ist einmal die Blüte des kindlichen Alters gebrochen, so ist es um die ganze Entwicklung in traurigster Weise geschehen“.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 129.</ref> Auch heute, nach über hundert Jahren, ist das Übel der Kinderarbeit noch immer nicht aus der Welt geschafft.

In dem Bewusstsein, dass zumindest derzeit in bestimmten Ländern der Beitrag der Kinderarbeit für den Unterhalt der Familien und die nationale Wirtschaft unverzichtbar ist und dass zumindest einige Arten der Teilzeitarbeit für die Kinder selbst von Vorteil sein können, verurteilt die Soziallehre die zunehmende „Ausbeutung der Arbeitskraft von Minderjährigen unter den Bedingungen der Sklaverei“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1998, 6: AAS 90 (1998) 153.</ref> Diese Ausbeutung stellt eine schwere Verletzung der Menschenwürde dar, die jedem Menschen zu Eigen ist, „unabhängig davon, wie klein oder – utilitaristisch betrachtet – scheinbar unwichtig er sein mag“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft an den UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar anlässlich des Welt-Gipfeltreffens zum Schutz der Kinder (22. September 1990): AAS 83 (1991) 360.</ref>

f) Migration und Arbeit

297 Die Einwanderung muss kein Hindernis, sie kann vielmehr eine Quelle der Entwicklung sein. In der heutigen Welt, in der das Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Ländern stärker wird und die Entwicklung der Kommunikation die Entfernungen rasch verringert, kommt es in zunehmendem Maße zur Migration von Personen, die aus den weniger begünstigten Gebieten der Erde kommen und nach besseren Lebensbedingungen suchen: Ihr Eintreffen in den entwickelten Ländern wird häufig als eine Bedrohung des in Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums erreichten gehobenen Wohlstandsniveaus gesehen. In der Mehrzahl der Fälle decken die Eingewanderten jedoch in Bereichen und Gebieten, wo die örtlichen Arbeitskräfte nicht ausreichend vorhanden oder nicht bereit sind, ihren eigenen Arbeitsbeitrag zu leisten, einen Bedarf ab, der ohne sie nicht befriedigt werden konnte.

298 Die Institutionen der Aufnahmeländer müssen sorgfältig darüber wachen, dass die Versuchung nicht an Boden gewinnt, ausländische Arbeitskräfte auszubeuten, indem man ihnen die Rechte, die den inländischen Arbeitskräften garantiert sind und allen ohne Unterschied zugestanden werden müssen, versagt. Die Regelung der Migration nach Kriterien der Billigkeit und des Gleichgewichts<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2001, 13: AAS 93 (2001) 241; Päpstlicher Rat „Cor Unum“ – Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Flüchtlinge – eine Herausforderung zur Solidarität, 6, Der Apostolische Stuhl 1992, 1279.</ref> ist eine der unerlässlichen Voraussetzungen dafür, dass sich die Eingliederung in einer Weise vollzieht, die die von der Würde des Menschen geforderten Sicherheiten garantiert. Die Einwanderer müssen als Personen aufgenommen und gemeinsam mit ihren Familien bei der Integration in das gesellschaftliche Leben unterstützt werden.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2241.</ref> Zu diesem Zweck muss das Recht auf Familienzusammenführung respektiert und gefördert werden.<ref> Vgl. Der Heilige Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Art. 12, Der Apostolische Stuhl 1983, 1606; Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio,77: AAS 74 (1982) 175–178.</ref> Gleichzeitig müssen, soweit möglich, alle Umstände begünstigt werden, die die Arbeitsmöglichkeiten in den Herkunftsländern verbessern.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 66: AAS 58 (1966) 1087–1088; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1993, 3: AAS 85 (1993) 431–433.</ref>

g) Die Landwirtschaft und das Recht auf Arbeit

299 Die landwirtschaftliche Arbeit verdient aufgrund ihrer sozialen, kulturellen und ökonomischen Rolle, die sie in den Wirtschaftssystemen vieler Länder spielt, aufgrund der zahlreichen Probleme, mit denen sie in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft zu kämpfen hat, und aufgrund ihrer wachsenden Bedeutung für die Bewahrung der natürlichen Umwelt besondere Aufmerksamkeit: Es „sind also radikale Änderungen dringend notwendig, um der Landwirtschaft und den in ihr Tätigen wieder den wahren Wert zu geben, der ihnen als Grundlage einer gesunden Volkswirtschaft in der gesamten Entwicklung der Gesellschaft zukommt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 21: AAS 73 (1981) 634.</ref>

Die tiefen und grundlegenden Veränderungen, die sich derzeit auf sozialer und kultureller Ebene auch in der Landwirtschaft und der ländlichen Welt im weiteren Sinne vollziehen, weisen wieder auf die dringende Notwendigkeit hin, sich eingehender mit der Bedeutung der landwirtschaftlichen Arbeit in ihren vielfältigen Dimensionen auseinanderzusetzen. Es handelt sich hierbei um eine äußerst wichtige Herausforderung, und ihr ist mit einer Landwirtschafts- und Umweltpolitik zu begegnen, die geeignet ist, gewisse Vorurteile der Rückständigkeit oder Nebensächlichkeit zu überwinden und neue Perspektiven für eine moderne Landwirtschaft zu erarbeiten, die eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben übernehmen kann.

300 In einigen Ländern ist im Kontext einer wirkungsvollen Politik der Agrarreform eine Neuverteilung des Bodens unumgänglich, um das Hindernis zu überwinden, das der von der kirchlichen Soziallehre verurteilte<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 23: AAS 59 (1967) 268–269.</ref> unproduktive Großgrundbesitz einer echten ökonomischen Entwicklung in den Weg legt: „Wenn die Entwicklungsländer bestimmte Schwierigkeiten in Angriff nehmen, die als klassische Strukturprobleme zu definieren sind, können sie dem derzeitigen Prozess des Eigentums an Grund und Boden wirksam entgegenwirken. Zu diesen Schwierigkeiten zählen Mängel und Versäumnisse in der Gesetzgebung bezüglich der Anerkennung von Eigentumsrechten an Grund und Boden sowie im Hinblick auf den Kreditmarkt; die Vernachlässigung von Forschung und Ausbildung im Agrarsektor sowie des Sozialwesens und der Infrastruktur in den ländlichen Gebieten“.<ref> Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Für eine bessere Landverteilung. Die Herausforderung der Agrarreform (23. November 1997), 13, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 140, S. 18.</ref> Die Agrarreform wird somit nicht nur zu einer politischen Notwendigkeit, sondern zu einer moralischen Verpflichtung, da ihre Nichtdurchführung in diesen Ländern die positiven Auswirkungen verhindert, die sich aus der Öffnung der Märkte und allgemein aus jenen gewinnbringenden Wachstumschancen ergeben, die der gegenwärtige Globalisierungsprozess bietet.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Für eine bessere Landverteilung. Die Herausforderung der Agrarreform (23. November 1997), 35, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 140, S. 33–34.</ref>

V. RECHTE DER ARBEITNEHMER

a) Würde der Arbeitnehmer und Achtung ihrer Rechte

301 Die Rechte der Arbeitnehmer basieren wie alle übrigen Rechte auf der Natur der menschlichen Person und auf ihrer transzendenten Würde. Das soziale Lehramt der Kirche sah es als geboten an, einige davon aufzuzählen und ihre Anerkennung in den Rechtsordnungen anzumahnen: das Recht auf gerechte Vergütung;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> das Recht auf Ruhe;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> das Recht auf „Arbeitsräume und Produktionsprozesse (…), die dem Arbeitnehmer weder gesundheitlich noch geistig-sittlich schaden“;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 629.</ref> das Recht auf Wahrung der eigenen Persönlichkeit am Arbeitsplatz, „ohne dass dabei das eigene Gewissen oder die Menschenwürde Schaden leiden“;<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 15: AAS 83 (1991) 812.</ref> das Recht auf angemessene Unterstützung, die für den Unterhalt der arbeitslosen Arbeitnehmer und ihrer Familien unerlässlich ist;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 18: AAS 73 (1981) 622–625.</ref> das Recht auf Ruhestandsgeld und Versicherung in Alter, Krankheit und nach Arbeitsunfällen;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> das Recht auf Mutterschutz;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> das Versammlungs- und Vereinigungsrecht.<ref> Vgl. Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII,11(1892) 135; Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 186; Pius XII., Enz. Sertum laetitiae: AAS 31 (1939) 643; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 262–263; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 68: AAS 58 (1966) 1089–1090; Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 629–632; Id., Enz. Centesimus annus,7: AAS 83 (1991) 801–802.</ref> Diese Rechte werden häufig verletzt, wie die traurigen Phänomene der ungeschützten oder nicht in angemessener Weise vertretenen unterbezahlten Arbeit beweisen. Oft sind die Arbeitsbedingungen für Männer, Frauen und Kinder vor allem in den Entwicklungsländern so unmenschlich, dass sie ihre Würde verletzen und ihrer Gesundheit schaden.

b) Das Recht auf gerechte Vergütung und Verteilung des Einkommens

302 Die Vergütung ist das wichtigste Mittel, um die Gerechtigkeit in den Arbeitsverhältnissen zu verwirklichen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> „Der gerechte Lohn ist die rechtmäßige Frucht der Arbeit“;<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2434; vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno:AAS 23 (1931) 198–202: „Der gerechte Lohn“ ist der Titel des 4. Kapitels im 2. Teil.</ref> wer ihn verweigert oder nicht rechtzeitig und im richtigen Verhältnis zur geleisteten Arbeit auszahlt, begeht ein schweres Unrecht (vgl. Lk 19, 13; Dtn 24, 14–15; Jak 5, 4). Der Lohn ist das Mittel, das dem Arbeitnehmer Zugang zu den Gütern der Erde verschafft: „Schließlich ist die Arbeit so zu entlohnen, dass dem Arbeiter die Mittel zu Gebote stehen, um sein und der Seinigen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten – gemäß der Funktion und Leistungsfähigkeit des Einzelnen, der Lage des Unternehmens und unter Rücksicht auf das Gemeinwohl“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 67: AAS 58 (1966) 1088–1089.</ref> Die einfache Übereinkunft zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hinsichtlich der Höhe der Vergütung genügt nicht, um den vereinbarten Lohn als „gerecht“ zu qualifizieren, denn dieser darf nicht so niedrig sein, „dass er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft“:<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 131.</ref> die natürliche Gerechtigkeit ist der Vertragsfreiheit vor- und übergeordnet.

303 Der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes misst sich nicht ausschließlich an der Menge der produzierten Güter, sondern auch daran, wie diese produziert werden und am Grad der Billigkeit, mit der die Verteilung des Einkommens vorgenommen wird, die es allen ermöglichen muss, das zu ihrer Verfügung zu haben, was sie zur Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Person benötigen. Eine gerechte Verteilung des Einkommens wird auf der Grundlage der Kriterien nicht nur der ausgleichenden, sondern auch der sozialen Gerechtigkeit erzielt, das heißt sie berücksichtigt neben dem objektiven Wert der Arbeitsleistung auch die Menschenwürde der Subjekte, die diese Leistung erbringen. Ein echter wirtschaftlicher Wohlstand lässt sich außerdem auch durch eine geeignete Sozialpolitik der Umverteilung des Einkommens verwirklichen, die unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation die Verdienste und die Bedürfnisse jedes einzelnen Bürgers in angemessener Weise in Betracht zieht.

c) Das Streikrecht

304 Die Soziallehre erkennt die Rechtmäßigkeit des Streiks an, „wenn er ein unvermeidliches, ja notwendiges Mittel zu einem angemessenen Nutzen darstellt“,<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2435.</ref> nachdem alle anderen Mittel der Konfliktbewältigung sich als unwirksam erwiesen haben.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 68: AAS 58 (1966) 1089–1090; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 629–630; Katechismus der Katholischen Kirche, 2430.</ref> Der Streik, eine der am härtesten erkämpften Errungenschaften der gewerkschaftlichen Verbände, kann als die kollektive und aufeinander abgestimmte Weigerung der Arbeitnehmer definiert werden, ihre Leistung zu erbringen, mit dem Ziel, über den auf diese Weise auf die Arbeitgeber, den Staat und die öffentliche Meinung ausgeübten Druck eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und ihrer sozialen Situation zu erreichen. Auch der Streik im Sinne „einer Art von Ultimatum“<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 632.</ref> muss immer eine friedliche Methode bleiben, die eigenen Rechte einzufordern und für sie zu kämpfen; er wird „sittlich unannehmbar, wenn er von Gewalttätigkeiten begleitet ist oder wenn man mit ihm Ziele verfolgt, die nicht direkt mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen oder die dem Gemeinwohl widersprechen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2435.</ref>

VI. SOLIDARITÄT UNTER DEN ARBEITNEHMERN

a) Die Bedeutung der Gewerkschaften

305 Das Lehramt erkennt die grundlegende Bedeutung der Arbeitnehmergewerkschaften an, deren Daseinsberechtigung in dem Recht der Arbeitnehmer besteht, Vereinigungen und Verbände zu gründen, um die lebenswichtigen Interessen derer zu schützen, die in den verschiedenen Bereichen beschäftigt sind. Die Gewerkschaften „sind aus dem Kampf der Arbeitnehmer, der Arbeiterschaft und vor allem der Industriearbeiter für den Schutz ihrer legitimen Rechte gegenüber den Unternehmern und den Besitzern der Produktionsmittel entstanden“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 629.</ref> Die gewerkschaftlichen Organisationen, die ihr je besonderes Ziel im Dienst des Gemeinwohls verfolgen, sind ein konstruktiver Faktor der sozialen Ordnung und der Solidarität und damit ein unverzichtbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Die Anerkennung der Rechte der Arbeit stellt schon immer ein schwer lösbares Problem dar, weil sie sich innerhalb vielschichtiger historischer und institutioneller Prozesse vollzieht, und man kann sagen, dass sie noch heute nicht abgeschlossen ist. Das macht eine echte Solidaritätspraxis unter den Arbeitnehmern heute aktueller und notwendiger denn je.

306 Die Soziallehre fordert, dass die Verhältnisse innerhalb der Arbeitswelt von Zusammenarbeit geprägt sein müssen: der Hass und der Kampf, der darauf abzielt, den anderen zu vernichten, sind unter anderem deshalb als Methoden gänzlich unannehmbar, weil die Arbeit und das Kapital für den Produktionsprozess gleichermaßen unverzichtbar sind. Ausgehend von dieser Überzeugung vertritt die Soziallehre „nicht die Meinung, dass die Gewerkschaften nur Ausdruck der »Klassen«-Struktur einer Gesellschaft und Teilnehmer des Klassenkampfes seien, der unvermeidlich das gesellschaftliche Leben beherrsche“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 630.</ref> Genau genommen sind die Gewerkschaften die treibenden Kräfte des Kampfes für die soziale Gerechtigkeit, für die Rechte der Arbeitnehmer in ihren je eigenen Berufen: „Dieser »Kampf« muss jedoch als ein normaler Einsatz »für« ein gerechtes Gut angesehen werden (…). Es ist dies aber kein Kampf »gegen« andere“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 630.</ref> Die Gewerkschaft, die vor allem ein Instrument der Solidarität und Gerechtigkeit ist, darf die Mittel des Kampfes nicht missbrauchen; um ihrer Bestimmung willen muss sie den Versuchungen des Korporativismus widerstehen und lernen, sich selbst zu regeln und die Folgen ihrer eigenen Entscheidungen für den größeren Zusammenhang des Gemeinwohls abzuschätzen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2430.</ref>

307 Der Gewerkschaft kommt neben ihren schützenden und fordernden Funktionen zum einen eine Vertretungsaufgabe zu, die darauf ausgerichtet ist, „zur rechten Gestaltung des Wirtschaftslebens einen wirksamen Beitrag zu leisten“,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 68: AAS 58 (1966) 1090.</ref> und zum anderen die Erziehung des sozialen Gewissens der Arbeitnehmer, damit diese sich je nach den Fähigkeiten und Einstellungen eines jeden am gesamten Werk der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und der Schaffung des weltweiten Gemeinwohls aktiv beteiligt fühlen. Die Gewerkschaften und die anderen Formen der Arbeiterverbände müssen eine Funktion der Zusammenarbeit mit den übrigen sozialen Subjekten übernehmen und sich für die Verwaltung der öffentlichen Sache interessieren. Die gewerkschaftlichen Organisationen haben die Pflicht, die politische Macht dahingehend zu beeinflussen, dass sie in gebührender Weise für die Probleme der Arbeitswelt sensibilisiert und dazu verpflichtet wird, sich für die Verwirklichung der Arbeiterrechte einzusetzen. Dennoch haben die Gewerkschaften nicht den Charakter „politischer Parteien“, die um die Macht kämpfen, und dürfen auch nicht den Entscheidungen der politischen Parteien unterworfen werden oder allzu enge Beziehungen mit ihnen unterhalten: „Sonst verlieren sie nämlich leicht den Kontakt mit ihrem eigentlichen Auftrag, der Sicherung der berechtigten Ansprüche der Arbeitnehmer im Rahmen des Gemeinwohls des ganzen Landes, und werden statt dessen ein Werkzeug für andere Zwecke“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 631.</ref>

b) Neue Formen der Solidarität

308 Der heutige sozioökonomische Kontext, der von immer schnelleren Prozessen der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung gekennzeichnet ist, drängt die Gewerkschaften zur Erneuerung. Die Gewerkschaften sind heute zu neuen Formen des Handelns aufgerufen,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Treffens für Gewerkschaftsvertreter (2. Dezember 1996), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XIX,2 (1996) 865.</ref> die darin bestehen, ihren eigenen Aktionsradius der Solidarität so zu vergrößern, dass neben den traditionellen Kategorien der Arbeit auch Arbeiter mit atypischen oder mit Teilzeitverträgen geschützt sind, ebenso wie andere, deren Stellen durch die immer häufigeren Unternehmensfusionen auch auf internationaler Ebene gefährdet sind, Menschen ohne Beschäftigung, Einwanderer, Saisonarbeiter sowie alle diejenigen, die vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, weil sie in ihrem Beruf nicht mehr auf dem neuesten Stand sind und ohne entsprechende Fortbildungsmaßnahmen dort nicht mehr Fuß fassen können.

Angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt kann die Solidarität wiederhergestellt und vielleicht noch besser begründet werden als in der Vergangenheit, wenn man sich für eine Wiederentdeckung des subjektiven Werts der Arbeit einsetzt: „Man muss sich daher weiterhin die Frage nach dem Subjekt der Arbeit und nach seinen Lebensbedingungen stellen“. Deshalb „bedarf es immer neuer Bewegungen von Solidarität der Arbeitenden und mit den Arbeitenden“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 8: AAS 73 (1981) 597.</ref>

309 Indem sie „neue Formen der Solidarität“<ref> Johannes Paul II., Botschaft an die Teilnehmer des Internationalen Treffens zur Arbeit (14. September 2001), 4: L’Osservatore Romano, 16. September 2001, S. 7.</ref> anstreben, müssen die Arbeitnehmerverbände sich darauf einstellen, mehr Verantwortung zu übernehmen, und zwar nicht nur in Bezug auf die traditionellen Mechanismen der Umverteilung, sondern auch im Hinblick auf die Produktion des Reichtums und auf die Schaffung von sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen, die es allen, die arbeiten können und wollen, unter vollständiger Wahrung ihrer Würde als Arbeitnehmer ermöglichen, ihr Recht auf Arbeit wahrzunehmen. Die schrittweise Überwindung des auf der Lohnarbeit in einem großen Unternehmen basierenden Organisationsmodells lässt zudem eine Aktualisierung der Normen und sozialen Versorgungssysteme als ratsam erscheinen, durch die die Arbeitnehmer bisher geschützt worden sind, wobei ihre Grundrechte natürlich unangetastet bleiben müssen.

VII. DIE „RES NOVAE“ DER ARBEITSWELT

a) Eine Epoche des Übergangs

310 Eine der bedeutendsten Ursachen für die gegenwärtige Wandlung der Arbeitsorganisation ist im Phänomen der Globalisierung gegeben: Dadurch, dass Unternehmen an Orte verlagert werden, die weit von den Schauplätzen der strategischen Entscheidungen und von den eigentlichen Konsummärkten entfernt sind, wird es möglich, neue Produktionsformen zu erproben. Zwei Faktoren treiben dieses Phänomen voran: die außerordentliche Schnelligkeit einer räumlich und zeitlich unbegrenzten Kommunikation sowie die relative Mühelosigkeit, mit der Waren und Personen von einem Teil des Erdballs zum anderen transportiert werden. Dies bringt eine grundlegende Konsequenz für die Produktionsprozesse mit sich: Das Eigentum ist immer weiter entfernt und den sozialen Auswirkungen der getroffenen Entscheidungen gegenüber oft gleichgültig. Wenn es aber andererseits zutrifft, dass die Globalisierung an sich a priori weder gut noch schlecht ist, sondern davon abhängt, wie der Mensch sie gebraucht,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (27. April 2001), 2: AAS 93 (2001) 599.</ref> dann ist festzuhalten, dass eine Globalisierung der Schutzmaßnahmen, der wesentlichen Mindestrechte und der Billigkeit erforderlich ist.

311 Eines der wichtigsten Merkmale der Neuorganisation der Arbeit ist die physische Aufsplitterung des Produktionskreislaufs zum Zweck einer höheren Effizienz und höherer Gewinne. In diesem Zusammenhang erleben die Koordinaten von Raum und Zeit, die den Rahmen für den Produktionskreislauf bildeten, eine nie da gewesene Umgestaltung, die eine Wandlung der Struktur der Arbeit selbst zur Folge hat. All das hat bedeutende Auswirkungen auf das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaften, die sowohl hinsichtlich der materiellen Bedingungen als auch hinsichtlich der Kultur und der Werte radikalen Veränderungen unterworfen sind. Dieses Phänomen betrifft auf globaler und lokaler Ebene Millionen von Menschen unabhängig von ihrem Beruf, ihrer sozialen Situation, ihren kulturellen Voraussetzungen. Die Neuorganisation der Zeit, ihre Regelung und die sich in der Nutzung des Raums vollziehenden Änderungen – die in ihrem Ausmaß der ersten industriellen Revolution vergleichbar sind, da sie ungeachtet des Entwicklungsgrades alle Produktionssektoren auf allen Kontinenten betreffen – sind daher auch auf ethischer und kultureller Ebene als eine entscheidende Herausforderung im Hinblick auf die Definition eines erneuerten Systems zum Schutz der Arbeit zu betrachten.

312 Die Globalisierung der Wirtschaft – und mit ihr die Liberalisierung der Märkte, die Verschärfung der Konkurrenz, die wachsende Zahl von Firmen, die sich auf die Lieferung von Produkten und Dienstleistungen spezialisieren – erfordert eine größere Flexibilität am Arbeitsmarkt und in der Organisation und Verwaltung der Produktionsprozesse. Bei der Bewertung dieser schwierigen Materie scheint es ratsam, auf der Ebene der Moral, der Kultur und der Planung besondere Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, dass das soziale und politische Handeln sich in einer ihrerseits völlig neuen marktwirtschaftlichen Situation auf die Themenbereiche konzentriert, die mit der Identität und den Inhalten der neuen Arbeit verbunden sind. Die Veränderungen des Arbeitsmarkts sind häufig nicht die Ursache, sondern eine Folge der Veränderungen der Arbeit selbst.

313 Die Arbeit durchläuft vor allem in den Wirtschaftssystemen der eher weit entwickelten Länder eine Phase des Übergangs von einer industriellen zu einer im Wesentlichen auf Dienstleistungen und technologischer Innovation basierenden Wirtschaft. Das heißt, die stark informativ geprägten Dienstleistungen und Tätigkeiten wachsen schneller als die der traditionellen Primär- und Sekundärsektoren, was weitreichende Konsequenzen für die Organisation der Produktion und des Austauschs, den Inhalt und die Form der Arbeitsleistungen und die sozialen Versorgungssysteme hat.

Dank der technologischen Innovationen wird die Arbeitswelt durch neue Berufe bereichert, während andere verschwinden. In der gegenwärtigen Übergangsphase findet eine beständige Abwanderung der Beschäftigten vom industriellen zum Dienstleistungssektor statt. Während das wirtschaftliche und soziale Modell der großen Fabrik und der Arbeit einer homogenen Klasse von Werktätigen an Boden verliert, verbessern sich die Beschäftigungsaussichten im tertiären Sektor und nehmen insbesondere die Arbeitstätigkeiten im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, der Teilzeitarbeit, der vorübergehenden und der „atypischen“ Beschäftigungen zu, bei denen es sich um Formen der Arbeit handelt, die sich weder als abhängige noch als selbstständige Arbeit definieren lassen.

314 Gegenwärtig vollzieht sich ein Übergang von der auf unbegrenzte Zeit abhängigen Arbeit im Sinne einer Festanstellung hin zu einem Berufsleben, das von einer Vielfalt von Arbeitstätigkeiten gekennzeichnet ist; von einer kompakten, klar definierten und anerkannten Arbeitswelt hin zu einem bunten, sich ständig verändernden, verheißungsvollen Universum, das aber auch vor allem angesichts der wachsenden Unsicherheit der Beschäftigungsperspektiven, der fortdauernden Phänomene struktureller Arbeitslosigkeit und der Unzulänglichkeit der derzeitigen sozialen Versorgungssysteme besorgniserregende Fragen aufwirft. Die Forderungen des Wettbewerbs, der technologischen Innovation und der Komplexität des Kapitalflusses müssen mit dem Schutz des Arbeiters und seiner Rechte in Einklang gebracht werden.

Unsicherheit und Instabilität prägen nicht nur die Arbeitssituation der Menschen in den eher weit entwickelten Ländern, sondern auch und vor allem die wirtschaftlich weniger fortgeschrittenen Regionen des Planeten in Entwicklungsländern und in Staaten, deren Wirtschaft sich in einer Phase der Umgestaltung befindet. Letztere müssen sich neben den vielschichtigen Problemen, die mit dem Wandel der Wirtschafts- und Produktionsmodelle verknüpft sind, auch täglich mit den schwierigen Forderungen auseinandersetzen, die sich aus dem aktuellen Globalisierungsprozess ergeben. Besonders für die Arbeitswelt ist die Situation dramatisch, weil von umfassenden und radikalen Veränderungen kultureller und struktureller Art betroffen, die häufig weder von der Gesetzgebung noch vom Bildungssystem noch von sozialen Hilfeleistungen aufgefangen werden.

315 Dadurch, dass die Dezentralisierung der Produktion den kleineren Betrieben vielfältige Aufgaben zuweist, die zuvor in den großen Produktionseinheiten konzentriert waren, gewinnen die kleinen und mittleren Unternehmen Kraft und neuen Schwung. Auf diese Weise entstehen neben dem traditionellen Handwerk neue Betriebe mit kleinen Produktionseinheiten, die moderne Produktionsbereiche oder von den größeren Unternehmen abgekoppelte Tätigkeiten übernehmen. Viele Tätigkeiten, für die gestern noch Angestellte erforderlich waren, werden heute in neuen Formen umgesetzt, die die selbstständige Arbeit begünstigen und von einem größeren Risiko und größerer Verantwortung geprägt sind.

Die Arbeit in den kleinen und mittleren Betrieben, die handwerkliche und die selbstständige Arbeit können zu einer Gelegenheit werden, das Arbeitsleben menschlicher zu gestalten, sei es durch die Möglichkeit, in einer überschaubaren Gemeinschaft positive zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, sei es durch die Vorteile, die sich aus einem Mehr an Initiative und Unternehmergeist ergeben; dennoch sind auch die Fälle ungerechter Behandlung sowie schlecht bezahlter und vor allem unsicherer Arbeit in diesen Sektoren nicht selten.

316 In den Entwicklungsländern hat sich zudem in den vergangenen Jahren das Phänomen einer wachsenden Zahl „informeller“ oder „schattenwirtschaftlicher“ Aktivitäten ausgebreitet, das zwar ein vielversprechendes Zeichen für ökonomisches Wachstums darstellt, andererseits jedoch ethische und juristische Probleme aufwirft. Der durch diese Tätigkeiten hervorgerufene beträchtliche Anstieg an Arbeitsplätzen ist eine Folge der fehlenden Spezialisierung eines großen Teils der örtlichen Arbeitnehmer und der ungeordneten Entwicklung der formellen Wirtschaftssektoren. Eine große Zahl von Personen ist somit dazu gezwungen, unter äußerst unangenehmen Bedingungen und in einem Rahmen zu arbeiten, in dem die Würde des Arbeiters nicht durch Regeln geschützt ist. Das Niveau der Produktivität, des Einkommens und des Lebensstandards ist extrem niedrig und erweist sich oft als nicht ausreichend, um den Unterhalt der Arbeiter und ihrer Familien zu gewährleisten.

b) Soziallehre und „res novae“

317 Angesichts der eindrucksvollen „res novae“ der Arbeitswelt warnt die Kirche insbesondere vor der irrtümlichen Ansicht, die gegenwärtigen Veränderungen vollzögen sich in deterministischer Weise. Der entscheidende Faktor und der „Schiedsrichter“ dieser komplexen Phase des Wandels ist noch immer der Mensch, der der eigentliche Protagonist seiner Arbeit bleiben muss. Er kann und muss die gegenwärtigen Innovationen und Umstrukturierungen kreativ und verantwortungsbewusst so gestalten, dass sie zum Wachstum der Person, der Familie, der Gesellschaft und der gesamten Menschheitsfamilie beitragen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 10: AAS 73 (1981) 600–602.</ref> Erhellend für alle ist der Hinweis auf die subjektive Dimension der Arbeit, der nach der kirchlichen Soziallehre der Vorrang gebührt, weil die menschliche Arbeit „das unmittelbare Werk der nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen [ist]. Diese sind dazu berufen, miteinander das Schöpfungswerk fortzusetzen, indem sie über die Erde herrschen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche,2427.</ref>

318 Die mechanistischen und ökonomistischen Deutungen der produktiven Tätigkeit halten, obwohl sie vorherrschend oder doch zumindest einflussreich sind, einer wissenschaftlichen Analyse der mit der Arbeit verbundenen Probleme nicht stand. Derartige Vorstellungen erweisen sich heute mehr denn je als vollkommen unzureichend, um die Tatsachen zu interpretieren, die die Bedeutung der Arbeit als einer freien und kreativen Tätigkeit des Menschen jeden Tag deutlicher werden lassen. Auch die konkrete Situation muss ein Anlass dazu sein, eingeschränkte und in Anbetracht der Dynamik, die derzeit am Werk ist, unzureichende theoretische Horizonte und praktische Kriterien unverzüglich zu überwinden, die in sich ungeeignet sind, die ganze Palette der konkreten und drängenden menschlichen Bedürfnisse auszumachen, zumal diese weit über die rein wirtschaftlichen Kategorien hinausgehen. Die Kirche weiß sehr wohl und lehrt schon immer, dass der Mensch im Unterschied zu jedem anderen Lebewesen Bedürfnisse hat, die sich nicht auf das „Haben“ beschränken,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 35: AAS 58 (1966) 1053; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 19: AAS 59 (1967) 266–267; Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 20: AAS 73 (1981) 629–632; Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 28: AAS 80 (1988) 548–550.</ref> weil seine Natur und seine Berufung untrennbar mit dem Transzendenten verbunden sind. Die menschliche Person lässt sich auf das Abenteuer ein, die Sachenwelt durch Arbeit umzugestalten, um in erster Linie materielle Bedürfnisse zu befriedigen, aber sie folgt damit einem Impuls, der sie dazu drängt, immer über das Erreichte hinauszugehen und weiter nach dem zu suchen, was ihren unauslöschlichen inneren Bedürfnissen in tieferer Weise entspricht.

319 Die historischen Ausdrucksformen der menschlichen Arbeit verändern sich, doch ihre bleibenden Forderungen, die sich im Respekt vor den unveräußerlichen Rechten des arbeitenden Menschen zusammenfassen lassen, dürfen sich nicht verändern. Angesichts der Gefahr, dass diese Rechte geleugnet werden, müssen neue Formen der Solidarität erdacht und geschaffen werden, die die wechselseitige Abhängigkeit der arbeitenden Menschen untereinander in Betracht ziehen. Je tiefer die Veränderungen greifen, desto entschlossener müssen sich Intelligenz und Wille dafür einsetzen, die Würde der Arbeit zu schützen, indem sie die auf den verschiedenen Ebenen zuständigen Institutionen stärken. Diese Sichtweise ermöglicht es, die gegenwärtigen Wandlungsprozesse in die so notwendige Richtung der Komplementarität zwischen dem örtlichen und dem globalen Wirtschaftsraum zu lenken; zwischen „alter“ und „neuer“ Wirtschaft; zwischen technologischer Innovation und der Forderung, die menschliche Arbeit zu schützen; zwischen Wirtschaftswachstum und umweltverträglicher Entwicklung.

320 Die Wissenschaftler und die Menschen von Bildung sind dazu aufgerufen, zur Lösung der umfangreichen und vielschichtigen Probleme der Arbeit, die in manchen Bereichen dramatische Ausmaße annehmen, ihren je eigenen und im Hinblick auf die richtigen Entscheidungen so wichtigen Beitrag zu leisten. Diese Verantwortung verlangt von ihnen, die Risiken und die Chancen der sich abzeichnenden Veränderungen aufzuzeigen und vor allem Handlungsentwürfe vorzulegen, die den Wandel in die Richtung lenken, die für die Entwicklung der gesamten Menschheitsfamilie die günstigste ist. Ihnen kommt die schwere Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Phänomene mit Einsicht und Wahrheitsliebe und unbeeinflusst von persönlichen oder Gruppeninteressen zu verstehen und zu deuten. Ihr Beitrag wird gerade wegen seiner theoretischen Natur zu einem wichtigen Bezugspunkt für das konkrete Handeln der Wirtschaftspolitik.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft an die Teilnehmer der Internationalen Treffens zur Arbeit (14. September 2001), 5: L’Osservatore Romano, 16. September 2001, S. 7.</ref>

321 Die derzeitigen Szenarien einer tiefen Umgestaltung der menschlichen Arbeit lassen eine wirklich globale und solidarische Entwicklung noch wichtiger werden, die alle Gebiete der Welt, auch die weniger begünstigten, umfasst. Für diese letzteren stellt der Beginn eines weitreichenden solidarischen Entwicklungsprozesses nicht nur eine konkrete Möglichkeit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern auch eine wahre und eigentliche Voraussetzung für das Überleben ganzer Völker dar: „Es ist nötig, dass wir die Solidarität globalisieren“.<ref> Johannes Paul II., Worte nach der heiligen Messe zur Heiligjahrfeier der Arbeiter (1. Mai 2000), 2: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXIII, 1 (2000) 720.</ref>

Das bestehende wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht in der Arbeitswelt muss mit der Wiedereinsetzung einer gerechten Wertehierarchie und mit der Vorrangstellung der Würde der arbeitenden Person bekämpft werden: „Nie dürfen die neuen Gegebenheiten, die sich machtvoll in den Produktionsprozess einschalten, wie zum Beispiel die Globalisierung der Finanzwelt, der Wirtschaft, des Handels und der Arbeit, die Würde und die Vorrangstellung des Menschen oder die Freiheit und Demokratie der Völker verletzen. Solidarität, Beteiligung und die Möglichkeit, diese radikalen Veränderungen zu beherrschen, sind – wenn schon nicht die Lösung – so doch sicherlich die nötige ethische Gewähr, damit Personen und Völker nicht Werkzeuge, sondern Hauptverantwortliche ihrer Zukunft werden. All das kann Wirklichkeit werden, und da es möglich ist, wird es auch zur Pflicht“.<ref> Johannes Paul II., Predigt der Heiligen Messe zur Heiligjahrfeier der Arbeiter (1. Mai 2000), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXIII, 1 (2000) 717.</ref>

322 Es wird immer wichtiger, die neue Arbeitssituation im gegenwärtigen Kontext der Globalisierung zu betrachten und dabei zu berücksichtigen, dass der Mensch von Natur aus dazu neigt, Beziehungen zu knüpfen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Universalität keine Dimension der Sachen, sondern eine Dimension des Menschen ist. Die Technik mag die instrumentelle Ursache der Globalisierung sein, doch ihre letzte Ursache ist die Universalität der Menschheitsfamilie. Deshalb hat auch die Arbeit eine universale Dimension, weil sie auf dem Beziehungscharakter des Menschen basiert. Vor allem die elektronischen Techniken haben die Globalisierung beschleunigt und so die Voraussetzungen dafür geschaffen, diesen Beziehungsaspekt der Arbeit über den ganzen Erdball zu verbreiten. Das letzte Fundament dieser Dynamik ist der arbeitende Mensch, ist immer das subjektive, nie das objektive Element. Auch die globalisierte Arbeit hat ihren Ursprung daher in der anthropologischen Grundlage der der Arbeit innewohnenden Beziehungsdimension. Die negativen Seiten der Globalisierung dürfen nicht die Chancen zunichte machen, die sich für alle auftun, nämlich auf weltweiter Ebene einem Humanismus der Arbeit und einer Solidarität der Arbeitswelt Gestalt zu geben, damit der Mensch, der in einem solchen erweiterten und vernetzten Kontext arbeitet, seine Berufung zu Einheit und Solidarität immer besser versteht.

SIEBTES KAPITEL: DAS WIRTSCHAFTSLEBEN

I. BIBLISCHE ASPEKTE

a) Der Mensch, Armut und Reichtum

323 Im Alten Testament begegnen wir einer zweigeteilten Einstellung zu den wirtschaftlichen Gütern und zum Reichtum. Auf der einen Seite schätzt man die Verfügbarkeit der materiellen Güter, die als lebensnotwendig betrachtet werden: Die Fülle – nicht aber der Reichtum oder der Luxus – wird zuweilen als ein Segen Gottes betrachtet. In der Weisheitsliteratur wird die Armut als negative Folge der Trägheit und des fehlenden Fleißes (vgl. Spr 10, 4), doch auch als natürliche Gegebenheit beschrieben (vgl. Spr 22, 2). Auf der anderen Seite werden nicht die wirtschaftlichen Güter und der Reichtum selbst, sondern nur ihr negativer Gebrauch verurteilt. Die prophetische Tradition brandmarkt Betrügereien, Wucher, Ausbeutung, grobe Ungerechtigkeiten vor allem den Ärmsten gegenüber (vgl. Jes 58, 3–11; Jer 7, 4–7; Hos 4, 1–2; Am 2, 6–7; Mi 2, 1–2). Diese Tradition betrachtet die Armut der Unterdrückten, der Schwachen und der Bedürftigen zwar als ein Übel, sieht darin jedoch auch ein Symbol der Situation des Menschen vor Gott, von dem alles Gute kommt – als ein Geschenk, das es zu verwalten und zu teilen gilt.

324 Wer unabhängig von seiner Lebenssituation seine eigene Armut vor Gott erkennt, zieht Gottes besondere Aufmerksamkeit auf sich: Wenn der Arme sucht, antwortet der Herr; wenn er schreit, wird er erhört. Den Armen gelten die Verheißungen Gottes: Sie werden die Erben des Bundes sein, den er mit seinem Volk geschlossen hat. Das heilbringende Eingreifen Gottes wird durch einen neuen David geschehen (vgl. Ez 34, 22–31), der ebenso und noch mehr als König David die Armen verteidigen und sich für die Gerechtigkeit einsetzen wird; er wird einen neuen Bund schließen und ein neues Gesetz in die Herzen der Gläubigen schreiben (vgl. Jer 31, 31–34).

Wenn die Armut im Geist der Religiosität angenommen und gesucht wird, befähigt sie dazu, die Ordnung des Geschaffenen anzuerkennen und zu akzeptieren; der „Reiche“ ist in diesem Zusammenhang derjenige, der den Dingen, die er besitzt, mehr vertraut als Gott, der Mensch, der stark wird durch das Werk seiner Hände und sich allein auf diese seine Stärke verlässt. Die Armut wird zu einem moralischen Wert, wenn sie sich in demütiger Verfügbarkeit und vertrauensvoller Offenheit gegenüber Gott äußert. Diese Haltungen versetzen den Menschen in die Lage, die Relativität der wirtschaftlichen Güter zu erkennen und sie als göttliche Geschenke zu behandeln, die es zu verwalten und zu teilen gilt, weil Gott der ursprüngliche Eigentümer aller Güter ist.

325 Jesus greift die gesamte Überlieferung des Alten Testaments auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Güter, des Reichtums und der Armut auf und verleiht ihnen eine endgültige Klarheit und Fülle (vgl. Mt 6, 24 und 13, 22; Lk 6, 20–24 und 12, 15–21; Röm 14, 6–8 und 1 Tim 4, 4). Indem er seinen Geist aussendet und die Herzen verwandelt, errichtet er das „Reich Gottes“, in dem ein neues Zusammenleben in Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Solidarität und im Teilen möglich sein wird. Das von Christus gegründete Reich vervollkommnet die ursprüngliche Gutheit des Geschaffenen und des menschlichen Tuns, die durch die Sünde beeinträchtigt worden war. Vom Bösen befreit und wieder in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen, kann jeder Mensch mit der Hilfe des Heiligen Geistes das Werk Jesu fortsetzen: den Armen Gerechtigkeit widerfahren lassen, die Unterdrückten befreien, die Betrübten trösten und aktiv nach einer neuen sozialen Ordnung streben, die angemessene Lösungen für das Problem der materiellen Armut bereithält und jenen Kräften wirkungsvoller Einhalt gebietet, die verhindern wollen, dass die Schwächsten ihre Situation des Elends und der Sklaverei abzuschütteln vermögen. Wenn das geschieht, ist das Reich Gottes auf dieser Erde bereits gegenwärtig, obwohl es ihr nicht angehört. In ihm finden die Verheißungen der Propheten ihre letzte Erfüllung.

326 Im Licht der Offenbarung muss die wirtschaftliche Aktivität als eine bejahende Antwort auf die Berufung betrachtet und entfaltet werden, die Gott jedem Menschen schenkt. Er ist in den Garten hineingestellt, um ihn zu bebauen und zu hüten, ihn innerhalb genau festgelegter Grenzen (vgl. Gen 2, 16–17) zu nutzen und ihn so letztlich zu vervollkommnen (vgl. Gen 1, 26–30; 2, 15–16; Weish 9, 2–3). Indem er zum Zeugen der Größe und Güte des Schöpfers wird, geht der Mensch der Fülle der Freiheit entgegen, zu der Gott ihn berufen hat. Eine gute Verwaltung der empfangenen – auch materiellen – Güter ist ein Werk der Gerechtigkeit gegenüber sich selbst und den anderen Menschen: Das, was man empfängt, muss gut genutzt, bewahrt und vermehrt werden, wie das Gleichnis von den Talenten lehrt (vgl. Mt 25, 14–30; Lk 19, 12–27).

Die wirtschaftliche Tätigkeit und der materielle Fortschritt müssen in den Dienst des Menschen und der Gesellschaft gestellt werden; wenn man sich ihnen mit dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe der Jünger Christi widmet, können auch Wirtschaft und Fortschritt zu Orten des Heils und der Heiligung werden; auch in diesen Bereichen ist es möglich, einer mehr als menschlichen Liebe und Solidarität Ausdruck zu verleihen und zum Wachstum einer neuen Menschheit beizutragen, die die Welt der letzten Zeiten vorwegnimmt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 25–27: AAS 73 (1981) 638–647.</ref> Jesus fasst die gesamte Offenbarung in der Aufforderung an den Gläubigen zusammen, vor Gott reich zu werden (vgl. Lk 12, 21): Auch die Wirtschaft dient diesem Ziel, wenn sie ihre Rolle als Instrument des globalen Wachstums von Mensch und Gesellschaft und menschlicher Lebensqualität nicht verleugnet.

327 Der Glaube an Jesus Christus ermöglicht ein richtiges Verständnis der sozialen Entwicklung im Kontext eines umfassenden und solidarischen Humanismus. Der theologische Beitrag des sozialen Lehramts ist in dieser Hinsicht sehr nützlich: „Während der Glaube an Christus, den Erlöser, das Wesen der Entwicklung von innen her erhellt, weist er uns auch den Weg bei der Aufgabe der Zusammenarbeit. Im Brief des heiligen Paulus an die Kolosser lesen wir, dass Christus der »Erstgeborene der ganzen Schöpfung« ist und »alles durch ihn und auf ihn hin geschaffen ist« (1, 15–16). Denn jedes Ding »hat in ihm Bestand«, weil »Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen wollte, um durch ihn alles zu versöhnen« (ibid. 1, 20).

In diesen göttlichen Plan, der von Ewigkeit her in Christus, dem vollkommenen »Ebenbild« des Vaters, beginnt und in ihm als dem »Erstgeborenen der Toten« (ibid. 1, 15–18) seinen Höhepunkt findet, fügt sich unsere Geschichte ein, die von unserem persönlichen wie kollektiven Bemühen gekennzeichnet ist, die menschliche Lage zu bessern und die auf unserem Weg immer wieder entstehenden Widerstände zu überwinden, indem wir uns so auf die Teilnahme an jener Fülle vorbereiten, die »in ihm wohnt« und die er »seinem Leib, der die Kirche ist«, mitgeteilt hat (ibid. 1, 18; vgl. Eph 1, 22–23), während die Sünde, die uns stets bedrängt und unsere menschlichen Unternehmungen beeinträchtigt, durch die von Christus gewirkte »Versöhnung« besiegt und entgolten worden ist (vgl. Kol 1, 20)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 31: AAS 80 (1988) 554–555.</ref>

b) Reichtum existiert, um geteilt zu werden

328 Auch die Güter, die man rechtmäßig besitzt, behalten immer ihre allgemeine Bestimmung; jede Form ihrer unangemessenen Anhäufung ist unmoralisch, weil sie der von Gott, dem Schöpfer, allen Gütern verliehenen universalen Bestimmung offen widerspricht. Das christliche Heil ist nämlich eine umfassende Befreiung des Menschen: von der Bedürftigkeit, aber auch vom Besitz selbst: „Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet“ (1 Tim 6, 10). Die Kirchenväter betonen die Notwendigkeit der Umkehr und Umbildung des Gewissens der Gläubigen stärker als die Forderung nach einer Veränderung der sozialen und politischen Strukturen ihrer Zeit und appellieren an jeden, der einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht und Güter besitzt, sich als Verwalter dessen zu betrachten, was Gott ihm anvertraut hat.

329 Die Reichtümer erfüllen ihre dienende Funktion am Menschen, wenn sie eingesetzt werden, um Güter für die anderen und für die Gesellschaft zu produzieren:<ref> Vgl. Hermas, Pastor, Liber Tertium, Similitudo I:PG2, 954.</ref> „Wie könnten wir dem Nächsten Gutes tun, wenn alle nichts besäßen?“, fragt sich Clemens Alexandrinus.<ref> Clemens von Alexandrien, Quis dives salvetur, 13: PG 9, 618.</ref> In der Sicht des heiligen Johannes Chrysostomus gehören die Reichtümer einigen, damit diese sich Verdienste erwerben können, indem sie sie mit den anderen teilen.<ref> Vgl. Johannes Chrysostomus, Homiliae XXI de Statuis ad populum Antiochenum habitae,2, 6–8:PG49, 41–46.</ref> Sie sind ein Gut, das von Gott kommt: Wer es besitzt, muss es gebrauchen und es in Umlauf bringen, sodass auch die Bedürftigen in seinen Genuss kommen; als Übel ist es zu betrachten, wenn jemand sich übertrieben an den Reichtum klammert und ihn für sich alleine behalten will. Der heilige Basilius der Große fordert die Reichen dazu auf, die Tore ihrer Lagerräume aufzureißen, und ruft: „Ein großer Fluss ergießt sich in tausend Kanälen über das fruchtbare Land: So sollst du auf tausend Wegen dafür sorgen, dass der Reichtum in den Häusern der Armen Einzug hält“.<ref> Basilius der Große, Homilia in illud Lucae, Destruam horrea mea,5: PG 31, 271.</ref> Der Reichtum, so erklärt der heilige Basilius, ist wie das Wasser, das umso klarer aus der Quelle hervorsprudelt, je häufiger man aus ihr schöpft, während es faulig wird, wenn niemand die Quelle benutzt.<ref> Vgl. Basilius der Große, Homilia in illud Lucae, Destruam horrea mea,5: PG 31, 271.</ref> Und der heilige Gregor der Große wird später sagen, dass der Reiche nur ein Verwalter dessen ist, was er besitzt; dem Bedürftigen das Notwendige zu geben ist ein Werk, das mit Demut verrichtet werden muss, weil die Güter nicht dem gehören, der sie verteilt. Wer den Reichtum für sich behält, ist nicht unschuldig; ihn dem zu geben, der ihn benötigt, bedeutet, eine Schuld zu begleichen.<ref> Vgl. Gregor der Große, Regula pastoralis, 3, 21: PL 77, 87–89. § 21 ist so überschrieben: „Quomodo admonendi qui aliena non appetunt, sed sua retinent; et qui sua tribuentes, aliena tamen rapiunt“.</ref>

II. MORAL UND WIRTSCHAFT

330 Die Soziallehre der Kirche betont den sittlichen Aspekt der Wirtschaft. Pius XI. äußert sich in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ zum Verhältnis zwischen Wirtschaft und Moral: „Wenngleich Wirtschaft und Sittlichkeit jede in ihrem Bereich eigenständig sind, so wäre es doch ein Irrtum, die Bereiche des Wirtschaftlichen und des Sittlichen derart auseinanderzureißen, dass jener außer aller Abhängigkeit von diesem tritt. Die so genannten Wirtschaftsgesetze, aus dem Wesen der Sachgüter wie aus dem Geist-Leib-Wesen des Menschen erfließend, besagen nur etwas über das Verhältnis von Mittel und Zweck und zeigen so, welche Zielsetzungen auf wirtschaftlichem Gebiet in der Macht des Menschen und welche nicht in der Macht des Menschen liegen. Aus der gleichen Sachgüterwelt sowie der Individual- und Sozial-Natur des Menschen entnimmt sodann die menschliche Vernunft mit voller Bestimmtheit das von Gott, dem Schöpfer, der Wirtschaft als Ganzem vorgesteckte Ziel. Anders das Sittengesetz. Ihm allein eignet verpflichtende Kraft, mit der es unsern Willen bindet, wie in all unserm Tun und Lassen die Richtung auf unser höchstes und letztes Ziel, so in den verschiedenen Sachbereichen die Ausrichtung auf die jedem einzelnen von ihnen vom Schöpfer erkennbar vorgesteckten Ziele und damit zugleich die rechte Stufenordnung der Ziele bis zum höchsten und letzten allzeit innezuhalten“.<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 190–191.</ref>

331 Das Verhältnis zwischen Moral und Wirtschaft ist notwendig und wesentlich: wirtschaftliche Aktivität und moralisches Verhalten durchdringen einander im Innersten. Die notwendige Unterscheidung zwischen Moral und Wirtschaft hat keine Trennung der beiden Bereiche, sondern im Gegenteil eine bedeutsame Wechselseitigkeit zur Folge. So, wie im moralischen Bereich die Gründe und Forderungen der Wirtschaft in Betracht gezogen werden müssen, muss der, der im wirtschaftlichen Bereich tätig ist, für die moralischen Belange offen sein: „Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 68: AAS 60 (1966) 1084.</ref> Den Vernunftgründen der Wirtschaft das richtige und gebührende Gewicht zu geben bedeutet nicht, jede Überlegung der metaökonomischen Ordnung als irrational zurückzuweisen, denn das Ziel der Wirtschaft liegt ja gerade nicht in der Wirtschaft selbst, sondern in ihrer menschlichen und gesellschaftlichen Bestimmung.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2426.</ref> Denn das Ziel der Verwirklichung des Menschen und des guten menschlichen Zusammenlebens ist weder im wissenschaftlichen Bereich noch auf praktischer Ebene der Wirtschaft anvertraut. Ihr kommt vielmehr eine Teilaufgabe zu: die Produktion, die Verteilung und der Konsum der materiellen Güter und der Dienstleistungen.

332 Die moralische Dimension der Wirtschaft lässt die wirtschaftliche Effizienz und die solidarische Entwicklung der Menschheit als zwei zwar getrennte und alternative, jedoch voneinander untrennbare Ziele erscheinen. Die Moral, die für das wirtschaftliche Leben wesentlich ist, ist diesem weder entgegengesetzt, noch verhält sie sich neutral: Wenn sie sich von der Gerechtigkeit und der Solidarität inspirieren lässt, wird sie für die Wirtschaft selbst zu einem Faktor der gesellschaftlichen Effizienz. Es ist eine Pflicht, die mit der Produktion der Güter verbundene Tätigkeit effizient auszuführen, denn sonst werden Ressourcen verschwendet; andererseits ist ein Wirtschaftswachstum auf Kosten der Menschen und ganzer Völker und Gesellschaftsgruppen, die zu Armut und Ausgrenzung verdammt werden, nicht akzeptabel. Die an der Verfügbarkeit der Güter und Dienstleistungen erkennbare Ausbreitung des Reichtums und die moralische Forderung nach einer gerechten Verteilung ebendieser Güter und Dienstleistungen müssen für den Menschen und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu einem Anreiz werden, die wesentliche Tugend der Solidarität zu üben,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 568–569.</ref> um im Geist der Gerechtigkeit und Liebe jene „Strukturen der Sünde“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 36: AAS 80 (1988) 561.</ref> die Armut, Unterentwicklung und Erniedrigung hervorbringen und aufrechterhalten, zu bekämpfen, wo immer sie sich zeigen. Diese Strukturen werden durch viele konkrete Taten des menschlichen Egoismus aufgebaut und verfestigt.

333 Um den moralischen Anforderungen zu genügen, muss sich die wirtschaftliche Aktivität auf alle Menschen und alle Völker als Subjekte stützen. Alle haben das Recht, am Wirtschaftsleben teilzunehmen, und alle haben die Pflicht, je nach ihren eigenen Fähigkeiten zum Fortschritt ihres Landes und der gesamten Menschheitsfamilie beizutragen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 65: AAS 58 (1966) 1086–1087.</ref> Wenn also gewissermaßen alle für alle verantwortlich sind, dann hat auch jeder die Pflicht, sich für die wirtschaftliche Entwicklung aller einzusetzen:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 32: AAS 80 (1988) 556–557.</ref> Es ist eine Pflicht der Solidarität und der Gerechtigkeit, aber es ist auch der beste Weg, um die ganze Menschheit voranzubringen. Wenn sie auf moralische Weise gelebt wird, ist die Wirtschaft folglich durch die Produktion von wachstumsfördernden Gütern und Diensten eine Leistung, die auf Gegenseitigkeit beruht, und wird für jeden Menschen zu einer Gelegenheit, die Solidarität und die Berufung zu jener „Gemeinschaft mit den anderen Menschen“ zu leben, „für die ihn Gott geschaffen hat“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 41: AAS 83 (1991) 844.</ref> Sozioökonomische Projekte zu entwerfen und umzusetzen, die geeignet sind, eine gerechtere Gesellschaft und eine menschlichere Welt zu fördern, ist eine schwierige Herausforderung, aber auch eine reizvolle Aufgabe für alle, die in der Wirtschaft und in den Wirtschaftswissenschaften tätig sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000,15–16: AAS 92 (2000) 366–367.</ref>

334 Gegenstand der Wirtschaft ist die Bildung und fortschreitende Vergrößerung von Reichtum in quantitativer, aber auch qualitativer Hinsicht: All das ist moralisch richtig, wenn es auf die globale und solidarische Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt und arbeitet, ausgerichtet ist. Die Entwicklung lässt sich nämlich nicht auf einen bloßen Prozess der Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen reduzieren. Im Gegenteil: Die bloße Anhäufung ist, auch wenn sie dem Gemeinwohl dient, keine ausreichende Voraussetzung für die Verwirklichung des echten menschlichen Glücks. Vor diesem Hintergrund warnt das soziale Lehramt vor den Verlockungen einer nur quantitativen Art des Wachstums, weil die übertriebene „Verfügbarkeit von jeder Art materieller Güter zugunsten einiger sozialer Schichten (…) die Menschen leicht zu Sklaven des »Besitzens« und des unmittelbaren Genießens“ macht. „Das ist die so genannte Konsumgesellschaft oder der Konsumismus“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 28: AAS 80 (1988) 548.</ref>

335 Unter dem Aspekt der umfassenden und solidarischen Entwicklung lässt sich auch die moralische Bewertung, die die Marktwirtschaft oder einfach die freie Wirtschaft von Seiten der Soziallehre erfährt, richtig einschätzen: „Wird mit »Kapitalismus« ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv. Vielleicht wäre es passender, von »Unternehmenswirtschaft« oder »Markwirtschaft« oder einfach »freier Wirtschaft« zu sprechen. Wird aber unter »Kapitalismus« ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 42: AAS 83 (1991) 845–846.</ref> Daran erkennt man die christliche Sicht auf die sozialen und politischen Bedingungen der wirtschaftlichen Aktivität: dass sie nicht nur nach ihren Regeln, sondern auch nach ihrer moralischen Qualität und ihrer Bedeutung fragt.

III. PRIVATINITIATIVE UND UNTERNEHMEN

336 Die Soziallehre der Kirche betrachtet die Freiheit der Person im Bereich der Wirtschaft als einen grundlegenden Wert und ein unveräußerliches Recht, das gestärkt und geschützt werden muss: „Jeder hat das Recht auf wirtschaftliche Initiative; jeder darf und soll seine Talente nutzen, um zu einem Wohlstand beizutragen, der allen zugute kommt, und um die gerechten Früchte seiner Mühe zu ernten“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2429; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 63: AAS 58 (1966) 1084–1085; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854; Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988)528–530; Id., Enz. Laborem exercens, 17: AAS 73 (1981) 620–622; Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 413–415.</ref> Diese Lehre warnt vor den negativen Folgen, die aus der Missachtung oder Verweigerung des Rechts auf wirtschaftliche Initiative entstehen: „Die Erfahrung lehrt uns, dass die Leugnung eines solchen Rechtes oder seine Einschränkung im Namen einer angeblichen »Gleichheit« aller in der Gesellschaft tatsächlich den Unternehmungsgeist, das heißt, die Kreativität des Bürgers als eines aktiven Subjektes, lähmt oder sogar zerstört“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988) 529; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2429.</ref> Innerhalb dieser Sichtweise lässt sich die freie und verantwortliche Initiative im wirtschaftlichen Bereich auch als ein Akt bezeichnen, der das Menschsein des Menschen im Sinne eines kreativen und beziehungsfähigen Subjekts offenbart. Deshalb muss diese Initiative über einen weiten Raum verfügen. Der Staat hat die moralische Verpflichtung, nur dort enge Grenzen zu ziehen, wo die Verwirklichung des Gemeinwohls und die Art der angebahnten wirtschaftlichen Aktivität oder die Art ihrer Umsetzung nicht miteinander zu vereinbaren sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 16: AAS 83 (1991) 813–814.</ref>

337 Die Dimension der Kreativität ist auch im unternehmerischen Bereich ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Handelns und äußert sich insbesondere in einer planenden, innovativen Haltung: „Einen solchen Produktionsprozess zu organisieren, seinen Bestand zu planen, dafür zu sorgen, dass er, unter Übernahme der notwendigen Risiken, der Befriedigung der Bedürfnisse positiv entspricht: auch das ist eine Quelle des Reichtums in der heutigen Gesellschaft. So wird die Rolle der geordneten und schöpferischen menschlichen Arbeit immer offensichtlicher und entscheidender. Aber ebenso sichtbar wird – als wesentlich zu dieser Arbeit gehörend – die Bedeutung der wirtschaftlichen Initiative und des Unternehmertums“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 833.</ref> Ausgehend von einer solchen Lehre muss man zu der Überzeugung gelangen, dass die „wichtigste Ressource des Menschen (…) in der Tat, zusammen mit der Erde, der Mensch selbst [ist]. Sein Verstand entdeckt die Produktivkraft der Erde und die Vielfalt der Formen, wie die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 833.</ref>

a) Das Unternehmen und seine Ziele

338 Das Unternehmen muss sich durch die Fähigkeit auszeichnen, dem Gemeinwohl der Gesellschaft durch die Produktion nützlicher Güter und Dienstleistungen zu dienen. Indem es bemüht ist, Güter und Dienstleistungen im Rahmen einer Logik der Effizienz und der Befriedigung der Interessen der verschiedenen involvierten Subjekte zu produzieren, bringt es Reichtum für die gesamte Gesellschaft hervor: nicht nur für die Eigentümer, sondern auch für die anderen an seiner Tätigkeit beteiligten Subjekte. Über diese im eigentlichen Sinne wirtschaftliche Funktion hinaus kommt dem Unternehmen auch eine soziale Bedeutung zu, weil es Möglichkeiten der Begegnung und der Zusammenarbeit schafft und den Fähigkeiten der mitwirkenden Personen einen Wert verleiht. Deshalb ist die wirtschaftliche Dimension in einem Unternehmen Voraussetzung für das Erreichen nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer und moralischer Ziele, die gemeinsam verfolgt werden müssen.

Das Ziel des Unternehmens muss in einem ökonomischen Rahmen und mit ökonomischen Kriterien erreicht werden, wobei jedoch die echten Werte nicht vernachlässigt werden dürfen, die die konkrete Entwicklung der Person und der Gesellschaft ermöglichen. In dieser personalen und gemeinschaftlichen Sichtweise darf das Unternehmen „nicht ausschließlich als »Kapitalgesellschaft« angesehen werden; es ist zugleich eine »Gemeinschaft von Menschen«, zu der als Partner in je verschiedener Weise und mit spezifischen Verantwortlichkeiten sowohl jene beitragen, die das für ihre Tätigkeit nötige Kapital einbringen, als auch jene, die mit ihrer Arbeit daran mitwirken“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 43: AAS 83 (1991) 847.</ref>

339 Den Angehörigen des Unternehmens muss bewusst sein, dass die Gemeinschaft, innerhalb deren sie tätig sind, ein Gut für alle und keine Struktur darstellt, die ausschließlich dazu da ist, die persönlichen Interessen Einzelner zu befriedigen. Nur in einem solchen Bewusstsein ist es möglich, eine Wirtschaft aufzubauen, die wirklich dem Menschen dient, und Pläne für eine echte Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen auszuarbeiten.

Ein sehr wichtiges und bedeutsames Beispiel stellt in dieser Richtung die Tätigkeit der genossenschaftlichen, der kleinen und der mittleren Unternehmen, der handwerklichen, der landwirtschaftlichen und der Familienbetriebe dar. Die Soziallehre hat den Beitrag hervorgehoben, den diese im Hinblick auf die Aufwertung der Arbeit, die Steigerung des persönlichen und sozialen Verantwortungsbewusstseins, das demokratische Leben und die für den Fortschritt des Markts und der Gesellschaft wichtigen menschlichen Werte leisten.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 422–423.</ref>

340 Die Soziallehre erkennt die berechtigte Funktion des Gewinns als eines ersten Anzeichens für den Erfolg eines Unternehmens an: „Wenn ein Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet das, dass die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt (…) wurden“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 35: AAS 83 (1991) 837.</ref> Dadurch wird aber das Bewusstsein der Tatsache nicht getrübt, dass der Gewinn nicht immer ein Beweis dafür ist, dass das Unternehmen der Gesellschaft in angemessener Weise dient.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2424.</ref> Es kann zum Beispiel sein, „dass die Wirtschaftsbilanz in Ordnung ist, aber zugleich die Menschen, die das kostbarste Vermögen des Unternehmens darstellen, gedemütigt und in ihrer Würde verletzt werden“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 35: AAS 83 (1991) 837.</ref> Das geschieht, wenn ein Unternehmen in soziokulturelle Systeme eingegliedert ist, die es auf die Ausbeutung der Personen anlegen und bereit sind, sich den Pflichten der sozialen Gerechtigkeit zu entziehen und die Rechte der Arbeiter zu verletzen.

Es ist unerlässlich, dass das berechtigte Gewinnstreben innerhalb des Unternehmens mit dem unverzichtbaren Schutz der Würde der Personen in Einklang gebracht wird, die in den verschiedenen Positionen dieses Unternehmens tätig sind. Diese beiden Forderungen stehen mitnichten zueinander im Widerspruch, denn einerseits wäre es unrealistisch, die Zukunft des Unternehmens gewährleisten zu wollen, ohne Güter und Dienstleistungen zu produzieren und ohne Gewinn zu erzielen, der die Frucht der damit entfalteten wirtschaftlichen Tätigkeit ist; andererseits wird dadurch, dass dem arbeitenden Menschen die Entwicklung seiner Persönlichkeit zugestanden wird, auch eine größere Produktivität und Effizienz der Arbeit selbst gefördert. Das Unternehmen muss eine Solidargemeinschaft sein,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 43: AAS 83 (1991) 846–848.</ref> die sich nicht nur um die Interessen des Unternehmens kümmert, sie muss eine „Sozialökologie“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 38: AAS 83 (1991) 841.</ref> der Arbeit anstreben, und sie muss auch durch die Bewahrung der natürlichen Umwelt zum Gemeinwohl beitragen.

341 Auch wenn das Streben nach einem angemessenen Gewinn in der Wirtschafts- und Finanzwelt gutgeheißen werden kann, ist der Wucher moralisch zu verurteilen: „Händler, die durch wucherische und profitgierige Geschäfte ihre Mitmenschen hungern und sterben lassen, begehen indirekt einen Mord; für diesen sind sie verantwortlich“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2269.</ref> Diese Verurteilung erstreckt sich auch auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen insbesondere im Hinblick auf die weniger fortgeschrittenen Länder, denen gegenüber es unzulässig ist, „missbräuchliche, wenn nicht gar wucherische Finanzsysteme“<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2438.</ref> in Anwendung zu bringen. Das Lehramt hat in der jüngeren Vergangenheit kraftvolle und deutliche Worte für eine Praxis gefunden, die sich derzeit in dramatischer Weise ausbreitet: „Treibt keinen Wucher! Diese Plage ist auch in unseren Tagen eine schamlose Realität, die vielen Menschen die Luft abschnüren kann, die sie zum Leben brauchen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache während der Generalaudienz (4. Februar 2004), 3: L’Osservatore Romano, 5. Februar 2004, S. 4.</ref>

342 Das Unternehmen von heute bewegt sich im Rahmen wirtschaftlicher Szenarien von immer größeren Ausmaßen, angesichts deren die Nationalstaaten häufig an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum geht, die schnellen Veränderungsprozesse zu lenken, von denen die internationalen finanzwirtschaftlichen Beziehungen betroffen sind; diese Situation veranlasst die Unternehmen dazu, neue und größere Verantwortung zu übernehmen als in der Vergangenheit.Im Hinblick auf eine echte solidarische und umfassende Entwicklung der Menschheit ist ihre Rolle heute mehr denn je von entscheidender Bedeutung, und ebenso wichtig ist in dieser Hinsicht, wie sehr sie sich der Tatsache bewusst sind, dass „die Entwicklung entweder allen Teilen der Welt gemeinsam zugute kommt oder einen Prozess der Rezession auch in jenen Gegenden erleidet, die bisher einen ständigen Fortschritt zu verzeichnen hatten. Diese Tatsache ist besonders aufschlussreich für das Wesen echter Entwicklung: Entweder nehmen alle Nationen der Welt daran teil, oder sie ist tatsächlich nicht echt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 17: AAS 80 (1988) 532.</ref>

b) Die Rolle des Unternehmers und Managers

343 Die wirtschaftliche Initiative ist Ausdruck der menschlichen Intelligenz und der Notwendigkeit, kreativ und gemeinschaftlich auf die Bedürfnisse des Menschen zu reagieren. Kreativität und Zusammenarbeit bilden die beiden Säulen eines richtig verstandenen unternehmerischen Wettbewerbs, der darin bestehen muss, gemeinsam nach den am besten geeigneten Lösungen zu suchen, um in der angemessensten Weise auf die nach und nach aufkommenden Bedürfnisse zu reagieren. Bei dem Verantwortungsbewusstsein, das aus der freien wirtschaftlichen Initiative entsteht, handelt es sich nicht nur um eine für das menschliche Wachstum des Einzelnen unerlässliche individuelle Tugend, sondern auch um eine soziale Tugend, die für die Entwicklung einer solidarischen Gemeinschaft notwendig ist: „In diesen Prozess sind wichtige Tugenden miteinbezogen, wie Fleiß, Umsicht beim Eingehen zumutbarer Risiken, Zuverlässigkeit und Treue in den zwischenmenschlichen Beziehungen, Festigkeit bei der Durchführung von schwierigen und schmerzvollen, aber für die Betriebsgemeinschaft notwendigen Entscheidungen und bei der Bewältigung etwaiger Schicksalsschläge“.718 <ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32: AAS 83 (1991) 833.</ref>

344 Die Rollen des Unternehmers und des Managers sind vom sozialen Standpunkt aus von zentraler Bedeutung, weil sie mitten in jenem Netz von technischen, kommerziellen, finanziellen und kulturellen Verbindungen angesiedelt sind, die die moderne Unternehmenswirklichkeit kennzeichnen. Da die in einem Betrieb getroffenen Entscheidungen aufgrund der zunehmenden Komplexität der unternehmerischen Tätigkeit eine Vielfalt miteinander verknüpfter, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial höchst relevanter Auswirkungen haben, muss jeder, der seine Verantwortung als Unternehmer oder Manager wahrnimmt, nicht nur beständig darum bemüht sein, seine fachlichen Kenntnisse zu aktualisieren, sondern auch unablässig über die moralischen Zielsetzungen nachdenken, von denen sich der in diesem Aufgabenbereich Tätige bei seinen persönlichen Entscheidungen lenken lassen muss.

Die Unternehmer und Manager dürfen nicht ausschließlich das objektive Ziel des Unternehmens, die Kriterien der wirtschaftlichen Effizienz und die Forderungen der Pflege des „Kapitals“ im Sinne der Gesamtheit der Produktionsmittel im Auge haben: Zu ihren klar definierten Pflichten gehört auch der konkrete Respekt vor der Menschenwürde der in ihrem Unternehmen tätigen Arbeiter.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2432.</ref> Letztere stellen „das kostbarste Vermögen des Unternehmens“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 35: AAS 83 (1991) 837.</ref> und den entscheidenden Produktionsfaktor dar.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 32–33: AAS 83 (1991) 832–835.</ref> In den großen strategischen und finanziellen Entscheidungen über Ankauf oder Verkauf, die Verkleinerung oder das Schließen von Niederlassungen sowie in der Fusionspolitik kann man sich nicht ausschließlich auf finanzielle oder kommerzielle Kriterien beschränken.

345 Die Soziallehre betont, dass der Unternehmer und der Manager sich dafür einsetzen müssen, die Arbeitstätigkeit in ihren Betrieben so zu strukturieren, dass die Familie und insbesondere die Familienmütter in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützt werden;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Laborem exercens, 19: AAS 73 (1981) 625–629.</ref> sie müssen im Licht einer umfassenden Sicht des Menschen und der Entwicklung die Qualitätsanforderungen erfüllen, und zwar im Hinblick auf die „Qualität der zu erzeugenden und zu konsumierenden Güter“, die „Qualität der beanspruchten Dienste“ und auch die „Qualität der Umwelt und des Lebens überhaupt“;<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 838.</ref> und sie müssen, wann immer die wirtschaftlichen Bedingungen und die politische Stabilität dies zulassen, in jene Produktionsstätten und -sektoren investieren, die Individuen und Völkern die Chance geben, die „eigene Arbeit zu verwerten“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 840.</ref>

IV. WIRTSCHAFTLICHE EINRICHTUNGEN IM DIENST DES MENSCHEN

346 Eine der vorrangigen Fragen in der Wirtschaft ist die Verwendung der Ressourcen,<ref> Im Hinblick auf den Gebrauch der Ressourcen verweist die Soziallehre der Kirche auf ihre Äußerungen zur allgemeinen Bestimmung der Güter und zum Privateigentum; vgl. Viertes Kapitel, III.</ref> das heißt all jener Güter und Dienstleistungen, denen die wirtschaftlichen Subjekte, also die öffentlichen und privaten Hersteller und Verbraucher, aufgrund des ihnen innewohnenden Nutzens im Bereich von Produktion und Konsum einen Wert beimessen. In quantitativer Hinsicht sind die natürlichen Ressourcen knapp, und das bedeutet zwangsläufig, dass jedes einzelne wirtschaftliche Subjekt ebenso wie jede Gesellschaft Strategien entwickeln muss, um sie gemäß der vom Prinzip der Wirtschaftlichkeit diktierten Logik in möglichst vernünftiger Weise zu gebrauchen. Davon hängt sowohl die wirksame Lösung des allgemeineren und grundsätzlicheren Problems der Begrenztheit der Mittel im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten individuellen und sozialen Bedürfnissen ab als auch die strukturelle und funktionale Effizienz des wirtschaftlichen Systems in seiner Gesamtheit. Diese Effizienz ist ein indirekter Appell an die Verantwortung und die Fähigkeit verschiedener Subjekte wie des Marktes, des Staates und der gesellschaftlichen Zwischengruppen.

a) Die Rolle des freien Marktes

347 Der freie Markt ist eine in sozialer Hinsicht wichtige Institution, weil er effiziente Ergebnisse in der Produktion der Güter und Dienstleistungen sichern kann. Historisch gesehen hat der Markt bewiesen, dass er die wirtschaftliche Entwicklung langfristig in Gang setzen und aufrechterhalten kann. Es gibt gute Gründe, davon auszugehen, dass in vielen Situationen „der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein“ scheint.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 34: AAS 83 (1991) 835.</ref> Die Soziallehre der Kirche schätzt die sicheren Vorteile, die die Regelungen des freien Marktes im Hinblick auf eine bessere Nutzung der Ressourcen oder auch einen erleichterten Austausch der Produkte bieten; diese Mechanismen „stellen den Willen und die Präferenzen des Menschen in den Mittelpunkt, die sich im Vertrag mit denen eines anderen Menschen treffen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 40: AAS 83 (1991) 843.</ref>

Ein wirklich von Wettbewerb bestimmter Markt ist ein wirkungsvolles Mittel, um wichtige Ziele der Gerechtigkeit zu erreichen: die übermäßigen Gewinne einzelner Unternehmen einzudämmen; auf die Forderungen der Verbraucher zu reagieren; eine bessere und schonendere Nutzung der Ressourcen zu verwirklichen; unternehmerisches Engagement und innovatives Geschick zu belohnen; Informationen so in Umlauf zu bringen, dass die Produkte in einer Atmosphäre gesunden Wettbewerbs wirklich verglichen und erworben werden können.

348 Bei der Beurteilung des freien Marktes dürfen die Ziele und Werte, die er auf gesellschaftlicher Ebene verfolgt und vermittelt, nicht außer Acht gelassen werden. Denn der Markt findet seine Berechtigung nicht in sich selbst. Es ist Sache des individuellen Gewissens und der öffentlichen Verantwortung, das richtige Verhältnis zwischen Zweck und Mittel herzustellen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 41: AAS 83 (1991) 843–845.</ref> Der individuelle Nutzen des Unternehmers ist zwar legitim, darf aber nie das einzige Ziel sein. Daneben gibt es ein anderes, ebenso grundlegendes und diesem übergeordnetes Ziel, nämlich den sozialen Nutzen, der nicht gegen, sondern im Einklang mit der Logik des Marktes erreicht werden muss. Wenn er die oben erwähnten wichtigen Funktionen ausübt, dient der freie Markt dem Gemeinwohl und der umfassenden Entwicklung des Menschen, während das umgekehrte Verhältnis zwischen Mittel und Zweck ihn zu einer unmenschlichen und entfremdenden Einrichtung mit unabsehbaren Folgen verkommen lassen kann.

349 Die Soziallehre der Kirche erkennt dem Markt zwar die Funktion eines unersetzlichen Regulierungsinstruments innerhalb des Wirtschaftssystems zu, weist jedoch auch auf die Notwendigkeit hin, ihn in moralischen Zielsetzungen zu verankern, die seine Autonomie sicherstellen und gleichzeitig in angemessener Weise eingrenzen.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 41: AAS 63 (1971) 429–430.</ref> Die Vorstellung, dass man allein dem Markt die Bereitstellung aller Kategorien von Gütern anvertrauen könnte, kann nicht geteilt werden, weil sie auf einer eingeschränkten Sicht der Person und der Gesellschaft beruht.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 34: AAS 83 (1991) 835–836.</ref> Angesichts der konkreten Gefahr, dass der Markt zu einem „Götzen“ gemacht wird, zeigt die kirchliche Soziallehre seine Grenzen auf, die leicht daran zu erkennen sind, dass er erwiesenermaßen unfähig ist, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, für die Güter erforderlich sind, die „ihrer Natur nach weder bloße Waren sind noch sein können“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 40: AAS 83 (1991) 843; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2425.</ref> Güter, die nach dem markttypischen „Äquivalenzprinzip“ und der ebenfalls markttypischen Logik des Vertrags nicht ge- oder verkauft werden können.

350 Der Markt erfüllt in der gegenwärtigen Gesellschaft eine bedeutende soziale Funktion; deshalb ist es wichtig, seine positivsten Kräfte zu ermitteln und Bedingungen zu schaffen, die deren konkrete Entfaltung ermöglichen. Die Arbeiter müssen wirklich frei sein, zwischen verschiedenen Optionen zu vergleichen, zu bewerten und zu wählen, wobei allerdings auch die Freiheit im wirtschaftlichen Bereich durch einen angemessenen juristischen Rahmen geregelt sein muss, sodass sie der menschlichen Freiheit in ihrer Gesamtheit dient: „Die wirtschaftliche Freiheit [ist] nur ein Element der menschlichen Freiheit (…). Wenn sie sich für autonom erklärt, das heißt, wenn der Mensch mehr als Produzent bzw. Konsument von Gütern, nicht aber als ein Subjekt gesehen wird, das produziert und konsumiert, um zu leben, dann verliert sie ihre notwendige Beziehung zum Menschen, den sie schließlich entfremdet und unterdrückt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 39: AAS 83 (1991) 843.</ref>

b) Das Handeln des Staates

351 Das Handeln des Staates und der andern öffentlichen Autoritäten muss sich nach dem Subsidiaritätsprinzip richten und Situationen schaffen, die eine freie Ausübung der wirtschaftlichen Aktivität begünstigen; es muss darüber hinaus auch vom Prinzip der Solidarität inspiriert sein und der Autonomie der Teile Grenzen setzen, um den Schwächsten zu schützen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 15: AAS 83 (1991) 811–813.</ref> Ohne Subsidiarität kann die Solidarität leicht zum Wohlfahrtsstaat entarten, während die Subsidiarität ohne Solidarität Gefahr läuft, Formen eines egoistischen Regionalismus zu fördern. Um diese beiden grundlegenden Prinzipien zu respektieren, darf das Eingreifen des Staates auf wirtschaftlichem Gebiet weder allzu aufdringlich noch allzu zurückhaltend sein, sondern muss sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren: „Der Staat hat die Pflicht, die Tätigkeit der Unternehmen dahingehend zu unterstützen, dass er Bedingungen für die Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten schafft. Er muss die Tätigkeit dort, wo sie sich als unzureichend erweist, anregen bzw. ihr in Augenblicken der Krise unter die Arme greifen. Der Staat hat des Weiteren das Recht einzugreifen, wenn Monopolstellungen die Entwicklung verzögern oder behindern. Aber außer diesen Aufgaben der Harmonisierung und Steuerung der Entwicklung kann er in Ausnahmefällen Vertretungsfunktionen wahrnehmen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 853; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2431.</ref>

352 Die grundlegende Aufgabe des Staates im wirtschaftlichen Bereich besteht darin, einen juristischen Rahmen festzulegen, der geeignet ist, die ökonomischen Beziehungen zu regeln, um „die Grundvoraussetzung für eine freie Wirtschaft“ zu schaffen, „die in einer gewissen Gleichheit unter den Beteiligten besteht, sodass der eine nicht so übermächtig wird, dass er den anderen praktisch zur Sklaverei verurteilt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 15: AAS 83 (1991) 811.</ref> Die wirtschaftliche Aktivität darf sich vor allem im Kontext eines freien Marktes in juristischer und politischer Hinsicht nicht in einem institutionellen Vakuum entfalten: „Im Gegenteil, sie setzt die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige öffentliche Dienste voraus“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–853; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2431.</ref> Um seine Aufgabe zu erfüllen, muss der Staat eine geeignete Gesetzgebung erarbeiten; darüber hinaus aber hat er eine umsichtige Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, ohne seine Macht im Hinblick auf die verschiedenen Aktivitäten des Marktes zu missbrauchen, die sich frei von strukturellen Überbauten und autoritären oder, schlimmer noch, totalitären Zwängen entfalten muss.

353 Markt und Staat müssen ihr Handeln aufeinander abstimmen und einander ergänzen. Der freie Markt kann der Gesamtheit nur dann Vorteile bringen, wenn von Seiten des Staates eine Organisation besteht, die die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt und lenkt; die für die Einhaltung gerechter und durchschaubarer Regeln sorgt; die, aber nur solange dies unbedingt notwendig ist,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854.</ref> auch direkt eingreift, wenn es dem Markt nicht gelingt, in puncto Effizienz die gewünschten Resultate zu erbringen, und wenn es gilt, das Prinzip der Umverteilung in die Tat umzusetzen. In manchen Bereichen ist der Markt nämlich nicht in der Lage, mit Hilfe seiner eigenen Mechanismen eine gerechte Verteilung einiger Güter und Dienstleistungen zu gewährleisten, die für das menschliche Wachstum der Bürger wesentlich sind: In diesem Fall ist es umso wichtiger, dass Staat und Markt einander ergänzen.

354 Der Staat kann die Bürger und die Unternehmen dazu anregen, das Gemeinwohl zu fördern, indem er für die Umsetzung einer Wirtschaftspolitik sorgt, die die Beteiligung aller seiner Bürger an den produktiven Tätigkeiten begünstigt. Die Achtung vor dem Subsidiaritätsprinzip muss die öffentlichen Autoritäten dazu veranlassen, Verhältnisse anzustreben, die die individuellen Kräfte der Initiative sowie der persönlichen Autonomie und Verantwortung der Bürger zur Entfaltung bringen, indem sie von jeder Intervention Abstand nehmen, die eine unangemessene Beeinflussung der unternehmerischen Kräfte darstellen könnte.

Mit Blick auf das Gemeinwohl gilt es, immer und fest entschlossen das Ziel eines gerechten Gleichgewichts zwischen privater Freiheit und öffentlichem Handeln zu verfolgen, wobei letzteres entweder als ein direktes Eingreifen in die Wirtschaft oder auch als ein Tätigwerden verstanden werden kann, das die wirtschaftliche Entwicklung unterstützt. In jedem Fall muss sich das öffentliche Eingreifen nach Kriterien der Billigkeit, Rationalität und Effizienz richten und darf das Handeln Einzelner nicht unter Missachtung ihres Rechts auf freie wirtschaftliche Initiative überflüssig machen. Dann nämlich wird der Staat schädlich für die Gesellschaft: Ein direktes Eingreifen, das allzu tief in die gesellschaftlichen Strukturen eindringt, führt letztlich zur Entmündigung der Bürger und zu einem übermäßigen Wuchern des öffentlichen Apparats, der mehr von einer bürokratischen Logik als von dem Ziel gelenkt wird, die Bedürfnisse der Personen zu befriedigen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854.</ref>

355 Die Steuereinnahmen und die öffentlichen Ausgaben sind für jede zivile und politische Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung: Das Ziel, das angestrebt werden muss, ist ein öffentliches Finanzwesen, das geeignet ist, als ein Werkzeug der Entwicklung und Solidarität zu dienen. Ein angemessenes, effizientes und wirkungsvolles öffentliches Finanzwesen wirkt sich positiv auf die Wirtschaft aus, weil es das Beschäftigungswachstum fördert, die unternehmerischen Tätigkeiten und die nicht auf Profit ausgerichteten Initiativen unterstützt und dazu beiträgt, die Glaubwürdigkeit des Staates als eines Garanten sozialer Vorsorge- und Absicherungssysteme zu erhöhen, die vor allem zum Schutz der Schwächeren bestimmt sind.

Das öffentliche Finanzwesen ist dann auf das Gemeinwohl ausgerichtet, wenn es sich an einige grundlegende Prinzipien hält: das Zahlen der Steuern<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 30: AAS 58 (1966) 1049–1050.</ref> als Aspekt der Solidaritätspflicht; Vernünftigkeit und Billigkeit bei der Auferlegung der Abgaben;<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 433–434, 438.</ref> Strenge und Integrität bei der Verwaltung und Verwendung der öffentlichen Ressourcen.<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Divini Redemptoris: AAS 29 (1937) 103–104.</ref> Bei der Umverteilung der Ressourcen muss das öffentliche Finanzwesen den Prinzipien der Solidarität, der Gleichheit und der Nutzung der Talente folgen und der Unterstützung der Familien große Aufmerksamkeit sowie eine angemessene Menge von Ressourcen widmen.<ref> Vgl. Pius XII., Rundfunkbotschaft zur 50-Jahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“:AAS 33 (1941) 202; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 49: AAS 83 (1991) 854–856; Id., Ap. Schr. Familiaris consortio, 45: AAS 74 (1982) 136–137.</ref>

c) Die Rolle der Zwischengruppen

356 Das sozioökonomische System muss von einem Nebeneinander des öffentlichen und des privaten und auch des nicht auf Profit ausgerichteten privaten Handelns gekennzeichnet sein. Auf diese Weise bildet sich eine Vielzahl von Entscheidungszentren und Aktionsformen heraus. Es gibt einige Kategorien von kollektiven und gemeinnützigen Gütern, deren Gebrauch nicht von den Mechanismen des Markts abhängen darf<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 40: AAS 83 (1991) 843.</ref> und auch nicht der ausschließlichen Zuständigkeit des Staates unterliegt. Hinsichtlich dieser Güter besteht die Aufgabe des Staates eher darin, allen von Zwischenorganisationen in die Wege geleiteten öffentlich wirksamen Initiativen im sozialen oder wirtschaftlichen Bereich Geltung zu verschaffen. Die in Zwischengruppen organisierte Zivilgesellschaft vermag zur Verwirklichung des Gemeinwohls beizutragen, indem sie mit dem Staat und dem Markt ein Verhältnis der Zusammenarbeit und der wirksamen Komplementarität eingeht und auf diese Weise die Entwicklung einer sinnvollen Wirtschaftsdemokratie begünstigt. In einem solchen Kontext muss das Eingreifen des Staates von wahrer Solidarität geprägt sein, die als solche niemals von der Subsidiarität getrennt werden darf.

357 Die privaten, nicht auf Profit ausgerichteten Organisationen nehmen im Bereich der Wirtschaft einen besonderen Platz ein. Diese Organisationen zeichnet der mutige Versuch aus, produktive Effizienz und Solidarität miteinander in Einklang zu bringen. Im Allgemeinen bilden sie sich auf der Grundlage eines vertraglichen Zusammenschlusses und sind Ausdruck eines gemeinsamen ideellen Strebens der Subjekte, die sich aus freiem Willen dazu entschließen, ihnen beizutreten. Der Staat ist dazu aufgerufen, die Eigenart dieser Organisationen zu respektieren und ihre charakteristischen Merkmale zur Geltung zu bringen, indem er das Prinzip der Subsidiarität konkret in die Praxis umsetzt, das ja gerade den Respekt und die Stärkung der Würde und autonomen Verantwortung des „subsidiär“ zu fördernden Subjekts verlangt.

d) Sparsamkeit und Konsum

358 Die Verbraucher, die in vielen Fällen deutlich über den eigentlichen Lebensunterhalt hinaus über eine weit gespannte Kaufkraft verfügen, können die wirtschaftliche Realität mit ihrer freien Wahl zwischen Sparsamkeit und Konsum merklich beeinflussen. Denn die Möglichkeit, Einfluss auf das wirtschaftliche System auszuüben, liegt in den Händen derer, die über die Verwendung ihrer eigenen finanziellen Mittel entscheiden müssen. Mehr als in der Vergangenheit ist es heute möglich, die verfügbaren Alternativen nicht nur auf der Basis des voraussichtlichen Ertrags oder der Größe des damit verbundenen Risikos einzuschätzen, sondern über die entsprechend zu finanzierenden Investitionen auch ein Werturteil zu fällen, in dem Bewusstsein, dass „eine Entscheidung, lieber an diesem als an jenem Ort, lieber in diesem und nicht in einem anderen Sektor zu investieren, immer auch eine moralische und kulturelle Entscheidung ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 839–840.</ref>

359 Die eigene Kaufkraft muss im Kontext der moralischen Forderungen der Gerechtigkeit und Solidarität sowie genau bestimmter sozialer Verantwortlichkeiten ausgeübt werden: Man darf „die Pflicht der Nächstenliebe“ nicht vergessen, „das heißt die Pflicht, mit dem eigenen »Überfluss« und bisweilen auch mit dem, was man selber »nötig« hat, zu helfen, um das bereitzustellen, was für das Leben des Armen unentbehrlich ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 839.</ref> Diese Verantwortung gibt den Verbrauchern die Möglichkeit, dank des schnelleren Informationsaustauschs das Verhalten der Hersteller dadurch zu lenken, dass man sich – als Individuum oder Kollektiv – entscheidet, die Produkte mancher Unternehmen denen anderer vorzuziehen und dabei nicht nur auf die Preise und die Qualität der Produkte, sondern auch darauf zu achten, dass in den betreffenden Unternehmen korrekte Arbeitsbedingungen herrschen und ein gewisses Maß an Umweltschutz gewährleistet ist.

360 Das Phänomen des Konsumismus ist von einer dauerhaften Ausrichtung auf das „Haben“ statt auf das „Sein“ gekennzeichnet. Das macht es unmöglich, „die neuen und höheren Formen der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse einwandfrei von den neuen, künstlich erzeugten Bedürfnissen zu unterscheiden, die die Heranbildung einer reifen Persönlichkeit verhindern“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 839.</ref> Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, ist es notwendig, „sich um den Auf bau von Lebensweisen zu bemühen, in denen die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und die Verbundenheit mit den anderen für ein gemeinsames Wachstum jene Elemente sind, die die Entscheidungen für Konsum, Sparen und Investitionen bestimmen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 839.</ref> Die Lebensweise ist unleugbar durch das soziale Umfeld beeinflusst: Deshalb muss die kulturelle Herausforderung, die der Konsumismus heutzutage darstellt, mit größerer Entschlossenheit angegangen werden, und zwar vor allem im Hinblick auf die künftigen Generationen, die Gefahr laufen, in einem natürlichen Umfeld aufzuwachsen, das durch ein unmäßiges und ungeordnetes Konsumverhalten geplündert worden ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,37: AAS 83(1991) 840.</ref>

V. DIE „RES NOVAE“ IN DER WIRTSCHAFT

a) Die Globalisierung: Chancen und Risiken

361 Unsere Zeit ist von dem vielschichtigen Phänomen der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung gekennzeichnet, das heißt von einem Prozess, in dem die nationalen Volkswirtschaften auf der Ebene des Handels mit Gütern und Dienstleistungen und auf der Ebene der finanziellen Transaktionen immer stärker zusammenwachsen und eine immer größere Zahl von Mitwirkenden die notwendigen Entscheidungen hinsichtlich der Wachstums- und Gewinnchancen vor einem globalen Hintergrund treffen muss. Der neue Horizont der globalen Gesellschaft ist nicht einfach durch das Vorhandensein wirtschaftlicher und finanzieller Verbindungen zwischen Akteuren gegeben, die in verschiedenen Ländern tätig sind – die es im Übrigen immer gegeben hat –, sondern durch den alles durchdringenden und absolut neuen Charakter des Beziehungssystems, dessen Entwicklung wir gerade erleben. Von zunehmend entscheidender und zentraler Bedeutung sind dabei die Finanzmärkte, deren Ausmaße infolge der Liberalisierung des Austauschs und der Zirkulation des Kapitals mit beeindruckender Geschwindigkeit beträchtlich gewachsen sind und es den Beteiligten mittlerweile sogar ermöglichen, „in Echtzeit“ große Mengen von Kapital von einem Ende des Erdballs zum anderen zu verschieben. Es handelt sich um eine vielgestaltige und nicht leicht zu deutende Realität, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielt und sich auf schwer vorhersehbaren Wegen beständig weiterentwickelt.

362 Die Globalisierung gibt neuen Hoffnungen Nahrung, wirft jedoch auch beunruhigende Fragen auf.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 20: AAS 91 (1999) 756.</ref>

Sie kann Auswirkungen haben, die potentiell für die ganze Menschheit von Vorteil sind: Gemeinsam mit der sprunghaften Entwicklung der Telekommunikation hat das Wachstum der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungssysteme gleichzeitig eine beträchtliche Kostensenkung im Bereich der Kommunikation und der neuen Technologien sowie eine Beschleunigung im Prozess der Ausweitung des globalen kommerziellen Austauschs und der finanziellen Transaktionen zur Folge gehabt. Mit anderen Worten: Die beiden Phänomene der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung und des technologischen Fortschritts haben sich gegenseitig verstärkt und die Dynamik der gegenwärtigen wirtschaftlichen Phase in ihrer Gesamtheit extrem schnell werden lassen.

Die Analyse der gegenwärtigen Situation macht nicht nur die Chancen sichtbar, die sich im Zeitalter der globalen Wirtschaft eröffnen, sondern zeigt auch die mit den neuen Dimensionen der kommerziellen und finanziellen Beziehungen verbundenen Risiken auf. Es fehlt nämlich nicht an Hinweisen, die eine Tendenz zur Verschärfung der Ungleichheiten zwischen entwickelten und Entwicklungsländern oder auch innerhalb der industrialisierten Länder offenbaren. Mit dem wachsenden wirtschaftlichen Reichtum, der durch die beschriebenen Prozesse möglich geworden ist, geht das Wachstum der dadurch bedingten Armut einher.

363 Die Sorge um das Gemeinwohl verpflichtet dazu, die neuen Gelegenheiten zu einer Umverteilung des Reichtums zwischen den verschiedenen Gebieten der Erde zugunsten derer zu ergreifen, die stärker benachteiligt und bisher außen vor geblieben sind oder am Rand des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts stehen:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der vatikanischen Stiftung „Centesimus Annus“ (9. Mai 1998), 2: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXI, 1 (1998) 873–874.</ref> „Die Herausforderung besteht also darin, eine Globalisierung in Solidarität, eine Globalisierung ohne Ausgrenzung zu sichern“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1998, 3: AAS 90 (1998) 150.</ref> Der technologische Fortschritt selbst bringt die Gefahr mit sich, dass seine eigenen, positiven Auswirkungen unter den Ländern ungerecht aufgeteilt werden. Denn die Innovationen können eine bestimmte Gesamtheit nur dann durchdringen und sich in ihrem Inneren ausbreiten, wenn ihre potentiellen Nutznießer ein Mindestmaß an Kenntnissen und finanziellen Ressourcen auf bieten können: Wenn die Länder in so unterschiedlichem Maß Zugang zu den wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen und den neuesten technologischen Produkten haben, dann liegt es auf der Hand, dass der Globalisierungsprozess die Ungleichheiten in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zwischen den Ländern nur noch verschärfen wird. Es liegt in der Natur der derzeit wirksamen Dynamismen, dass der freie Fluss des Kapitals an sich noch nicht ausreicht, um eine Annäherung zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern zu begünstigen.

364 Der Handel stellt einen grundlegenden Bestandteil der internationalen Wirtschaftsbeziehungen dar und trägt auf entscheidende Weise zur produktiven Spezialisierung und zum wirtschaftlichen Wachstum der verschiedenen Länder bei. Der internationale Handel fördert, wenn er die geeigneten Ziele anstrebt, heute mehr denn je die Entwicklung und kann neue Formen der Beschäftigung hervorbringen und nützliche Ressourcen freisetzen. Die Soziallehre hat wiederholt auf die Verzerrungen des internationalen Handelssystems hingewiesen,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 61: AAS 59 (1967) 287.</ref> das die Produkte aus armen Ländern häufig aufgrund einer protektionistischen Politik diskriminiert und das Wachstum industrieller Aktivitäten und den Technologietransfer zugunsten dieser Länder behindert.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 43: AAS 80 (1988) 574–575.</ref> Die beständige Verschlechterung im Austausch der Primärgüter und die Verschärfung der Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern hat das Lehramt dazu veranlasst, auf die Wichtigkeit der ethischen Kriterien hinzuweisen, nach denen sich die internationalen Wirtschaftsbestimmungen richten sollten: die Verwirklichung des Gemeinwohls und die allgemeine Bestimmung der Güter; die Billigkeit von Handelsbeziehungen; eine Politik des Handels und der internationalen Zusammenarbeit, die die Rechte und Bedürfnisse der Ärmeren berücksichtigt. Andernfalls werden „die armen Völker (…) immer ärmer, die reichen immer reicher“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 57: AAS 59 (1967) 285.</ref>

365 Eine dem Globalisierungszeitalter angemessene Solidarität erfordert die Verteidigung der Menschenrechte. In dieser Hinsicht weist das Lehramt darauf hin, dass sich nicht nur „die Aussicht auf eine völkerrechtlich verankerte öffentliche Autorität im Dienste der Menschenrechte, der Freiheit und des Friedens, noch nicht zur Gänze verwirklicht [hat]. Man muss leider auch ein häufiges Zögern der internationalen Gemeinschaft bei der Pflicht, die Menschenrechte zu achten und umzusetzen, feststellen. Diese Verpflichtung betrifft alle Grundrechte und duldet keine willkürlichen Auswahlentscheidungen, die Formen der Diskriminierung und Ungerechtigkeit mit sich bringen würden. Zugleich sind wir Zeugen davon, dass sich eine besorgniserregende Schere zwischen einer Reihe neuer »Rechte«, die in den hoch technisierten Gesellschaften gefördert werden, und den elementaren Menschenrechten auftut, denen vor allem in unterentwickelten Gebieten immer noch nicht voll Genüge geleistet wird. Ich denke beispielsweise an das Recht auf Nahrung, auf Trinkwasser, auf Unterkunft, auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2003, 5: AAS 95 (2003) 343.</ref>

366 Mit der zunehmenden Globalisierung muss von Seiten der Organisationen der Zivilgesellschaft ein reiferes Bewusstsein für die neuen Aufgaben einhergehen, zu denen sie auf weltweitem Niveau berufen sind. Auch dank eines entschiedenen Handelns dieser Organisationen wird es möglich sein, den gegenwärtigen weltweiten wirtschaftlichen und finanziellen Wachstumsprozess in einen Horizont einzuordnen, der eine tatsächliche Achtung der Menschen- und Völkerrechte und eine gerechte Aufteilung der Ressourcen innerhalb eines jeden Landes und zwischen verschiedenen Ländern garantiert: „Der freie Austausch von Gütern ist nur dann recht und billig, wenn er mit den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit übereinstimmt“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 59: AAS 59 (1967) 286.</ref>

Besondere Aufmerksamkeit muss den örtlichen Besonderheiten und den kulturellen Unterschieden gelten, die durch die derzeitigen wirtschaftlichen und finanziellen Prozesse gefährdet sind: „Die Globalisierung darf keine neue Form des Kolonialismus sein. Sie muss die Verschiedenheit der Kulturen achten, die innerhalb der universalen Harmonie der Völker die Interpretationsschlüssel des Lebens darstellen. Insbesondere darf sie die Armen nicht ihrer kostbarsten Habe berauben, einschließlich ihres Glaubens und ihrer religiösen Praktiken, denn echte religiöse Überzeugungen sind der deutlichste Ausdruck der menschlichen Freiheit“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (27. April 2001), 4: AAS 93 (2001) 600.</ref>

367 In der Epoche der Globalisierung muss die Solidarität der Generationen untereinander mit allem Nachdruck unterstrichen werden: „Früher war die Solidarität zwischen den Generationen in vielen Ländern eine natürliche innere Haltung in den Familien; sie ist inzwischen auch zu einer Pflicht für die Gemeinschaft geworden“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (11. April 2002), 3: AAS 94 (2002) 525.</ref> Es ist gut, dass diese Solidarität auch weiterhin in den nationalen politischen Gemeinschaften angestrebt wird, doch das Problem stellt sich heute auch für die weltweite politische Gemeinschaft, damit die Globalisierung nicht auf Kosten der Bedürftigsten und Schwächsten verwirklicht wird. Die Solidarität der Generationen untereinander setzt voraus, dass in der globalen Planung nach dem Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter gehandelt wird, aufgrund dessen es in moralischer Hinsicht unzulässig und in wirtschaftlicher Hinsicht kontraproduktiv ist, die derzeitigen Kosten auf die künftigen Generationen abzuwälzen: moralisch unzulässig, weil man so seiner Verantwortungspflicht nicht nachkommt; wirtschaftlich kontraproduktiv, weil es kostspieliger ist, Schäden im Nachhinein auszubessern, als ihnen vorzubeugen. Dieses Prinzip muss vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – auf den Bereich der Bodenschätze und der Bewahrung der Schöpfung angewandt werden, der durch die Globalisierung besonders empfindlich geworden ist, da diese den ganzen Planeten als ein einziges Ökosystem betrifft.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache bei der Audienz für die ACLI (27. April 2002), 4: L’Osservatore Romano, 28. April 2002, S. 5.</ref>

b) Das internationale Finanzsystem

368 Die Finanzmärkte sind natürlich keine Erfindung unserer Epoche: Schon seit langer Zeit haben sie in vielfältigen Formen die Aufgabe übernommen, auf die Forderungen der Finanzierung produktiver Aktivitäten zu reagieren. Die historische Erfahrung belegt, dass es ohne geeignete Finanzsysteme kein wirtschaftliches Wachstum gegeben hätte. Die für die modernen Marktwirtschaften typischen umfangreichen Investitionen wären nicht möglich gewesen, wenn die Finanzmärkte mit ihrer grundlegenden Vermittlerrolle nicht ein Bewusstsein dafür geschaffen hätten, dass das Sparen sich positiv auf die Gesamtentwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Systems auswirkt. Wenn die Schaffung dessen, was als der „globale Kapitalmarkt“ bezeichnet worden ist, dadurch, dass die produktiven Aktivitäten dank der größeren Beweglichkeit des Kapitals leichter über Ressourcen verfügen konnten, Vorteile mit sich gebracht hat, so hat dieselbe größere Beweglichkeit auf der anderen Seite auch das Risiko von Finanzkrisen steigen lassen. Die Entwicklung des Finanzwesens, dessen Transaktionen den Umfang der realen Transaktionen schon längst hinter sich gelassen haben, läuft Gefahr, einer immer stärker auf sich selbst bezogenen Logik zu folgen, die nicht mehr auf dem Boden der wirtschaftlichen Realität steht.

369 Eine Finanzwirtschaft, die zum Selbstzweck wird, ist dazu bestimmt, ihren Zielsetzungen zu widersprechen, weil sie sich von ihren eigenen Wurzeln und dem eigentlichen Grund ihres Bestehens, das heißt von ihrer ursprünglichen und wesentlichen Aufgabe löst, der realen Wirtschaft und damit letztlich der Entwicklung der menschlichen Personen und Gemeinschaften zu dienen. Noch besorgniserregender wird der Gesamtrahmen, wenn man sich die stark asymmetrische Struktur vor Augen hält, die das internationale Finanzsystem kennzeichnet: Nur in einigen Teilen der Welt zeichnet sich eine Konsolidierung der Innovations- und Deregulierungsprozesse auf den Finanzmärkten ab. Das gibt zu gravierenden ethischen Befürchtungen Anlass, denn die Länder, die von den genannten Prozessen ausgeschlossen sind, kommen nicht nur nicht in den Genuss der mit diesen verbundenen Vorteile, sondern sind nicht einmal vor den eventuellen negativen Auswirkungen der finanziellen Instabilität auf ihre realen Wirtschaftssysteme geschützt, vor allem dann, wenn diese ohnehin schon anfällig und unterentwickelt sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften (25. April 1997), 6: AAS 90 (1998) 141–142.</ref>

Angesichts der unvermittelten Beschleunigung von Prozessen wie der enormen Wertsteigerung der von den Finanzinstitutionen verwalteten Wertpapierbestände und der rasch um sich greifenden neuen und ausgefeilten Finanzinstrumente ist es umso wichtiger, institutionelle Lösungen zu finden, die die Stabilität des Systems wirksam fördern können, ohne seine Leistungsfähigkeit und Effizienz zu verringern. Es ist unerlässlich, einen normativen Rahmen zu schaffen, der es möglich macht, diese Stabilität in all ihren vielschichtigen Ausdrucksformen zu schützen, die Konkurrenz zwischen den Vermittlungsinstituten zu stärken und die größtmögliche Transparenz zum Nutzen der Investoren zu gewährleisten.

c) Die Rolle der internationalen Gemeinschaft in der Epoche der globalen Wirtschaft

370 Der Verlust der zentralen Bedeutung der staatlichen Akteure muss mit verstärkten Bemühungen der internationalen Gemeinschaft einhergehen, in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht eine entscheidende und richtunggebende Rolle zu spielen. Eine wichtige Folge des Globalisierungsprozesses besteht nämlich darin, dass der Nationalstaat im Hinblick auf die Lenkung der nationalen wirtschaftlichen und finanziellen Dynamismen zunehmend an Wirksamkeit verliert. Die Regierungen der einzelnen Länder sehen ihr eigenes Handeln im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zunehmend von den Erwartungen der internationalen Finanzmärkte und den immer drängenderen Forderungen der Glaubwürdigkeit von Seiten der Finanzwelt beeinflusst. Aufgrund der neuen Verbindungen zwischen den weltweit Tätigen scheinen die traditionellen Verteidigungsmaßnahmen der Staaten zum Scheitern verurteilt, und der Begriff des nationalen Marktes selbst tritt angesichts der neuen Wettbewerbsbereiche in den Hintergrund.

371 Je vielschichtiger das weltweite Wirtschafts- und Finanzsystem in organisatorischer und funktioneller Hinsicht wird, desto vorrangiger wird die Aufgabe, diese Prozesse zu regulieren und sie auf das Gemeinwohl der Menschheitsfamilie auszurichten. Konkret gesprochen ergibt sich die Notwendigkeit, dass neben den Nationalstaaten die internationale Gemeinschaft selbst diese heikle Aufgabe übernehmen und sich dabei angemessener und wirksamer politischer und rechtlicher Mittel bedienen muss. Es ist folglich unerlässlich, dass die internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen die geeignetsten Lösungen finden und die zweckmäßigsten Handlungsstrategien entwerfen, um eine Veränderung in die richtigen Bahnen zu lenken, die, wenn man sich ihr passiv unterwerfen und sie sich selbst überlassen würde, dramatische Folgen hervorrufen würde, von welchen vor allem die schwächsten und schutzlosesten Schichten der Weltbevölkerung betroffen wären.

In den internationalen Organisationen müssen die Interessen der großen Menschheitsfamilie in rechter Weise vertreten sein; es ist notwendig, dass diese Institutionen „bei der Einschätzung der Folgen ihrer Entscheidungen stets jene Völker und Länder entsprechend berücksichtigen, die auf dem internationalen Markt kaum ins Gewicht fallen, sondern in denen sich die schlimmste und bitterste Not ansammelt und die größere Entwicklungshilfe nötig haben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 58: AAS 83 (1991) 864.</ref>

372 Wie die Wirtschaft muss auch die Politik ihren eigenen Aktionsradius über die nationalen Grenzen hinaus ausdehnen und rasch jene weltweite Dimension des Handelns erreichen, die es ihr erlaubt, die ablaufenden Prozesse nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach moralischen Parametern zu steuern. Das grundlegende Ziel wird sein, diese Prozesse so zu lenken, dass die Achtung der Würde des Menschen und die vollständige Entfaltung seiner Persönlichkeit im Gesamtzusammenhang des Gemeinwohls gewährleistet sind.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 43–44: AAS 63 (1971) 431–433.</ref> Diese Aufgabe zu übernehmen schließt das Bemühen mit ein, die Stabilisierung der bestehenden Institutionen und die Schaffung neuer Organe zu beschleunigen, denen diese Verantwortlichkeiten anvertraut werden können.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2440; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 78: AAS 59 (1967) 295; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 43: AAS 80 (1988) 574–575.</ref> Denn die wirtschaftliche Entwicklung kann von Dauer sein, wenn sie sich innerhalb eines fest umrissenen Rahmens von Normen und eines weit gefassten Spektrums des moralischen, zivilen und kulturellen Wachstums der gesamten Menschheitsfamilie entfaltet.

d) Eine umfassende und solidarische Entwicklung

373 Eine der grundlegenden Aufgaben der Handlungsträger der internationalen Wirtschaft ist die Verwirklichung einer umfassenden und solidarischen Entwicklung für die Menschheit, das heißt für „jeden Menschen und den ganzen Menschen“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 14: AAS 59 (1967) 264.</ref> Diese Aufgabe setzt ein Verständnis der Wirtschaft voraus, das eine gerechte Verteilung der Ressourcen auf internationaler Ebene gewährleistet und dem Bewusstsein der wechselseitigen – wirtschaftlichen, politischen und kulturellen – Abhängigkeit entspricht, die die Völker nunmehr endgültig aneinander bindet und zu Gefährten ein und desselben Schicksals macht.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2437–2438.</ref> Immer mehr nehmen die gesellschaftlichen Probleme weltweite Dimensionen an. Kein Staat kann sich ihnen alleine stellen und sie alleine lösen wollen. Die Generationen der Gegenwart erfahren die Notwendigkeit der Solidarität und das konkrete Bedürfnis, die individualistische Kultur zu überwinden, am eigenen Leib.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000,13–14: AAS 92 (2000) 365–366.</ref> Immer lauter wird die Forderung nach Entwicklungsmodellen, deren Ziel nicht nur darin besteht, „alle Völker auf das Niveau zu heben, dessen sich heute die reichsten Länder erfreuen. Es geht vielmehr darum, in solidarischer Zusammenarbeit ein menschenwürdigeres Leben aufzubauen, die Würde und Kreativität jedes einzelnen wirksam zu steigern, seine Fähigkeit, auf seine Berufung und damit auf den darin enthaltenen Anruf Gottes zu antworten“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 58: AAS 29 (1991) 828–829; vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 40–42: AAS 59 (1967) 277–278.</ref>

374 Eine menschlichere und solidarischere Entwicklung wird auch den reichen Ländern helfen. Sie „spüren häufig eine Art existentieller Verwirrung, eine Unfähigkeit, zu leben und sich am Sinn des Lebens zu erfreuen, und das trotz der sie im Überfluss umgebenden materiellen Güter, eine Entfremdung und einen Verlust des eigenen Menschseins in vielen Personen, die sich auf die Rolle eines Rädchens im Mechanismus von Produktion und Konsum beschränkt fühlen und keinen Weg finden, ihre eigene Würde als Menschen, die nach Gottes Bild und Ähnlichkeit geschaffen sind, zu bejahen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache zum 1. Mai 1991: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XIV, 1 (1991) 1985–1991; vgl. Id., Enz. Sollicitudo rei socialis, 9: AAS 80 (1988) 520–523.</ref> Die reichen Länder haben ihre Fähigkeit, materiellen Wohlstand hervorzubringen, unter Beweis gestellt – doch häufig auf Kosten des Menschen und der schwächeren gesellschaftlichen Schichten: „Man darf nicht übersehen, dass die Grenzen zwischen Reichtum und Armut durch die verschiedenen Gesellschaften selber verlaufen, und dies sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern. Wie es nämlich soziale Ungleichheiten bis zu den Stufen des Elends auch in reichen Ländern gibt, so beobachtet man entsprechend in den weniger entwickelten Ländern nicht selten Zeichen von Egoismus und Zurschaustellung von Reichtum, die ebenso empörend wie skandalös sind“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 14: AAS 80 (1988) 526–527.</ref>

e) Die Notwendigkeit verstärkter erzieherischer und kultureller Anstrengung

375 Für die Soziallehre ist die Wirtschaft „nur ein Aspekt und eine Dimension der Vielfalt des menschlichen Handelns. Wenn sie verabsolutiert wird, wenn die Produktion und der Konsum der Waren schließlich die Mitte des gesellschaftlichen Lebens einnehmen und zum einzigen Wert der Gesellschaft werden, der keinem anderen mehr untergeordnet wird, so ist die Ursache dafür nicht allein und nicht so sehr im Wirtschaftssystem selbst als in der Tatsache zu suchen, dass das ganze soziokulturelle System mit der Vernachlässigung der sittlichen und religiösen Dimension versagt hat und sich nunmehr allein auf die Produktion von Gütern und Dienstleistungen beschränkt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 39: AAS 83 (1991) 842.</ref> Wie das gesellschaftliche Leben der Gesamtheit darf auch das Leben des Menschen nicht auf eine materialistische Dimension beschränkt werden, auch wenn die materiellen Güter zum Zweck des bloßen Überlebens wie auch im Hinblick auf eine Verbesserung des Lebensstandards äußerst wichtig sind: „Grundlage ist für jede umfassende Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, den Sinn für Gott und die Selbsterkenntnis zu fördern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2441.</ref>

376 Angesichts des raschen technischen und ökonomischen Fortschritts und der ebenso raschen Veränderlichkeit der Produktions- und Konsumprozesse weist das Lehramt auf die Notwendigkeit einer großen erzieherischen und kulturellen Anstrengung hin: „Die Nachfrage nach einem qualitativ befriedigenderen und reicheren Leben ist an sich berechtigt. Man muss dabei aber die neue Verantwortung und die neuen Gefahren unterstreichen, die mit dieser geschichtlichen Phase zusammenhängen. (…) Bei der Entdeckung neuer Bedürfnisse und neuer Möglichkeiten, sie zu befriedigen, muss man sich von einem Menschenbild leiten lassen, das alle Dimensionen seines Seins berücksichtigt und die materiellen und triebhaften den inneren und geistigen unterordnet. (…) Es braucht daher dringend ein groß angelegtes erzieherisches und kulturelles Bemühen, das die Erziehung der Konsumenten zu einem verantwortlichen Verbraucherverhalten, die Weckung eines hohen Verantwortungsbewusstseins bei den Produzenten und vor allem bei den Trägern der Kommunikationsmittel sowie das notwendige Eingreifen der staatlichen Behörden umfasst“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 838–839.</ref>

ACHTES KAPITEL: DIE POLITISCHE GEMEINSCHAFT

I. BIBLISCHE ASPEKTE

a) Die Herrschaft Gottes

377 Zu Beginn seiner Geschichte hat das Volk Israel keinen König wie die anderen Völker, weil es allein die Herrschaft Jahwes anerkennt. Gott greift durch charismatische Männer in die Geschichte ein, wie das Buch der Richter bezeugt. Den letzten dieser Männer, den Propheten und Richter Samuel, bittet das Volk um einen König (vgl. 1 Sam 8, 5; 10, 18–19). Samuel warnt die Israeliten vor den Konsequenzen einer despotischen Ausübung der Königsmacht (vgl. 1 Sam 8, 11–18); diese kann aber auch als Geschenk Jahwes erfahren werden, der seinem Volk zu Hilfe kommt (vgl. 1 Sam 9, 16). Schließlich wird Saul zum König gesalbt (vgl. 1 Sam 10, 1–2). Das Geschehen macht die Spannungen deutlich, die Israel zu einem Verständnis des Königtums geführt haben, das sich von dem der Nachbarvölker unterscheidet: Der von Jahwe erwählte (vgl. Dtn 17, 15; 1 Sam 9, 16) und geweihte (vgl. 1 Sam 16, 12–13) König wird als sein Sohn betrachtet (vgl. Ps 2, 7) und muss seine Herrschaft und seinen Heilsplan sichtbar machen (vgl. Ps 72). Das heißt, er muss zum Verteidiger der Schwachen werden und dem Volk Gerechtigkeit garantieren: Die Pflichtvergessenheit des Königs wird von den Propheten angeprangert (vgl. 1 Kön 21; Jes 10, 1–4; Am 2, 6–8; 8, 4–8; Mi 3, 1–4).

378 Der Prototyp des von Jahwe erwählten Königs ist David, und der biblische Bericht erwähnt mit Wohlgefallen seine bescheidenen Verhältnisse (vgl. 1 Sam 16, 1–13). David ist der Träger der Verheißung (vgl. 2 Sam 7, 13–16; Ps 89, 2–38; 132, 11–18), die ihn zum Begründer einer besonderen königlichen Tradition macht: der „messianischen“ Tradition. Diese gipfelt ungeachtet aller von David selbst und von seinen Nachfolgern begangenen Sünden und Treulosigkeiten in Jesus Christus, dem „Gesalbten Jahwes“ (das heißt dem „Geweihten des Herrn“: vgl. 1 Sam 2, 35; 24, 7.11; 26, 9.16; vgl. auch Ex 30, 22–32) schlechthin, dem Sohn Davids (vgl. die beiden Stammbäume in Mt 1, 1–17 und Lk 3, 23–38; vgl. auch Röm 1, 3).

Das historische Scheitern des Königtums führt nicht zum Untergang dieses Ideals von einem König, der in Treue zu Jahwe mit Weisheit regiert und Gerechtigkeit erwirkt. Diese Hoffnung erscheint mehrfach in den Psalmen (vgl. Ps 2; 18; 20; 21; 72). In den messianischen Weissagungen wird für die eschatologische Zeit die Gestalt eines Königs erwartet, in dem der Geist des Herrn wohnt, der voller Gerechtigkeit und fähig ist, den Armen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (vgl. Jes 11, 2–5; Jer 23,5–6). Als wahrer Hüter des Volkes Israel (vgl. Ez 34, 23–24; 37, 24) wird er den Völkern den Frieden bringen (vgl. Sach 9, 9–10). In der Weisheitsliteratur wird der König als derjenige dargestellt, der gerechte Urteile spricht und die Ungerechtigkeit verabscheut (vgl. Spr 16, 12), der den Armen ein zuverlässiger Richter (vgl. Spr 29, 14) und ein Freund des Menschen ist, der ein reines Herz hat (vgl. Spr 22, 11). Immer klarer wird die Ankündigung dessen, was die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Texte in Jesus von Nazaret erfüllt sehen, der endgültigen Verkörperung der im Alten Testament beschriebenen Gestalt des Königs.

b) Jesus und die politische Autorität

379 Jesus lehnt die unterdrückerische und despotische Macht, die die Herrscher über die Nationen ausüben, ab (vgl. Mk 10, 42), und ebenso lehnt er ihren Anspruch ab, sich als Wohltäter verehren zu lassen (vgl. Lk 22, 25), doch er nimmt nie direkt gegen die Autoritäten seiner Zeit Stellung. Im Streitgespräch über die dem Kaiser zu zahlende Steuer (vgl. Mk 12, 13–17; Mt 22, 15–22; Lk 20, 20–26) sagt er, man müsse Gott geben, was Gott gehört, und verurteilt damit implizit jeden Versuch, die weltliche Macht zu vergöttlichen und zu verabsolutieren: Allein Gott kann vom Menschen alles verlangen. Gleichzeitig hat die weltliche Macht Anspruch auf das, was ihr zusteht: Jesus betrachtet die kaiserlichen Steuern nicht als ungerecht.

Jesus, der verheißene Messias, hat die Versuchung eines politischen, von der Herrschaft über die Völker gekennzeichneten Messianismus bekämpft und überwunden (vgl. Mt 4, 8–11; Lk 4,5–8). Er ist der Menschensohn, der gekommen ist, „um zu dienen und sein Leben hinzugeben“ (Mk 10, 45; vgl. Mt 20, 24–48; Lk 22, 24–27). Seine Jünger, die darüber streiten, wer unter ihnen der Größte ist, lehrt er, zum Letzten und zum Diener aller zu werden (vgl. Mk 9, 33–35) und deutet den Söhnen des Zebedäus, Jakobus und Johannes, die Ambitionen auf den Platz zu seiner Rechten haben, den Weg des Kreuzes an (vgl. Mk 10, 35–40; Mt 20, 20–23).

c) Die ersten christlichen Gemeinschaften

380 Sich nicht passiv, sondern aus Gewissensgründen (vgl. Röm 13, 5) der bestehenden Macht zu unterwerfen entspricht der von Gott festgesetzten Ordnung. Der heilige Paulus definiert das Verhältnis und die Pflichten der Christen gegenüber den Autoritäten (vgl. Röm 13, 1–7). Er betont die bürgerliche Pflicht, Steuern zu zahlen: „Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre“ (Röm 13, 7). Natürlich geht es dem Apostel nicht darum, jede Art von Macht zu legitimieren; vielmehr will er den Christen helfen, „allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht“ zu sein (Röm 12, 17), und das auch in den Beziehungen zur Autorität, insofern diese zum Wohl der Person im Dienst Gottes steht (vgl. Röm 13, 4; 1 Tim 2, 1–2; Tit 3, 1) und „das Urteil an dem“ vollstreckt, „der Böses tut“ (Röm 13, 4).

Der heilige Petrus mahnt die Christen, sich „um des Herrn willen jeder menschlichen Ordnung“ zu unterwerfen (1Petr 2, 13). Der König und die für ihn regierenden Statthalter haben die Aufgabe, „die zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen, die Gutes tun“ (1 Petr 2, 14). Ihre Autorität muss „geehrt“ (vgl. 1Petr 2, 17), das heißt anerkannt werden, weil Gott Rechtschaffenheit verlangt, die „die Unwissenheit unverständiger Menschen zum Schweigen bringt“ (1Petr 2, 15). Nicht um die eigene Bosheit zu bemänteln, sondern um Gott zu dienen, soll die Freiheit benutzt werden (vgl. ibid.). Es geht also um einen freien und verantwortungsvollen Gehorsam gegenüber einer Autorität, die der Gerechtigkeit Achtung verschafft und so das Gemeinwohl gewährleistet.

381 Das Gebet für die Regierenden, das der heilige Paulus in den Zeiten der Verfolgung empfiehlt, thematisiert genau das, was die politischen Autoritäten garantieren sollen: ein ungestörtes und ruhiges Leben in Frömmigkeit und Würde (vgl. 1 Tim 2, 1–2). Die Christen sollen „immer bereit sein, Gutes zu tun“ (Tit 3, 1), und sie sollen „gütig zu allen Menschen“ sein (Tit 3, 2), denn sie wissen, dass sie nicht um ihrer Werke willen, sondern durch Gottes Barmherzigkeit gerettet worden sind. Ohne „das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“, das Gott „in reichem Maß über uns ausgegossen [hat] durch Jesus Christus, unseren Retter“, wären alle Menschen „unverständig und ungehorsam“, „gingen in die Irre“, wären „Sklaven aller möglichen Begierden und Leidenschaften, lebten in Bosheit und Neid“, wären „verhasst und hassten einander“ (Tit 3, 3). Der Mensch darf das Elend seines sündigen Daseins nicht vergessen, aus dem die Liebe Gottes ihn erlöst hat.

382 Wenn die menschliche Macht die Grenzen der gottgewollten Ordnung überschreitet, erhebt sie sich selbst zum Gott und verlangt bedingungslose Unterwerfung; dann wird sie zum Tier der Apokalypse, dem Bild der die Christen verfolgenden kaiserlichen Macht, die trunken ist „vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“ (Offb 17, 6). Dem Tier dient der „falsche Prophet“ (Offb 19, 20), der die Menschen mit Zeichen dazu verführt, ihn anzubeten. Diese Vision zeigt in prophetischer Weise alle Listen auf, die Satan benutzt, um die Menschen zu beherrschen und sich auf den Wegen der Lüge in ihren Geist einzuschleichen. Doch Christus ist das Lamm, das jede Macht überwindet, die sich im Laufe der Geschichte selbst für absolut erklärt hat. Angesichts einer solchen Macht verweist der heilige Johannes auf den Widerstand der Märtyrer: Auf diese Weise bezeugen die Gläubigen, dass die verderbte und satanische Macht besiegt ist, weil sie keine Gewalt mehr über sie hat.

383 Die Kirche verkündet, dass Christus als Sieger über den Tod über das Universum herrscht, das er selbst erlöst hat. Sein Reich erstreckt sich auch auf die gegenwärtige Zeit, und es wird erst enden, wenn alles dem Vater übergeben sein und die Geschichte der Menschheit sich mit dem letzten Gericht erfüllen wird (vgl. 1 Kor 15, 20–28). Christus offenbart der menschlichen Autorität, die immer der Versuchung der Macht ausgesetzt ist, ihre echte und vollendete Bedeutung des Dienens. Gott ist der einzige Vater in Christus, dem einzigen Meister aller Menschen, die Brüder sind. Die Herrschaft gebührt Gott. Dennoch wollte der Herr „die Ausübung aller Gewalten nicht sich allein vorbehalten. Er überlässt jedem Geschöpf jene Aufgaben, die es den Fähigkeiten seiner Natur gemäß auszuüben vermag. Diese Führungsweise soll im gesellschaftlichen Leben nachgeahmt werden. Das Verhalten Gottes bei der Weltregierung, das von so großer Rücksichtnahme auf die menschliche Freiheit zeugt, sollte die Weisheit derer inspirieren, welche die menschlichen Gesellschaften regieren. Sie haben sich als Diener der göttlichen Vorsehung zu verhalten“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1884.</ref>

Unablässig inspiriert die biblische Botschaft das christliche Nachdenken über die politische Macht und weist darauf hin, dass diese von Gott stammt und wesentlicher Bestandteil der von ihm geschaffenen Ordnung ist. Diese Ordnung wird vom Gewissen wahrgenommen und verwirklicht sich im gesellschaftlichen Leben durch die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Freiheit und die Solidarität, die den Frieden hervorbringen.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 266–267. 281–291. 301–302; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 39: AAS 80 (1988) 566–568.</ref>

II. DIE GRUNDLAGE UND DAS ZIEL DER POLITISCHEN GEMEINSCHAFT

a) Politische Gemeinschaft, menschliche Person und Volk

384 Die menschliche Person ist die Grundlage und das Ziel des politischen Zusammenlebens.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 25: AAS 58 (1966) 1045–1046; Katechismus der Katholischen Kirche, 1881; Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 3, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 8–10.</ref> Aufgrund ihrer Vernunftbegabung ist sie für ihre eigenen Entscheidungen verantwortlich und imstande, auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Pläne zu verfolgen, die ihrem Leben Sinn geben. Ihre Öffnung hin zur Transzendenz und zu den anderen ist das Merkmal, das sie charakterisiert und auszeichnet: Nur im Verhältnis zur Transzendenz und zu den anderen gelangt die menschliche Person voll und ganz zur Verwirklichung ihrer selbst. Das bedeutet, dass „das gesellschaftliche Leben für den Menschen“, der von Natur aus ein soziales und politisches Geschöpf ist, „nicht etwas äußerlich Hinzukommendes ist“,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 25: AAS 58 (1966) 1045.</ref> sondern eine wesentliche und unauslöschliche Dimension.

Die politische Gemeinschaft entspringt aus der Natur der Personen, deren Gewissen die von Gott in all seinen Geschöpfen angelegte Ordnung kundtut und unbedingt befiehlt, sie einzuhalten:<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 258.</ref> Der Mensch verlangt nach „einer religiös begründeten sittlichen Ordnung. Diese ist besser als jeder materielle Wert und jedes äußere Interesse imstande, Probleme zu lösen, die das Leben der einzelnen und der sozialen Gruppen, das eines Volkes und das der Völkergemeinschaft stellt“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 450.</ref> Eine solche Ordnung muss von der Menschheit schrittweise entdeckt und entwickelt werden. Die politische Gemeinschaft als eine in der Natur der Menschen angelegte Realität existiert, um ein Ziel zu erreichen, das andernfalls unerreichbar bliebe: das umfassendste Wachstum jedes ihrer Mitglieder, die dazu aufgerufen sind, dem Impuls ihres natürlichen Strebens nach dem Wahren und Guten zu folgen und beständig an der Verwirklichung des Gemeinwohls mitzuwirken.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1095–1097.</ref>

385 Die politische Gemeinschaft findet in der Bezogenheit auf das Volk ihre eigentliche Dimension: Sie „ist und muss wahrhaftig die organische und organisatorische Einheit eines wahren Volkes sein“.<ref> Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945) 13.</ref> Das Volk ist keine amorphe Menge, eine träge Masse, die manipuliert und instrumentalisiert werden kann, sondern eine Gesamtheit von Personen, von denen jede einzelne – „an ihrem eigenen Platz und in ihrer eigenen Weise“<ref> Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945) 13.</ref> – die Möglichkeit hat, sich über die öffentliche Sache eine eigene Meinung zu bilden, und die Freiheit, ihr eigenes politisches Empfinden zum Ausdruck zu bringen und es so zur Geltung zu bringen, wie es dem Gemeinwohl entspricht. Das Volk „lebt von der Fülle des Lebens der Menschen, aus denen es besteht, von denen jeder (…) eine Person ist, die sich ihrer eigenen Verantwortung und ihrer eigenen Überzeugungen bewusst ist“.<ref> Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945) 13.</ref>

Die Angehörigen einer politischen Gemeinschaft sind zwar als Volk organisch miteinander verbunden, bewahren aber dennoch auf der Ebene der personalen Existenz und der zu verfolgenden Ziele eine unverrückbare Autonomie.

386 Was ein Volk in erster Linie kennzeichnet, ist die Gemeinsamkeit des Lebens und der Werte, die eine spirituelle und moralische Gemeinschaft stiftet: „DasZusammenleben der Menschen ist deshalb (…) als ein vordringlich geistiges Geschehen aufzufassen. In den geistigen Bereich gehören nämlich die Forderungen, dass die Menschen im hellen Licht der Wahrheit ihre Erkenntnisse untereinander austauschen, dass sie ihre Rechte wahrzunehmen und ihre Pflichten zu erfüllen in den Stand gesetzt werden, dass sie angespornt werden, die geistigen Güter zu erstreben, dass sie aus jeder ehrenhaften Sache, wie immer sie beschaffen sein mag, einen Anlass zu gemeinsamer rechtschaffener Freude gewinnen, dass sie in unermüdlichem Wollen das Beste, was sie haben, einander mitzuteilen und voneinander zu empfangen suchen. Diese Werte berühren und lenken alles, was sich auf die kulturellen Ausdrucksformen, die Welt der Wirtschaft, die sozialen Einrichtungen, die politischen Strömungen und Systeme, die Rechtsordnungen und schließlich auf alle übrigen Dinge bezieht, die äußerlich das menschliche Zusammenleben ausmachen und in ständigem Fortschritt entwickeln“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 266.</ref>

387 Im Allgemeinen entspricht jedem Volk eine Nation, doch aus verschiedenen Gründen stimmen die nationalen nicht immer mit den ethnischen Grenzen überein.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 283.</ref> So entsteht die Frage der Minderheiten, die in der Geschichte nicht wenige Konflikte hervorgebracht hat. Das Lehramt bestätigt, dass die Minderheiten Gruppen mit besonderen Rechten und Pflichten bilden. Vor allem hat eine Minderheit das Recht auf ihre eigene Existenz: „Dieses Recht kann auf verschiedene Weise missachtet werden bis hin zu den extremen Fällen, in denen es durch offenkundige oder indirekte Formen von Völkermord verneint wird“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1989, 5: AAS 81 (1989) 98.</ref> Ferner haben Minderheiten das Recht, ihre eigene Kultur einschließlich der Sprache und ihre religiösen Überzeugungen einschließlich kultischer Feiern zu pflegen.

Die legitime Inanspruchnahme ihrer Rechte kann Minderheiten dazu veranlassen, eine größere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit anzustreben: In einer so heiklen Situation führt der Weg zum Frieden über Gespräche und Verhandlungen. Terrorismus ist in jedem Fall ein nicht zu rechtfertigendes Mittel, das der Sache, die verteidigt werden soll, in Wirklichkeit nur schadet. Die Minderheiten haben auch Pflichten zu erfüllen, darunter vor allem die Mitwirkung am Gemeinwohl des Staates, dem sie eingegliedert sind. Insbesondere „hat eine Minderheitsgruppe die Pflicht, die Freiheit und Würde eines jeden ihrer Mitglieder zu fördern und die individuellen Entscheidungen eines jeden Einzelnen von ihnen zu achten, auch wenn einer sich entscheiden sollte, sich der Kultur der Mehrheit anzuschließen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1989, 11: AAS 81 (1989) 101.</ref>

b) Die Menschenrechte schützen und stärken

388 Die menschliche Person als Grundlage und Ziel der politischen Gemeinschaft zu betrachten bedeutet, sich vor allem durch den Schutz und die Stärkung der grundlegenden und unveräußerlichen Rechte des Menschen für die Anerkennung und die Achtung ihrer Würde einzusetzen, „da man heutzutage annimmt, dass das Gemeinwohl vor allem in der Wahrung der Rechte und der Pflichten der menschlichen Person besteht“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 273; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2237; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000,6: AAS 92 (2000) 362; Id., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 3: Der Apostolische Stuhl 1995, 514–515.</ref> In den Menschenrechten verdichten sich die grundlegenden moralischen und rechtlichen Forderungen, auf denen die politische Gemeinschaft auf bauen muss. Sie bilden eine objektive Norm, die dem positiven Recht zugrunde liegt und von der politischen Gemeinschaft nicht missachtet werden darf, weil die Person ihr ontologisch und teleologisch vorgeordnet ist: Das positive Recht muss die Befriedigung der fundamentalen menschlichen Bedürfnisse gewährleisten.

389 Die politische Gemeinschaft strebt das Gemeinwohl an, indem sie auf die Schaffung eines menschlichen Umfelds hinarbeitet, in dem die Bürger die Möglichkeit haben, ihre Menschenrechte wirklich wahrzunehmen und die diesbezüglichen Pflichten voll und ganz zu erfüllen: „Hat uns doch die Erfahrung gelehrt: wenn in der Wirtschaft, in der Politik, in den kulturellen Fragen die öffentlichen Gewalten nicht in rechter Weise vorangehen, so verschärft sich, besonders in unseren Tagen, das Ungleichgewicht immer weiter, und so geschieht es, dass die Rechte des Menschen und seine Pflichten unwirklich bleiben“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 274.</ref>

Die vollgültige Verwirklichung des Gemeinwohls setzt voraus, dass die politische Gemeinschaft im Hinblick auf die Menschenrechte im zweifachen und sich ergänzenden Sinne der Verteidigung und der Förderung handelt: „So muss vermieden werden, dass durch die Oberbetonung des Rechtsschutzes zugunsten bestimmter Personen oder Gesellschaftsgruppen privilegierte Verhältnisse entstehen; und dass man anderseits nicht beim Bemühen um die Förderung der Rechte der Bürger in absurder Weise ihre wirkliche Ausübung verhindert“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 275.</ref>

c) Das Zusammenleben auf der Grundlage der Bürgerfreundschaft

390 Die tiefe Bedeutung des bürgerlichen und politischen Zusammenlebens ergibt sich nicht unmittelbar aus der Gesamtheit der Rechte und Pflichten der Person. Dieses Zusammenleben gelangt dann zur Fülle seiner Bedeutung, wenn es auf Bürgerfreundschaft und Brüderlichkeit beruht.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Sententiae Octavi Libri Ethicorum, lect. 1: „Est enim naturalis amicitia inter eos qui sunt unius gentis ad invicem, inquantum communicant in moribus et convictu. Quartam rationem ponit ibi: Videtur autem et civitates continere amicitia. Et dicit quod per amicitiam videntur conservari civitates. Unde legislatores magis student ad amicitiam conservandam inter cives quam etiam ad iustitiam, quam quandoque intermittunt, puta in poenis inferendis, ne dissensio oriatur. Et hoc patet per hoc quod concordia assimilatur amicitiae, quam quidem, scilicet concordiam, legislatores maxime appetunt, contentionem autem civium maxime expellunt, quasi inimicam salutis civitatis. Et quia tota moralis philosophia videtur ordinari ad bonum civile, ut in principio dictum est, pertinet ad moralem considerare de amicitia“.</ref> Der Bereich des Rechts ist nämlich der des gewahrten Interesses und des äußerlichen Respekts, des Schutzes der materiellen Güter und ihrer Aufteilung nach festgelegten Regeln; der Bereich der Freundschaft dagegen ist der der Uneigennützigkeit, der Loslösung von den materiellen Gütern, ihres Verschenkens, der inneren Verfügbarkeit für die Bedürfnisse des anderen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2212–2213.</ref> In diesem Sinne ist die Bürgerfreundschaft<ref> Vgl. Thomas von Aquin, De regno. Ad regem Cypri, I, 10: „Omnis autem amicitia super aliqua communione firmatur: eos enim qui conueniunt uel per nature originem uel per morum similitudinem uel per cuiuscumque communionem, uidemus amicitia coniungi … Non enim conseruatur amore, cum parua uel nulla sit amicitia subiecte multitudinis ad tyrannum, ut prehabitis patet“.</ref> die authentischste Anwendung des Prinzips der Brüderlichkeit, das nicht von denen der Freiheit und der Gleichheit getrennt werden kann.<ref> „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war der Wahlspruch der Französischen Revolution. „Im Grunde sind dies christliche Vorstellungen“, so Johannes Paul II. während seines ersten Frankreichsbesuchs: Predigt in Le Bourget (1. Juni 1980), 5: AAS 72 (1980) 720.</ref> Es handelt sich hier um ein Prinzip, das vor allem aufgrund des Einflusses individualistischer und kollektivistischer Ideologien in den modernen und zeitgenössischen politischen Gesellschaften zum größten Teil noch nicht verwirklicht ist.

391 Eine Gemeinschaft ist fest begründet, wenn sie danach strebt, die Person und das Gemeinwohl als Ganzes zu fördern; in diesem Fall wird das Recht auch nach den Vorgaben der Solidarität und des hingebungsvollen Einsatzes für den Nächsten definiert, geachtet und gelebt. Die Gerechtigkeit verlangt, dass jeder seine eigenen Güter und seine eigenen Rechte genießen darf, und dies kann als der Mindestmaßstab der Liebe angesehen werden.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 99; Id., II-II, q. 23, a.3, ad 1um.</ref> Das Zusammenleben gestaltet sich umso menschlicher, je mehr es von dem Bemühen um ein reiferes Bewusstsein des Ideals gekennzeichnet ist, nach dem es strebt: der „Zivilisation der Liebe“.<ref> Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1977: AAS 68 (1976) 709.</ref>

Der Mensch ist eine Person, nicht nur ein Individuum.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2212.</ref> it dem Begriff „Person“ bezeichnet man „eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 259.</ref> Diese Realität steht somit weit über der eines Subjekts, das sich über rein materielle Bedürfnisse definiert. Die menschliche Person nimmt zwar im Schoß der familiären, bürgerlichen und politischen Gesellschaft aktiv an der auf die Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Tätigkeit teil, doch sie gelangt erst dann zur vollen Selbstverwirklichung, wenn sie die Bedürfnislogik überwindet und zu der des ungeschuldeten Schenkens vordringt, die ihrem Wesen und ihrer gemeinschaftlichen Berufung vollständiger entspricht.

392 Das Liebesgebot des Evangeliums erhellt den Christen die tiefste Bedeutung des politischen Zusammenlebens. Um dieses wahrhaft menschlich zu gestalten, „ist nichts so wichtig wie die Pflege der inneren Einstellung auf Gerechtigkeit, Wohlwollen und Dienst am Gemeinwohl sowie die Schaffung fester Grundüberzeugungen über das wahre Wesen politischer Gemeinschaft und über das Ziel, den rechten Gebrauch und die Grenzen der öffentlichen Gewalt“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 73: AAS 58 (1966) 1095.</ref> Das Ziel, das die Gläubigen verfolgen müssen, ist die Verwirklichung gemeinschaftlicher Beziehungen zwischen den Personen. Das christliche Bild von der politischen Gesellschaft hebt in besonderer Weise den Wert der Gemeinschaft als Organisationsmodell des Zusammenlebens und ebenso als Stil des täglichen Lebens hervor.

III. DIE POLITISCHE AUTORITÄT

a) Die Grundlage der politischen Autorität

393 Die Kirche hat sich mit verschiedenen Autoritätsbegriffen auseinandergesetzt und dabei immer darauf geachtet, ein Modell zu verteidigen und zu vertreten, das auf der gesellschaftlichen Natur der Personen basiert: „Gott hat aber die Menschen ihrer Natur nach als Gemeinschaftswesen geschaffen, und weil keine Gemeinschaft »bestehen kann, wenn nicht einer an der Spitze von allen steht, der durch kräftigen und gleichmäßigen Impuls einen jeden zu dem gemeinsamen Ziele hinwendet, so ergibt sich für das zivile Zusammenleben die Notwendigkeit einer Autorität, welche sie regiert; wie die Gesellschaft selbst, hat auch sie in der Natur und somit in Gott selbst ihren Ursprung«“.<ref> Johannes XIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 269. Vgl. Leo XIII., Enz. Immortale Dei: Acta Leonis XIII, 5 (1885) 120.</ref> Deshalb ist die politische Autorität aufgrund der ihr zugewiesenen Aufgaben notwendig<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1898; Thomas von Aquin, De regno. Ad regem Cypri, I, 1: „Si igitur naturale est homini quod in societate multorum uiuat, necesse est in omnibus esse aliquid per quod multitudo regatur. Multis enim existentibus hominibus et unoquoque id quod est sibi congruum prouidente, multitudo in diuersa dispergetur nisi etiam esset aliquid de eo quod ad bonum multitudinis pertinet curam habens, sicut et corpus hominis et cuiuslibet animalis deflueret nisi esset aliqua uis regitiua communis in corpore, quae ad bonum commune omnium membrorum intenderet. Quod considerans Salomon dixit: »Ubi non est gubernator, dissipabitur populus«“.</ref> und muss ein positiver und unersetzlicher Bestandteil des bürgerlichen Zusammenlebens sein.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1897; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 279.</ref>

394 Die politische Autorität muss das geordnete und richtige Leben der Gemeinschaft gewährleisten, wobei sie die freie Aktivität der Einzelnen und der Gruppen nicht ersetzen, sondern in Achtung und Wahrung der Unabhängigkeit der individuellen und sozialen Subjekte lenken und auf die Verwirklichung des Gemeinwohls ausrichten soll. Die politische Autorität ist das koordinierende und richtunggebende Instrument, durch das die Einzelnen und die Zwischengruppen sich an einer Ordnung orientieren sollen, deren Beziehungen, Institutionen und Vorgehensweisen im Dienst des umfassenden menschlichen Wachstums stehen. Die Ausübung der politischen Autorität darf sich „in der Gemeinschaft als solcher oder in den für sie repräsentativen Institutionen immer nur im Rahmen der sittlichen Ordnung vollziehen (…), und zwar zur Verwirklichung des Gemeinwohls – dieses aber dynamisch verstanden – und entsprechend einer legitimen juridischen Ordnung, die bereits besteht oder noch geschaffen werden soll. Dann aber sind auch die Staatsbürger im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1096.</ref>

395 Subjekt der politischen Autorität ist das Volk, das in seiner Gesamtheit als Souverän betrachtet wird. Das Volk überträgt die Ausübung seiner Souveränität in verschiedenen Formen auf diejenigen, die es in freier Wahl zu seinen Vertretern bestimmt, aber es behält die Zuständigkeit, die Regierenden zu kontrollieren und auszuwechseln, wenn diese ihre Funktionen nicht in befriedigender Weise erfüllen. Auch wenn dieses Recht in jedem Staat und in jedem politischen Regime Gültigkeit hat, bietet das demokratische System mit seinen Kontrollverfahren die besten Möglichkeiten und Garantien für seine Umsetzung.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850–851; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 271.</ref> Der Konsens eines Volkes allein ist jedoch nicht ausreichend, um die Art und Weise, in der die politische Autorität ausgeübt wird, für rechtens zu erklären.

b) Die Autorität als moralische Kraft

396 Die Autorität muss sich vom Sittengesetz leiten lassen: Ihre ganze Würde beruht darauf, dass sie sich innerhalb der moralischen Ordnung entfaltet,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1095–1097.</ref> „die ihrerseits Gott als Ursprung und Ziel hat“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 270; vgl. Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945) 15; Katechismus der Katholischen Kirche, 2235.</ref> Aufgrund ihres notwendigen Bezogenseins auf diese Ordnung, die ihr vorausgeht und sie begründet, und aufgrund ihrer Zielsetzungen und ihrer Adressaten darf die Autorität nicht als eine von rein soziologischen und historischen Kriterien bestimmte Kraft verstanden werden: „Manche leugnen überhaupt das Bestehen einer wahren und gültigen sittlichen Ordnung, die über die sichtbare Welt und über den Menschen selbst hinausweist, die unbedingt verbindlich ist, die alle umfasst und für alle in gleicher Weise gilt. Ohne ein von allen übereinstimmend anerkanntes Gesetz der Gerechtigkeit lässt sich über nichts eine volle und sichere Übereinkunft erzielen“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 449–450.</ref> Diese Ordnung „hat nur in Gott Bestand. Wird sie von Gott gelöst, löst sie sich selbst auf“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 450.</ref> Aus ebendiese Ordnung – und nicht aus der Willkür und dem Willen zur Macht<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 258–259.</ref> –gewinnt die Autorität ihre Verbindlichkeit<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 269–270.</ref> und ihre eigene moralische Berechtigung,<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1902.</ref> und sie hat die Pflicht, diese Ordnung in konkrete Taten umzusetzen, die der Verwirklichung des Gemeinwohls dienen.<ref> Vgl. Pius XII., Enz. Summi pontificatus: AAS 31 (1939) 432–433.</ref>

397 Die Autorität muss die wesentlichen menschlichen und sittlichen Werte anerkennen, achten und fördern. Hierbei handelt es sich um eingestiftete Werte, „die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 71: AAS 87 (1995) 483.</ref> Sie gründen sich nicht auf die Meinung vorübergehender und veränderlicher „Mehrheiten“, sondern müssen schlicht als Elemente eines objektiven Sittengesetzes anerkannt, geachtet und gefördert werden, eines natürlichen Gesetzes, das dem Menschen ins Herz geschrieben ist (vgl. Röm 2, 15), und eines normativen Bezugspunkts des bürgerlichen Gesetzes selbst.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 70: AAS 87 (1995) 481–483; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 258–259. 279–280.</ref> Wenn es dem Skeptizismus aufgrund einer tragischen Verfinsterung des kollektiven Bewusstseins gelingen sollte, selbst die grundlegenden Prinzipien des Sittengesetzes in Zweifel zu ziehen,<ref> Vgl. Pius XII., Enz. Summi pontificatus: AAS 31 (1939) 423.</ref> würde auch die staatliche Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert und auf einen bloßen Mechanismus zur pragmatischen Regulierung verschiedener und gegensätzlicher Interessen beschränkt werden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 70: AAS 87 (1995) 481–483; Id., Enz.vVeritatis splendor, 97 und 99: AAS 85 (1993) 1209–1211; Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 5–6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 13–16.</ref>

398 Die Autorität muss gerechte, dass heißt der Würde der menschlichen Person und den Prinzipien der rechten Vernunft entsprechende Gesetze hervorbringen: „Das menschliche Gesetz ist dann ein Gesetz, wenn es der rechten Vernunft entspricht: und damit offensichtlich dem, was vom ewigen Gesetz abgeleitet ist. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es als ungerechtes Gesetz bezeichnet: und dann ist es kein Gesetz, sondern eher eine Form von Gewalt“.<ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 93, a. 3, ad 2um: „Lex humana intantum habet rationem legis, inquantum est secundum rationem rectam: et secun-dum hoc manifestum est quod a lege aeterna derivatur. Inquantum vero a ratione recedit, vsic dicitur lex iniqua: et sic non habet rationem legis, sed magis violentiae cuiusdam“.</ref> Die Autorität, die vernunftgemäße Anordnungen trifft, versetzt den Menschen nicht in ein Verhältnis der Unterwürfigkeit gegenüber einem anderen Menschen, sondern in ein Verhältnis des Gehorsams gegenüber der sittlichen Ordnung und damit gegenüber Gott selbst, der ihre letzte Quelle ist.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 270.</ref> Wer einer Autorität, die nach dem Sittengesetz handelt, den Gehorsam verweigert. „stellt sich gegen die Ordnung Gottes“ (Röm 13, 2).<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche,1899–1900.</ref> Und umgekehrt wird eine öffentliche Autorität, die ihre Grundlage in der menschlichen Natur hat und der von Gott festgelegten Ordnung angehört,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1095–1097; Katechismus der Katholischen Kirche, 1901.</ref> in dem Moment ihr eigenes Ziel verfehlen und sich selbst ihrer Daseinsberechtigung berauben, wenn sie sich nicht für die Verwirklichung des Gemeinwohls einsetzt.

c) Das Recht auf Einspruch aus Gewissensgründen

399 Der Bürger ist vor seinem Gewissen nicht dazu verpflichtet, den Vorschriften der zivilen Autoritäten Folge zu leisten, wenn sie den Forderungen der moralischen Ordnung, den Grundrechten der Personen oder den Lehren des Evangeliums widersprechen.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2242.</ref> Ungerechte Gesetze stellen moralisch aufrichtige Menschen vor dramatische Gewissensprobleme: Wenn sie dazu aufgefordert werden, an moralisch schlechten Taten mitzuwirken, haben sie die Pflicht, sich zu verweigern.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 73: AAS 87 (1995) 486–487.</ref> Diese Verweigerung ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern ein grundlegendes Menschenrecht, das gerade als solches vom bürgerlichen Gesetz selbst anerkannt und geschützt werden muss: „Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muss nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 74: AAS 87 (1995) 488.</ref> 823 <ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 104, a. 6, ad 3um: „Principibus saecularibus intantum homo oboedire tenetur, inquantum ordo iustitiae requirit“.</ref>

Es ist eine schwerwiegende Gewissenspflicht, auch nicht formal an jenen Praktiken mitzuwirken, die zwar von der bürgerlichen Gesetzgebung gestattet sind, aber zum Gesetz Gottes im Widerspruch stehen. Eine solche Mitwirkung kann niemals gerechtfertigt werden, weder durch den Hinweis auf die Achtung vor der Freiheit der anderen noch durch den Hinweis auf die Tatsache, dass das bürgerliche Gesetz sie vorsieht und verlangt. Niemand kann sich der moralischen Verantwortung für sein Tun entziehen, und er wird Gott selbst darüber Rechenschaft ablegen müssen (vgl. Röm 2, 6; 14, 12).

d) Das Recht auf Widerstand

400 Weil das Naturrecht das positive Recht begründet und begrenzt, bedeutet dies auch, dass es rechtmäßig ist, der Autorität Widerstand zu leisten, wo immer diese die Grundsätze des Naturrechts schwerwiegend und wiederholt verletzt. Der heilige Thomas von Aquin schreibt, dass „man verpflichtet ist, (…) zu gehorchen, soweit dies die Ordnung der Gerechtigkeit verlangt“.823 Das Recht auf Widerstand beruht folglich auf dem natürlichen Recht.

Die Umsetzung dieses Rechts kann verschiedene konkrete Formen annehmen. Auch die Ziele, die damit verfolgt werden, können unterschiedlich sein. Der Widerstand gegenüber der Autorität dient dem Zweck, die Gültigkeit einer anderen Sicht der Dinge zu verfechten, ob man nun damit eine teilweise Umgestaltung wie etwa die Modifikation bestimmter Gesetze anstrebt oder sich für eine grundlegende Veränderung der Situation einsetzt.

401 Die Soziallehre nennt die Kriterien für die Ausübung des Rechts auf Widerstand: „Bewaffneter Widerstand gegen Unterdrückung durch die staatliche Gewalt ist nur dann berechtigt, wenn gleichzeitig die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (1) dass nach sicherem Wissen Grundrechte schwerwiegend und andauernd verletzt werden; (2) dass alle anderen Hilfsmittel erschöpft sind; (3) dass dadurch nicht noch schlimmere Unordnung entsteht; (4) dass begründete Aussicht auf Erfolg besteht und (5) dass vernünftigerweise keine besseren Lösungen abzusehen sind“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2243.</ref> Der bewaffnete Kampf wird als äußerstes Mittel betrachtet, um einer „eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt“, ein Ende zu bereiten.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 31: AAS 50 (1967) 272.</ref> Die Größe der Gefahren, die in der heutigen Zeit mit der Anwendung von Gewalt verbunden sind, spricht jedoch dafür, dass dem Weg des passiven Widerstands in jedem Fall der Vorzug zu geben ist, „der mit den Moralprinzipien mehr konform geht und nicht weniger erfolgversprechend ist“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 79: AAS 79 (1987) 590.</ref>

e) Strafen verhängen

402 Um das Gemeinwohl zu schützen, hat die legitime öffentliche Autorität das Recht und die Pflicht, im Verhältnis zur Schwere der Verbrechen Strafen aufzuerlegen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2266.</ref> Der Staat hat die doppelte Aufgabe, Verhaltensweisen zu unterbinden, die die Menschenrechte und die grundlegenden Regeln eines bürgerlichen Zusammenlebens verletzen, und durch das System der Strafen die durch die verbrecherische Handlung verursachten Schäden wiedergutzumachen. Im Rechtsstaat ist die Macht, Strafen zu verhängen, korrekterweise der Gerichtsbarkeit anvertraut: „Die Verfassungen der modernen Staaten gewährleisten durch die Festlegung der Verhältnisse, die zwischen der Legislative, der Exekutive und der Judikative zu bestehen haben, die notwendige Unabhängigkeit der letztgenannten im Bereich des Gesetzes“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Nationalen Magistratsvereinigung (31. März 2000), 4: AAS 92 (2000) 633.</ref>

403 Die Strafe dient nicht allein dem Ziel, die öffentliche Ordnung zu schützen und die Sicherheit der Personen zu gewährleisten: Sie wird außerdem zu einem Instrument, das der Besserung des Schuldigen dient, einer Besserung, die auch den moralischen Wert einer Sühne annehmen kann, wenn der Schuldige seine Strafe willig annimmt.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2266.</ref> Das anzustrebende Ziel ist ein zweifaches: zum einen die Wiedereingliederung der verurteilten Personen zu fördern; zum anderen eine Gerechtigkeit der Versöhnung zu verwirklichen, die geeignet ist, die durch die verbrecherische Handlung zerstörten Beziehungen des harmonischen Zusammenlebens wiederherzustellen.

In dieser Hinsicht ist die Arbeit wichtig, die die Gefängnisseelsorger nicht nur im spezifisch religiösen Bereich, sondern auch zum Schutz der Würde der inhaftierten Personen zu leisten haben. Leider sind die Bedingungen, unter denen diese ihre Haftstrafen verbüßen, der Achtung ihrer Würde nicht immer förderlich; häufig werden die Gefängnisse sogar zum Schauplatz neuer Verbrechen. Dennoch bietet das Umfeld der Strafanstalten ein bevorzugtes Gebiet, auf dem sich das christliche Engagement für den sozialen Bereich wieder einmal bewähren kann: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25, 36).

404 Die Tätigkeit der für die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortung zuständigen Beamten – einer Verantwortung, die immer personalen Charakter hat – muss der bedingungslosen Suche nach der Wahrheit verpflichtet sein und voller Respekt vor der Würde und den Rechten der menschlichen Person durchgeführt werden: Die Rechte des Schuldigen müssen ebenso gewährleistet sein wie die des Unschuldigen. Man muss sich stets den allgemeinen juristischen Grundsatz vor Augen halten, wonach eine Strafe erst dann verhängt werden kann, wenn das Verbrechen nachgewiesen ist.

Bei den Ermittlungsarbeiten muss die Regel, die die Praxis der Folter verbietet, auch bei schwereren Vergehen, auf das Genaueste beachtet werden: „Der Jünger Christi lehnt spontan jedes Zurückgreifen auf solche Mittel ab, die durch nichts gerechtfertigt werden können und die die Würde des Menschen – des Gefolterten und seines Folterers – verletzen“.<ref> Johannes Paul I., Ansprache an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, Genf (15. Juni 1982), 5: Der Apostolische Stuhl 1982, 648.</ref> Die internationalen juristischen Einrichtungen weisen im Zusammenhang mit den Menschenrechten zu Recht darauf hin, dass das Folterverbot ein Grundsatz ist, von dem man unter keinen Umständen abrücken darf.

Auch „eine Inhaftierung einzig zu dem Zweck, neue Informationen zu erhalten, die für den Prozess von Bedeutung sind“,<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Nationalen Magistratsvereinigung (31. März 2000), 4: AAS 92 (2000) 633.</ref> muss ausgeschlossen werden. Darüber hinaus muss „das zügige Tempo der Prozesse“ gewährleistet sein: „Wenn sie übermäßig in die Länge gezogen werden, wird dies für die Bürger unerträglich und verwandelt sich schließlich in eine wahre und eigentliche Ungerechtigkeit“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Nationalen Magistratsvereinigung (31. März 2000), 4: AAS 92 (2000) 633.</ref>

Die Richter und Staatsanwälte sind bei der Durchführung ihrer Befragungen zu der gebührenden Zurückhaltung aufgefordert, um das Recht der Befragten auf Vertraulichkeit nicht zu verletzen und den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht zu beeinträchtigen. Da auch ein Richter irren kann, ist es ratsam, dass die Gesetzgebung für das Opfer eines Justizirrtums eine angemessene Entschädigung vorsieht.

405 Ein Zeichen der Hoffnung ist in den Augen der Kirche „die immer weiter verbreitete Abneigung der öffentlichen Meinung gegen die Todesstrafe selbst als Mittel sozialer »Notwehr«, in Anbetracht der Möglichkeiten, über die eine moderne Gesellschaft verfügt, um das Verbrechen wirksam mit Methoden zu unterdrücken, die zwar den, der es begangen hat, unschädlich machen, ihm aber nicht endgültig die Möglichkeit nehmen, wieder zu Ehren zu kommen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 27: AAS 87 (1995) 432.</ref> Obwohl die traditionelle Lehre der Kirche – unter der Voraussetzung, dass die Identität und die Verantwortung des Schuldigen zweifelsfrei festgestellt sind – die Todesstrafe nicht ausschließt, wenn diese der einzige praktikable Weg ist, um „das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen“,<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2267.</ref> sind die unblutigen Mittel der Abschreckung und der Bestrafung zu bevorzugen, „denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2267.</ref>

Die steigende Zahl von Ländern, die Vorkehrungen zur Abschaffung oder Aussetzung der Todesstrafe treffen, ist ebenfalls ein Beweis dafür, dass die Fälle, in denen es unumgänglich ist, den Schuldigen zum Tode zu verurteilen, „schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben“ sind.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 56: AAS 87 (1995) 464; vgl. auch Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2001, 19: AAS 93 (2001) 244, wo die Anwendung der Todesstrafe als „überhaupt nicht nötig“ bezeichnet wird.</ref> Die zunehmende Ablehnung der Todesstrafe in der öffentlichen Meinung und die verschiedenen Vorkehrungen im Hinblick auf ihre Abschaffung oder Aussetzung stellen sichtbare Zeichen einer größeren moralischen Sensibilität dar.

IV. DAS SYSTEM DER DEMOKRATIE

406 Ein ausdrückliches und deutliches Urteil über die Demokratie findet sich in der Enzyklika „Centesimus annus“: „Die Kirche weiß das System der Demokratie zu schätzen, insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen. Sie kann daher nicht die Bildung schmaler Führungsgruppen billigen, die aus Sonderinteressen oder aus ideologischen Absichten die Staatsmacht an sich reißen.

Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. Sie erfordert die Erstellung der notwendigen Vorbedingungen für die Förderung sowohl der einzelnen Menschen durch die Erziehung und die Heranbildung zu den echten Idealen als auch der »Subjektivität« der Gesellschaft durch die Schaffung von Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850.</ref>

a) Die Werte und die Demokratie

407 Eine echte Demokratie ist nicht nur das Ergebnis einer formalen Einhaltung von Regeln, sondern die Frucht einer überzeugten Annahme von Werten, die die demokratische Vorgehensweise inspirieren: die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung der Menschenrechte, die Anerkennung des „Gemeinwohls“ als Ziel und maßgebendes Kriterium des politischen Lebens. Wenn hinsichtlich dieser Werte kein allgemeiner Konsens herrscht, verflüchtigt sich die Bedeutung der Demokratie, und ihre Festigkeit gerät ins Wanken.

Die Soziallehre sieht eine der größten Gefahren für die gegenwärtigen Demokratien im ethischen Relativismus, der die Existenz eines objektiven und allgemeingültigen Kriteriums zur Stabilisierung der Wertehierarchie und ihres Fundaments leugnet: „Heute neigt man zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen politischen Formen entsprechen. Und alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen, und an ihr festhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, dass die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde bzw. je nach dem unterschiedlichen politischen Gleichgewicht schwanke. In diesem Zusammenhang muss gesagt werden, dass dann, wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, die Ideen und Überzeugungen leicht für Machtzwecke missbraucht werden können.

Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850.</ref> Die Demokratie ist „ihrem Wesen nach eine »Ordnung« und als solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr »sittlicher« Charakter ist nicht automatisch gegeben, sondern hängt von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem sie, wie jedes andere menschliche Verhalten, unterstehen muss: das heißt, er hängt von der Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel, deren sie sich bedient“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 70: AAS 87 (1995) 482.</ref>

b) Institutionen und Demokratie

408 Das Lehramt erkennt die Gültigkeit des Prinzips der Gewaltenteilung in einem Staat an: Es ist „besser, wenn jede Macht von anderen Mächten und anderen Kompetenzbereichen ausgeglichen wird, die sie in ihren rechten Grenzen halten. Das ist das Prinzip des »Rechtsstaates«, in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 44: AAS 83 (1991) 848.</ref>

In einem demokratischen System ist die politische Autorität dem Volk zur Rechenschaft verpflichtet. Die repräsentativen Organe müssen einer wirkungsvollen Kontrolle von Seiten der sozialen Gesamtheit unterzogen werden. Diese Kontrolle ist vor allem durch freie Wahlen möglich, durch die die Repräsentanten gewählt oder auch abgelöst werden können. Die durch die Einhaltung der Legislaturperioden garantierte Pflicht der Gewählten, über ihr Tun Rechenschaft abzulegen, ist ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Vertretung.

409 In ihrem jeweiligen Fachbereich (Ausarbeitung von Gesetzen, Regierungstätigkeiten und ihre Kontrolle) müssen sich die Gewählten dafür einsetzen, das, was zu einem guten Funktionieren des bürgerlichen Zusammenlebens in seiner Gesamtheit beitragen kann, herauszufinden und umzusetzen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2236.</ref> Die Rechenschaftspflicht der Regierenden gegenüber den Regierten bedeutet keineswegs, dass die erstgenannten lediglich passive Weisungsempfänger ihrer Wähler sind. Die von den Bürgern ausgeübte Kontrolle schließt nämlich die notwendige Freiheit nicht aus, die den Gewählten bei der Ausübung ihres Mandats im Hinblick auf die zu verfolgenden Ziele zugestanden werden muss: Diese hängen nicht nur von Teilinteressen, sondern in viel größerem Maß von der integrierenden und vermittelnden Funktion hinsichtlich des Gemeinwohls ab, die eine der wesentlichen und unverzichtbaren Zielsetzungen der politischen Autorität darstellt.

c) Die moralischen Aspekte der politischen Vertretung

410 Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, dürfen die moralische Dimension der Vertretung nicht vergessen oder unterbewerten, die darin besteht, dass man am Schicksal des Volkes Anteil nimmt und sich dafür einsetzt, Lösungen für die sozialen Probleme zu finden. In diesem Zusammenhang bedeutet eine verantwortliche Autorität auch eine mit Hilfe der Tugenden praktizierte Autorität, die eine Machtausübung im Geist des Dienens<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 42: AAS 81 (1989) 472–476.</ref> begünstigen (Geduld, Bescheidenheit, Mäßigung, Liebe, Bereitschaft zum Teilen); eine solche Autorität wird von Personen ausgeübt, die in der Lage sind, sich in ihrem eigenen Handeln tatsächlich das Gemeinwohl und nicht ihr Ansehen oder ihren persönlichen Vorteil zum Ziel zu setzen.

411 Zu den schwerwiegendsten Zerrbildern des demokratischen Systems gehört die politische Korruption,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 44: AAS 80 (1988) 575–577; Id., Enz. Centesimus annus, 48: AAS 83 (1991) 852–854; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 6: AAS 91 (1999) 381–382.</ref> weil sie gleichzeitig die Grundsätze der Moral und die Normen der sozialen Gerechtigkeit verrät; sie beeinträchtigt das richtige Funktionieren des Staates, indem sie das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten negativ beeinflusst; sie führt zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber den öffentlichen Institutionen und verursacht ein zunehmendes Desinteresse der Bürger an der Politik und ihren Vertretern, was wiederum eine Schwächung der Institutionen zur Folge hat. Die Korruption verzerrt die Rolle der repräsentativen Einrichtungen von Grund auf, weil sie sie als Feld für einen politischen Austausch zwischen lobbyistischen Forderungen und Zugeständnissen der Regierenden benutzt. Auf diese Weise begünstigen die politischen Entscheidungen die eingeschränkten Ziele derjenigen, die über die Mittel verfügen, um diese Entscheidungen zu beeinf lussen, und verhindern die Verwirklichung des Gemeinwohls aller Bürger.

412 Die öffentliche Verwaltung als Instrument des Staates hat auf allen Ebenen – national, regional und kommunal – das Ziel, den Bürgern zu dienen: „Zum Dienst an den Bürgern bestellt, ist der Staat der Verwalter der Güter eines Volkes, die er zugunsten des Gemeinwohls einsetzen soll“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1998, 5: AAS 90 (1998) 152.</ref> Dieser Sicht widerspricht ein Übermaß an Bürokratie, das dann vorliegt, wenn „die Institutionen in ihrer Organisation komplexer werden und jeden verfügbaren Raum verwalten wollen. Sie werden letztlich vom unpersönlichen Funktionalismus, der übertriebenen Bürokratie, von ungerechten Privatinteressen, vom leichtfertigen und verbreiteten Mangel an Interesse ausgehöhlt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 41: AAS 81 (1989) 471–472.</ref> Die Rolle desjenigen, der in der öffentlichen Verwaltung tätig ist, darf nicht als etwas Unpersönliches und Bürokratisches betrachtet werden, sondern als eine im Geist des Dienens und der Fürsorge für die Bürger geleistete Hilfe.

d) Mittel der politischen Beteiligung

413 Die politischen Parteien haben die Aufgabe, eine weit verbreitete Beteiligung an der öffentlichen Verantwortung und deren allgemeine Zugänglichkeit zu fördern. Die Parteien sind dazu aufgerufen, die Wünsche der Zivilgesellschaft zu interpretieren, indem sie sie auf das Gemeinwohl ausrichten<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 75: AAS 58 (1966) 1097–1099.</ref> und den Bürgern die effektive Möglichkeit bieten, zur politischen Entscheidungsfindung beizutragen. Die Parteien müssen in ihrem Innern demokratisch, zur Überwindung politischer Gegensätze fähig und mit planerischem Weitblick begabt sein.

Ein Instrument der politischen Beteiligung ist auch das Referendum,das eine direkte Form des Zugangs zu politischen Entscheidungen darstellt. Das System der Vertretung schließt nämlich nicht aus, dass die Bürger in Entscheidungen, die für das gesellschaftliche Leben von größerer Bedeutung sind, auch direkt miteinbezogen werden können.

e) Information und Demokratie

414 Die Information gehört zu den wichtigsten Mitteln der demokratischen Beteiligung. Ohne das Wissen um die Probleme der politischen Gemeinschaft, die faktischen Gegebenheiten und die verschiedenen Lösungsvorschläge ist keine Beteiligung denkbar. In diesem sensiblen Bereich des gesellschaftlichen Lebens muss ein wirklicher Pluralismus gewährleistet sein, das heißt, es muss im Bereich der Information und der Kommunikation eine Vielfalt von Formen und Mitteln bereitgestellt und durch geeignete Gesetze dafür gesorgt werden, dass im Hinblick auf den Besitz und Gebrauch dieser Mittel Bedingungen der Gleichheit herrschen. Unter den Hindernissen, die sich der vollen Umsetzung des Rechts auf objektive Information entgegenstellen,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 260.</ref> verdient das Problem der Konzentration von Verlags- und Fernsehanstalten besondere Aufmerksamkeit, das das gesamte demokratische System gefährden kann, wenn es mit immer engeren Verflechtungen zwischen der Regierungstätigkeit, den Finanzmächten und der Information einhergeht.

415 Die sozialen Kommunikationsmittel müssen dafür verwendet werden, die menschliche Gemeinschaft in den verschiedenen Bereichen der Wirtschaft, Politik, Kultur, Erziehung und Religion zu befestigen und zu stützen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Inter mirifica, 3: AAS 56 (1964) 146; Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 45: AAS 68 (1976) 35–36; Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 37: AAS 83 (1991) 282–286; Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Communio et progressio, 126–134: AAS 63 (1971) 638–640; Id., Aetatis novae, 11: AAS 84 (1992) 455–456; Id., Ethik in der Werbung (22. Februar 1997), 4–8, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 135, S. 8–10.</ref> „Die Information durch Medien steht im Dienst des Gemeinwohls. Die Gesellschaft hat das Recht auf eine Information, die auf Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gründet“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2494; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dekr. Intermirifica, 11: AAS 56 (1964) 148–149.</ref>

Wesentlich für die Beurteilung der jeweiligen Informationssysteme ist die Frage, ob diese dazu beitragen, dass die menschliche Person wirklich besser, das heißt spirituell reifer wird, dass sie sich der Würde ihres Menschseins und ihrer Verantwortung stärker bewusst und offener für die anderen, insbesondere die Bedürftigsten und die Schwächsten wird. Ein anderer, ebenfalls sehr wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass die neuen Technologien die berechtigten kulturellen Unterschiede berücksichtigen müssen.

416 In der Welt der sozialen Kommunikationsmittel werden die im Wesen der Kommunikation selbst begründeten Schwierigkeiten oft von der Ideologie, von der Gier nach Profit und politischer Kontrolle, von Rivalität und Konflikten zwischen Gruppen und von anderen sozialen Übeln ins Riesenhafte gesteigert. Die moralischen Werte und Grundsätze gelten auch für den Bereich der sozialen Kommunikation: „Die ethische Dimension tangiert nicht nur den Inhalt der Kommunikation (die Botschaft) und den Prozess der Kommunikation (wie Kommunikation gemacht wird), sondern auch grundlegende strukturelle und systemische Fragen, die häufig auch Themen betreffen, die mit der Politik der Verteilung der Technologien und der hoch entwickelten Produkte zusammenhängen (wer wird reich und wer wird arm an Informationen sein?)“.<ref> Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der sozialen Kommunikation (4. Juni 2000), 20, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 153, S. 17.</ref>

In allen drei Bereichen – Botschaft, Prozess, strukturelle Fragen – gilt immer ein grundlegendes moralisches Prinzip: Die menschliche Person und Gemeinschaft sind das Ziel und das Maß der Verwendung der sozialen Kommunikationsmittel. Dieses Prinzip wird durch ein zweites ergänzt: Das Wohl der Personen lässt sich nicht unabhängig vom Gemeinwohl der Gemeinschaften verwirklichen, denen die Personen angehören.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der sozialen Kommunikation (4. Juni 2000), 22, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 153, S. 18–19.</ref> Erforderlich ist eine Beteiligung am kommunikationspolitischen Entscheidungsprozess. Diese öffentliche Beteiligung muss wirklich repräsentativ sein und darf, wenn die sozialen Kommunikationsmittel auf Profit ausgerichtet sind, keine einzelnen Gruppen begünstigen.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der sozialen Kommunikation (4. Juni 2000), 24, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 153, S. 20–21.</ref>

V. DIE POLITISCHE GEMEINSCHAFT IM DIENST DER ZIVILGESELLSCHAFT

a) Die Bedeutung der Zivilgesellschaft

417 Die politische Gemeinschaft wird gebildet, um der Zivilgesellschaft, aus der sie hervorgeht, zu dienen. Zur Unterscheidung zwischen politischer Gemeinschaft und Zivilgesellschaft hat die Kirche vor allem mit ihrem Bild vom Menschen als einem autonomen, zur Transzendenz hin offenen Beziehungswesen beigetragen, dem sowohl die politischen Ideologien individualistischer Prägung als auch der Totalitarismus widerspricht, der danach strebt, die Zivilgesellschaft in der Sphäre des Staates aufgehen zu lassen. Das Engagement der Kirche zugunsten eines sozialen Pluralismus verfolgt das Ziel, nach den Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der Gerechtigkeit eine angemessenere Verwirklichung des Gemeinwohls und der Demokratie selbst anzustreben.

Die Zivilgesellschaft ist eine Gesamtheit der kulturellen und gemeinschaftlichen Beziehungen und Ressourcen, die sowohl vom politischen als auch vom wirtschaftlichen Umfeld verhältnismäßig unabhängig sind: „Der Zweck der Zivilgesellschaft umfasst alle Einwohner, denn er geht auf die allgemeine öffentliche Wohlfahrt, deren Vorteile alle zu genießen das Recht haben“.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 134.</ref> Sie ist von einer eigenen Planungsfähigkeit gekennzeichnet, die darauf ausgerichtet ist, ein freieres und gerechteres gesellschaftliches Zusammenleben zu begünstigen, wo sich verschiedene Gruppen von Bürgern zusammenschließen und ihre Kräfte sammeln, um eigene Zielsetzungen zu erarbeiten und zu formulieren, ihren grundsätzlichen Forderungen Nachdruck zu verleihen oder berechtigte Interessen zu verteidigen.

b) Der Vorrang der Zivilgesellschaft

418 Die politische Gemeinschaft und die Zivilgesellschaft sind zwar aneinander gebunden und wechselseitig voneinander abhängig, aber in der Hierarchie ihrer Ziele nicht gleichberechtigt. Die politische Gemeinschaft steht im Wesentlichen im Dienst der Zivilgesellschaft und, in letzter Konsequenz, der Personen und Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1910.</ref> Die Zivilgesellschaft darf also nicht als ein Anhängsel oder eine Variable der politischen Gemeinschaft betrachtet werden, im Gegenteil: Sie hat den Vorrang, weil die Daseinsberechtigung der politischen Gemeinschaft eben in der Zivilgesellschaft besteht.

Der Staat muss einen rechtlichen Rahmen bieten, der dem freien Tätigwerden der sozialen Subjekte angemessen ist, und er muss bereit sein, wenn nötig und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips einzugreifen, um die Dialektik zwischen den freien aktiven Vereinigungen im demokratischen Leben auf das Gemeinwohl auszurichten. Die Zivilgesellschaft ist zusammengewürfelt und zerklüftet und nicht frei von Missverständlichem und Widersprüchlichkeiten: Und sie ist ein Ort, an dem verschiedene Interessen aufeinanderprallen und die Gefahr besteht, dass der Stärkere über den Schwächeren siegt.

c) Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips

419 Die politische Gemeinschaft ist verpflichtet, ihre eigenen Beziehungen zur Zivilgesellschaft nach dem Prinzip der Subsidiarität zu regeln:<ref> Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 203; Katechismus der Katholischen Kirche, 1883–1885.</ref> Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass das Wachstum des demokratischen Lebens ihren Ausgang vom sozialen Gefüge nimmt. Die Aktivitäten der Zivilgesellschaft – vor allem das ehrenamtliche Engagement und die Zusammenarbeit im Bereich des Privaten und Sozialen, der, um ihn von den Bereichen des Staates und des Marktes zu unterscheiden, zusammenfassend als „dritter Sektor“ bezeichnet wird – stellen die angemessensten Möglichkeiten dar, um die soziale Dimension der Person zu entfalten, die in solchen Aktivitäten den Raum findet, in dem sie sich ganz verwirklichen kann. Die fortschreitende Ausdehnung der sozialen Initiativen außerhalb des staatlichen Bereichs schafft unter Miteinbeziehung der vom Staat ausgeübten Funktionen neue Plattformen für die aktive Präsenz und das direkte Handeln der Bürger. Diese wichtige Erscheinung ist häufig durch weitestgehend informelle Mittel und Wege zustande gekommen und hat neue und positive Möglichkeiten geschaffen, die Rechte der Person wahrzunehmen, die eine qualitative Bereicherung des demokratischen Lebens darstellen.

420 Die Zusammenarbeit erweist sich auch in ihren weniger strukturierten Formen als eine der kraftvollsten Antworten auf die Logik des Konflikts und der uneingeschränkten Konkurrenz, die heute vorzuherrschen scheint. Die in einem Klima der Zusammenarbeit und Solidarität geknüpften Beziehungen überwinden ideologische Gräben und drängen dazu, über das Trennende hinaus das zu suchen, was vereint.

Viele Erfahrungen im Bereich des Ehrenamts bieten weitere sehr wertvolle Beispiele dafür, dass die Zivilgesellschaft ein Ort ist, an dem immer die Möglichkeit besteht, eine öffentliche, von Solidarität, konkreter Zusammenarbeit und brüderlichem Dialog geprägte Ethik zu entwerfen. Angesichts der Chancen, die auf diese Weise erkennbar werden, sind alle dazu aufgerufen, voller Zuversicht ihren eigenen, persönlichen Einsatz zum Wohl der Gemeinschaft im Allgemeinen und der Schwächsten und Bedürftigsten im Besonderen zu erbringen. Auch darin bestätigt sich das Prinzip der „Subjektivität der Gesellschaft“.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 49: AAS 83 (1991) 855.</ref>

VI. DER STAAT UND DIE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN

A) Die Religionsfreiheit, ein Grundrecht des Menschen

421 Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Katholische Kirche auf die Förderung der Religionsfreiheit eingeschworen. Die Erklärung „Dignitatis humanae“ führt in ihrem Untertitel aus, dass sie „das Recht der Personen und der Gemeinschaften auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen“ verkünden will. Damit diese gottgewollte und in die menschliche Natur hineingeschriebene Freiheit ausgeübt werden kann, darf sie nicht behindert werden, denn „anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 1: AAS 58 (1966) 929.</ref> Die Würde der Person und das Wesen der Suche nach Gott machen es erforderlich, dass alle Menschen im Bereich der Religion von jeglichem Zwang frei sein müssen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 2: AAS 58 (1966) 930–931; Katechismus der Katholischen Kirche, 2106.</ref> Die Gesellschaft und der Staat dürfen eine Person nicht dazu zwingen, gegen ihr Gewissen zu handeln, und sie dürfen sie auch nicht daran hindern, so zu handeln, wie ihr Gewissen es ihr vorschreibt.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 3: AAS 58 (1966) 931–932.</ref> Die Religionsfreiheit ist aber weder ein moralischer Freibrief, Irrtümern anzuhängen, noch ein implizites Recht auf Irrtum.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2108.</ref>

422 Die Gewissens- und Religionsfreiheit „betrifft sowohl den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft“:<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2105.</ref> Das Recht auf Religionsfreiheit muss in der Rechtsordnung anerkannt und als bürgerliches Recht bestätigt werden,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 2: AAS 58 (1966) 930–931; Katechismus der Katholischen Kirche, 2108.</ref> auch wenn es an sich kein uneingeschränktes Recht darstellt. Die richtigen Grenzen der Ausübung der Religionsfreiheit müssen für die jeweilige gesellschaftliche Situation mit politischer Umsicht und gemäß den Forderungen des Gemeinwohls festgelegt und von der zivilen Autorität nach Rechtsnormen ratifiziert werden, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen: Diese Normen sind „für den wirksamen Rechtschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich (…), auch für die hinreichende Sorge um jenen ehrenhaften öffentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht, und schließlich für die pflichtgemäße Wahrung der öffentlichen Sittlichkeit“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 7: AAS 58 (1966) 935; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2109.</ref>

423 Aufgrund ihrer historischen und kulturellen Beziehungen zu einer Nation kann eine Religionsgemeinschaft von Seiten des Staates eine besondere Anerkennung erfahren: Eine solche Anerkennung darf auf keinen Fall in ziviler oder sozialer Hinsicht zur Diskriminierung anderer religiöser Gruppen führen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 6: AAS 58 (1966) 933–934; Katechismus der Katholischen Kirche, 2107.</ref> Das Bild der Beziehungen zwischen den Staaten und den religiösen Organisationen, das das Zweite Vatikanische Konzil entworfen hat, entspricht den Forderungen des Rechtsstaats und den Normen des internationalen Rechts.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999,5: AAS 91 (1999) 380–381.</ref> Es ist der Kirche wohl bewusst, dass diese Sichtweise nicht von allen geteilt wird: Das Recht der Religionsfreiheit wird leider von zahlreichen Staaten verletzt, „sodass Religionsunterricht erteilen, erteilen lassen oder empfangen sogar zum Vergehen wird, das mit Sanktionen zu rechnen hat“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Catechesi tradendae,14: AAS 71 (1979) 1289.</ref>

B) Katholische Kirche und politische Gemeinschaft

a) Autonomie und Unabhängigkeit

424 Die Kirche und die politische Gemeinschaft sind, obwohl beide sich in sichtbaren Organisationsstrukturen ausdrücken, sowohl, was ihren Aufbau, als auch was ihre Ziele betrifft, unterschiedlich. Das Zweite Vatikanische Konzil hat feierlich bekräftigt: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2245.</ref> Die Kirche ist in Formen organisiert, die geeignet sind, die spirituellen Bedürfnisse ihrer Gläubigen zu befriedigen, während die verschiedenen politischen Gemeinschaften Beziehungen und Einrichtungen hervorbringen, die im Dienst all dessen stehen, was sich auf das irdische Gemeinwohl erstreckt. Die Autonomie und Unabhängigkeit der beiden Realitäten zeigt sich auf der Ebene der Ziele mit besonderer Deutlichkeit.

Die Pflicht, die religiöse Freiheit zu achten, setzt voraus, dass die politische Gemeinschaft der Kirche den notwendigen Handlungsspielraum lässt. Auf der anderen Seite hat die Kirche im Hinblick auf die Struktur der politischen Gemeinschaft keinen spezifischen Zuständigkeitsbereich: „Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zu Gunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 47: AAS 83 (1991) 852.</ref> und es ist auch nicht ihre Aufgabe, sich mit politischen Programmen auseinanderzusetzen, es sei denn im Hinblick auf ihre religiösen oder moralischen Implikationen.

b) Zusammenarbeit

425 Die beiderseitige Autonomie der Kirche und der politischen Gemeinschaft führt nicht zu einer Trennung, die ihre Zusammenarbeit ausschließen würde: Beide dienen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, der personalen und sozialen Berufung derselben Menschen. Die Kirche und die politische Gemeinschaft drücken sich in Organisationsformen aus, die kein Selbstzweck sind, sondern im Dienst des Menschen stehen, um ihm die uneingeschränkte Wahrnehmung der mit seiner Identität als Christ und als Bürger verbundenen Rechte und eine korrekte Erfüllung der entsprechenden Pflichten zu ermöglichen. Die Kirche und die politische Gemeinschaft können ihren Dienst „zum Wohl aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099.</ref>

426 Die Kirche hat das Recht auf eine juristische Anerkennung ihrer Identität. Gerade weil ihre Sendung alle menschlichen Bereiche betrifft, fordert die Kirche, die sich „mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 1: AAS 58 (1966) 1026.</ref> fühlt, die Freiheit, ihr moralisches Urteil über diese Bereiche abzugeben, sooft die Verteidigung der Grundrechte der Person oder des Heils der Seelen dies erforderlich macht.<ref> Vgl. CIC, can. 747, § 2; Katechismus der Katholischen Kirche, 2246.</ref>

Deshalb verlangt die Kirche: die Freiheit der Meinungsäußerung, der Lehre, der Evangelisierung; die Freiheit, öffentlich Gottesdienst zu halten; die Freiheit, sich zu organisieren und eigene, interne Regelungen zu treffen; die Freiheit der Wahl, Ausbildung, Ernennung und Versetzung ihrer eigenen Amtsträger; die Freiheit, Sakralbauten zu errichten; die Freiheit, Güter zu erwerben und zu besitzen, die der eigenen Tätigkeit angemessen sind; die Freiheit, sich nicht nur zu religiösen, sondern auch erzieherischen, kulturellen, medizinischen und karitativen Zwecken zusammenzuschließen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft an die höchsten Repräsentanten der Unterzeichnerstaaten der Schlussakte von Helsinki (1. September 1980), 4: AAS 72 (1980) 1256–1258.</ref>

427 Um möglichen Konflikten zwischen der Kirche und der politischen Gemeinschaft vorzubeugen oder ihnen die Schärfe zu nehmen, hat die juristische Erfahrung der Kirche und des Staates verschiedentlich stabile Formen des Miteinanders sowie Mittel aufgezeigt, die geeignet sind, harmonische Beziehungen zu gewährleisten. Diese Erfahrung ist ein wesentlicher Bezugspunkt für all die Fälle, in denen der Staat den Anspruch erhebt, in das Aktionsfeld der Kirche einzudringen, ihr freies Wirken zu behindern oder sie sogar offen zu verfolgen, und ebenso für die Fälle, in denen sich die kirchlichen Organisationen dem Staat gegenüber nicht korrekt verhalten.

NEUNTES KAPITEL: DIE INTERNATIONALE GEMEINSCHAFT=

I. BIBLISCHE ASPEKTE

a) Die Einheit der Menschheitsfamilie

428 Die biblischen Erzählungen von den Ursprüngen zeigen die Einheit des Menschengeschlechts und lehren, dass der Gott Israels der Herr der Geschichte und des Kosmos ist: Sein Wirken umfasst die ganze Welt und die gesamte Menschheitsfamilie, für die das Werk der Schöpfung bestimmt ist. Die Entscheidung Gottes, den Menschen nach seinem Bild und ihm ähnlich zu erschaffen (vgl. Gen 1, 26–27), verleiht dem menschlichen Geschöpf eine einzigartige Würde, die sich über alle Generationen (vgl. Gen 5) auf der ganzen Erde erstreckt (vgl. Gen 10). Das Buch Genesis zeigt außerdem, dass der Mensch nicht in der Isolation, sondern innerhalb eines Zusammenhangs geschaffen worden ist: Wesentlicher Bestandteil dieses Zusammenhangs ist der Lebensraum, der seine Freiheit (den Garten), die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln (die Bäume des Gartens), die Arbeit (das Gebot, den Garten zu bebauen) und vor allem die Gemeinschaft (das Geschenk der Hilfe von seinesgleichen) gewährleistet (vgl. Gen 2, 8–24). Die Bedingungen, die die Fülle des menschlichen Lebens garantieren, sind im ganzen Alten Testament eine Folge des göttlichen Segens. Gott will dem Menschen die Güter zur Verfügung stellen, die er braucht, um zu wachsen, sich frei auszudrücken, mit seiner Arbeit positive Erfolge zu erzielen und den Reichtum der Beziehungen zu seinesgleichen zu genießen.

429 Der Bund Gottes mit Noach (vgl. Gen 9, 1–17) und durch ihn mit der gesamten Menschheit macht nach der von der Sintflut verursachten Zerstörung deutlich, dass Gott der menschlichen Gemeinschaft den Segen der Fruchtbarkeit, die Aufgabe, über das Geschaffene zu herrschen und die absolute Würde und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens erhalten will, die Kennzeichen der ersten Schöpfung gewesen waren, obwohl mit der Sünde die Entartungen der Gewalt und der Ungerechtigkeit in diese Einzug gehalten und schließlich mit der Sintflut ihre Strafe gefunden hatten. Voller Bewunderung stellt das Buch Genesis die Vielfalt der Völker dar, die das Werk des schöpferischen Handelns Gottes ist (vgl. Gen 10, 1–32), und prangert gleichzeitig in der Geschichte des Turmbaus zu Babel (vgl. Gen 11, 1–9) die fehlende Bereitschaft des Menschen an, seine Geschöpflichkeit zu akzeptieren. Alle Völker hatten gemäß dem göttlichen Plan „die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte“ (Gen 11, 1), doch die Menschen entzweiten sich und kehrten Gott den Rücken zu (vgl. Gen 11, 4).

430 Der Bund, den Gott mit Abraham schließt, dem auserwählten „Stammvater einer Menge von Völkern“ (Gen 17, 4) macht den Weg frei für die Rückbindung der Menschheitsfamilie an ihren Schöpfer. Die Heilsgeschichte lässt das Volk Israel denken, dass das göttliche Wirken auf sein Land beschränkt sei, und doch festigt sich nach und nach die Überzeugung, dass Gott auch durch die anderen Nationen wirkt (vgl. Jes 19, 18–25). Die Propheten kündigen für die eschatologische Zeit einen Pilgerstrom der Völker zum Tempel des Herrn und eine Zeit des Friedens zwischen den Nationen an (vgl. Jes 2, 2–5; 66, 18–23). Das in der Verbannung zerstreute Israel wird sich endgültig seiner Rolle als Zeuge des einzigen Gottes bewusst werden (vgl. Jes 44, 6–8), der der Herr der Welt und der Geschichte der Völker ist (vgl. Jes 44, 24–28).

b) Jesus Christus als Vorbild und Grundlage der neuen Menschheit

431 Jesus, der Herr, ist das Vorbild und die Grundlage der neuen Menschheit. In ihm, „der Gottes Ebenbild ist“ (2 Kor 4, 4), findet der von Gott nach seinem Bild geschaffene Mensch seine Erfüllung. Im endgültigen Zeugnis der Liebe Gottes, dem Kreuz Christi, sind alle Mauern der Feindschaft bereits niedergerissen (vgl. Eph 2, 12–18), und für die, die das neue Leben in Christus leben, sind ethnische und kulturelle Unterschiede nicht länger ein Grund zur Spaltung (vgl. Röm 10, 12; Gal 3, 26–28; Kol 3, 11).

Durch den Heiligen Geist kennt die Kirche den göttlichen Plan, der das gesamte Menschengeschlecht umfasst (vgl. Apg 17, 26) und darauf ausgerichtet ist, im Geheimnis eines unter der Herrschaft Christi gewirkten Heils (vgl. Eph 1, 8–10) die gesamte zersplitterte und verstreute geschöpfliche Wirklichkeit wieder zusammenzuführen. Seit dem Pfingsttag, an dem die Botschaft der Auferstehung verschiedenen Völkern verkündet und von jedem in seiner eigenen Sprache gehört worden ist (vgl. Apg 2, 6), erfüllt die Kirche ihre Aufgabe, die in Babel verloren gegangene Einheit wiederherzustellen und zu bezeugen: Die Menschheitsfamilie ist dazu berufen, dank dieses kirchlichen Dienstes ihre eigene Einheit wiederzuentdecken und den Reichtum ihrer Unterschiede zu erkennen, um „die volle Einheit in Christus“ zu erlangen.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 1: AAS 57 (1965) 5.</ref>

c) Die universale Berufung der Christenheit

432 Die christliche Botschaft bietet eine allgemeine Sicht auf das Leben der Menschen und Völker auf der Erde,<ref> Vgl. Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer der 5. nationalen Zusammenkunft des Katholischen Juristenverbands Italiens (6. Dezember 1953), 2: AAS 45 (1953) 795.</ref> die die Einheit der Menschheitsgeschichte verständlich macht.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 42: AAS 58 (1966) 1060–1061.</ref> Diese Einheit lässt sich nicht durch Waffen, Terror oder Gewalt erzwingen: Sie erwächst vielmehr aus jenem höchsten „Modell der Einheit“, dem „Abbild des innersten Lebens Gottes, des Einen in drei Personen“, das „wir Christen mit dem Wort »Gemeinschaft«“ bezeichnen,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 569.</ref> und ist eine Errungenschaft der moralischen und kulturellen Kraft der Freiheit.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 12: Der Apostolische Stuhl 1995, 520.</ref> Die christliche Botschaft hat entscheidend dazu beigetragen, die Menschheit begreifen zu lassen, dass die Völker nicht nur aufgrund von Organisationsformen, politischen Entwicklungen, wirtschaftlichen Projekten oder im Namen eines abstrakten und ideologischen Internationalismus nach Einheit streben, sondern weil sie aus freiem Willen auf Zusammenarbeit ausgerichtet sind und weil ihnen bewusst ist, „dass sie als lebendige Glieder zur allgemeinen Menschheitsfamilie gehören“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 296.</ref> Die Weltgemeinschaft muss sich die vom Schöpfer gewollte Einheit immer stärker und immer besser zum Vorbild nehmen: „Kein Zeitalter wird die Einheit der menschlichen Schicksalsgemeinschaft zerstören, da diese aus Menschen besteht, die gleichberechtigt an der naturgegebenen Würde teilhaben. Deshalb fordert die in der Natur des Menschen gründende Notwendigkeit immer, dass in geziemender Weise jenes universale Gemeinwohl angestrebt wird, welches die gesamte Menschheitsfamilie angeht“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 292.</ref>

II. DIE GRUNDREGELN DER INTERNATIONALEN GEMEINSCHAFT

a) Internationale Gemeinschaft und Werte

433 Die zentrale Bedeutung der menschlichen Person und das natürliche Bestreben der Personen und Völker, untereinander Beziehungen zu knüpfen, sind die grundlegenden Voraussetzungen für die Schaffung einer wahren internationalen Gemeinschaft, deren Organisation auf das tatsächliche universale Gemeinwohl ausgerichtet sein muss.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1911.</ref> Obwohl der Wunsch nach einer echten internationalen Gemeinschaft weit verbreitet ist, ist die Einheit der Menschheitsfamilie noch nicht verwirklicht, weil sie von materialistischen und nationalistischen Ideologien verhindert wird: Diese leugnen die Werte, die der als Ganzes in all ihren Dimensionen – materiell und spirituell, individuell und gemeinschaftlich – betrachteten Person innewohnen. Insbesondere ist jede Theorieund Verhaltensweise moralisch unannehmbar, die von Rassismus oder Rassendiskriminierung geprägt ist.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Nostra aetate, 5: AAS 58 (1966) 743–744; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 268. 281; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 63: AAS 59 (1967) 288; Id., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 16: AAS 63 (1971) 413; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, L’Eglise face au racisme. Contribution du Saint-Siège à la Conférence mondiale contre le Racisme, la Discrimination raciale, la Xénophobie et l’Intolérance qui y est associée, Tipografia Vaticana, Vatikanstadt 2001.</ref>

Das Zusammenleben der Nationen beruht auf denselben Werten, die auch das Zusammenleben einzelner Menschen bestimmen müssen: Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 279–280.</ref> Auf der Ebene der grundlegenden Prinzipien der internationalen Gemeinschaft fordert die Lehre der Kirche, dass die Beziehungen zwischen den Völkern und den politischen Gemeinschaften über Vernunft, Vorurteilslosigkeit, Recht und Verhandlung in der angemessenen Weise geregelt werden, während sie Gewalt und Krieg, Formen der Diskriminierung, der Einschüchterung und der Täuschung ausschließt.<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache an die Vereinten Nationen (4. Oktober 1965), 2: AAS 57 (1965) 879–880.</ref>

434 Das Recht ist ein Mittel, um die internationale Ordnung oder das Zusammenleben politischer Gemeinschaften zu garantieren,<ref> Vgl. Pius XII., Enz. Summi Pontificatus: AAS 31 (1939) 438–439.</ref> die jede für sich das Gemeinwohl ihrer eigenen Bürger und kollektiv das Gemeinwohl aller Völker anstreben müssen,<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 292; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 52: AAS 83 (1991) 857–858.</ref> weil sie davon überzeugt sind, dass das Gemeinwohl einer Nation untrennbar mit dem Gemeinwohl der gesamten Menschheitsfamilie verbunden ist.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 284.</ref>

Die internationale Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft, die auf der Souveränität jedes Mitgliedstaates beruht, dessen Unabhängigkeit nicht durch Bande der Unterordnung negiert oder eingeschränkt wird.<ref> Vgl. Pius XII., Weihnachtsansprache (24. Dezember 1939): AAS 32 (1940) 9–11; Id., Ansprache an die Teilnehmer der 5. nationalen Zusammenkunft des Katholischen Juristenverbands Italiens (6. Dezember 1953): AAS 45 (1953) 795–796; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 289.</ref> Die internationale Gemeinschaft so zu begreifen bedeutet keineswegs, die unterschiedlichen und eigenen Merkmale eines jeden Volkes zu relativieren und zu verwässern, sondern sie stärker zum Ausdruck zu bringen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 9–10: Der Apostolische Stuhl 1995, 518–520.</ref> Die Aufwertung der unterschiedlichen Identitäten hilft, die verschiedenen Formen der Spaltung zu überwinden, die die Völker zu trennen drohen und sie anfällig machen für einen Egoismus mit destabilisierenden Folgen.

435 Das Lehramt erkennt die Wichtigkeit der nationalen Souveränität an, die vor allem als Ausdruck jener Freiheit begriffen wird, die die Beziehungen zwischen den Staaten regulieren muss.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 289; Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 12: Der Apostolische Stuhl 1995, 520.</ref> Die Souveränität steht für die politische, wirtschaftliche, soziale und auch kulturelle Subjektivität<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 15: AAS 80 (1988) 528–530.</ref> einer Nation. Die kulturelle Dimension ist als Basis für den Widerstand gegen Akte der Aggression oder gegen Herrschaftsformen, die die Freiheit eines Landes einschränken, von besonderer Bedeutung: Die Kultur stellt eine Garantie dafür dar, dass die Identität eines Volkes bewahrt bleibt, indem sie seine geistige Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt und stärkt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an den Exekutivrat der UNESCO, Paris (2. Juni 1980), 14: AAS 72 (1980) 744–745.</ref>

Die nationale Souveränität ist jedoch nicht absolut. Die Nationen können zugunsten eines gemeinsamen Ziels freiwillig auf die Ausübung einiger ihrer Rechte verzichten, weil ihnen bewusst ist, dass sie eine „Familie“ bilden,<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 14: Der Apostolische Stuhl 1995, 522; vgl. auch Id., Ansprache an das Diplomatische Korps (13. Januar 2001), 8: AAS 93 (2001) 319.</ref> in der gegenseitiges Vertrauen herrschen und der eine den anderen unterstützen und respektieren muss. In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache angemessene Beachtung, dass keine internationale Übereinkunft über „die Rechte der Nationen“<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 6: Der Apostolische Stuhl 1995, 516.</ref> existiert. Die Vorbereitung einer solchen wäre eine gute Gelegenheit, sich mit den Fragen nach der Gerechtigkeit und der Freiheit in der heutigen Welt auseinanderzusetzen.

b) Beziehungen auf der Grundlage der Harmonie zwischen rechtlicher und moralischer Ordnung

436 Um eine internationale Ordnung zu verwirklichen und zu festigen, die das friedliche Zusammenleben der Völker wirkungsvoll garantiert, muss dasselbe Sittengesetz, dass das Leben der Menschen lenkt, auch die Beziehungen zwischen den Staaten regeln: „Ein Sittengesetz, dessen Beachtung von der öffentlichen Meinung aller Nationen und aller Staaten mit einer solchen Einmütigkeit der Stimme und der Kraft gefordert und gefördert werden muss, dass niemand wagen kann, es in Zweifel zu ziehen oder seine Verbindlichkeit zu lockern“.<ref> Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1941): AAS 34 (1942) 16.</ref> Das allgemeine Sittengesetz, das in das Herz des Menschen hineingeschrieben ist, muss als gültig und unanfechtbar und als lebendiger Ausdruck des gemeinsamen Gewissens der Menschheit betrachtet werden, als eine „Grammatik“,<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation, New York (5. Oktober 1995), 3: Der Apostolische Stuhl 1995, 515.</ref> die geeignet ist, den Dialog über die Zukunft der Welt zu strukturieren.

437 Die allgemeine Anerkennung der Grundsätze, von denen eine „Rechtsordnung“ inspiriert ist, „die mit den Geboten der moralischen Ordnung (…) im Einklang steht“,<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 277.</ref> ist eine notwendige Voraussetzung für die Stabilität des internationalen Lebens. Das Streben nach einer solchen Stabilität hat die schrittweise Ausarbeitung eines Völkerrechts<ref> Vgl. Pius XII., Enz. Summi pontificatus: AAS 31 (1939) 438–439; Id., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1941): AAS 34 (1942) 16–17; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 290–292. </ref> („ius gentium“) begünstigt, das als „Vorfahre des internationalen Rechts“<ref> Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (12. Januar 1991), 8: Der Apostolische Stuhl 1991, 867.</ref> betrachtet werden kann. Auf der Grundlage des Naturrechts hat das juristische und theologische Denken „allgemeine Prinzipien, die dem innerstaatlichen Recht vorausgehen und es übertreffen“,<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 5: AAS 96 (2004) 116.</ref> formuliert: die Einheit des Menschengeschlechts, die Gleichheit der Würde jedes Volkes, die Ablehnung des Krieges als Mittel zur Überwindung von Streitigkeiten, die Verpflichtung zu einer auf das Gemeinwohl ausgerichteten Zusammenarbeit, die Forderung, unterschriebene Verträge einzuhalten („pacta sunt servanda“). Dieses letztgenannte Prinzip muss in besonderer Weise hervorgehoben werden, um der Versuchung entgegenzuwirken, „lieber auf das Recht des Stärkeren als auf die Kraft des Rechtes zu setzen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 5: AAS 96 (2004) 117; vgl. auch Id., Botschaft an den Rektor der Päpstlichen Lateranuniversität (21. März 2002), 6: L’Osservatore Romano, 22. März 2002, S. 6.</ref>

438 Um die Konflikte zu lösen, die zwischen den verschiedenen politischen Gemeinschaften entstehen und die Stabilität der Nationen sowie die internationale Sicherheit gefährden, ist es unerlässlich, sich im Sinne einer Verhandlungsbasis auf gemeinsame Regeln zu berufen und endgültig auf die Vorstellung zu verzichten, dass der Krieg ein Mittel ist, um Gerechtigkeit durchzusetzen:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 23: AAS 83 (1991) 820–821.</ref> „Der Krieg kann ohne Sieger und Besiegte im Selbstmord der Menschheit enden, und deshalb muss man die Logik, die dazu führt, radikal zurückweisen, nämlich die Idee, dass der Kampf zur Vernichtung des Feindes, die Gegnerschaft und der Krieg zur Entwicklung und zum Fortschritt der Geschichte beitragen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 18: AAS 83 (1991) 816.</ref>

Die Charta der Vereinten Nationen hat nicht nur die Anwendung, sondern auch die bloße Androhung von Gewalt verboten:<ref> Vgl. Charta der Vereinten Nationen (26. Juni 1945), Art. 2.4; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 6: AAS 96 (2004) 117.</ref> Dieses Verbot ist aus der tragischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen. Das Lehramt hatte es während jenes Konflikts nicht versäumt, einige Faktoren aufzuzeigen, die für den Auf bau einer erneuerten internationalen Ordnung unerlässlich sind: die Freiheit und territoriale Unversehrtheit jeder Nation; der Schutz der Minderheitenrechte; gerecht geteilte Bodenschätze; die Ablehnung des Krieges und die Abrüstung; die Einhaltung abgeschlossener Verträge; das Ende der Religionsverfolgung.<ref> Vgl. Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1941): AAS 34 (1942) 18.</ref>

439 Um die Vorrangstellung des Rechts zu festigen, gilt vor allem das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens.<ref> Vgl. Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1945): AAS 38 (1946) 22; Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 287–288.</ref> Vor diesem Hintergrund müssen die normativen Mittel zur friedlichen Lösung von Konflikten überdacht und mit einer größeren Reichweite und Verbindlichkeit ausgestattet werden. Die Einrichtungen der Verhandlung, der Vermittlung, der Versöhnung, des Schiedsspruchs, die Ausdruck der internationalen Gesetzlichkeit sind, müssen dadurch unterstützt werden, dass „eine voll wirksame Gerichtsautorität in einer friedlichen Welt“<ref> Johannes Paul II., Ansprache vor dem Internationalen Gerichtshof im Friedenspalast in Den Haag (13. Mai 1985), 4: AAS 78 (1986) 520.</ref> geschaffen wird. Ein Fortschritt in dieser Richtung wird es der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, sich nicht nur als bloßes Element des Miteinanders im Leben der Staaten, sondern als eine Struktur zu etablieren, in der Konflikte friedlich gelöst werden können: „Wie in den einzelnen Staaten (…) der Zeitpunkt kam, wo an die Stelle des Systems der persönlichen Rache und Vergeltung die Herrschaft des Gesetzes trat, so ist es jetzt dringend notwendig, dass in der internationalen Völkergemeinschaft ein ähnlicher Fortschritt stattfindet“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 42: AAS 83 (1991) 858.</ref> Letztlich muss das internationale Recht „der Vorherrschaft des Gesetzes des Stärkeren den Boden entziehen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 9: AAS 96 (2004) 120.</ref>

III. DIE ORGANISATION DER INTERNATIONALEN GEMEINSCHAFT

a) Die Bedeutung der internationalen Organisationen

440 Der Weg hin zu einer echten internationalen „Gemeinschaft“, der mit der Schaffung der Organisation der Vereinten Nationen im Jahre 1945 eine präzise Richtung genommen hat, wird von der Kirche begleitet: Diese Organisation hat „durch die Auf bereitung des kulturellen und institutionellen Bodens für den Aufbau des Friedens bedeutend dazu beigetragen (…), die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit der Völker und den Anspruch auf Entwicklung zu fördern“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 7: AAS 96 (2004) 118.</ref> Die Soziallehre betrachtet die Rolle der regierungsübergreifenden Organisationen – vor allem derjenigen, die in speziellen Bereichen tätig sind<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 426. 439; Johannes Paul II., Ansprache am Sitz der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) (12. November 1979), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, II, 2 (1979) 1136–1137; Id., Ansprache an den Exekutivrat der UNESCO, Paris (2. Juni 1980), 5. 8: AAS 72 (1980) 737. 739–740; Id., Ansprache an den Ministerrat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) (30. November 1993), 3. 5: AAS 86 (1994) 750–751. 752.</ref> – im Allgemeinen als positiv, bringt allerdings ihre Bedenken zum Ausdruck, wenn diese die Probleme nicht in der richtigen Weise angehen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an Frau Nafis Sadik, Generalsekretärin der diesjährigen Internationalen Konferenz für Bevölkerungs- und Entwicklungsfragen und Exekutivdirektorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (18. März 1994): AAS 87 (1995) 191–192; Id., Brief an die Generalsekretärin der Vierten Weltkonferenz der Vereinten Nationen über die Frauen, Frau Gertrude Mongella (26. Mai 1995): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XVIII, 1 (1995) 1571–1577.</ref> Das Lehramt empfiehlt, dass das Handeln der internationalen Organe den Bedürfnissen der Menschen im gesellschaftlichen Leben und in den für ein friedliches und geordnetes Zusammenleben der Nationen und Völker relevanten Bereichen entspricht.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 84: AAS 58 (1966) 1107–1108.</ref>

441 Die Sorge um ein geordnetes und friedliches Zusammenleben der Menschheitsfamilie veranlasst das Lehramt dazu, der Forderung Nachdruck zu verleihen, „dass eine von allen anerkannte öffentliche Weltautorität eingesetzt wird, die über wirksame Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 82: AAS 58 (1966) 1105; vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 293 und Paul VI., Enz. Populorum progressio 78: AAS 59 (1967) 295.</ref> Trotz der in den jeweiligen Epochen unterschiedlichen Sichtweisen ist das Bedürfnis nach einer solchen Autorität im Lauf der Geschichte beständig spürbar gewesen, einer Autorität, die auf die mit der Suche nach dem Gemeinwohl verbundenen, weltweiten Probleme reagieren kann: Dabei ist es wesentlich, dass diese Autorität aus einer Übereinkunft und nicht aus Zwang hervorgeht und dass sie nicht als „globaler Superstaat“<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2003,6: AAS 95 (2993) 344.</ref> aufgefasst wird.

Eine im Rahmen der internationalen Gemeinschaft ausgeübte politische Autorität muss das Recht befolgen, das Gemeinwohl anstreben und das Subsidiaritätsprinzip achten: „Die öffentlichen Autoritäten der Weltgemeinschaft verfolgen nicht das Ziel, den Machtbereich der Einzelstaaten einzuschränken oder ihre Angelegenheiten an sich zu ziehen. Sie muss sich im Gegenteil um die Schaffung solcher Daseinsbedingungen auf der ganzen Welt bemühen, in denen nicht nur die Staatsgewalt jeder einzelnen Nation, sondern auch die einzelnen Menschen und die Zwischengruppen in größerer Sicherheit ihre Angelegenheiten erledigen, ihre Pflichten erfüllen und ihre Rechte ausüben können“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 294–295.</ref>

442 Eine internationale Politik, die mit Hilfe koordinierter Maßnahmen das Ziel des Friedens und der Entwicklung verfolgt,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 51–55 und 77–79: AAS 59 (1967) 282–284 und 295–296.</ref> ist aufgrund der Globalisierung der Probleme heute nötiger denn je. Das Lehramt hebt hervor, dass die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen und der Nationen untereinander moralische Relevanz gewinnt und die Beziehungen in der gegenwärtigen Welt in wirtschaftlicher, kultureller, politischer und religiöser Hinsicht bestimmt. In diesem Zusammenhang ist eine Revision der internationalen Organisationen wünschenswert, ein Prozess, der „die Überwindung der politischen Rivalitäten sowie den vollständigen Verzicht“ voraussetzt, „diese Organisationen, deren einzige Berechtigung das Gemeinwohl ist, missbrauchen zu wollen“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 43: AAS 80 (1988) 575.</ref> und der dem Ziel dient, „einen höheren Grad internationaler Ordnung“<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 43: AAS 80 (1988) 575; vgl. Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 7: AAS 96 (2004) 118.</ref> zu erreichen.

Insbesondere die regierungsübergreifenden Strukturen müssen ihre Kontroll- und Lenkungsfunktionen im Bereich der Wirtschaft wirkungsvoll ausüben, denn die Verwirklichung des Gemeinwohls entwickelt sich zu einem Ziel, das nicht länger von einzelnen Staaten erreicht werden kann – auch nicht von solchen, die aufgrund ihrer Macht, ihres Reichtums oder ihres politischen Einflusses eine führende Rolle spielen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 58: AAS 83 (1991) 863–864.</ref> Die internationalen Organe müssen außerdem unter Berücksichtigung der berechtigten Unterschiede jene Gleichheit garantieren, auf der das Recht aller basiert, am Prozess der umfassenden Entwicklung beteiligt zu werden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 33. 39: AAS 80 (1988) 557–559.566–568.</ref>

443 Das Lehramt kommt zu einer positiven Bewertung im Hinblick auf die Rolle der Gruppierungen, die sich in der Zivilgesellschaft gebildet haben, um die öffentliche Meinung für bestimmte Aspekte des internationalen Lebens zu sensibilisieren. Bei der Erfüllung dieser wichtigen Funktion richten sie ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Achtung der Menschenrechte, wie „die Zahl der privaten Vereinigungen“ zeigt, „einige von weltweiter Bedeutung, die in jüngster Zeit dafür entstanden sind; fast alle bemühen sich darum, mit großer Sorgfalt und lobenswerter Objektivität das internationale Geschehen in diesem so delikaten Bereich zu verfolgen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 26: AAS 80 (1988) 544–547.</ref>

Die Regierungen sollten sich durch ein derartiges Engagement ermutigt fühlen, das darauf abzielt, „insbesondere durch die konkreten Solidaritäts- und Friedensgesten vieler Menschen, die in Nichtregierungsorganisationen und in Menschenrechtsbewegungen arbeiten“,<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 7: AAS 96 (2004) 118.</ref> die Ideale in die Tat umzusetzen, die dem Gedanken der internationalen Gemeinschaft zugrunde liegen.

b) Die juristische Person des Heiligen Stuhls

444 Der Heilige Stuhl – oder Apostolische Stuhl<ref> Vgl. CIC, can. 361.</ref> – verfügt als souveräne Autorität, die im juristischen Sinne eigenständig handelt, über eine uneingeschränkte internationale Subjektivität. Er übt nach außen hin eine im Rahmen der internationalen Gemeinschaft anerkannte Souveränität aus, die seine Handlungsweise im Innern der Kirche widerspiegelt und von organisatorischer Einheit und Unabhängigkeit gekennzeichnet ist. Die Kirche bedient sich dieser juristischen Formen, da sie sich im Hinblick auf die Erfüllung ihres Auftrags als notwendig oder nützlich erweisen.

Die internationale Aktivität des Heiligen Stuhls äußert sich objektiv unter verschiedenen Aspekten. Dazu gehören: das aktive oder passive Legationsrecht; die Ausübung des „ius contrahendi“ mit dem Abschluss von Verträgen; die Beteiligung an regierungsübergreifenden Organisationen wie beispielsweise denjenigen, die dem System der Vereinten Nationen eingegliedert sind; Vermittlungsinitiativen im Konfliktfall. Diese Tätigkeit erfolgt in der Absicht, der Internationalen Gemeinschaft einen uneigennützigen Dienst zu erweisen, der keinen Teilinteressen folgt, sondern auf das Gemeinwohl der gesamten Menschheitsfamilie ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang verfügt der Heilige Stuhl insbesondere auch über eigenes diplomatisches Personal.

445 Der diplomatische Dienst des Heiligen Stuhls ist als das Ergebnis einer alten und bewährten Praxis ein Instrument, das nicht nur für die „libertas Ecclesiae“ arbeitet, sondern auch für die Verteidigung und Förderung der Menschenwürde und für eine Gesellschaftsordnung, die auf den Werten der Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und Liebe beruht: „Wir entsenden sie auch zu den höchsten Trägern der Staatsgewalt, nämlich dorthin, wo die katholische Kirche gleichsam verwurzelt oder doch wenigstens irgendwie gegenwärtig ist. Das Recht dazu liegt von Natur aus in dem Uns eigenen geistlichen Amte und ist zudem im Laufe der Jahrhunderte durch gewisse geschichtliche Ereignisse sehr begünstigt worden. ist. Freilich ist es nicht zu leugnen, dass die Ziele von Kirche und Staat unterschiedlicher Ordnung angehören. Kirche und Staat sind aber, jeweils in der ihnen eigenen Ordnung, vollkommene Gesellschaften. Ihnen stehen daher – in dem einem jeden von ihnen zukommenden Bereich – die ihnen eigenen Rechte und Mittel zur Verfügung, und sie können ihre Gesetze anwenden. Aber es ist auch wahr, dass beide zum Wohle des gleichen Untergebenen arbeiten, nämlich des Menschen, der von Gott berufen ist, das ewige Heil zu erlangen. Er wurde ja auf die Erde gestellt, dass er durch ein Leben der Arbeit im friedlichen Zusammenschluss mit seinesgleichen auf seinen und den allgemeinen Wohlstand bedacht sei und mit Hilfe der göttlichen Gnade so sein Heil erwirke“.<ref> Paul VI., Ap. Schr. Sollicitudo omnium ecclesiarum: AAS 61 (1969) 476.</ref> Das Wohl der menschlichen Personen und Gemeinschaften wird durch einen strukturierten Dialog zwischen der Kirche und den zivilen Autoritäten begünstigt, der sich auch im Abschluss gemeinsamer Verträge niederschlägt. Dieser Dialog strebt danach, Beziehungen des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit zu festigen oder zu stärken und eventuellen Meinungsverschiedenheiten vorzubeugen oder sie auszuräumen und auf diese Weise dazu beizutragen, dass jedes Volk und die gesamte Menschheit auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens voranschreitet.

IV. DIE INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT FÜR DIE ENTWICKLUNG

a) Zusammenarbeit, um das Recht auf Entwicklung zu sichern

446 Die Lösung des Problems der Entwicklung erfordert die Zusammenarbeit der einzelnen politischen Gemeinschaften: „Die politischen Gemeinschaften bedingen sich gegenseitig, und man kann sagen, dass jede sich selbst zu entwickeln vermag, indem sie zur Entwicklung der anderen beiträgt. Deshalb sind unter ihnen Verständigung und Zusammenarbeit notwendig“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 449; vgl. Pius XII., Weihnachtliche Rundfunkbotschaft (24. Dezember 1945): AAS 38 (1946) 22.</ref> Die Situation der Unterentwicklung scheint unabwendbar wie ein Todesurteil, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass sie nicht nur die Folge menschlicher Fehlentscheidungen, sondern auch das Ergebnis „wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Mechanismen“<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 16: AAS 80 (1988) 531.</ref> und von „Strukturen der Sünde“<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 36–37. 39: AAS 80 (1988) 561–564.567.</ref> ist, die die uneingeschränkte Entwicklung der Menschen und Völker behindern.

Dennoch müssen diese Schwierigkeiten mit fester und beharrlicher Entschlossenheit angegangen werden, weil die Entwicklung nicht nur ein Wunsch, sondern ein Recht ist,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio,22: AAS 59(1967) 268; Id., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 43: AAS 63 (1971) 431–432; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 32–33: AAS 80 (1988) 556–559; Id., Enz. Centesimus annus, 35: AAS 83 (1991) 836–838; vgl. auch Paul VI., Ansprache an die Internationale Arbeitsorganisation (10. Juni 1969), 22: AAS 61 (1969) 500–501; Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer eines Kongresses des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden (20. Juni 1997), 5: Insegnamenti divGiovanni Paolo II,XX, 1(1997)1554–1555; Id., Ansprache an die Arbeitswelt (2. Mai 2000), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXIII, 1 (2000) 726.</ref> das wie jedes Recht auch eine Pflicht miteinschließt: „Die Zusammenarbeit für die Entwicklung des ganzen Menschen und jedes Menschen ist ja eine Pflicht aller gegenüber allen und muss zugleich den vier Teilen der Welt, Ost und West, Nord und Süd (…) gemeinsam sein“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 32: AAS 80 (1988) 556.</ref> In der Sichtweise des Lehramts basiert das Recht auf Entwicklung auf folgenden Grundsätzen: dem einheitlichen Ursprung und der gemeinsamen Bestimmung der Menschheitsfamilie; der Gleichheit jeder Person und jeder auf der Menschenwürde gründenden Gemeinschaft; der allgemeinen Bestimmung der Güter der Erde; dem umfassenden Charakter des Entwicklungsbegriffs; der zentralen Stellung der menschlichen Person; der Solidarität.

447 Die Soziallehre ermutigt zu Formen der Zusammenarbeit, die geeignet sind, den von Armut und Unterentwicklung gezeichneten Ländern Zugang zum internationalen Markt zu verschaffen: „Noch vor wenigen Jahren wurde behauptet, die Entwicklung würde von der Isolierung der ärmsten Länder vom Weltmarkt und davon abhängen, dass sie nur auf ihre eigenen Kräfte vertrauen. Die jüngste Erfahrung aber hat bewiesen, dass die Länder, die sich ausgeschlossen haben, Stagnation und Rückgang erlitten haben; eine Entwicklung hingegen haben jene Länder durchgemacht, denen es gelungen ist, in das allgemeine Gefüge der internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten. Das größte Problem scheint also darin zu bestehen, einen gerechten Zugang zum internationalen Markt zu erhalten, der nicht auf dem einseitigen Prinzip der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, sondern auf der Erschließung menschlicher Ressourcen beruht“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 33: AAS 83 (1991) 835.</ref> Zu den Gründen, die am stärksten zu Unterentwicklung und Armut beitragen, müssen neben dem nicht vorhandenen Zugang zum internationalen Markt<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 56–61: AAS 59 (1967) 285–287.</ref> der Analphabetismus, die unsichere Ernährungslage, das Fehlen von Strukturen und Dienstleistungen sowie von Maßnahmen zur Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung, der Mangel an Trinkwasser, die Korruption sowie die Instabilität der Institutionen und des gesamten politischen Lebens genannt werden. In vielen Ländern ist die Armut durch Unfreiheit bedingt, durch das Fehlen von Möglichkeiten wirtschaftlicher Initiative und durch die Unfähigkeit der staatlichen Verwaltung, ein angemessenes Bildungs- und Informationssystem zur Verfügung zu stellen.

448 Der Geist der internationalen Zusammenarbeit verlangt, dass das Bewusstsein einer Pflicht zu Solidarität und allumfassender sozialer Gerechtigkeit und Liebe<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 44: AAS 59 (1967) 279.</ref> der strengen Logik des Marktes übergeordnet wird, denn es gibt „etwas, das dem Menschen als Menschen zusteht, das heißt auf Grund seiner einmaligen Würde“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 34: AAS 83 (1991) 836.</ref> Die Zusammenarbeit ist der Weg, um den sich die Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft im Hinblick „auf ein richtig verstandenes Gemeinwohl für die ganze Menschheitsfamilie“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 58: AAS 83 (1991) 863.</ref> bemühen muss. Das wird sehr positive Auswirkungen haben: zum Beispiel ein größeres Vertrauen in die Möglichkeiten bedürftiger Personen und armer Länder und eine gerechte Verteilung der Güter.

b) Kampf gegen die Armut

449 Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die Armut von Milliarden von Männern und Frauen „die Frage, die mehr als jede andere an unser menschliches und christliches Gewissen appelliert“<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 14: AAS 92 (2000) 366; vgl. auch Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1993, 1: AAS 85 (1993) 429–430.</ref> Die Armut wirft ein dramatisches Gerechtigkeitsproblem auf, denn sie ist in ihren verschiedenen Formen und Auswirkungen von einem ungleichen Wachstum gekennzeichnet und erkennt nicht jedem Volk „das gleiche Recht“ zu, „»mit am Tisch des gemeinsamen Mahles zu sitzen«“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 33: AAS 80 (1988) 558. Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 47: AAS 59 (1967) 280.</ref> Diese Armut macht es unmöglich, jenen allumfassenden Humanismus zu verwirklichen, den die Kirche wünscht und anstrebt, damit die Personen und die Völker „mehr (…) gelten“<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 6: AAS 59 (1967) 260; vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 28: AAS 80 (1988) 548–550.</ref> und in „menschlicheren Lebensbedingungen“<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 20–21: AAS 59 (1967) 267–268.</ref> existieren können.

Der Kampf gegen die Armut ist in besonderer Weise durch die vorrangige Option oder Liebe der Kirche zu den Armen motiviert.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die III. Hauptkonferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe, Puebla (28. Januar 1979), I/8: AAS 71 (1979) 194–195.</ref> In ihrer gesamten Soziallehre wird die Kirche es nicht müde, immer wieder auch auf ihre anderen, grundlegenden Prinzipien hinzuweisen: in erster Linie auf das von der allgemeinen Bestimmung der Güter.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 22: AAS 59 (1967) 268.</ref> Mit der wiederholten Bekräftigung des Solidaritätsprinzips drängt die Soziallehre darauf, zu handeln und sich „für das Wohl aller und eines jeden“ einzusetzen, „weil wir alle für alle verantwortlich sind“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 38: AAS 80 (1988) 566.</ref> Das Prinzip der Solidarität muss auch im Kampf gegen die Armut immer in geeigneter Weise mit dem Prinzip der Subsidiarität verbunden werden, denn dieses vermag die Initiative zu wecken, die gerade in den armen Ländern Grundlage jeder sozioökonomischen Entwicklung ist:<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 55: AAS 59 (1967) 284; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 44: AAS 80 (1988) 575–577.</ref> Man darf die Armen „nicht als ein Problem“ ansehen, denn „sie können (…) zu Trägern und Vorkämpfern einer neuen und menschlicheren Zukunft für die ganze Welt werden“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 14: AAS 92 (2000) 366.</ref>

c) Die Auslandsverschuldung

450 Das Recht auf Entwicklung ist auch in den Fragen zu berücksichtigen, die sich aus der Schuldenkrise vieler armer Länder ergeben.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Tertio millennio adveniente, 51: AAS87(1995)36; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1998, 4: AAS 90 (1998) 151–152; Id., Ansprache an den Rat der Interparlamentarischen Union (30. November 1998): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXI, 2 (1998) 1162–1163; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 9: AAS 91 (1999) 383–384.</ref> Dieser Krise liegen vielschichtige und verschiedenartige Ursachen zugrunde, sowohl auf internationaler Ebene – Kursschwankungen, finanzielle Spekulationen, wirtschaftlicher Neokolonialismus – als auch innerhalb der verschuldeten Länder – Korruption, Veruntreuung öffentlicher Gelder, Zweckentfremdung der erhaltenen Anleihen. Das größte Leid, das sich auf strukturelle Probleme, aber auch auf Verhaltensweisen Einzelner zurückführen lässt, trifft die Bevölkerung der verschuldeten und armen Länder, die nicht dafür verantwortlich zu machen sind. Die internationale Gemeinschaft darf eine derartige Situation nicht ignorieren: Obwohl der Grundsatz, dass Schulden beglichen werden müssen, berechtigt ist, ist es notwendig, Wege zu finden, die das „Grundrecht der Völker auf Erhaltung und Fortschritt“ nicht verletzen.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 35: AAS 83 (1991) 838; vgl. auch Päpstliche Kommission Iustitia et Pax, Im Dienste der menschlichen Gemeinschaft: Ein ethischer Ansatz zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise (27. Januar 1987), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 50.</ref>

ZEHNTES KAPITEL: DIE UMWELT BEWAHREN

I. BIBLISCHE ASPEKTE

451 Die lebendige Erfahrung der Gegenwart Gottes in der Geschichte ist die Grundlage der Glaubensüberzeugungen des Volkes Gottes: „Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt“ (Dtn 6, 21). Das Nachdenken über die Geschichte macht es möglich, die Vergangenheit neu zu begreifen und das Wirken Gottes sogar in den eigenen Wurzeln – „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer“ (Dtn 26, 5) – zu entdecken: das Wirken eines Gottes, der zu seinem Volk sagen kann: „Da holte ich euren Vater, Abraham, von jenseits des Stroms“ (Jos 24, 3). Es ist ein Nachdenken, das es möglich macht, sich dank der Verheißung und des von Gott beständig erneuerten Bundes vertrauensvoll der Zukunft zuzuwenden.

Der Glaube Israels lebt in der Zeit und im Raum dieser Welt, die nicht als ein feindliches Umfeld oder ein Übel begriffen werden, von dem es sich zu befreien gilt, sondern als das Geschenk Gottes selbst, als der Ort und das Vorhaben, das er der verantwortungsvollen Leitung und dem Fleiß des Menschen anvertraut. Die Natur, das Werk des schöpferischen Wirkens Gottes, ist keine gefährliche Konkurrentin. Gott hat alles geschaffen und gesehen, „dass es gut war“ (Gen 1, 4.10.12.18.21.25). Auf den Gipfel seiner Schöpfung, die „sehr gut“ ist (Gen 1, 31), stellt Gott den Menschen. Von allen Geschöpfen sind nur der Mann und die Frau von Gott „als sein Abbild“ gewollt: Ihnen vertraut Gott die Verantwortung für alles Geschaffene an, die Aufgabe, es in seiner Harmonie zu bewahren und seine Entwicklung zu behüten (vgl. Gen 1, 26–30). Die besondere Verbindung mit Gott erklärt die Vorzugsstellung des Menschenpaares in der Ordnung der Schöpfung.

452 Die Beziehung des Menschen zur Welt ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Identität. Sie entsteht als Frucht der noch tieferen Beziehung des Menschen zu Gott. Der Herr wollte die menschliche Person als Gesprächspartner: Nur im Dialog mit Gott findet das menschliche Geschöpf seine eigene Wahrheit, aus der es Inspiration und Normen gewinnt, um die Zukunft der Welt zu entwerfen, des Gartens, den Gott ihm gegeben hat, „damit er ihn bebaue und hüte“ (Gen 2, 15). Auch die Sünde setzt dieser Aufgabe kein Ende, belastet aber den vornehmen Rang der Arbeit mit Leid und Schmerzen (vgl. Gen 3, 17–19).

Die Schöpfung ist im Beten Israels immer Anlass zum Lobpreis: „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht“ (Ps 104, 24). Das Heil wird als neue Schöpfung verstanden, die jene Harmonie und Wachstumskraft wiederherstellt, die die Sünde beschädigt hat: „Denn schon erschaffe ich einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Jes 65, 17) – spricht der Herr –, „dann wird die Wüste zum Garten (…), die Gerechtigkeit weilt in den Gärten (…). Mein Volk wird an einer Stätte des Friedens wohnen“ (Jes 32, 15–18).

453 Das endgültige Heil, das Gott durch seinen eigenen Sohn der gesamten Menschheit anbietet, vollzieht sich nicht außerhalb dieser Welt. Obwohl von der Sünde verwundet, ist sie doch dazu bestimmt, von Grund auf geläutert zu werden (vgl. 1Petr 3, 10) und nach dieser Läuterung, aus der sie erneuert hervorgehen wird (vgl. Jes 65, 17; 66, 22; Offb 21, 1), endlich der Ort zu sein, an dem „die Gerechtigkeit wohnt“ (2Petr 3, 13).

In seinem öffentlichen Auftreten würdigt Jesus die natürlichen Elemente. Er ist nicht nur ein weiser Deuter der Natur in den Bildern, die er aus ihr entlehnt, und in den Gleichnissen – er ist auch ihr Beherrscher (vgl. die Episode vom Sturm auf dem See in Mt 14, 22–33; Mk 6, 45–52; Lk 8, 22–25; Joh 6, 16–21): Der Herr stellt die Natur in den Dienst seines Erlöserplans. Er fordert seine Jünger dazu auf, auf die Dinge, die Jahreszeiten und die Menschen mit dem Vertrauen von Söhnen zu achten, die wissen, dass sie einen fürsorglichen Vater haben, der sie niemals im Stich lassen wird (vgl. Lk 11, 11–13). Weit davon entfernt, sich zum Sklaven der Dinge zu machen, muss der Jünger Christi in der Lage sein, sie zu gebrauchen, um eine Atmosphäre des Teilens und der Brüderlichkeit zu schaffen (vgl. Lk 16, 9–13).

454 Das Eintreten Jesu in die Geschichte der Welt gipfelt im Passions- und Ostergeschehen, als die Natur selbst am Drama des abgelehnten Gottessohnes und am Sieg der Auferstehung Anteil nimmt (vgl. Mt 27, 45.51; 28, 2). Indem er den Tod durchleidet und ihm den neuen Glanz der Auferstehung verleiht, begründet Jesus eine neue Welt, in der alles ihm unterworfen ist (vgl. 1 Kor 15, 20–28), und stellt jene Verhältnisse der Ordnung und Harmonie wieder her, die die Sünde zerstört hatte. Das Wissen um das Ungleichgewicht zwischen Mensch und Natur muss mit dem Bewusstsein einhergehen, dass sich in Jesus die Wiederversöhnung des Menschen und der Welt mit Gott vollzogen hat, sodass jeder Mensch, der um die Liebe Gottes weiß, den verlorenen Frieden wiederfinden kann: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Kor 5, 17). Die Natur, die im Wort erschaffen worden war, wird durch dasselbe Wort, das Fleisch geworden ist, mit Gott versöhnt und mit neuem Frieden erfüllt (vgl. Kol 1, 15–20).

455 Nicht nur das Innere des Menschen wird geheilt, sondern seine ganze Leiblichkeit wird von der Erlöserkraft Christi berührt; die gesamte Schöpfung nimmt an der Erneuerung teil, die aus dem Pascha des Herrn entspringt, auch wenn sie noch seufzend in Geburtswehen liegt und darauf wartet, „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Offb 21, 1) zu gebären, die am Ende der Zeiten das Geschenk des vollendeten Heils sind. Bis dies geschieht, ist nichts diesem Heil fremd: In jeder Lebenssituation ist der Christ dazu aufgerufen, Christus zu dienen, seinem Geist gemäß zu leben, indem er sich von der Liebe leiten lässt, die der Beginn eines neuen Lebens ist, eines Lebens, das die Welt und den Menschen zu ihrem ursprünglichen Entwurf zurückführt: „Welt, Leben, Tod, Gegenwart und Zukunft: alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott“ (1 Kor 3, 22–23).

II. DER MENSCH UND DAS UNIVERSUM DER GESCHAFFENEN DINGE

456 Die biblische Sichtweise inspiriert die Einstellung der Christen im Hinblick auf die Nutzung der Erde sowie die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, dass der Mensch „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes (…) durch seine Vernunft die Dingwelt überragt“;<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,15: AAS 58 (1966) 1036.</ref> die Konzilsväter erkennen die Fortschritte an, die dank der unermüdlichen Tätigkeit des menschlichen Geistes durch die Jahrhunderte hindurch in den empirischen Wissenschaften, in Technik, Kunst und Geisteswissenschaften erzielt worden sind.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 15: AAS 58 (1966) 1036.</ref> Der heutige Mensch hat, „vor allem mit den Mitteln der Wissenschaft und der Technik, seine Herrschaft über beinahe die gesamte Natur ausgebreitet und breitet sie beständig weiter aus“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 33: AAS 58 (1966) 1052.</ref>

Da der „nach Gottes Bild geschaffene Mensch (…) den Auftrag erhalten [hat], sich die Erde mit allem, was zu ihr gehört, zu unterwerfen, die Welt in Gerechtigkeit und Heiligkeit zu regieren und durch die Anerkennung Gottes als des Schöpfers aller Dinge sich selbst und die Gesamtheit der Wirklichkeit auf Gott hinzuordnen, sodass alles dem Menschen unterworfen und Gottes Name wunderbar sei auf der ganzen Erde“, lehrt das Konzil, dass „das persönliche und gemeinsame menschliche Schaffen, dieses gewaltige Bemühen der Menschen im Lauf der Jahrhunderte, ihre Lebensbedingungen stets zu verbessern, (…) als solches der Absicht Gottes entspricht“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 34: AAS 58 (1966) 1052.</ref>

457 Die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik sind an sich positiv: Die Christen denken nicht im Entferntesten daran, „dass die von des Menschen Geist und Kraft geschaffenen Werke einen Gegensatz zu Gottes Macht bilden oder dass das mit Vernunft begabte Geschöpf sozusagen als Rivale dem Schöpfer gegenübertrete. Im Gegenteil, sie sind überzeugt, dass die Siege der Menschheit ein Zeichen der Größe Gottes und die Frucht seines unergründlichen Ratschlusses sind“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,34: AAS 58 (1966) 1053.</ref> Die Konzilsväter heben auch diese Tatsache hervor: „Je mehr aber die Macht der Menschen wächst, desto mehr weitet sich ihre Verantwortung, sowohl die der Einzelnen wie die der Gemeinschaften“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 34: AAS 58 (1966) 1053.</ref> Deshalb muss jede menschliche Tätigkeit gemäß dem Plan und Willen Gottes dem wirklichen Wohl der Menschheit entsprechen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 35: AAS 58 (1966) 1053.</ref> Vor diesem Hintergrund hat das Lehramt mehrfach betont, dass die Katholische Kirche sich dem Fortschritt in keiner Weise entgegenstellt,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache beim Besuch des „Mercy Maternity Hospital“, Melbourne (28. November 1986): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, IX, 2 (1986) 1732–1736.</ref> sondern „die Wissenschaft und die Technologie“ sogar als „ein großartiges Produkt gottgeschenkter Kreativität“ betrachtet, „weil sie uns mit einzigartigen Möglichkeiten ausgestattet haben, aus denen wir alle dankbar Nutzen ziehen“.<ref> Johannes PaulsII., Ansprache an die Vertreter von Wissenschaft und Kultur, Hiroshima (25. Februar 1981), 3: AAS 73 (1981) 422.</ref> „Als an Gott Glaubende, der die von ihm erschaffene Natur für „gut“ befunden hat, freuen wir uns über den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt, den der Mensch mit seiner Intelligenz zu verwirklichen vermag“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Leitung und Belegschaft von Olivetti, Ivrea (19. März 1990), 5: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XIII, 1 (1990) 697.</ref>

458 Die Ansichten des Lehramts über Wissenschaft und Technologie im Allgemeinen gelten auch für ihre Anwendung in Umwelt und Landwirtschaft. Die Kirche schätzt „den Nutzen (…), der sich aus dem Studium und der Anwendung der Molekularbiologie ergibt – und noch ergeben kann –, die durch andere Disziplinen, wie die Genetik und ihre technologische Anwendung in der Landwirtschaft und Industrie, (…) ergänzt wird“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (3. Oktober 1981), 3: AAS 73 (1981) 670.</ref> Denn „die Technik könnte bei richtiger Anwendung durch die Produktion höher entwickelter und widerstandsfähigerer Pflanzen und geeigneter Medikamente (…) ein wertvolles Instrument zur Lösung schwerwiegender Probleme darstellen, angefangen von denen des Hungers und der Krankheit“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses der italienischen Akademie der Wissenschaften (21. September 1982), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,V,3 (1982) 513.</ref> Es ist jedoch wichtig, den Begriff der „richtigen Anwendung“ zu unterstreichen, weil wir wissen, „dass dieses Potential nicht neutral ist: Es kann entweder zum Fortschritt des Menschen gebraucht werden oder zu seiner Entwürdigung“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Vertreter von Wissenschaft und Kultur, Hiroshima (25. Februar 1981), 3: AAS 73 (1981) 422.</ref> Aus diesem Grund ist es „notwendig, eine vorsichtige Haltung zu bewahren und mit aufmerksamem Blick Natur, Ziele und Modalitäten der verschiedenen Formen angewandter Technologie zu werten“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Leitung und Belegschaft von Olivetti, Ivrea (19. März 1990), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XIII, 1 (1990) 695.</ref> Folglich müssen die Wissenschaftler dafür sorgen, dass „ihre Forschungen und ihr technisches Können wirklich im Dienst der Menschheit stehen“,<ref> Johannes Paul II., Predigt bei der Messe, Melbourne (28. November 1986), 11: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, IX, 2 (1986) 1730.</ref> und sie den „moralischen Prinzipien und Werten“ unterzuordnen wissen, „die die Würde des Menschen in ihrer ganzen Fülle achten und verwirklichen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an Teilnehmer einer Studienwoche der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (23. Oktober 1982), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,V,3 (1982) 898.</ref>

459 Zentraler Bezugspunkt für jede wissenschaftliche und technische Anwendung ist die Achtung vor dem Menschen, die mit einer Haltung des gebührenden Respekts vor den anderen lebendige Geschöpfen einhergehen muss. Auch wenn man daran denkt, diese zu verändern, muss man „der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 34: AAS 80 (1988) 559.</ref> In diesem Sinne geben die großartigen Möglichkeiten der biologischen Forschung Anlass zu tiefer Besorgnis, da man „noch nicht imstande [ist], die durch eine undifferenzierte genetische Manipulation und eine leichtfertige Entwicklung neuer Arten von Pflanzen und Formen tierischen Lebens der Natur zugefügten Störungen richtig abzuschätzen; ganz zu schweigen von nicht annehmbaren Eingriffen in die Ursprünge des menschlichen Lebens selbst“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1990, 7: AAS 82 (1990) 151.</ref> Denn man muss „feststellen, dass die Anwendung einiger Entdeckungen im industriellen und landwirtschaftlichen Bereich langfristig negative Folgen verursacht. Dies hat überdeutlich gezeigt, wie kein Eingriff in einem Bereich des Ökosystems davon absehen kann, seine Folgen in anderen Bereichen und allgemein für das Wohl künftiger Generationen mitzubedenken“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1990, 6: AAS 82 (1990) 150.</ref>

460 Der Mensch darf folglich nicht vergessen, dass „seine Fähigkeit (…), mit seiner Arbeit die Welt umzugestalten und in einem gewissen Sinne neu zu »schaffen«“, sich „immer nur auf der Grundlage der ersten Ur-Schenkung der Dinge von Seiten Gottes ereignet“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,37: AAS 83(1991) 840.</ref> Er darf nicht „willkürlich über die Erde verfügen (…), indem er sie ohne Vorbehalte seinem Willen unterwirft, als hätte sie nicht eine eigene Gestalt und eine ihr vorher von Gott verliehene Bestimmung, die der Mensch entfalten kann, aber nicht verraten darf“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,37: AAS 83 (1991) 840.</ref> Wenn er sich so verhält, „statt seine Aufgabe als Mitarbeiter Gottes am Schöpfungswerk zu verwirklichen, setzt sich der Mensch an die Stelle Gottes und ruft dadurch schließlich die Auflehnung der Natur hervor, die von ihm mehr tyrannisiert als verwaltet wird“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 37: AAS 83(1991) 840.</ref>

Wenn der Mensch in die Natur eingreift, ohne sie zu missbrauchen und zu beschädigen, dann kann man sagen, dass er „nicht eingreift, um die Natur zu ändern, sondern um ihr bei der Entfaltung ihrer selbst behilflich zu sein, ihrer selbst als einem von Gott gewollten Geschöpf. Mit seiner Arbeit auf diesem selbstverständlich heiklen Gebiet entspricht der Forscher dem Plan Gottes. Gott wollte, dass der Mensch König der Schöpfung sei“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Generalversammlung des Weltärztebundes (29. Oktober 1983), 6: AAS 76 (1984) 394.</ref> Im Grunde ist es Gott selbst, der dem Menschen die Ehre erweist, mit allen Kräften der Intelligenz am Schöpfungswerk mitzuwirken.

III. DIE KRISE IN DER BEZIEHUNG ZWISCHEN MENSCH UND UMWELT

461 Die biblische Botschaft und das kirchliche Lehramt stellen die wesentlichen Bezugspunkte dar, um die Probleme zu beurteilen, die in den Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt bestehen.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 21: AAS 63 (1971) 416–417.</ref> Am Ursprung dieser Probleme lässt sich der Anspruch auf eine bedingungslose Beherrschung der Dinge von Seiten des Menschen ausmachen, eines Menschen, dem die moralischen Erwägungen, die doch das Kennzeichen jeder menschlichen Tätigkeit sein sollten, gleichgültig sind.

Die Tendenz zu einer „unbedachten“<ref> Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 21: AAS 63 (1971) 417.</ref> Ausbeutung der Ressourcen der Schöpfung ist das Ergebnis eines langen, historischen und kulturellen Prozesses: „Das moderne Zeitalter weist ein zunehmendes Potential verändernden Eingreifens durch den Menschen auf. Der Aspekt der Erschließung und Ausbeutung der Ressourcen ist allesbeherrschend und verdrängend geworden. Heute ist es gar so weit gekommen, dass die Bewohnbarkeit der Umwelt selbst bedroht ist: Die Umwelt als »Ressource« läuft Gefahr, die Umwelt als »Wohnstätte« zu bedrohen. Aufgrund der gewaltigen Mittel zur Veränderung, die uns die technologische Zivilisation bietet, scheint es bisweilen, dass das Gleichgewicht Mensch-Umwelt einen kritischen Punkt erreicht hat“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses zum Thema „Umwelt und Gesundheit“ (24. März 1997), 2: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XX, 1 (1997) 521.</ref>

462 Die Natur erscheint als ein Werkzeug in den Händen des Menschen, eine Wirklichkeit, in die er insbesondere durch die Technologie beständig eingreifen muss. Ausgehend von der erwiesenermaßen irrigen Annahme, dass man über eine unbegrenzte Menge von Energie und Ressourcen verfügen könne, dass diese sofort erneuerbar und dass die negativen Auswirkungen der Manipulationen der natürlichen Ordnung problemlos zu beheben seien, hat sich eine eingeschränkte Sichtweise ausgebreitet, die die natürliche Welt durch eine mechanistische und die Entwicklung durch eine konsumistische Brille betrachtet; dem Tun und Haben wird der Vorrang vor dem Sein eingeräumt, und das hat schwere Formen menschlicher Entfremdung zur Folge.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 28: AAS 80 (1988) 548–550.</ref>

Eine solche Einstellung stammt nicht aus der wissenschaftlichen und technologischen Forschung selbst, sondern aus einer szientistischen und technokratischen Ideologie, die diese zu beeinflussen versucht. Wissenschaft und Technik löschen das Bedürfnis nach Transzendenz durch ihren Fortschritt nicht aus und sind an sich nicht die Ursache einer extremen Säkularisierung, die zum Nihilismus führt; während sie auf ihrem Weg fortschreiten, werfen sie Fragen nach ihrem Sinn auf und lassen die Notwendigkeit deutlicher werden, die transzendente Dimension der menschlichen Person und der Schöpfung selbst zu respektieren.

463 Eine richtige Auffassung von der Umwelt darf einerseits die Natur nicht zu einem bloßen Objekt von Manipulation und Ausbeutung machen, sie aber andererseits nicht verabsolutieren und ihre Würde sogar über die der menschlichen Person stellen. Dann nämlich gelangt man an einen Punkt, wo die Natur oder die Erde vergöttlicht werden, was leicht an einigen ökologischen Bewegungen nachzuweisen ist, die bestrebt sind, ihren Auffassungen ein international anerkanntes institutionelles Profil zu geben.<ref> Vgl. beispielsweise Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog –Päpstlicher Rat für Kultur, Jesus Christus – der Spender lebendigen Wassers. Überlegungen zu New Age aus christlicher Sicht, Referat für Weltanschauungsfragen, Werkmappe Nr. 88/2003, Wien 2003, S. 35.</ref>

Das Lehramt ist gegen eine von Ökozentrismus und Biozentrismus inspirierte Sicht der Umwelt, weil „die Aufhebung der seinsmäßigen und wertbezüglichen Unterschiede zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen proklamiert und die Biosphäre zu einer wertundifferenzierten biotischen Einheit gemacht“ wird. „So wird die höhere Verantwortung des Menschen zugunsten einer gleichmacherischen Betrachtungsweise der »Würde« aller Lebewesen aufgehoben“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses zum Thema „Umwelt und Gesundheit“ (24. März 1997), 5: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XX, 1 (1997) 522.</ref>

464 Eine Sicht des Menschen und der Dinge ohne jeden Bezug zur Transzendenz hat dazu geführt, dass die Vorstellung von der Schöpfung abgelehnt und dem Menschen und der Natur eine vollkommen autonome Existenz zugeschrieben wird. Damit ist die Verbindung gerissen, die die Welt mit Gott vereint: Dieser Bruch hat letztlich auch den Menschen von der Erde entwurzelt und, um es noch deutlicher zu sagen, seine ganze Identität ärmer gemacht. Der Mensch fühlt sich der Umwelt gegenüber, in der er lebt, fremd. Es liegt auf der Hand, welche Konsequenz sich daraus ergibt: „Die Beziehung, die Menschen zu Gott haben, bestimmt die Beziehung des Menschen zu seinesgleichen und zu seiner Umwelt. Und deshalb hat die christliche Kultur die Schöpfung, die den Menschen umgibt, stets als Geschenk Gottes angesehen, das es in Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer zu pflegen und zu bewahren gilt. In besonderer Weise haben die benediktinische und die franziskanische Spiritualität von dieser Art verwandtschaftlicher Beziehung zwischen dem Menschen und seinem kreatürlichen Umfeld Zeugnis abgelegt und im Menschen eine Haltung des Respekts vor jeder Umwelt-Realität gefördert“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses zum Thema „Umwelt und Gesundheit“ (24. März 1997), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XX, 1 (1997) 521.</ref> Die tiefe Verbindung zwischen der Umweltökologie und der „Humanökologie“<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 38: AAS 83 (1991) 841.</ref> muss noch stärker hervorgehoben werden.

465 Das Lehramt betont, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, die Umwelt unversehrt und für alle gesund zu bewahren:<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 34: AAS 80 (1988) 559–560.</ref> „Wenn es der Menschheit von heute gelingt, die neuen Möglichkeiten der Wissenschaft mit einer starken ethischen Dimension zu verbinden, wird sie gewiss imstande sein, die Umwelt als Wohnstatt und Ressource für den Menschen zu fördern; wird sie imstande sein, die Faktoren der Umweltverschmutzung zu beseitigen und angemessene Voraussetzungen der Hygiene und Gesundheit sowohl für kleine Gruppen von Menschen als auch für große Ansiedlungen sicherzustellen. Technologie, die verschmutzt, kann auch reinigen! Produktion, die anhäuft, kann auch gerecht verteilen! Dies kann nur unter der Voraussetzung geschehen, dass die Ethik der Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen für die Rechte der gegenwärtigen und der kommenden Generationen von Menschen obsiegt“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses zum Thema „Umwelt und Gesundheit“ (24. März 1997), 5: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XX, 1 (1997) 522.</ref>

IV. EINE GEMEINSAME VERANTWORTUNG

a) Die Umwelt, ein gemeinschaftliches Gut

466 Der Umweltschutz stellt eine Herausforderung für die gesamte Menschheit dar: Es handelt sich um die gemeinsame und allumfassende Pflicht, ein gemeinschaftliches Gut zu achten,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 40: AAS 83 (1991) 843.</ref> das für alle bestimmt ist, und zu verhindern, dass man „ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen – Naturelemente, Pflanzen, Tiere – rein nach eigenem Gutdünken und entsprechend den eigenen wirtschaftlichen Erfordernissen Gebrauch machen kann“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 34: AAS 80 (1988) 559.</ref> Diese Verantwortung muss auf der Grundlage des weltweiten Charakters der gegenwärtigen ökologischen Krise und der daraus folgenden Notwendigkeit reifen, sie auch in einem globalen Rahmen anzugehen, da alle Seinsformen innerhalb der vom Schöpfer eingerichteten universalen Ordnung voneinander abhängen: „Man muss der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 34: AAS 80 (1988) 559.</ref>

Diese Sichtweise erhält eine besondere Bedeutung, wenn man im Zusammenhang mit den engen Verbindungen zwischen den verschiedenen Ökosystemen die ökologische Bedeutung der Biodiversität betrachtet, die mit Verantwortungsbewusstsein behandelt und in angemessener Weise geschützt werden muss, weil sie für die gesamte Menschheit einen außerordentlichen Reichtum darstellt. In dieser Hinsicht ist beispielsweise die Bedeutung der Amazonasregion für jeden leicht zu erkennen, „einer der am meisten geschätzten natürlichen Lebensräume auf der Welt, da er für das ökologische Gleichgewicht des ganzen Planeten lebensnotwendig ist“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 25: AAS 91 (1999) 760.</ref> Die Wälder tragen dazu bei, ein wesentliches natürliches Gleichgewicht zu erhalten, das für das Leben unverzichtbar ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt in Val Visdende, Italien, zum Weihefest der Kirche des heiligen Johannes Gualberto (12. Juli 1987): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, X, 3 (1987) 67.</ref> Ihre Zerstörung auch durch fahrlässige Brandstiftung beschleunigt die Verwüstungsprozesse mit gefährlichen Folgen für die Wasserreserven und beeinträchtigt das Leben vieler autochthoner Völker sowie das Wohlergehen der künftigen Generationen. Alle, Individuen ebenso wie institutionelle Subjekte müssen sich verpflichtet fühlen, den Waldbestand zu schützen und, wo nötig, geeignete Wiederaufforstungsprogramme in die Wege zu leiten.

467 Die Verantwortung für die Umwelt, die ein gemeinsames Gut des Menschengeschlechts darstellt, erstreckt sich auf die Forderungen nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft: „Erben unserer Väter und Beschenkte unserer Mitbürger, sind wir allen verpflichtet, und jene können uns nicht gleichgültig sein, die nach uns den Kreis der Menschheitsfamilie weiten. Die Solidarität aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vorteile mit sich, sondern auch Pflichten“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 17: AAS 59 (1967) 266.</ref> Es handelt sich um eine Verantwortung, die die gegenwärtigen für die künftigen Generationen übernehmen müssen<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 37: AAS 83 (1991) 840.</ref> und die auch eine Verantwortung der einzelnen Staaten und der internationalen Gemeinschaft ist.

468 Die Verantwortung für die Umwelt muss sich in angemessener Weise auf juristischer Ebene niederschlagen. Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft einheitliche Regeln erarbeitet, damit ein solches Regelwerk es den Staaten ermöglicht, die verschiedenen Aktivitäten, die sich negativ auf die Umwelt auswirken, wirkungsvoller zu kontrollieren, und die Ökosysteme dadurch zu schützen, dass man möglichen Unfällen vorbeugt: „Jeder Staat hat im Bereich des eigenen Territoriums die Aufgabe, der Verschlechterung der Atmosphäre und der Biosphäre vorzubeugen, indem er unter anderem die Auswirkungen der neuen technologischen oder wissenschaftlichen Entdeckungen aufmerksam kontrolliert und den eigenen Bürgern die Garantie bietet, nicht Umwelt verschmutzenden Faktoren oder Giftmüll ausgesetzt zu sein“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1990, 9: AAS 82 (1990) 152.</ref>

Der juristische Inhalt des Rechts „auf eine sichere und gesunde natürliche Umwelt“<ref> Johannes Paul II., Ansprache an den Gerichtshof und die Kommission für Menschenrechte, Straßburg (8. Oktober 1988), 5: AAS 81 (1989) 685; vgl. Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1990, 9: AAS 82 (1990) 152; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 10: AAS 91 (1999) 384–385.</ref> wird das Ergebnis einer schrittweisen Ausarbeitung sein, die durch das Anliegen der öffentlichen Meinung vorangetrieben wird, die Nutzung der geschaffenen Güter nach den Forderungen des Gemeinwohls und in dem gemeinsamen Willen zu regeln, dass für diejenigen, die die Umwelt verschmutzen, Strafen eingeführt werden. Rechtliche Normen allein genügen jedoch nicht;<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 10: AAS 91 (1999) 384–385.</ref> daneben muss ein starkes Verantwortungsbewusstsein und eine wirksame Veränderung der Mentalitäten und Lebensstile heranreifen.

469 Die Autoritäten, die dazu aufgerufen sind, angesichts von Gefahren für Gesundheit und Umwelt Entscheidungen zu treffen, haben es zuweilen mit Situationen zu tun, in denen die verfügbaren wissenschaftlichen Informationen widersprüchlich oder nicht ausreichend sind: Dann kann eine Einschätzung von Vorteil sein, die sich nach dem „Prinzip der Vorsicht“ richtet. Dieses Prinzip ist keine Regel, die man einfach anwendet, sondern eine Orientierung für Situationen der Unsicherheit. Es ist Ausdruck der Notwendigkeit, vorläufige Entscheidungen zu treffen, die aufgrund eventueller neuer Erkenntnisse auch modifiziert werden können. Die Entscheidung muss im richtigen Verhältnis zu Vorkehrungen stehen, die im Hinblick auf andere Risiken bereits getroffen worden sind. Die Politik der Vorsicht, die auf dem genannten Prinzip beruht, erfordert, dass alle Entscheidungen auf der Grundlage einer Gegenüberstellung der Risiken und der Vorteile jeder in Frage kommenden Alternative getroffen werden, wozu auch die Möglichkeit zählt, gar keine Maßnahmen zu ergreifen. Diese Vorgehensweise ist mit der Forderung verbunden, dass keine Mühe gescheut werden darf, um sich gründlichere Kenntnisse zu verschaffen, wobei man sich allerdings der Tatsache bewusst sein muss, dass die Wissenschaft im Hinblick auf das Nichtvorhandensein von Risiken keine schnellen Schlussfolgerungen ziehen kann. Die Umstände der Unsicherheit und der Vorläufigkeit machen die Transparenz im Entscheidungsfindungsprozess besonders wichtig.

470 Die Planung der wirtschaftlichen Entwicklung muss auf „die Unversehrtheit und die Rhythmen der Natur (…) achten“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 26: AAS 80 (1988) 546.</ref> weil die natürlichen Ressourcen begrenzt und zum Teil nicht erneuerbar sind. Die derzeitige Geschwindigkeit der Ausbeutung stellt im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Verfügbarkeit einiger natürlicher Ressourcen eine ernste Beeinträchtigung dar.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 34: AAS 80 (1988) 559–560.</ref> Die Lösung des ökologischen Problems erfordert, dass die wirtschaftliche Tätigkeit die Umwelt stärker berücksichtigt, indem sie die Forderungen der wirtschaftlichen Entwicklung mit denen des Umweltschutzes in Einklang bringt. Jede wirtschaftliche Aktivität, die die natürlichen Ressourcen nutzt, muss sich auch um den Schutz der Umwelt kümmern und die damit verbundenen Kosten einplanen, die als „ein wesentliches Element der aktuellen Kosten wirtschaftlicher Tätigkeit“ betrachtet werden müssen.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer der XXV. Vollversammlung der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) (16. November 1989), 8: AAS 82 (1990) 673.</ref> In diesem Zusammenhang sind auch die äußerst komplexen Beziehungen zwischen der menschlichen Aktivität und den klimatischen Veränderungen zu berücksichtigen, die auf wissenschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene national und international in der geeigneten Weise beständig beobachtet werden müssen. Das Klima ist ein Gut, das geschützt werden muss, und deshalb ist es erforderlich, dass die Verbraucher und die Träger industrieller Aktivitäten ein stärkeres Verantwortungsgefühl entwickeln.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an eine Studiengruppe der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (6. November 1987): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, X, 3 (1987) 1018–1020.</ref>

Eine Wirtschaft, die die Umwelt respektiert, wird nicht ausschließlich das Ziel der Gewinnmaximierung verfolgen, denn der Umweltschutz kann nicht nur auf der Grundlage einer finanziellen Kostennutzenrechnung gewährleistet werden.Die Umwelt ist eines jener Güter, die die Mechanismen des Markts nicht in der angemessenen Form schützen oder fördern können.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 40: AAS 83 (1991) 843.</ref> Alle und vor allem die entwickelten Länder müssen es als ihre dringende Verpflichtung erkennen, die Art und Weise des Gebrauchs der natürlichen Güter zu überdenken. Das Forschen nach Innovationen, die geeignet sind, die durch produktion und Konsum bedingte Umweltbelastung zu verringern, muss durch wirkungsvolle Anreize vorangetrieben werden.

Mit besonderer Aufmerksamkeit müssen die komplexen Problemfelder betrachtet werden, die sich auf die Energieressourcen beziehen.<ref> Vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache an die Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (28. Oktober 1994): Insegnamenti di Giovanni Paolo H, XVII, 2 (1994) 567-568.</ref> Die nicht erneuerbaren Energien, auf die die hoch industrialisierten und die jungen Industrienationen zurückgreifen, müssen in den Dienst der gesamten Menschheit gestellt werden. In einer moralischen, der Billigkeit und der Solidarität zwischen den Generationen verpflichteten Sichtweise muss man außerdem durch den Beitrag der wissenschaftlichen Gemeinschaft weiter darauf hinarbeiten, neue Energiequellen zu entdecken, die alternativen Energien weiterzuentwickeln und den Sicherheitsstandard der Atomenergie zu erhöhen.<ref> Vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache an die Teilnehmer eines Physik-Symposiums (18. Dezember 1982): Insegnamenti di Giovanni Paolo 11, V, 3 (1982) 1631-1634.</ref> Die Nutzung der Energie nimmt aufgrund ihrer Verbindung mit den Fragen der Entwicklung und der Umwelt die Staaten, die internationale Gemeinschaft und die wirtschaftlichen Unternehmer politisch in die Pflicht; und die Erfüllung dieser pflicht muss von dem beständigen Bemühen um das universale Gemeinwohl erhellt und geleitet sein.

471 Besondere Aufmerksamkeit verdient die Beziehung der autochthonen Völker zu ihrem Land und seinen Ressourcen: Hierbei handelt es sich um einen grundlegenden Ausdruck ihrer Identität.<ref> Vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache an die autochthonen Völker Amazoniens, Manaus (10. Juli 1980): AAS 72 (1980) 960-961. </ref> Viele Völker haben das Land, auf dem sie leben<ref> vgl. JOHANNES PAUL II., Predigt beim Wortgottesdienst für die autochthonen Bevölkerungsgruppen des peruanischen Amazonasgebietes (5. Februar 1985), 4: AAS 77 (1985) 897-898; vgl. auch PÄPSTLICHER RAT FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN, Für eine bessere Landverteilung. Die Herausforderung der Agrarreform (23. November 1997), II, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 140, S. 16-17. </ref> und an das der eigentliche Sinn ihres Daseins gebunden ist,<ref>vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache bei der Begegnung mit den Ureinwohnern Australiens, Alice Springs (29. November 1986),4: AAS 79 (1987) 974-975.</ref> schon verloren oder laufen Gefahr, es zu verlieren: zugunsten mächtiger agrarindustrieller Interessen oder aufgrund von Assimilations- oder Urbanisierungsprozessen. Die Rechte der autochthonen Völker müssen in geeigneter Weise geschützt werden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Ureinwohner von Guatemala (7. März 1983), 4: AAS 75 (1983) 742–743; Id., Ansprache an die autochthonen Völker Kanadas (18. September 1984), 7–8: AAS 77 (1985) 421–422; Id., Ansprache an die autochthonen Völker Ecuadors (31. Januar 1985), II.1: AAS 77 (1985) 861; Id., Ansprache bei der Begegnung mit den Ureinwohnern Australiens, Alice Springs (29. November 1986), 10: AAS 79 (1987) 976–977.</ref> Diese Völker geben uns ein Beispiel für ein Leben in Harmonie mit der Umwelt, die sie kennen und zu bewahren gelernt haben:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache bei der Begegnung mit den Ureinwohnern Australiens, Alice Springs (29. November 1986), 4: AAS 79 (1987) 974–975; Id., Ansprachean die Ureinwohner Amerikas, Phoenix (14. September 1987), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, X, 3 (1987) 514–515.</ref> ihre außergewöhnliche Erfahrung, die ein unersetzlicher Reichtum für die gesamte Menschheit ist, droht gemeinsam mit der Umwelt unterzugehen, aus der sie stammt.

b) Die Nutzung der Biotechnologie

472 In den vergangenen Jahren ist die Frage nach dem Einsatz der neuen Biotechnologien für Ziele, die mit der Landwirtschaft, der Viehzucht, der Medizin und dem Umweltschutz in Verbindung stehen, immer lauter geworden. Die neuen Möglichkeiten der gegenwärtigen biologischen und biogenetischen Techniken rufen einerseits Hoffnung und Begeisterung und andererseits Misstrauen und Ablehnung hervor. Die Anwendungen der Biotechnologien, ihre Zulässigkeit unter moralischen Gesichtspunkten, ihre Konsequenzen für die Gesundheit des Menschen, ihre Auswirkungen auf Umwelt und Wirtschaft sind Gegenstand eingehender Untersuchungen und einer lebhaften Debatte. Bei alledem handelt es sich um kontroverse Fragen, die Wissenschaftler und Forscher, Politiker und Gesetzgeber, Wirtschaftswissenschaftler und Umweltschützer, Produzenten und Verbraucher betreffen. Die Christen sind diesen Problemfeldern gegenüber nicht gleichgültig, und ihnen ist bewusst, wie wichtig die Werte sind, die hier auf dem Spiel stehen.<ref> Vgl. Päpstliche Akademie für das Leben, Biotechnologie für Tiere und Pflanzen: neue Grenzen und neue Verantwortung (12. Oktober 1999), Libreria Editrice Vaticana, Vatikanstadt 1999.</ref>

473 Die christliche Sicht der Schöpfung beinhaltet ein positives Urteil hinsichtlich der Zulässigkeit menschlicher Eingriffe in die Natur einschließlich der anderen Lebewesen und gleichzeitig einen nachdrücklichen Appell an das Verantwortungsgefühl.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an Teilnehmer einer Studienwoche der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (23. Oktober 1982), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,V,3 (1982) 898.</ref> Die Natur ist keine heilige oder göttliche Realität, die sich dem Wirken des Menschen entzieht. Sie ist vielmehr ein Geschenk, das der Schöpfer der menschlichen Gemeinschaft gemacht und der Intelligenz und moralischen Verantwortung des Menschen anvertraut hat. Deshalb tut dieser nichts Unzulässiges, wenn er mit Rücksicht auf die Ordnung, die Schönheit und den Nutzen der einzelnen Lebewesen und ihrer Rolle innerhalb des Ökosystems in einige ihrer Merkmale und Eigenschaften modifizierend eingreift. Das Eingreifen des Menschen ist beklagenswert, wenn es den Lebewesen oder der natürlichen Umwelt Schaden zufügt, doch es ist lobenswert, wenn es zu einer Verbesserung führt. Das ethische Problem erschöpft sich jedoch nicht in der Frage, ob es zulässig ist, biologische und biogenetische Techniken einzusetzen: Wie bei jedem menschlichen Verhalten müssen ihr tatsächlicher Nutzen sowie ihre möglichen Folgen – und Risiken – gegeneinander abgewogen werden. Wo es um weitreichende und einschneidende wissenschaftlich-technische Eingriffe an lebenden Organismen geht und langfristig die Möglichkeit schwerwiegender Schädigungen besteht, darf man nicht leichtsinnig und verantwortungslos handeln.

474 Die modernen Biotechnologien haben auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene starke gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Auswirkungen: Sie sind nach den ethischen Kriterien zu beurteilen, die die menschlichen Tätigkeiten und Verhältnisse im sozioökonomischen und politischen Bereich immer lenken müssen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (3. Oktober 1981): AAS 73 (1981) 668–672.</ref> Vor allem muss man sich die Kriterien der Gerechtigkeit und Solidarität vor Augen halten, nach denen sich insbesondere alle die Individuen und Gruppen zu richten haben, die auf dem Gebiet der Erforschung und kommerziellen Nutzung von Biotechnologien tätig sind. Auf keinen Fall sollte man den Irrtum begehen zu glauben, dass allein die Verbreitung der mit den neuen Biotechnologien verbundenen Vorteile alle drängenden Probleme der Armut und Unterentwicklung lösen könnte, die noch immer so viele Länder dieser Erde heimsuchen.

475 In einem Geist internationaler Solidarität können im Hinblick auf den Einsatz der neuen Biotechnologien verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. In erster Linie muss ein fairer Handel ohne ungerechte Einschränkungen erleichtert werden. Die Förderung der Entwicklung der stärker benachteiligten Völker wird jedoch nicht authentisch und wirkungsvoll sein, wenn sie sich nur auf den Austausch von Produkten erstreckt. Es ist unerlässlich, auch das Heranreifen der nötigen technologischen und wissenschaftlichen Autonomie auf Seiten ebendieser Völker zu fördern und für einen verstärkten Austausch wissenschaftlicher und technologischer Kenntnisse und den entsprechenden Technologietransfer in die Entwicklungsländer zu sorgen.

476 Die Solidarität appelliert auch an die Verantwortung der Entwicklungsländer und insbesondere ihrer politischen Autoritäten, eine für ihre Völker nützliche Handelspolitik und einen Austausch von Technologien zu betreiben, die geeignet sind, die sanitären Verhältnisse und die Ernährungslage zu verbessern. In diesen Ländern muss mit besonderer Aufmerksamkeit für die Merkmale und die besonderen Bedürfnisse des eigenen Gebiets mehr in die Forschung investiert werden, und man muss sich vor allem vergegenwärtigen, dass einige möglicherweise nutzbringende Forschungen im Bereich der Biotechnologie verhältnismäßig bescheidene Investitionen erfordern. Zu diesem Zweck wäre die Schaffung nationaler Organe hilfreich, die den Auftrag haben, das Gemeinwohl durch ein umsichtiges Abwägen der Risiken zu schützen.

477 Die im Bereich der Biotechnologien tätigen Wissenschaftler und Techniker sind dazu aufgerufen, mit Klugheit und Beharrlichkeit nach verbesserten Lösungen für die schwerwiegenden und drängenden Probleme in den Bereichen der Gesundheit und der Ernährung zu suchen. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie mit lebenden und leblosen Materialien arbeiten, die der Menschheit als ihr Erbe gehören und daher auch für die noch kommenden Generationen bestimmt sind; für die Gläubigen handelt es sich um ein Geschenk des Schöpfers, das der menschlichen Intelligenz und Freiheit anvertraut ist, die ihrerseits ebenfalls Gaben des Allerhöchsten sind. Die Wissenschaftler sollen in der Lage sein, ihre Kräfte und Fähigkeiten für die leidenschaftlich betriebene Forschung einzusetzen, die von einem klaren und aufrichtigen Gewissen geleitet wird.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an Teilnehmer einer Studienwoche der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (23. Oktober 1982), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,V,3 (1982) 895–898; Id., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses der italienischen Akademie der Wissenschaften (21. September 1982), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, V, 3 (1982) 511–515.</ref>

478 Die Unternehmer und die Verantwortlichen der öffentlichen Einrichtungen, die sich mit der Forschung, der Herstellung und der kommerziellen Nutzung der durch die neuen Biotechnologien ermöglichten Produkte beschäftigen, müssen nicht nur ihren rechtmäßigen Gewinn, sondern auch das Gemeinwohl im Blick haben. Dieser Grundsatz, der für jede Art der wirtschaftlichen Tätigkeit gültig ist, wird dann besonders wichtig, wenn es sich um Tätigkeiten handelt, die mit der Ernährung, der Medizin und mit dem Schutz von Gesundheit und Umwelt zu tun haben. Mit ihren Entscheidungen können die Unternehmer und die Verantwortlichen der zuständigen öffentlichen Einrichtungen die Entwicklungen im Bereich der Biotechnologien auf viel versprechende Ziele hinlenken, was den Kampf gegen den Hunger vor allem in den ärmsten Ländern, den Kampf gegen die Krankheiten und den Kampf um den Schutz des Ökosystems, unseres gemeinsamen Erbes betrifft.

479 Die Politiker, die Gesetzgeber und die öffentlichen Verwaltungen sind dafür verantwortlich, die Möglichkeiten, die Vorteile und die eventuellen Risiken abzuwägen, die mit dem Einsatz von Biotechnologien verbunden sind. Es ist nicht gutzuheißen, wenn ihre Entscheidungen auf nationaler oder internationaler Ebene unter dem Druck von Teilinteressen gefällt werden. Die öffentlichen Autoritäten müssen auch dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung richtig informiert wird, und sie müssen in jedem Fall die Entscheidungen zu treffen wissen, die für das Gemeinwohl am vorteilhaftesten sind.

480 Auch die Verantwortlichen im Informationsbereich haben eine wichtige Aufgabe, die sie mit Klugheit und Objektivität erfüllen müssen. Die Gesellschaft erwartet von ihnen eine vollständige und objektive Information, die den Bürgern hilft, sich über die biotechnologischen Produkte eine fundierte Meinung zu bilden, zumal es sich hierbei um ein Thema handelt, das sie als Verbraucher an erster Stelle betrifft. Man darf daher nicht der Versuchung nachgeben, eine oberflächliche Information zu betreiben, die von vorschneller Begeisterung oder unbegründeter Panik gespeist wird.

c) Umwelt und gemeinsame Nutzung der Güter

481 Auch im Bereich der Ökologie weist die Soziallehre nachdrücklich darauf hin, dass die Güter der Erde von Gott geschaffen worden sind, um von allen mit Weisheit genutzt zu werden: Die Menschen müssen diese Güter nach den Kriterien der Gerechtigkeit und der Liebe in angemessener Weise miteinander teilen. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, die ungerechte Anhäufung von Ressourcen zu verhindern: Die individuelle und kollektive Habgier widerspricht der Ordnung der Schöpfung.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 69: AAS 58 (1966) 1090–1092; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 22: AAS 59 (1967) 268.</ref> Die gegenwärtigen globalen ökologischen Probleme können nur durch eine internationale Zusammenarbeit wirkungsvoll angegangen werden, die geeignet ist, den Gebrauch der Ressourcen der Erde besser zu koordinieren.

482 Das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter bietet eine grundlegende moralische und kulturelle Orientierung, um den komplexen und dramatischen Knoten zu lösen, der die ökologische Krise und die Armut miteinander verknüpft. Die gegenwärtige Umweltkrise trifft in erster Linie die Ärmsten: zum einen, weil sie in denjenigen Ländern leben, die von Erosion und von der Ausdehnung der Wüsten betroffen sind, weil sie in bewaffnete Konflikte verwickelt oder zur Migration gezwungen sind, zum anderen, weil sie nicht über die wirtschaftlichen und technologischen Mittel verfügen, um sich gegen die Katastrophen zu schützen.

Sehr viele dieser Armen leben in den verschmutzten Vororten der Städte in Notunterkünften oder Ansammlungen von baufälligen und unsicheren Häusern (slums, bidonvilles, barrios, favelas). Um ihre Umsiedlung in die Wege zu leiten und nicht Leid auf Leid zu häufen, ist es erforderlich, im Vorfeld für eine angemessene Information zu sorgen, menschenwürdige Wohnalternativen anzubieten und die Betroffenen direkt einzubinden.

Überdies sollte man sich die Lage der durch die Regeln eines nicht ausgewogenen internationalen Handels benachteiligten Länder vor Augen halten, in denen der nach wie vor bestehende Mangel an Kapital durch die Last der Auslandsverschuldung noch erschwert wird: In diesen Fällen machen Hunger und Armut eine intensive und übermäßige Ausbeutung der Umwelt praktisch unvermeidlich.

483 Die enge Verbindung zwischen der Entwicklung der ärmeren Länder, demographischen Veränderungen und einem vertretbaren Umgang mit der Umwelt darf nicht als Vorwand für politische und wirtschaftliche Entscheidungen herhalten, die der Würde der menschlichen Person kaum entsprechen. Im Norden des Globus erleben wir den „Abfall der Geburtenziffer mit Auswirkungen auf die Altersstruktur der Bevölkerung, die sogar unfähig wird, sich biologisch zu erneuern“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 25: AAS 80 (1988) 543; vgl. Id., Enz. Evangelium vitae, 16: AAS 87 (1995) 418.</ref> während sich die Situation in der Südhälfte ganz anders darstellt. Wenn es zutrifft, dass die ungleiche Verteilung der Bevölkerung und der verfügbaren Ressourcen die Entwicklung und den vertretbaren Umgang mit der Umwelt behindert, muss auch anerkannt werden, dass eine wachsende Bevölkerung mit einer umfassenden und solidarischen Entwicklung voll und ganz zu vereinbaren ist:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 25: AAS 80 (1988) 543–544.</ref> „Man stimmt weitgehend darin überein, dass eine Bevölkerungspolitik nur ein Teil einer umfassenden Entwicklungsstrategie ist. Demnach ist es wichtig, dass in jedem Gespräch über bevölkerungspolitische Themen die konkrete und die geplante Entwicklung von Nationen und Regionen berücksichtigt wird. Gleichzeitig ist es nicht möglich, die eigentliche Bedeutung des Begriffs »Entwicklung« außer Acht zu lassen. Jede Entwicklung, die diese Bezeichnung verdient, muss vollkommen sein, das heißt, sie muss auf das wahre Wohl jedes Menschen und auf die ganze Person des Menschen ausgerichtet sein“.<ref> Johannes Paul II., Brief an Frau Nafis Sadik, Generalsekretärin der diesjährigen Internationalen Konferenz für Bevölkerungs- und Entwicklungsfragen und Exekutivdirektorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (18. März 1994), 3: AAS 87 (1995) 191.</ref>

484 Das Prinzip von der allgemeinen Bestimmung der Güter gilt natürlich auch für das Wasser, das in der Heiligen Schrift als Symbol der Reinigung (vgl. Ps 51, 4; Joh 13, 8) und des Lebens (vgl. Joh 3, 5; Gal 3, 27) betrachtet wird: Wasser ist „ein vitales Instrument, weil es ein Geschenk Gottes ist, unerlässlich für das Überleben und – viel mehr noch – ein Recht aller“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft an Kard. Geraldo Majella Agnelo anlässlich der Kampagne der Brüderlichkeit der brasilianischen Bischofskonferenz (19. Januar 2004): L’Osservatore Romano, 4. März 2004, S. 5.</ref> Die Nutzung des Wassers und der damit verbundenen Dienste muss auf die Befriedigung der Bedürfnisse aller und vor allem der in Armut lebenden Personen ausgerichtet sein. Ein eingeschränkter Zugriff auf Trinkwasser beeinträchtigt das Wohlergehen einer gewaltigen Zahl von Personen und ist oft Ursache von Krankheiten, Leiden, Konflikten, Armut und sogar Tod: Um in angemessener Weise gelöst zu werden, müssen für diese Frage „moralische Kriterien eingerichtet werden (…), die sich nach dem Wert des Lebens und der Achtung der Rechte und der Würde aller Menschen richten“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft an Kard. Geraldo Majella Agnelo anlässlich der Kampagne der Brüderlichkeit der brasilianischen Bischofskonferenz (19. Januar 2004): L’Osservatore Romano, 4. März 2004, S. 5.</ref>

485 Aufgrund seiner eigenen Natur kann das Wasser nicht bloß als eine Ware unter vielen behandelt, sondern muss mit Vernunft und Solidarität genutzt werden. Seine Verteilung fällt traditionell in die Zuständigkeit öffentlicher Einrichtungen, weil das Wasser immer als ein öffentliches Gut gegolten hat, ein Merkmal, das auch dann bestehen bleiben muss, wenn die diesbezügliche Verantwortung auf den privaten Bereich übergeht. Das Recht auf Wasser<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2003,5: AAS 95 (2003) 343; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Water, an Essential Element for Life. A Contribution of the Delegation of the Holy See on the occasion of the 3 World Water Forum, Kyoto, 16.–23. März 2003.</ref> beruht wie alle Rechte des Menschen auf der Menschenwürde und nicht auf rein quantitativen Bewertungen, die das Wasser lediglich als wirtschaftliches Gut betrachten. Ohne Wasser ist das Leben bedroht. Damit ist das Recht auf Wasser ein allgemeines und unveräußerliches Recht.

d) Neue Lebensstile

486 Die schwerwiegenden ökologischen Probleme erfordern eine wirkungsvolle Mentalitätsänderung, die zur Entwicklung von Lebensstilen führt,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 838–840.</ref> „in denen die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und die Verbundenheit mit den anderen für ein gemeinsames Wachstum jene Elemente sind, die die Entscheidungen für Konsum, Sparen und Investitionen bestimmen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 36: AAS 83 (1991) 839.</ref> Diese Lebensstile müssen auf personaler wie sozialer Ebene von Nüchternheit, Mäßigung und Selbstdisziplin geprägt sein. Man muss sich von der Logik des reinen Konsums freimachen und Formen der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion fördern, die die Ordnung der Schöpfung respektieren und die vorrangigen Bedürfnisse aller befriedigen. Eine solche Haltung, die von dem erneuerten Bewusstsein begünstigt wird, dass alle Bewohner der Erde wechselseitig voneinander abhängig sind, trägt dazu bei, verschiedene Ursachen ökologischer Katastrophen zu beseitigen, und ermöglicht ein rasches Handeln, wenn solche Katastrophen Völker und Gebiete heimsuchen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache beim Besuch des UNO-Umweltprogramms (UNEP), Nairobi (18. August 1985), 5: AAS 78 (1986) 92.</ref> Man sollte sich nicht nur im Hinblick auf die verheerenden Folgen, die sich aus den Umweltschäden ergeben, mit der ökologischen Frage auseinandersetzen: Sie sollte vor allem von einer starken Motivation zu einer authentischen, weltweit geübten Solidarität getragen sein.

487 Der Mensch sollte sich gegenüber der Schöpfung vor allem durch eine Haltung der Dankbarkeit und Anerkennung auszeichnen: Die Welt verweist auf das Geheimnis Gottes, der ihn erschaffen hat und ihn erhält. Wenn man die Beziehung zu Gott ausklammert, verliert die Natur ihre tiefere Bedeutung und verarmt. Wenn man dagegen die Natur in ihrer geschöpflichen Dimension wiederzuentdecken vermag, dann kann man ein kommunikatives Verhältnis zu ihr auf bauen, ihre über sich selbst hinausweisende, symbolhafte Bedeutung erfassen und so zum Horizont des Mysteriums vordringen, das dem Menschen den Weg zu Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, eröffnet. Die Welt bietet sich den Blicken des Menschen als eine Spur Gottes dar, als ein Ort, an dem seine schöpferische Macht der Vorsehung und Erlösung offenbar wird.

ELFTES KAPITEL: DIE FÖRDERUNG DES FRIEDENS

I. BIBLISCHE ASPEKTE

488 Der Frieden ist nicht nur ein Geschenk Gottes und ein menschliches Projekt, das dem Plan Gottes entspricht, sondern er ist vor allem ein wesentliches Attribut Gottes: „Der Herr ist Friede“ (Ri 6, 24). Die Schöpfung, die ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes ist, sehnt sich nach Frieden. Gott erschafft alle Dinge, und alles Geschaffene bildet ein harmonisches Ganzes, das in all seinen Teilen gut ist (vgl. Gen 1, 4.10.12.18.21.25.31).

Der Friede gründet sich auf die vorrangige Beziehung zwischen jedem Menschen und Gott selbst, eine Beziehung, die von Rechtschaffenheit geprägt ist (vgl. Gen 17, 1). Infolge des Willensaktes, mit dem der Mensch die göttliche Ordnung verändert, lernt die Welt Blutvergießen und Spaltung kennen: Die Gewalt äußert sich in den Beziehungen zwischen Personen (vgl. Gen 4, 1–16) und zwischen Gesellschaften (vgl. Gen 11, 1–9). Frieden und Gewalt können nicht zusammenwohnen, und wo Gewalt ist, kann Gott nicht sein (vgl. 1 Chr 22, 8–9).

489 In der biblischen Offenbarung ist der Friede weit mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg: Er stellt die Fülle des Lebens dar (vgl. Mal 2, 5); weit davon entfernt, ein Konstrukt des Menschen zu sein, ist er ein großes Geschenk Gottes an alle Menschen, was den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Plan beinhaltet: „Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden“ (vgl. Num 6, 26). Dieser Frieden bringt Fruchtbarkeit (vgl. Jes 48, 19), Wohlergehen (vgl. Jes 48, 18), Überfluss (vgl. Jes 54, 13), Abwesenheit von Furcht (vgl. Lev 26, 6) und tiefe Freude hervor (vgl. Spr 12, 20).

490 Der Frieden ist das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie es in der messianischen Friedensvision in herausragender Weise deutlich wird: Wenn alle Völker zum Haus des Herrn ziehen und er ihnen seine Wege zeigt, dann können sie auf den Wegen des Friedens wandeln (vgl. Jes 2, 2–5). Für das messianische Zeitalter wird eine neue Welt des die gesamte Natur umfassenden Friedens verheißen (vgl. Jes 11, 6–9), und der Messias selbst wird der „Fürst des Friedens“ genannt (Jes 9, 5). Wo sein Friede herrscht, wo er auch nur teilweise vorweggenommen wird, dort kann nichts das Volk Gottes in Angst versetzen (vgl. Zef 3, 13). Dann wird der Friede von Dauer sein, denn wenn der König nach der Gerechtigkeit Gottes regiert, sprießt die Gerechtigkeit hervor, und es gibt Frieden im Überfluss, „bis der Mond nicht mehr da ist“ (Ps 72, 7). Gott sehnt sich danach, seinem Volk den Frieden zu schenken: „Frieden verkündet der Herr seinem Volk und seinen Frommen, den Menschen mit redlichem Herzen“ (Ps 85, 9). Der Psalmist, der auf das hört, was Gott seinem Volk über den Frieden zu sagen hat, vernimmt diese Worte: „Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich“ (Ps 85, 11).

491 Die Verheißung des Friedens, die das gesamte Alte Testament durchzieht, findet ihre Erfüllung in der Person Jesu. Denn der Friede ist das messianische Gut schlechthin, das alle anderen heilbringenden Güter miteinschließt. Das hebräische Wort „shalom“ meint seinem etymologischen Sinn nach „Vollständigkeit“ und bringt den Begriff „Frieden“ in seiner ganzen Bedeutungsfülle zum Ausdruck (vgl. Jes 9, 5 f.; Mi 5, 1–4). Das Reich des Messias ist das Reich des Friedens (vgl. Ijob 25, 2; Ps 29, 11; 37, 11; 72, 3.7; 85, 9.11; 119, 165; 125, 5; 128, 6; 147, 14; Hld 8, 10; Jes 26, 3.12; 32, 17 f.; 52, 7; 54, 10; 57, 19; 60, 17; 66, 12; Hag 2, 9; Sach 9, 10 und andere Stellen). Jesus „ist unser Friede“ (Eph 2, 14), er, der die Menschen mit Gott versöhnt und damit die Mauern der Feindschaft zwischen ihnen niedergerissen hat (vgl. Eph 2, 14–16): So einfach und so wirkungsvoll weist der heilige Paulus auf den eigentlichen Beweggrund hin, der die Menschen zu einem Leben und einer Mission des Friedens drängt.

Am Abend vor seinem Tod spricht Jesus von seiner Liebesbeziehung zum Vater und von der einigenden Kraft, die diese Liebe auf die Jünger ausstrahlt; es ist eine Abschiedsrede, die den tiefen Sinn seines Lebens offen legt und als Zusammenfassung seiner ganzen Lehre betrachtet werden kann. Das Sigel dieses seines geistigen Testaments ist das Geschenk des Friedens: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch“ (Joh 14, 27). Nicht anders werden die Worte des Auferstandenen klingen; jedes Mal, wenn er mit den Seinen zusammentrifft, empfangen sie von ihm den Gruß und die Gabe des Friedens: „Friede sei mit euch!“ (Lk 24, 36; Joh 20, 19.21.26).

492 Der Friede Christi ist vor allem die Versöhnung mit dem Vater, die sich durch die apostolische Sendung vollzieht, die Jesus seinen Jüngern anvertraut hat; diese beginnt mit einer Verkündigung des Friedens: „Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: Friede diesem Haus!“ (Lk 10,5; vgl. Röm 1, 7). Außerdem ist der Friede Versöhnung mit unseren Brüdern und Schwestern, weil Jesus in dem Gebet, das er uns gelehrt hat, dem „Vater unser“, die von Gott erbetene Vergebung an die Vergebung knüpft, die wir unseren Mitmenschen gewähren: „Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben“ (Mt 6, 12). Mit dieser doppelten Versöhnung kann der Christ zu einem Baumeister des Friedens und damit zum Teilhaber am Reich Gottes werden, wie Jesus selbst es verkündet hat: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Mt 5, 9).

493 Der Einsatz für den Frieden ist nie von der Verkündigung des Evangeliums getrennt, das ja gerade das „Evangelium vom Frieden“ ist (Eph 6, 15; vgl. Apg 10, 36), das allen Menschen verkündet werden soll. Im Mittelpunkt dieses „Evangeliums vom Frieden“ steht nach wie vor das Geheimnis des Kreuzes, denn der Friede wurzelt im Opfer Christi (vgl. Jes 53, 5: „Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt“): Der gekreuzigte Jesus hat die Spaltung überwunden, er hat „durch das Kreuz (…) in seiner Person die Feindschaft getötet“ (Eph 2, 16) und auf diese Weise Frieden und Versöhnung gebracht und den Menschen das Heil der Auferstehung geschenkt.

II. DER FRIEDEN: FRUCHT DER GERECHTIGKEIT UND DER LIEBE

494 Der Friede ist ein Wert<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1986,1: AAS 78 (1986) 278–279.</ref> und eine Pflicht<ref> Vgl. Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1969: AAS 60 (1968) 771; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 4: AAS 96 (2004) 116.</ref> von allgemeiner Gültigkeit und basiert auf der vernunftgemäßen und moralischen Ordnung der Gesellschaft, die ihre Wurzeln in Gott selber hat, „dem Ursprung des Seins, der grundlegenden Wahrheit und dem höchsten Gut“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1982, 4: AAS 74 (1982) 328.</ref> Der Friede ist nicht einfach nur die Abwesenheit von Krieg und auch kein stabiles Gleichgewicht zwischen feindlichen Mächten,<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 78: AAS 58 (1966) 1101–1102.</ref> sondern gründet auf einer zutreffenden Vorstellung von der menschlichen Person<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 51: AAS 83 (1991) 856–857.</ref> und erfordert die Schaffung einer auf Gerechtigkeit und Liebe aufbauenden Ordnung.

Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit (vgl. Jes 32, 17),<ref> Vgl. Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1972: AAS 63 (1971) 868.</ref> die im weiteren Sinne als die Achtung vor dem Gleichgewicht aller Dimensionen der menschlichen Person aufgefasst wird. Der Friede ist gefährdet, wenn dem Menschen das, was ihm aufgrund seines Menschseins zusteht, nicht gegeben wird, wenn seine Würde nicht respektiert wird und wenn das Zusammenleben nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Für die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft und für die umfassende Entwicklung der Einzelnen, Völker und Nationen erweisen sich die Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte als wesentlich.<ref> Vgl. Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1969: AAS 60 (1968) 772; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 12: AAS 91 (1999) 386–387.</ref>

Der Friede ist auch die Frucht der Liebe: „Wahrer Friede ist eher eine Sache der Liebe als der Gerechtigkeit, denn der Gerechtigkeit obliegt es nur, das zu beseitigen, was dem Frieden im Wege steht: die Beleidigung und den Schaden; der Friede selbst aber ist ein eigentlicher und besonderer Akt der Liebe“.<ref> Pius XI., Enz. Ubi arcano: AAS 14 (1922) 686. In der Enzyklika wird verwiesen auf Thomas von Aquin , Summa theologiae, II-II, q. 29, a. 3, ad 3um; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 78: AAS 58 (1966) 1101–1102.</ref>

495 Am Frieden wird Tag für Tag durch die Suche nach der gottgewollten Ordnung gebaut,<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Populorum progressio, 76: AAS 59 (1967) 294–295.</ref> und er kann nur dann Bestand haben, wenn alle erkennen, dass sie für seine Förderung verantwortlich sind.<ref> Vgl. Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1974: AAS 65 (1973) 672.</ref> Um Konflikten und Gewalt vorzubeugen, ist es unbedingt notwendig, dass man beginnt, den Frieden als tiefen Wert im Inneren einer jeden Person zu leben: Auf diese Weise kann er sich in den Familien und in den verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Vereinigungen ausbreiten, bis er die gesamte politische Gemeinschaft erfasst.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2317.</ref> In einem allgegenwärtigen Klima der Eintracht und des Respekts vor der Gerechtigkeit kann eine echte Kultur des Friedens heranreifen,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (13. Januar 1997), 3: AAS 89 (1997) 474.</ref> die in der Lage ist, auch auf die internationale Gemeinschaft überzugreifen. Deshalb ist der Friede „die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muss“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 78: AAS 58 (1966) 1101; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 2304.</ref> Ein solches Friedensideal kann „nicht erreicht werden ohne Sicherheit für das Wohl der Person und ohne dass die Menschen frei und vertrauensvoll die Reichtümer ihres Geistes und Herzens miteinander teilen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 78: AAS 58 (1966) 1101.</ref>

496 Gewalt ist nie die gerechte Antwort. Die Kirche verkündet in der Überzeugung ihres Glaubens an Christus und im Bewusstsein ihrer Sendung, „dass die Gewalt böse ist, dass die Gewalt als Lösung von Problemen unannehmbar ist, dass die Gewalt menschenunwürdig ist. Die Gewalt ist eine Lüge, denn sie ist der Wahrheit unseres Glaubens, der Wahrheit unseres Menschseins entgegengesetzt. Die Gewalt zerstört das, was sie zu schützen vorgibt: die Würde, das Leben, die Freiheit der Menschen“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache bei Drogheda, Irland (29. September 1979), 9: AAS 71 (1979) 1081; vgl. Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 37: AAS 68 (1976) 29.</ref>

Auch die gegenwärtige Welt braucht das Zeugnis unbewaffneter Propheten, die in jeder Epoche leider immer wieder zur Zielscheibe von Spott und Hohn werden:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften (12. November 1983), 5: AAS 76 (1984) 398–399.</ref> „Wer auf gewaltsame und blutige Handlungen verzichtet und zur Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte Mittel einsetzt, die auch den Schwächsten zur Verfügung stehen, legt Zeugnis ab für die Liebe des Evangeliums, sofern dabei nicht die Rechte und Pflichten der anderen Menschen und der Gesellschaft verletzt werden. Er bezeugt zu Recht, welch schwerwiegende physische und moralische Gefahren der Einsatz gewaltsamer Mittel mit sich bringt, der immer Zerstörungen und Tote hinterlässt“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2306.</ref>

III. DAS SCHEITERN DES FRIEDENS: DER KRIEG

497 Das Lehramt verurteilt „die Unmenschlichkeit des Krieges“<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 77: AAS 58 (1966) 1100; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2307–2317.</ref> und fordert, diesen mit ganz anderen Augen zu sehen,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 80: AAS 58 (1966) 1103–1104.</ref> denn es widerstrebt „in unserem Zeitalter, das sich rühmt, Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit zu betrachten“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 291.</ref> Der Krieg ist eine „Geißel“<ref> Leo XIII., Ansprache an das Kardinalskollegium, Acta Leonis XIII, 19 (1899) 270–272.</ref> und niemals ein geeignetes Mittel, um die Probleme zu lösen, die zwischen den Nationen aufkommen: „Er war es nie und wird es nie sein“,<ref> Johannes Paul II., Ansprache bei der Begegnung mit den Mitarbeitern des Vikariats von Rom (17. Januar 1991): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XIV, 1 (1991) 132; vgl. Id., Ansprache an die Bischöfe des lateinischen Ritus der arabischen Welt (1. Oktober 1990), 4: AAS 83 (1991) 475.</ref> weil er nur neue und noch komplexere Konflikte hervorbringt.<ref> Vgl. Paul VI., Ansprache an die Kardinäle (24. Juni 1965): AAS 57 (1965) 643–644.</ref> Wenn er ausbricht, wird der Krieg ein „sinnloses Blutbad“,<ref> Benedikt XV., Appell an die Oberhäupter der Krieg führenden Völker (1. August 1917): AAS 9 (1917) 423.</ref> ein „Abenteuer ohne Wiederkehr“,<ref> Johannes Paul II., Friedensgebet bei der Generalaudienz (16. Januar 1991): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XIV, 1 (1991) 121.</ref> das der Gegenwart schadet und die Zukunft der Menschheit gefährdet: „Nichts ist verloren mit einem Frieden, aber alles kann es sein mit einem Kriege“.<ref> Pius XII., Rundfunkbotschaft (24. August 1939): AAS 31 (1939) 334; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1993, 4: AAS 85 (1993) 433–434; vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 288.</ref> Die durch einen bewaffneten Konflikt verursachten Schäden sind nicht nur materieller, sondern auch moralischer Natur.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 79: AAS 58 (1966) 1102–1103.</ref> Der Krieg ist definitiv der „Niedergang jedes wahren Humanismus“,<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 11: AAS 91 (1999) 385.</ref> „er ist immer eine Niederlage der Menschheit“:<ref> Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (13. Januar 2003), 4: AAS 95 (2003) 323.</ref> „Nie wieder die einen gegen die anderen, nie wieder, niemals! … Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg!“.<ref> Paul VI., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen (4. Oktober 1965), 5: AAS 57 (1965) 881.</ref>

498 Die Suche nach Möglichkeiten der Konfliktlösung, die eine Alternative zum Krieg darstellen, ist heute von dramatischer Dringlichkeit, da „die schreckliche Gewalt der Vernichtungsmittel, die selbst den mittleren und kleinen Mächten zugänglich sind, und die immer engere Verflechtung zwischen den Völkern der ganzen Erde es sehr schwierig oder praktisch unmöglich machen, die Auswirkungen eines Konfliktes zu begrenzen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 51: AAS 83 (1991) 857.</ref> Damit ist es von wesentlicher Bedeutung, die Ursachen zu erforschen, die einen kriegerischen Konflikt hervorbringen, und zwar vor allem die, die mit Strukturen der Ungerechtigkeit, des Elends und der Ausbeutung verbunden sind, in die man eingreifen muss, um sie letztendlich zu beseitigen: „Darum heißt der andere Name für Frieden Entwicklung. Genauso wie es die gemeinsame Verantwortung gibt, den Krieg zu verhindern, so gibt es die gemeinsame Verantwortung, die Entwicklung zu fördern“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 52: AAS 83 (1991) 858.</ref>

499 Die Staaten verfügen nicht immer über die geeigneten Mittel, um wirkungsvoll für ihre eigene Verteidigung zu sorgen: Daher rührt die Notwendigkeit und die Bedeutung der internationalen und regionalen Organisationen, die in der Lage sein müssen, gemeinsam Konflikten zu begegnen und den Frieden zu fördern, indem sie Beziehungen des wechselseitigen Vertrauens herstellen, die geeignet sind, den Weg des Krieges ungangbar zu machen:<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 291.</ref> „Trotz allem ist zu hoffen, die Völker werden durch freundschaftliche wechselseitige Beziehungen und Verhandlungen die Bande der menschlichen Natur besser anerkennen, durch die sie aneinandergeknüpft sind; sie werden ferner deutlicher einsehen, dass es zu den hauptsächlichen Pflichten der menschlichen Natur gehört, darauf hinzuwirken, dass die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen und den Völkern nicht der Furcht, sondern der Liebe gehorchen sollen, denn der Liebe ist es vor allem eigen, die Menschen zu jener aufrichtigen, äußeren und inneren Verbundenheit zu führen, aus der für sie so viele Güter hervorzusprießen vermögen“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 291.</ref>

a) Die rechtmäßige Verteidigung

500 Ein Angriffskrieg ist in sich unmoralisch. In dem tragischen Fall seines Ausbruchs haben die Verantwortlichen des angegriffenen Staates das Recht und die Pflicht, die Verteidigung auch mit Waffengewalt zu organisieren.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2265.</ref> Die Anwendung von Gewalt ist nur dann zulässig, wenn einige strenge Bedingungen erfüllt sind: „– Der Schaden, der der Nation oder der Völkergemeinschaft durch den Angreifer zugefügt wird, muss sicher feststehen, schwerwiegend und von Dauer sein. – Alle anderen Mittel, dem Schaden ein Ende zu machen, müssen sich als undurchführbar oder wirkungslos erwiesen haben. – Es muss ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestehen. – Der Gebrauch von Waffen darf nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel. Beim Urteil darüber, ob diese Bedingung erfüllt ist, ist sorgfältig auf die gewaltige Zerstörungskraft der modernen Waffen zu achten. Dies sind die herkömmlichen Elemente, die in der so genannten Lehre vom »gerechten Krieg« angeführt werden. Die Beurteilung, ob alle diese Voraussetzungen für die sittliche Erlaubtheit eines Verteidigungskrieges vorliegen, kommt dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls betraut sind“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2309.</ref>

Wenn die Verantwortung für das Gemeinwohl den Besitz von Mitteln rechtfertigt, die ausreichen, um das Recht auf Verteidigung wahrzunehmen, bleiben die Staaten dennoch verpflichtet, alles Menschenmögliche zu tun, „um die Voraussetzungen des Friedens nicht nur auf dem eigenen Territorium, sondern überall auf der Welt zu garantieren“.<ref> Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Der internationale Waffenhandel. Eine ethische Reflexion (21. Juni 1994), I, 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 121, S. 14.</ref> Man darf nicht vergessen, dass „der Einsatz militärischer Mittel, um ein Volk rechtmäßig zu verteidigen, (…) nichts zu tun [hat] mit dem Bestreben, andere Nationen zu unterjochen. Das Kriegspotential legitimiert auch nicht jeden militärischen oder politischen Gebrauch. Auch wird nicht deshalb, weil ein Krieg unglücklicherweise ausgebrochen ist, damit nun jedes Kampfmittel zwischen den gegnerischen Parteien erlaubt“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 79: AAS 58 (1966) 1103.</ref>

501 Die Charta der Vereinten Nationen, die aus der Tragödie des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen und dazu bestimmt ist, die künftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, basiert auf dem allgemeinen Verbot, Auseinandersetzungen zwischen Staaten mit Gewalt zu lösen, nimmt davon aber zwei Fälle aus: die rechtmäßige Verteidigung und die vom Sicherheitsrat im Rahmen seiner Verantwortlichkeit für die Wahrung des Friedens ergriffenen Maßnahmen. In jedem Fall muss das Recht auf Verteidigung innerhalb der „traditionellen Grenzen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit“<ref>Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 6: AAS 96 (2004) 117.</ref> wahrgenommen werden. Eine präventive Kriegshandlung, die ohne zwingende Beweise für einen bevorstehenden Angriff ausgeführt wird, wirft zwangsläufig schwerwiegende moralische und rechtliche Fragen auf. Deshalb kann nur eine Entscheidung der zuständigen Organe auf der Basis eingehender Prüfungen und fundierter Begründungen den Einsatz von Waffengewalt international legitimieren, indem sie bestimmte Situationen als eine Gefahr für den Frieden definiert und ein Eingreifen in den Herrschaftsbereich eines Staates autorisiert.

b) Den Frieden verteidigen

502 Die Erfordernisse einer rechtmäßigen Verteidigung legitimieren in den Staaten die Existenz von Streitkräften, deren Handeln in den Dienst des Friedens gestellt werden muss: Wenn sie in dieser Haltung über die Sicherheit und Freiheit eines Landes wachen, stellen sie einen wirklichen Beitrag zum Frieden dar.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 79: AAS 58 (1966) 1102–1103; Katechismus der Katholischen Kirche, 2310.</ref> Jede Person, die in den Streitkräften ihren Dienst leistet, ist konkret dazu aufgerufen, das Gute, die Wahrheit und die Gerechtigkeit in der Welt zu verteidigen; und nicht wenige haben vor diesem Hintergrund ihr Leben für diese Werte und für die Verteidigung Unschuldiger geopfert. Die wachsende Zahl von Angehörigen des Militärs, die in multinationalen Streitkräften im Rahmen der „humanitären und der Friedensmissionen“ der Vereinten Nationen im Einsatz sind, spricht für sich.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Militärbischöfe (11. März 1994), 4: AAS 87 (1995) 74.</ref>

503 Jedes Mitglied der Streitkräfte ist moralisch verpflichtet, sich Befehlen zu widersetzen, die zu Verbrechen gegen das Völkerrecht und seine allgemeingültigen Grundsätze aufrufen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2313.</ref> Die Angehörigen des Militärs bleiben voll und ganz für die Taten verantwortlich, mit denen sie das Recht der Personen oder der Völker oder die Normen des internationalen humanitären Rechts verletzen. Solche Taten lassen sich nicht mit dem Gehorsam gegenüber den Befehlen von Vorgesetzten rechtfertigen.

Die Wehrdienstverweigerer, die es grundsätzlich ablehnen, den Militärdienst im Rahmen einer bestehenden Wehrpflicht zu leisten, weil ihr Gewissen ihnen jegliche Gewaltanwendung oder die Beteiligung an einem bestimmten Konflikt verbietet, müssen dazu bereit sein, andere Arten von Dienst zu leisten: Es scheint „angebracht, dass Gesetze für die in humaner Weise Vorsorge treffen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern, vorausgesetzt, dass sie zu einer anderen Form des Dienstes an der menschlichen Gemeinschaft bereit sind“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 79: AAS 58 (1966) 1103; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2311.</ref>

c) Die Pflicht, Unschuldige zu beschützen

504 Das Recht auf die Anwendung von Gewalt für Ziele einer rechtmäßigen Verteidigung steht mit der Pflicht im Zusammenhang, die unschuldigen Opfer, die sich nicht gegen den Angriff verteidigen können, zu beschützen und ihnen beizustehen. In den Konflikten des modernen Zeitalters, die häufig innerhalb ein und desselben Staates ausgetragen werden, müssen die Satzungen des internationalen humanitären Rechts uneingeschränkt beachtet werden. Viel zu oft ist die Zivilbevölkerung betroffen, ja zuweilen besteht darin sogar ein Kriegsziel. In manchen Fällen wird sie auf brutale Weise niedergemetzelt oder unter dem inakzeptablen Vorwand einer „ethnischen Säuberung“<ref> Johannes Paul II., Angelusgebet (7. März 1993), 4: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XVI, 1 (1993) 589; Id., Ansprache an den Ministerrat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) (30. November 1993), 4: AAS 86 (1994) 751.</ref> im Zuge von Zwangsumsiedlungen aus ihren eigenen Häusern und von ihrem eigenen Land vertrieben. Unter diesen tragischen Umständen ist es notwendig, dass die humanitären Hilfsleistungen die Zivilbevölkerung erreichen und auf keinen Fall dazu benutzt werden, die Menschen, denen sie zugute kommen, zu beeinf lussen: Das Wohl der menschlichen Person muss über den Interessen der Konfliktparteien stehen.

505 Das Prinzip der Humanität, das in das Bewusstsein jeder Person und jedes Volkes hineingeschrieben ist, beinhaltet die Verpflichtung, die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen des Krieges zu schützen: „Jenes durch das internationale humanitäre Recht garantierte Mindestmaß an Schutz der Würde jedes Menschen wird allzu oft im Namen militärischer oder politischer Sachzwänge verletzt, die niemals über den Wert der menschlichen Person gestellt werden dürften. Heute wird man sich der Notwendigkeit bewusst, einen neuen Konsens hinsichtlich der humanitären Prinzipien zu finden und ihre Grundlagen zu verstärken, um zu verhindern, dass Grausamkeiten und Missbräuche sich wiederholen“.<ref> Johannes Paul II., Grußworte an die italienischsprachigen Pilger während der Generalaudienz (11. August 1999): L’Osservatore Romano, 12. August 1999, S. 5.</ref>

Eine besondere Gruppe von Kriegsopfern stellen die Flüchtlinge dar, die durch die Kampfhandlungen dazu gezwungen werden, die Orte, an denen sie normalerweise leben, zu verlassen und sogar außerhalb ihres Heimatlandes Zuflucht zu suchen. Die Kirche ist ihnen nicht nur mit seelsorglicher und materieller Hilfe nahe, sondern auch in dem Bemühen, ihre Menschenwürde zu verteidigen: „Die Sorge um die Flüchtlinge muss uns anspornen, die Menschenrechte, die universell anerkannt sind, neu zu bekräftigen und zu unterstreichen und zu fordern, dass sie auch für die Flüchtlinge wirksam in die Tat umgesetzt werden“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft für die Fastenzeit 1990, 3: AAS 82 (1990) 802.</ref>

506 Die Versuche, ganze nationale, ethnische, religiöse oder sprachliche Bevölkerungsgruppen auszulöschen, sind Verbrechen gegen Gott und gegen die Menschheit, und diejenigen, die für solche Verbrechen verantwortlich sind, müssen gerichtlich hierfür zur Verantwortung gezogen werden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999,7:AAS 91 (1999) 382; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 7: AAS 92 (2000) 362.</ref> Das 20. Jahrhundert ist in tragischer Weise von verschiedenen Völkermorden gekennzeichnet: dem an Armeniern und Ukrainern, dem an den Kambodschanern und denen in Afrika und auf dem Balkan. Sie alle werden an Grausamkeit noch übertroffen von der Shoah, dem Holocaust des jüdischen Volkes: „Die Tage der Shoah haben eine wahre Nacht der Geschichte angezeigt und unerhörte Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen verzeichnet“.<ref> Johannes Paul II., Regina coeli (18. April 1993), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XVI, 1 (1993) 922; vgl. Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden, Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah (16. März 1998), Der Apostolische Stuhl 1998, 1231–1239.</ref>

Die internationale Gemeinschaft hat als Ganzes die moralische Verpflichtung, zugunsten jener Gruppen einzugreifen, deren Überleben gefährdet ist oder deren Grundrechte in massiver Weise verletzt werden. Die Staaten als Teile einer internationalen Gemeinschaft können nicht gleichgültig bleiben, im Gegenteil: Wenn alle anderen verfügbaren Mittel sich als wirkungslos erweisen, ist es „legitim und sogar geboten, sich mit konkreten Initiativen für die Entwaffnung des Aggressors einzusetzen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 11: AAS 92 (2000) 363.</ref> Das Prinzip der nationalen Souveränität darf nicht als Grund angeführt werden, um ein Eingreifen zur Verteidigung der Opfer zu unterbinden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (16. Januar 1993), 13: AAS 85 (1993) 1247–1248; Id., Ansprache an die internationale Ernährungskonferenz, veranstaltet von der Organisation der Vereinten Nationen für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (5. Dezember 1992), 3: AAS 85 (1993) 922–923; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 9: AAS 96 (2004) 120.</ref> Die ergriffenen Maßnahmen müssen in uneingeschränktem Respekt vor dem internationalen Recht und dem grundlegenden Prinzip von der Gleichheit der Staaten untereinander durchgeführt werden.

Die internationale Gemeinschaft hat zudem einen Internationalen Strafgerichtshof eingerichtet, um diejenigen zu bestrafen, die für besonders schwerwiegende Taten verantwortlich sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verbrechen des Angriffskrieges. Das Lehramt hat es nicht versäumt, diese Initiative wiederholt zu befürworten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Angelusgebet (14. Juni 1998): Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXI, 1 (1998) 1376; Id., Ansprache an die Teilnehmer des vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden veranstalteten Weltkongresses über die Menschenrechte (4. Juli 1998), 5: L’Osservatore Romano, 5. Juli 1998, S. 5; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999,7: AAS91 (1999) 382; vgl. auch Pius XII., Ansprache auf dem 6. internationalen Strafrechtskongress (3. Oktober 1953): AAS 45 (1953) 730–744.</ref>

d) Maßnahmen gegen diejenigen, die den Frieden bedrohen

507 In der von der derzeitigen internationalen Ordnung vorgesehenen Fassung dienen Sanktionen dazu, das Verhalten der Regierung eines Landes zu korrigieren, die die Regeln des friedlichen und geordneten internationalen Zusammenlebens verletzt oder ihrer Bevölkerung gegenüber schwere Formen der Unterdrückung ausübt. Die Ziele der Sanktionen müssen in unmissverständlicher Weise formuliert und die ergriffenen Maßnahmen müssen regelmäßig von den zuständigen Organen der internationalen Gemeinschaft überprüft werden, um ihre Wirksamkeit und ihre tatsächlichen Folgen für die Zivilbevölkerung objektiv zu bewerten. Das eigentliche Ziel dieser Maßnahmen besteht darin, den Weg für Verhandlungen und Gespräche zu ebnen. Die Sanktionen dürfen niemals dazu verwendet werden, eine ganze Bevölkerung direkt zu bestrafen: Es ist nicht zulässig, dass ganze Bevölkerungen und insbesondere ihre wehrlosesten Mitglieder unter den Sanktionen zu leiden haben. Vor allem die wirtschaftlichen Sanktionen sind ein Mittel, das nur mit großer Besonnenheit eingesetzt werden darf und strengen rechtlichen und ethischen Kriterien unterliegen muss.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (9. Januar 1995), 7: AAS 87 (1995) 849.</ref> Das Wirtschaftsembargo muss zeitlich begrenzt sein und kann nicht gerechtfertigt werden, wenn deutlich wird, dass alle unterschiedslos von seinen Auswirkungen betroffen sind.

e) Die Abrüstung

508 Die Soziallehre schlägt das Ziel einer „allgemeinen, ausgewogenen und kontrollierten Abrüstung“ vor.<ref> Johannes Paul II., Botschaft an die Vereinten Nationen (14. Oktober 1985), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, VIII, 2 (1985) 988.</ref> Der enorme Zuwachs an Waffen stellt eine erhebliche Bedrohung der Stabilität und des Friedens dar. Das Prinzip der Suffizienz, demzufolge jeder Staat nur die zu seiner rechtmäßigen Verteidigung erforderlichen Mittel besitzen darf, muss sowohl von den Staaten, die Waffen kaufen, als auch von denjenigen beachtet werden, die Waffen herstellen oder liefern.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Der internationale Waffenhandel. Eine ethische Reflexion (21. Juni 1994), I, 9–11, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 121, S. 15–16.</ref> Jede maßlose Anhäufung von Waffen oder der allgemeine Handel mit ihnen ist moralisch nicht zu rechtfertigen; solche Erscheinungen müssen auch vor dem Hintergrund der internationalen Regelung im Hinblick auf die Nichtweitergabe, die Herstellung, den Verkauf und die Verwendung verschiedener Waffensysteme beurteilt werden. Die Waffen dürfen niemals mit anderen Gütern gleichgesetzt werden, die weltweit oder auf inländischen Märkten ge- und verkauft werden.<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2316; Johannes Paul II., Ansprache an die Welt der Arbeit, Verona, Italien (17. April 1988), 6: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,XI, 1 (1988) 940.</ref>

Das Lehramt hat überdies eine moralische Bewertung zum Phänomen der Abschreckung formuliert: „Die Anhäufung von Waffen erscheint vielen als ein paradoxerweise geeignetes Vorgehen, mögliche Gegner vom Krieg abzuhalten. Sie sehen darin das wirksamste Mittel, um den Frieden zwischen den Nationen zu sichern. Gegenüber einer solchen Abschreckung sind schwere moralische Vorbehalte anzubringen. Der Rüstungswettlauf sichert den Frieden nicht. Statt die Kriegsursachen zu beseitigen, droht er diese zu verschlimmern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2315.</ref> Die Politik der nuklearen Abschreckung, von der die Zeit des so genannten Kalten Krieges gekennzeichnet war, muss von konkreten Abrüstungsmaßnahmen auf der Grundlage des Dialogs und multilateraler Verhandlungen abgelöst werden.

509 Die – biologischen, chemischen und nuklearen – Massenvernichtungswaffen stellen eine besonders schwere Bedrohung dar; wer über sie verfügt, hat eine große Verantwortung vor Gott und der ganzen Menschheit.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 80: AAS 58 (1966) 1104; Katechismus der Katholischen Kirche, 2314; Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1986, 2: AAS 78 (1986) 280.</ref> Der Grundsatz der Nichtweitergabe von Atomwaffen, die Maßnahmen der nuklearen Abrüstung und das Verbot von Atomwaffentests sind eng miteinander verknüpfte Ziele, die durch wirkungsvolle Kontrollen auf internationaler Ebene binnen kürzester Zeit verwirklicht werden müssen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (13. Januar 1996), 7: AAS 88 (1996) 767–768.</ref> Das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Anhäufung und des Einsatzes chemischer und biologischer Waffen und die Vorkehrungen zu ihrer Zerstörung vervollständigen den Rahmen der internationalen Normen zur Ächtung dieser verheerenden Waffen,<ref> Der Heilige Stuhl hat Wert darauf gelegt, die rechtlichen Maßnahmen bezüglich der nuklearen, biologischen und chemischen Waffen mitzutragen und auf diese Weise die Initiativen der internationalen Gemeinschaft zu unterstützen.</ref> deren Einsatz vom Lehramt ausdrücklich abgelehnt wird: „Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 80: AAS 58 (1966) 1104.</ref>

510 Die Abrüstung muss sich auch auf das Verbot von Waffen erstrecken, die übermäßige traumatische Auswirkungen haben oder unterschiedslos jeden treffen, sowie auf das Verbot von Antipersonenminen, kleinen Sprengkörpern von unmenschlicher Heimtücke, die auch noch lange nach dem Ende der Feindseligkeiten Schaden anrichten: Die Staaten, die sie produzieren, mit ihnen handeln oder sie noch immer einsetzen, sind verantwortlich, wenn sich die restlose Beseitigung dieser todbringenden Geräte erheblich verzögert.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 11: AAS 91 (1999) 385–386.</ref> Die internationale Gemeinschaft muss sich weiterhin für die Minenbeseitigung einsetzen und auch in technischer Hinsicht wirkungsvoll mit den Ländern zusammenarbeiten, die nicht über die geeigneten Mittel verfügen, die so dringende Entminung ihrer Gebiete durchzuführen, und die nicht in der Lage sind, den Minenopfern angemessenen Beistand zu leisten.

511 Auch im Hinblick auf die Kontrolle der Herstellung, des Vertriebs, des Imports und des Exports von leichten und individuellen Waffen, die die Anwendung von Gewalt in vielen Fällen erleichtern, sind geeignete Maßnahmen erforderlich. Der Vertrieb und der Handel mit solchen Waffen stellen eine ernsthafte Bedrohung des Friedens dar: Sie kommen zunehmend in nicht internationalen Konflikten zum Einsatz und fordern immer mehr Todesopfer; ihre Verfügbarkeit vergrößert das Risiko neuer Konflikte und verschärft die noch bestehenden. Die Haltung der Staaten, die den internationalen Handel mit schweren Waffen streng kontrollieren, während sie den Handel mit leichten und individuellen Waffen nie oder nur selten einschränken, ist in ihrer Widersprüchlichkeit nicht zu akzeptieren. Es ist unerlässlich und dringend erforderlich, dass die Regierungen geeignete Regeln befolgen, um die Herstellung, die Anhäufung, den Verkauf und den Handel mit solchen Waffen zu kontrollieren<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 11: AAS 91 (1999) 385–386.</ref> und ihre zunehmende Verbreitung insbesondere unter kämpfenden Gruppen zu unterbinden, die nicht den Streitkräften eines Staates angehören.

512 Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen als Soldaten in bewaffneten Konflikten – ungeachtet der Tatsache, dass ihre Jugend eine Rekrutierung gar nicht zulässt – muss verurteilt werden. Sie werden mit Gewalt gezwungen zu kämpfen oder entscheiden sich aus eigenem Antrieb dazu, ohne sich der Folgen voll und ganz bewusst zu sein. Diesen Kindern wird nicht nur die ihnen zustehende Bildung und Erziehung und ihre normale Kindheit vorenthalten, sie werden außerdem dazu abgerichtet, zu töten: All das sind Verbrechen, die nicht geduldet werden können. Ihr Einsatz in Streitkräften jedweder Art muss gestoppt werden; und zugleich muss jede erdenkliche Hilfe für die Betreuung, Erziehung und Rehabilitierung derer geleistet werden, die an Kampfhandlungen teilgenommen haben.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 11: AAS 91 (1999) 385–386.</ref>

f) Die Verurteilung des Terrorismus

513 Der Terrorismus ist eine der brutalsten Formen von Gewalt, die die internationale Gemeinschaft in der heutigen Zeit erschüttern: Er sät Hass, Tod und den Wunsch nach Vergeltung und Rache.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2297.</ref> Aus einer nur für einige extremistische Organisationen typischen, auf die Zerstörung von Dingen und die Tötung von Personen ausgerichteten Strategie des Umsturzes hat er sich in ein undurchsichtiges Netz politischer Mittäterschaften verwandelt, bedient sich hoch entwickelter technischer Mittel, kann häufig auf gewaltige finanzielle Ressourcen zurückgreifen und erarbeitet Vorgehensweisen im großen Maßstab, die in den zufälligen Opfern terroristischer Aktionen völlig unschuldige Menschen treffen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2002,4: AAS 94 (2002) 134.</ref> Zielscheibe terroristischer Angriffe sind im Allgemeinen die Schauplätze des alltäglichen Lebens und keine militärischen Ziele im Rahmen eines erklärten Krieges. Der Terrorismus schlägt im Dunkeln zu und agiert außerhalb jener Regeln – beispielsweise des internationalen humanitären Rechts –, mit denen die Menschen versucht haben, ihre Konflikte einzudämmen: „In vielen Fällen gibt der Einsatz terroristischer Praktiken der Kriegführung eine neue Gestalt“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 79: AAS 58 (1966) 1102.</ref> Die möglichen Ursachen einer so inakzeptablen Form, Ansprüche zu vertreten, dürfen jedoch auch nicht vernachlässigt werden. Der Kampf gegen den Terrorismus setzt die moralische Verpflichtung voraus, einen Beitrag zur Schaffung von Bedingungen zu leisten, in denen dieser nicht entstehen oder sich entfalten kann.

514 Der Terrorismus muss in allerschärfster Form verurteilt werden. Er bringt eine totale Verachtung für das menschliche Leben zum Ausdruck und ist durch nichts zu rechtfertigen, weil der Mensch immer der Zweck und nie das Mittel ist. Terroristische Akte verletzen die menschliche Würde zutiefst und stellen einen Angriff gegen die gesamte Menschheit dar: „Es besteht daher ein Recht auf Verteidigung gegen den Terrorismus“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2002, 5: AAS 94 (2002) 134.</ref> Dieses Recht darf jedoch nicht in einem moralischen und rechtlichen Vakuum ausgeübt werden, weil der Kampf gegen den Terrorismus im Respekt vor den Menschenrechten und den rechtsstaatlichen Prinzipien geführt werden muss.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004,8: AAS 96 (2004) 119.</ref> Die Identifizierung der Schuldigen muss mit ausreichenden Beweisen untermauert werden, weil die strafrechtliche Verantwortung immer persönlich ist und daher nicht auf die Religionsgemeinschaften, Nationen oder ethnischen Gruppen ausgedehnt werden kann, denen die Terroristen angehören. Die internationale Zusammenarbeit gegen die terroristische Aktivität darf sich „nicht bloß in Unterdrückungs- und Strafaktionen erschöpfen. Es ist unbedingt erforderlich, dass der – gleichwohl notwendige – Rückgriff auf Gewalt begleitet ist von einer mutigen, nüchternen Analyse der Beweggründe, die den terroristischen Anschlägen zugrunde liegen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 8: AAS 96 (2004) 119.</ref> Ein besonderer Einsatz ist zudem auch „auf der politischen und pädagogischen Ebene“<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 8: AAS 96 (2004) 119.</ref> erforderlich, um die Probleme, die in manchen dramatischen Situationen dem Terrorismus Nahrung geben können, mit Mut und Entschlossenheit zu lösen: „Denn die Anwerbung von Terroristen wird in einem sozialen Umfeld erleichtert, wo Rechte verletzt und Ungerechtigkeiten allzu lange geduldet werden“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2002, 5: AAS 94 (2002) 134.</ref>

515 Es ist eine Entweihung und Gotteslästerung, sich im Namen Gottes zu Terroristen zu erklären:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Vertreter der Welt der Kultur, der Kunst und der Wissenschaft, Astana, Kasachstan (24. September 2001), 5: L’Osservatore Romano, 24./25. September 2001, S. 16.</ref> Auf diese Weise instrumentalisiert man nicht nur den Menschen, sondern auch Gott, da man mit dem Anspruch auftritt, seine Wahrheit ganz zu besitzen, statt danach zu streben, sich von ihr besitzen zu lassen. Wenn man diejenigen als „Märtyrer“ bezeichnet, die im Vollzug eines terroristischen Aktes sterben, verzerrt man damit den Begriff des Martyriums, der für das Bekenntnis dessen steht, der sich töten lässt, um nicht auf Gott und seine Liebe zu verzichten, nicht aber für die Tat dessen, der im Namen Gottes tötet.

Keine Religion kann den Terrorismus dulden, geschweige denn predigen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2002,7: AAS 94 (2002) 135–136.</ref> Die Religionen sind vielmehr dazu verpflichtet, zusammenzuarbeiten, um die Ursachen des Terrorismus zu beseitigen und die Freundschaft zwischen den Völkern zu fördern.<ref> Vgl. „Dekalog“ von Assisi für den Frieden, Nr. 1, in: Johannes Paul II., Schreiben an die Staats- und Regierungschefs der Welt (24. Februar 2002): L’Osservatore Romano, 4./5. März 2002, S. 1.</ref>

IV. DER BEITRAG DER KIRCHE ZUM FRIEDEN

516 Die Förderung des Friedens in der Welt ist ein wesentlicher Bestandteil der Sendung, mit der die Kirche das Erlösungswerk Christi auf Erden fortsetzt. Denn die Kirche ist ein „Sakrament“ in Christus, „das heißt Zeichen und Werkzeug des Friedens in der Welt und für die Welt“.<ref>Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 20: AAS 92 (2000) 369.</ref> Die Förderung des wahren Friedens ist Ausdruck des christlichen Glaubens an die Liebe, die Gott für jeden Menschen hegt. Aus dem befreienden Glauben an die Liebe Gottes entsteht ein neues Weltbild und eine neue Art, auf den anderen zuzugehen, ob es sich nun um eine einzelne Person oder um ein ganzes Volk handelt: Es ist ein Glaube, der das Leben verändert und erneuert und von dem Frieden inspiriert ist, den Christus seinen Jüngern hinterlassen hat (vgl. Joh 14, 27). Einzig von diesem Glauben bewegt, will die Kirche die Einheit der Christen und eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Gläubigen der anderen Religionen voranbringen. Die religiösen Unterschiede können und dürfen keine Konfliktursache sein: Das gemeinsame Friedensstreben aller Gläubigen ist im Gegenteil ein starker Faktor der Einheit zwischen den Völkern.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1988,3: AAS 80 (1988) 282–284.</ref> Die Kirche appelliert an Personen, Völker, Staaten und Nationen, sich an ihrem Einsatz für die Wiederherstellung und Festigung des Friedens zu beteiligen, indem sie insbesondere die wichtige Rolle des internationalen Rechts betont.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 9: AAS 96 (2004) 120.</ref>

517 Die Kirche lehrt, dass ein wahrer Friede nur durch Vergebung und Versöhnung möglich ist.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2002,9: AAS 94 (2002) 136–137; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 10: AAS 96 (2004) 121.</ref> Es ist nicht leicht, angesichts der Folgen von Kriegen und Konflikten zu vergeben, weil die Gewalt besonders dann, wenn sie „bis in die Abgründe der Unmenschlichkeit und Trostlosigkeit“<ref> Johannes Paul II., Brief Zum fünfzigjährigen Gedenken des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, 2: AAS 82 (1990) 51.</ref> hineinführt, immer eine schwere Bürde des Schmerzes hinterlässt. Diese kann nur durch ein eingehendes und gemeinsames, mutiges und loyales Nachdenken der Konfliktparteien erleichtert werden, das sie befähigt, sich den Schwierigkeiten der Gegenwart in einer durch Reue geläuterten Haltung zu stellen. Die Last der Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf, kann nur angenommen werden, wenn auf beiden Seiten Verzeihung geschenkt und empfangen wird: Dieser Weg ist lang und schwierig, aber nicht unmöglich.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1997, 3 und 4: AAS 89 (1997) 193.</ref>

518 Die wechselseitige Vergebung darf die Forderungen der Gerechtigkeit nicht außer Kraft setzen und ebenso wenig den Weg zur Wahrheit verschließen: Gerechtigkeit und Wahrheit stellen im Gegenteil die konkreten Voraussetzungen der Versöhnung dar. Als zweckmäßig erweisen sich hier die Initiativen zur Einrichtung internationaler Rechtsorgane. Solche Organe stützen sich auf den Grundsatz von der universalen Gerichtsbarkeit und auf geeignete Verfahrensweisen, die sowohl die Rechte der Opfer als auch die der Beschuldigten respektieren, und sie können die Wahrheit über die Verbrechen ans Licht bringen, die während bewaffneter Konflikte verübt worden sind.<ref> Vgl. Pius XII., Ansprache auf dem 6. internationalen Strafrechtskongress (3. Oktober 1953): AAS 65 (1953) 730–744; Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (13. Januar 1997), 4: AAS 89 (1997) 474–475; Id., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 7: AAS 91 (1999) 382.</ref> Dennoch ist es notwendig, über die Feststellung aktiver oder fahrlässiger krimineller Verhaltensweisen und über die Entscheidungen bezüglich der Wiedergutmachungsmaßnahmen hinauszugehen, um im Zeichen der Versöhnung zu einer Wiederherstellung von Beziehungen der gegenseitigen Annahme zwischen den getrennten Völkern zu gelangen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1997,3.4.6:AAS 89 (1997) 193. 196–197.</ref> Es ist überdies notwendig, die Achtung vor dem Recht auf Frieden zu stärken: Dieses Recht leistet „dem Auf bau einer Gesellschaft Vorschub (…), in der im Hinblick auf das Gemeinwohl Beziehungen der Zusammenarbeit anstelle von Machtkämpfen treten“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1999, 11: AAS 91 (1999) 385.</ref>

519 Die Kirche kämpft mit dem Gebet für den Frieden. Das Gebet öffnet das Herz nicht nur für eine tiefe Beziehung zu Gott, sondern auch für die Begegnung mit dem Nächsten im Zeichen von Respekt, Vertrauen, Verständnis, Wertschätzung und Liebe.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1992,4: AAS 84 (1999) 323–324.</ref> Das Gebet ermutigt und stärkt alle „wahren Freunde des Friedens“,<ref> Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1968: AAS 59 (1967) 1098.</ref> die versuchen, ihn in ihren verschiedenen Lebenssituationen zu verbreiten. Das liturgische Gebet ist „der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“;<ref> II. Vatikanisches Konzil, Konst. Sacrosanctum Concilium, 10: AAS 56 (1964) 102.</ref> insbesondere die Eucharistiefeier, „Quelle und (…) Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 11: AAS 57 (1965) 15.</ref> ist ein unerschöpflicher Born jedes echten christlichen Einsatzes für den Frieden.<ref> Die Eucharistiefeier beginnt mit dem Friedensgruß, dem Gruß Christi an seine Jünger. Das Gloria ist eine Bitte um Frieden für das gesamte Volk Gottes auf Erden. Das Friedensgebet im Kanon der Heiligen Messe drückt sich in einem Appell für den Frieden und die Einheit der Kirche aus; für den Frieden der gesamten Familie Gottes in diesem Leben; für die Ausbreitung des Friedens und des Heils in dieser Welt. Während des Kommunionritus betet die Kirche, dass der Herr „Frieden in unseren Tagen“ schenken möge und erinnert in der Bitte um „Einheit und Frieden“ an das Geschenk Christi, den Frieden seines Reiches. Außerdem bitten die Gläubigen, dass das Lamm Gottes die Sünden der Welt hinweg nehmen und ihnen seinen Frieden schenken möge. Vor der Kommunion geben die Gläubigen einander ein Zeichen des Friedens; zum Abschluss der Eucharistiefeier werden die Gläubigen im Frieden Christi entlassen. Zahlreiche Gebete während der Heiligen Messe erflehen den Frieden in der Welt und nennen ihn zuweilen im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit, wie beispielsweise das Eröffnungsgebet des achten Sonntags im Jahreskreis, in dem die Kirche Gott bittet, dass die Ereignisse in dieser Welt sich nach seinem Willen immer im Zeichen der Gerechtigkeit und des Friedens vollziehen mögen.</ref>

520 Die Weltfriedenstage sind Feiern von besonderer Intensität im Hinblick auf das Gebet um Frieden und den Einsatz für die Schaffung einer friedlichen Welt. Papst Paul VI. hat sie eingerichtet, um „am ersten Tag des bürgerlichen Jahres dem Gedanken und dem Willen zum Frieden eine besondere Feierlichkeit einzuräumen“.<ref> Paul VI., Botschaft zur Feier eines „Tages des Friedens“ 1968: AAS 59 (1967) 1100.</ref> Die päpstlichen Botschaften zu dieser jährlich wiederkehrenden Gelegenheit stellen eine reiche Quelle der Aktualisierung und Entfaltung der Soziallehre dar und zeigen das beständige seelsorgliche Wirken der Kirche zugunsten des Friedens: „Der Frieden hat nur Bestand durch jenen Frieden, der zwar nicht losgelöst ist von den Pflichten der Gerechtigkeit, der aber doch gespeist wird vom eigenen Opfer, von der Güte des Herzens, von der Barmherzigkeit und von der Liebe“.<ref> Paul VI., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1976: AAS 67 (1975) 671.</ref>

DRITTER TEIL

„Für die Kirche darf

die soziale Botschaft des Evangeliums
nicht als eine Theorie, sondern vor allem
als eine Grundlage und eine Motivierung
zum Handeln angesehen werden“.

(Centesimus annus, 57)

ZWÖLFTES KAPITEL: SOZIALLEHRE UND KIRCHLICHES HANDELN

I. DAS SEELSORGLICHE WIRKEN IM SOZIALEN BEREICH

a) Soziallehre und Inkulturation des Glaubens

521 hinsichtlich der Kultur und der gesellschaftlichen Wirklichkeit<ref> Vgl. Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997), 18, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 130, S. 29–30.</ref> leistet die Kirche mit ihrer eigenen Lehre einen Beitrag zum Auf bau der menschlichen Gemeinschaft, indem sie die soziale Bedeutung des Evangeliums aufzeigt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 11: AAS 83 (1991) 259–260.</ref> Am Ende des 19. Jahrhunderts hat sich das kirchliche Lehramt in organischer Weise mit den schwerwiegenden sozialen Fragen der Epoche auseinandergesetzt und damit der Kirche „ein bleibendes Beispiel“ gegeben. „Sie muss in bestimmten menschlichen Situationen, sei es auf individueller und sozialer, nationaler und internationaler Ebene, das Wort ergreifen. Dafür hat sie eine eigene Lehre, ein Lehrgebäude aufgestellt, das es ihr ermöglicht, die soziale Wirklichkeit zu analysieren, sie zu beurteilen und Richtlinien für eine gerechte Lösung der daraus entstehenden Probleme anzugeben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref> Dadurch, dass Leo XIII. in der Enzyklika „Rerum novarum“ zu der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit seiner Zeit Stellung nahm, „verlieh der Papst der Kirche gleichsam das »Statut des Bürgerrechtes« in der wechselvollen Wirklichkeit des öffentlichen Lebens der Menschen und der Staaten. Dies wurde in den späteren Jahren noch stärker bestätigt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 799.</ref>

522 Mit ihrer Soziallehre bietet die Kirche vor allem eine umfassende Sicht und ein vollständiges Verständnis des Menschen in seiner personalen und sozialen Dimension. Die christliche Anthropologie enthüllt die unverletzliche Würde jeder Person und integriert auf diese Weise die Wirklichkeiten der Arbeit, der Wirtschaft und der Politik in eine eigene Sichtweise, die die echten menschlichen Werte erhellt und inspiriert und das engagierte christliche Zeugnis in den vielfältigen Bereichen des persönlichen, kulturellen und sozialen Lebens unterstützt. Dank der „Erstlingsgabe des Geistes“ (Röm 8, 23) wird der Christ fähig, „das neue Gesetz der Liebe zu erfüllen (vgl. Röm 8, 1–11). Durch diesen Geist, der das »Unterpfand der Erbschaft« (Eph 1, 14) ist, wird der ganze Mensch innerlich erneuert bis zur »Erlösung des Leibes« (Röm 8, 23)“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 22: AAS 58 (1966) 1043.</ref> In diesem Sinne macht die Soziallehre deutlich, dass die Grundlage der Sittlichkeit jedes sozialen Handelns in der menschlichen Entwicklung der Person besteht, und bestimmt als Norm des sozialen Handelns, dass es dem wahren Wohl der Menschheit entsprechen und darauf aus gerichtet sein muss, Bedingungen zu schaffen, die es jedem Menschen ermöglichen, seine Berufung in umfassender Weise zu verwirklichen.

523 Die christliche Anthropologie ermutigt und unterstützt das seelsorgerische Werk der Inkulturation des Glaubens, das dazu dienen soll, mit der Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die Richtung gebenden Werte, die Linien des Denkens und die Lebensmodelle des heutigen Menschen von innen heraus zu erneuern: „Ihrerseits wird die Kirche durch die Inkulturation immer verständlicheres Zeichen von dem, was geeigneteres Mittel der Mission ist“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 52: AAS 83 (1991) 300; vgl. Paul VI., Ap. Schr. Evangelii nuntiandi, 20: AAS 68 (1976) 18–19.</ref> Die heutige Welt ist von einem Bruch zwischen Evangelium und Kultur gekennzeichnet; eine verweltlichte Sicht des Heils neigt dazu, auch das Christentum „auf eine rein menschliche Weisheit zu reduzieren, gleichsam als Lehre des guten Lebens“.<ref>Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 11: AAS 83 (1991) 259–260.</ref> Es ist der Kirche bewusst, dass sie „auf dem Gebiet der Evangelisierung einen großen Schritt nach vorne tun und in eine neue historische Etappe ihrer missionarischen Dynamik eintreten“ muss.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 35: AAS 81 (1989) 458.</ref> In diesem seelsorgerischen Kontext steht auch die Soziallehre: „Die »Neuevangelisierung«, die die moderne Welt dringend nötig hat (…), muss zu ihren wesentlichen Bestandteilen die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zählen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 800.</ref>

b) Soziallehre und soziale Seelsorge

524 Die wesentliche Bezogenheit auf die Soziallehre entscheidet über die Art, die Herangehensweise, die Struktur und die Entwicklungen der sozialen Seelsorge. In ihr drückt sich der Dienst der sozialen Evangelisierung aus, der darauf ausgerichtet ist, die umfassende Entfaltung des Menschen durch die Praxis der christlichen Befreiung in ihrem irdischen und transzendenten Aspekt zu erhellen, anzuregen und zu unterstützen. Die Kirche lebt und wirkt in der Geschichte und interagiert mit der Gesellschaft und der Kultur der jeweiligen Epoche, um ihre Mission zu erfüllen, die darin besteht, alle Menschen in ihren konkreten Schwierigkeiten, Kämpfen und Herausforderungen an der Neuartigkeit der christlichen Verkündigung teilhaben zu lassen, damit sie ihre Situation im Licht des Glaubens und der Wahrheit begreifen, der Wahrheit, die besagt, dass „sich der Liebe Christi öffnen (…) wahre Befreiung“ bedeutet.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 11: AAS 83 (1991) 259.</ref> Die soziale Seelsorge ist der lebendige und konkrete Ausdruck einer Kirche, die sich ihres eigenen Auftrags, die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Wirklichkeiten der Welt zu evangelisieren, voll und ganz bewusst ist.

525 Die soziale Botschaft des Evangeliums muss die Kirche zur Erfüllung einer zweifachen seelsorgerischen Aufgabe führen, die zum einen darin besteht, den Menschen bei der Entdeckung der Wahrheit und der Wahl des einzuschlagenden Weges zu helfen; und zum anderen darin, die Christen dazu zu ermutigen, dass sie das Evangelium im sozialen Bereich mit Engagement und Diensteifer bezeugen: „Heute – mehr als je zuvor – kann das Wort Gottes nur verkündigt und verstanden werden, wenn es vom Zeugnis der Kraft des Heiligen Geistes begleitet wird, der sich wirksam erweist in dem Dienst, den Christen ihren Brüdern leisten, wo deren Dasein oder deren Zukunft auf dem Spiel steht“.<ref> Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 51: AAS 63 (1971) 440.</ref> Die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung lässt die Kirche begreifen, „dass ihre soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird“.1116 <ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 57: AAS 83 (1991) 862.</ref>

526 Die Soziallehre schreibt die grundlegenden Aspekte des seelsorgerischen Wirkens im sozialen Bereich vor: das Evangelium verkünden; die Botschaft des Evangeliums mit den sozialen Wirklichkeiten konfrontieren; Maßnahmen ergreifen, um diese Wirklichkeiten entsprechend den Forderungen der christlichen Moral zu erneuern. Eine Neuevangelisierung des Sozialen erfordert vor allem die Verkündigung des Evangeliums: In Jesus Christus erlöst Gott jeden Menschen und den ganzen Menschen. Diese Verkündigung offenbart den Menschen sich selbst und muss zum Interpretationsprinzip der gesellschaftlichen Wirklichkeiten werden. Die soziale Dimension ist zwar nicht die einzige, aber eine wesentliche und unumgängliche Dimension der Verkündigung des Evangeliums. Sie muss die unerschöpfliche Fruchtbarkeit des christlichen Heils sichtbar machen, auch wenn eine vollkommene und endgültige Angleichung der gesellschaftlichen Wirklichkeiten an das Evangelium in der Geschichte nicht gelingen kann: Kein noch so optimales Ergebnis kann die Grenzen der menschlichen Freiheit und die eschatologische Spannung jeder geschaffenen Realität außer Kraft setzen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 48: AAS 80 (1988) 583–584.</ref>

527 Das seelsorgerische Wirken der Kirche im sozialen Bereich muss vor allem die Wahrheit über den Menschen bezeugen. Die christliche Anthropologie ermöglicht eine Einschätzung der sozialen Probleme, für die sich nur dann eine richtige Lösung findet, wenn der transzendente Charakter der menschlichen Person gewahrt bleibt, der im Glauben voll und ganz offenbar wird.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099–1100.</ref> Das soziale Handeln der Christen muss vom grundlegenden Prinzip der zentralen Rolle des Menschen inspiriert sein.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 453; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 54: AAS 83 (1991) 859–860.</ref> Die Forderung, die umfassende Identität des Menschen zur Entfaltung zu bringen, gibt jene großen Werte vor, die ein geordnetes und fruchtbares Zusammenleben bestimmen: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Freiheit.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 265–266.</ref> Die soziale Seelsorge arbeitet darauf hin, dass die Erneuerung des öffentlichen Lebens an eine wirkliche Achtung dieser Werte gebunden ist. Auf diese Weise ist die Kirche bestrebt, durch ihr vielfältiges Zeugnis das Bewusstsein vom Wohl aller und eines jeden als unerschöpfliche Quelle für die Entwicklung des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu stärken.

c) Soziallehre und Bildung

528 Die Soziallehre ist ein unverzichtbarer Bezugspunkt für eine vollständige christliche Bildung. Der Nachdruck, mit dem das Lehramt diese Lehre als Inspirationsquelle des Apostolats und des sozialen Handelns vertritt, beruht auf der Überzeugung, dass diese einen außergewöhnlichen Bildungsschatz darstellt: „Vor allem für die Laien, die auf vielfältige Weise in der Politik und im sozialen Bereich engagiert sind, ist eine tiefere Kenntnis der Soziallehre der Kirche unerlässlich“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 60: AAS 81 (1989) 511.</ref> Diese Lehre ist ein Erbe, das weder in der erforderlichen Weise gelehrt wird noch bekannt ist: Auch das ist ein Grund dafür, dass sie nicht in konkreten Verhaltensweisen umgesetzt wird.

529 Der Bildungswert der Soziallehre muss in der katechetischen Tätigkeit mehr Anerkennung finden.<ref> Vgl. Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997), 30, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 130, S. 37–38.</ref> Die Katechese ist die organische und systematische Weitergabe der christlichen Lehre zu dem Zweck, die Gläubigen in die Fülle des Lebens aus dem Evangelium einzuführen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Catechesi tradendae, 18: AAS 71 (1979) 1291–1292.</ref> Letztes Ziel der Katechese ist es, „jemanden nicht nur in Kontakt, sondern in Gemeinschaft, in Lebenseinheit mit Jesus Christus zu bringen“,<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Catechesi tradendae, 5: AAS 71 (1979) 1281.</ref> sodass das Wirken des Heiligen Geistes erkennbar wird, von dem das Geschenk des neuen Lebens in Christus kommt.<ref> Vgl. Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997), 54, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 130, S. 54.</ref>Vor diesem Hintergrund darf die Katechese in ihrem Dienst der Glaubenserziehung „einige Wirklichkeiten wie den Einsatz des Menschen für seine umfassende Befreiung, das Streben nach einer solidarischeren und brüderlicheren Gesellschaft, die Kämpfe für Gerechtigkeit und die Schaffung von Frieden“ nicht übergehen, sondern muss sie „stattdessen geziemend erhellen“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Catechesi tradendae, 29: AAS 71 (1979) 1301–1302; vgl. auch Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997), 17, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 130, S. 29.</ref> Zu diesem Zweck ist es notwendig, dafür Sorge zu tragen, dass sich das soziale Lehramt in seiner Geschichte, in seinen Inhalten und in seiner Methodik als Ganzes darstellt. Eine direkte, im kirchlichen Kontext vorgenommene Lektüre der Sozialenzykliken stellt dank der verschiedenen in der Gemeinschaft vertretenen Kompetenzen und beruflichen Qualifikationen eine weitere Bereicherung im Hinblick auf die Aufnahme und Anwendung der Texte dar.

530 Vor allem im Kontext der Katechese ist es wichtig, dass die Vermittlung der Soziallehre darauf ausgerichtet ist, zum Einsatz für die Evangelisierung und Humanisierung der zeitlichen Gegebenheiten zu motivieren. In dieser Lehre nämlich bringt die Kirche ein theoretisches und praktisches Wissen zum Ausdruck, mit dem sie das Bemühen um eine Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens im Sinne einer Angleichung an den göttlichen Plan unterstützt. Die soziale Katechese will Menschen heranbilden, die die sittliche Ordnung achten und die echte Freiheit lieben, Menschen, die „die Dinge nach eigener Entscheidung im Licht der Wahrheit beurteilen, ihr Handeln verantwortungsbewusst ausrichten und bemüht sind, was immer wahr und gerecht ist, zu erstreben, wobei sie zu gemeinsamem Handeln sich gern mit anderen zusammenschließen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Dignitatis humanae, 8: AAS 58 (1966) 935.</ref> Das Zeugnis des gelebten Christentums gewinnt dabei einen herausragenden Wert für die Bildung: „Insbesondere ist es das Leben in Heiligkeit, das in so vielen demütigen und oft vor den Blicken der Menschen verborgenen Gliedern des Volkes Gottes erstrahlt, was den schlichtesten und faszinierendsten Weg darstellt, auf dem man unmittelbar die Schönheit der Wahrheit, die befreiende Kraft der Liebe Gottes, den Wert der unbedingten Treue, selbst unter schwierigsten Umständen, angesichts aller Forderungen des Gesetzes des Herrn wahrzunehmen vermag“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 107: AAS 85 (1993) 1217.</ref>

531 Die Soziallehre muss auf die Grundlage einer intensiven und kontinuierlichen Bildungsarbeit gestellt werden, die sich vor allem an die christlichen Laien richtet und deren Engagement im zivilen Leben in Betracht ziehen muss: Ihre Aufgabe ist es, „in freier Initiative und ohne erst träge Weisungen und Direktiven von anderer Seite abzuwarten, das Denken und die Sitten, die Gesetze und die Lebensordnungen ihrer Gemeinschaft mit christlichem Geist zu durchdringen“.<ref> Paul VI., Enz. Populorum progressio, 81: AAS 59 (1967) 296–297.</ref> Die erste Ebene des an die christlichen Laien gerichteten Bildungsangebots muss diese befähigen, die alltäglichen Aufgaben im kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich wirkungsvoll wahrzunehmen und auf diese Weise einen Sinn für die Pflichterfüllung im Dienst am Gemeinwohl zu entwickeln.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 75: AAS 58 (1966) 1097–1099.</ref> Eine zweite Ebene betrifft die Bildung des politischen Gewissens und soll die christlichen Laien auf die Ausübung politischer Macht vorbereiten: „Wer dazu geeignet ist oder sich dazu ausbilden kann, soll sich darauf vorbereiten, den schweren, aber zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers auszuüben, und sich diesem Beruf unter Hintansetzung des eigenen Vorteils und materiellen Gewinns widmen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 75: AAS 58 (1966) 1097–1098.</ref>

532 Die katholischen Bildungseinrichtungen können und müssen einen wertvollen Dienst im Bereich der Bildung leisten, indem sie der Inkulturation der christlichen Botschaft, das heißt der fruchtbaren Begegnung zwischen dem Evangelium und den verschiedenen Wissensgebieten ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Soziallehre ist ein notwendiges Mittel für eine wirkungsvolle christliche Erziehung zu Liebe, Gerechtigkeit und Frieden und um ein Bewusstsein der moralischen und sozialen Pflichten im Rahmen der verschiedenen kulturellen und beruflichen Zuständigkeiten heranreifen zu lassen.

Ein wichtiges Beispiel für eine Bildungseinrichtung sind die „Sozialen Wochen“ der Katholiken, die das Lehramt stets befürwortet hat. Sie stellen eine gute Gelegenheit für die gläubigen Laien dar, sich auszudrücken und zu wachsen, und sind geeignet, ihren spezifischen Beitrag zur Erneuerung der zeitlichen Ordnung auf hohem Niveau zu fördern. Diese Initiative, die seit vielen Jahren in verschiedenen Ländern durchgeführt wird, ist ein echtes kulturelles Laboratorium, in dem Erfahrungen und Gedanken ausgetauscht und verglichen, aufkommende Probleme untersucht und neue Richtlinien für die Praxis erarbeitet werden.

533 Nicht weniger wichtig darf das Anliegen sein, die Soziallehre für die Ausbildung der Priester und Priesteramtskandidaten heranzuziehen, die im Rahmen der Vorbereitung auf ihren Dienst eine qualifizierte Kenntnis der Lehre und des seelsorgerischen Wirkens der Kirche im sozialen Bereich sowie ein lebhaftes Interesse an den sozialen Fragen ihrer eigenen Zeit entwickeln müssen. Das Dokument der Kongregation für das Katholische Bildungswesen „Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung“<ref> 30. Dezember 1988, Der Apostolische Stuhl 1989.</ref> bietet detaillierte Hinweise und Richtlinien für eine korrekte und angemessene Studienordnung.

d) Den Dialog fördern

534 Die Soziallehre ist ein wirkungsvolles Instrument des Dialogs zwischen den christlichen Gemeinschaften und der zivilen und politischen Gemeinschaft und geeignet, in der den Umständen entsprechenden Weise die Bereitschaft zu einer guten und fruchtbaren Zusammenarbeit zu fördern und zu inspirieren. Das Bemühen der zivilen und politischen Autoritäten, die dazu aufgerufen sind, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ihrer Mittel der personalen und sozialen Berufung des Menschen zu dienen, kann in der Soziallehre der Kirche eine wichtige Stütze und eine reiche Quelle der Inspiration finden.

535 Die Soziallehre ist ein fruchtbares Feld für den Dialog und die Zusammenarbeit im ökumenischen Bereich, die sich inzwischen in den verschiedensten Bereichen in großem Maßstab entfalten: in der Verteidigung der Würde der menschlichen Personen; in der Förderung des Friedens; im konkreten und wirkungsvollen Kampf gegen das Elend unserer Zeit wie Hunger und Not, Analphabetismus, ungerechte Verteilung der Güter und Obdachlosigkeit. Diese vielfältige Zusammenarbeit stärkt das Bewusstsein der Brüderlichkeit in Christus und erleichtert den ökumenischen Weg.

536 In der gemeinsamen Tradition des Alten Testaments ist es der katholischen Kirche bewusst, dass sie auch dank ihrer Soziallehre zu einem Dialog mit den jüdischen Brüdern fähig ist, um gemeinsam eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens für alle Menschen aufzubauen, die Kinder des einen Gottes sind. Das gemeinsame geistige Erbe begünstigt das gegenseitige Verständnis und die füreinander empfundene Wertschätzung<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erkl. Nostra aetate, 4: AAS 58 (1966) 742–743.</ref> – die Basis, auf der das Bündnis für die Überwindung jeglicher Diskriminierung und für die Verteidigung der Menschenwürde wachsen kann.

537 Die Soziallehre ist auch von dem beständigen Aufruf zum Dialog zwischen allen Gläubigen der Weltreligionen gekennzeichnet, damit diese gemeinsam nach den geeignetsten Formen der Zusammenarbeit suchen: Die Religionen spielen eine wichtige Rolle für die Verwirklichung des Friedens, die von dem gemeinsamen Bemühen um die umfassende Entwicklung des Menschen abhängt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 32: AAS 80 (1988) 556–557.</ref> Im Geist der Gebetstreffen von Assisi<ref> 27. Oktober 1986; 24. Januar 2002.</ref> lädt die Kirche weiterhin die Gläubigen der anderen Religionen zum Dialog ein und dazu, an jedem Ort ein wirkungsvolles Zeugnis von jenen Werten abzulegen, die der gesamten Menschheitsfamilie gemeinsam sind.

e) Die Subjekte der sozialen Seelsorge

538 Die Kirche bezieht das ganze Volk Gottes in die Erfüllung ihres Auftrages mit ein. In seinen verschiedenen Ausprägungen und in jedem seiner Mitglieder muss das Volk Gottes je nach den Gaben und Formen, in denen sich die Berufung des Einzelnen ausdrückt, seiner Pflicht Genüge tun, die darin besteht, das Evangelium zu verkünden und zu bezeugen (vgl. 1 Kor 9, 16), und zwar in dem Bewusstsein, dass „der Sendungsauftrag (…) für alle Christen“ gilt.<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 2: AAS 83 (1991) 250.</ref>

Auch die seelsorgerische Tätigkeit im sozialen Bereich ist für alle Christen bestimmt, die dazu berufen sind, die Soziallehre als aktive Subjekte zu bezeugen und sich voll und ganz in die gefestigte Tradition der „Tatkraft von Millionen von Menschen“ einzureihen, „die, angeregt und geleitet vom Sozialen Lehramt der Kirche, sich dem Dienst in der Welt zur Verfügung gestellt haben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 3: AAS 83 (1991) 795.</ref> Die Christen von heute müssen in der Lage sein, sich in ihrem individuellen oder in unterschiedlichen Gruppen, Verbänden und Bewegungen zusammengefassten Handeln als „Großbewegung zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen“ <ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 3: AAS 83 (1991) 795.</ref> zu verstehen.

539 In der Ortskirche ist an erster Stelle der Bischof für den seelsorgerischen Einsatz in der Evangelisierung des Sozialen zuständig. Ihm stehen die Priester, die Ordensleute und die gläubigen Laien zur Seite. Mit besonderem Bezug auf die Situation vor Ort trägt der Bischof die Verantwortung für die Weitergabe und Verbreitung der Soziallehre, für die er mit Hilfe geeigneter Institutionen sorgt.

Das seelsorgerische Handeln des Bischofs muss im Dienst der Priester umgesetzt werden, die an seinem Sendungsauftrag, die christliche Gemeinschaft zu lehren, zu heiligen und zu leiten, teilhaben. Mit der Einrichtung geeigneter Bildungswege muss der Priester die Soziallehre bekannt machen und unter den Mitgliedern seiner Gemeinschaft das Bewusstsein fördern, dass sie das Recht und die Pflicht haben, aktive Subjekte dieser Lehre zu sein. Durch die sakramentalen Feiern, insbesondere die der Eucharistie und der Versöhnung, hilft der Priester dabei, das soziale Engagement als Frucht des Heilsgeheimnisses zu leben. Er muss die Gläubigen dazu ermutigen, im sozialen Bereich seelsorgerisch tätig zu werden, und er muss besondere Sorgfalt auf die geistliche Bildung und Begleitung derjenigen verwenden, die sich im gesellschaftlichen und politischen Leben engagieren. Der Priester, der seinen seelsorgerischen Dienst in den verschiedenen kirchlichen Vereinigungen – insbesondere denen des sozialen Apostolats – verrichtet, hat die Aufgabe, durch die nötige Vermittlung der Inhalte der Soziallehre deren Wachstum zu fördern.

540 Das seelsorgerische Handeln im sozialen Bereich stützt sich entsprechend ihrem jeweiligen Charisma auch auf die Tätigkeit derer, die ein gottgeweihtes Leben führen; ihre leuchtenden Zeugnisse vor allem in Situationen großer Armut sind für alle ein Fingerzeig auf die Werte der Heiligkeit und des großzügigen Dienstes am Nächsten. Die totale Selbsthingabe der Ordensleute bietet sich dem gemeinsamen Nachdenken auch als symbolisches und prophetisches Zeichen der Soziallehre dar: Indem sie sich vollkommen in den Dienst des Mysteriums der Liebe Christi zum Menschen und zur Welt stellen, nehmen die Ordensleute in ihrem Leben veranschaulichend einige Züge der neuen Menschlichkeit, für die die Soziallehre sich einsetzt, vorweg. Die Angehörigen des geweihten Standes stellen sich in Keuschheit, Armut und Gehorsam vor allem dadurch in den Dienst der seelsorgerischen Liebe, dass sie im Gebet den Plan Gottes für die Welt betrachten und zum Herrn flehen, damit er das Herz jedes Menschen für das Geschenk der neuen Menschlichkeit öffnet, die mit dem Opfer Christi erkauft worden ist.

II. SOZIALLEHRE UND ENGAGEMENT DER GLÄUBIGEN LAIEN

a) Der gläubige Laie

541 Die gläubigen Laien, die im Weinberg des Herrn arbeiten (vgl. Mt 20, 1–16), zeichnen sich im Wesentlichen durch den säkularen Charakter ihrer Christusnachfolge aus, die sich in der Welt vollzieht: „Sache der Laien ist es, kraft der ihnen eigenen Berufung in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.</ref> Mit der Taufe sind die Laien in Christus eingegliedert und haben je nach der ihnen eigenen Identität Anteil an seinem Leben und seiner Sendung: „Unter der Bezeichnung Laien sind (…) alle Christgläubigen verstanden mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des in der Kirche anerkannten Ordensstandes, das heißt die Christgläubigen, die, durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig, zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes in der Kirche und in der Welt ausüben“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37.</ref>

542 Die Identität des gläubigen Laien entsteht und speist sich aus den Sakramenten: der Taufe, der Firmung und der Eucharistie. Durch die Taufe wird er Christus ähnlich, dem Sohn des Vaters, dem Erstgeborenen der ganzen Schöpfung, der als Meister und Erlöser zu allen Menschen gesandt ist. Durch die Firmung wird er Christus gleichgestaltet, der gesandt ist, um die Schöpfung und alles Sein durch die Ausgießung des Heiligen Geistes zu beleben. Die Eucharistie lässt den Gläubigen an dem einen und vollkommenen Opfer teilhaben, das Christus dem Vater in seinem eigenen Fleisch für das Heil der Welt dargebracht hat.

Der gläubige Laie ist aus den Sakramenten und durch sie, also kraft dessen, was Gott in ihnen gewirkt hat, als er ihnen das Bild seines eigenen Sohnes Jesus Christus aufprägte, Jünger Christi. Aus diesem göttlichen Gnadengeschenk und nicht aus menschlichen Zugeständnissen entsteht das dreifache „munus“ (Gabe und Aufgabe), das den Laien in seinem weltlichen Wirkungskreis zum Propheten, Priester und König macht.

543 Es ist die spezifische Aufgabe des gläubigen Laien, das Evangelium durch das Zeugnis eines beispielhaften Lebens zu verkünden, das in Christus wurzelt und sich in den zeitlichen Gegebenheiten entfaltet: Familie; berufliche Verpflichtungen in den Bereichen der Arbeit, der Kultur, der Wissenschaft und der Forschung; Wahrnehmung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verantwortung. Alle irdischen menschlichen Realitäten – persönliche und gesellschaftliche, das Umfeld und die historische Situation, Strukturen und Institutionen – bilden den Lebens- und Wirkungskreis der Laienchristen. Diese Realitäten sind der Bestimmungsort der Liebe Gottes; das Engagement der gläubigen Laien muss dieser Sichtweise entsprechen und die Liebe des Evangeliums zum Ausdruck bringen: „So stellen das In-der-Welt-Sein und In-der-Welt-Handeln für die Laien nicht nur eine anthropologische und soziologische Gegebenheit dar, sondern auch und vor allem eine spezifisch theologische und kirchliche“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 15: AAS 81 (1989) 415.</ref>

544 Das Zeugnis des gläubigen Laien geht aus einem Geschenk der Gnade hervor, das dankbar angenommen, gepflegt und zur Reife gebracht wird.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 24: AAS 81 (1989) 433–435.</ref> Aus diesem Grund ist ihr Einsatz in der Welt so bedeutsam und steht im Kontrast zur Aktionsmystik des atheistischen Humanismus, der die letzte Grundlegung fehlt und die sich in rein zeitliche Zielsetzungen einordnet. Der eschatologische Horizont ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis der menschlichen Wirklichkeiten: Wenn er die endgültigen Güter im Blick hat, ist der gläubige Laie in der Lage, seine eigene irdische Tätigkeit authentisch zu entfalten. Lebensstandard und größtmögliche wirtschaftliche Produktivität sind nicht der einzig gültige Maßstab für die Verwirklichung des Menschen in diesem und noch weniger im zukünftigen Leben: „Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine ewige Berufung“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099.</ref>

b) Die Spiritualität des gläubigen Laien

545 Die gläubigen Laien sind dazu aufgerufen, eine echte Laienspiritualität zu pflegen, durch die sie als neue Männer und Frauen – eingetaucht in des Geheimnis Gottes und eingegliedert in die Gesellschaft, heilig und heilig machend – wiedergeboren werden. Eine solche Spiritualität gestaltet die Welt im Geist Jesu: Sie befähigt, über die Geschichte hinauszusehen, ohne sich von ihr zu entfernen; Gott leidenschaftlich zu lieben, ohne den Blick von den Mitmenschen abzuwenden, sondern diese so zu sehen, wie der Herr sie sieht, und sie so zu lieben, wie er sie liebt. Es ist eine Spiritualität, die sowohl den allzu sehr nach innen gerichteten Spiritualismus als auch den sozialen Aktivismus meidet und sich in einer lebendigen Synthese ausdrückt, die dem aus so vielen und vielfältigen Gründen widersprüchlichen und zersplitterten Dasein Einheit, Bedeutung und Hoffnung verleiht. Von dieser Spiritualität beseelt, sind die gläubigen Laien imstande, „ihre eigentümliche Aufgabe, vom Geist des Evangeliums geleitet, auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen und vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens (…) Christus den anderen kundzumachen“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37–38.</ref>

546 Die gläubigen Laien müssen ihr spirituelles und moralisches Leben stärken und die für die Erfüllung ihrer sozialen Pflichten erforderlichen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen. Die Vertiefung der inneren Beweggründe und die Aneignung des für ein soziales und politisches Engagement angemessenen Stils sind die Frucht eines dynamischen und immerwährenden Bildungsprozesses, der vor allem darauf ausgerichtet ist, das Leben in seiner Vielschichtigkeit und den Glauben miteinander in Einklang zu bringen. In der Erfahrung des Gläubigen kann es keine „Parallelexistenz“ geben: „auf der einen Seite ein so genanntes »spirituelles« Leben mit seinen Werten und Forderungen und auf der anderen Seite das so genannte »welthafte« Leben, das heißt das Familienleben, das Leben in der Arbeit, in den sozialen Beziehungen, im politischen Engagement und in der Kultur“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 59: AAS 81 (1989) 509.</ref>

Die Synthese von Glauben und Leben erfordert einen Weg, der in kluger Weise von den charakteristischen Elementen des praktizierten Christentums strukturiert ist: dem Bezug auf das Wort Gottes; der liturgischen Feier des christlichen Mysteriums; dem persönlichen Gebet; der authentischen kirchlichen Erfahrung, die um den besonderen Bildungsdienst weiser geistlicher Leiter bereichert wird; der Übung der sozialen Tugenden und dem beharrlichen Bemühen um kulturelle und berufliche Bildung.

c) Mit Klugheit handeln

547 Der gläubige Laie muss so handeln, wie es ihm die Klugheit gebietet: Sie ist die Tugend der Unterscheidung, die dazu befähigt, in jeder Situation das wahre Gute zu erkennen und die geeigneten Mittel zu wählen, um dieses zu vollbringen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die moralischen Grundsätze auf die je besonderen Fälle anwenden. Die Klugheit äußert sich in drei Schritten: Sie klärt und bewertet die Situation, regt die Entscheidung an und löst die Handlung aus. Der erste Schritt ist von Überlegung und Beratung gekennzeichnet und dient dazu, das Problem zu untersuchen und die notwendigen Meinungen einzuholen; der zweite ist der bewertende Schritt der Analyse und Beurteilung der Wirklichkeit im Licht des göttlichen Plans; der dritte Schritt ist der der Entscheidung und beruht auf den beiden vorangegangenen Phasen, dank deren es möglich ist, zu erkennen, was getan werden muss.

548 Die Klugheit befähigt dazu, mit Realismus und Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns in sich stimmige Entscheidungen zu treffen. Die weit verbreitete Ansicht, die die Klugheit mit Schläue, utilitaristischer Berechnung und Misstrauen oder mit Ängstlichkeit und Unschlüssigkeit gleichsetzt, hat wenig mit dem richtigen Verständnis dieser Tugend zu tun, die der praktischen Vernunft zuzuordnen ist und als ein Maßstab für die anderen Tugenden hilft, besonnen und mutig zu entscheiden, was getan werden muss. Die Klugheit bestätigt, dass das Gute eine Pflicht ist, und zeigt den Weg an, den die Person wählt, um dieser Pflicht nachzukommen.<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1806.</ref> Letztlich ist sie eine Tugend, die ein reifes Denken und Verantwortungsbewusstsein voraussetzt, damit aus der objektiven Kenntnis der Situation heraus und in dem Willen, das Richtige zu tun, eine Entscheidung getroffen werden kann.<ref> Kluges Handeln erfordert einen Bildungsweg, auf dem man die notwendigen Eigenschaften erwirbt: die „memoria“ als Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen der Vergangenheit objektiv und unverfälscht im Gedächtnis zu behalten (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 49, a. 1); die „docilitas“ als Fähigkeit, sich belehren zu lassen und sich auf der Grundlage echter Wahrheitsliebe die Erfahrungen anderer zunutze zu machen (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 49, a. 3); die „solertia“ als Fähigkeit, Unvorhergesehenem durch objektives Handeln zu begegnen, um so jede Situation zum Guten zu wenden und die Versuchungen der Maßlosigkeit, Ungerechtigkeit oder Feigheit zu besiegen (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 49, a. 4). Diese kognitiven Bedingungen schaffen die notwendigen Voraussetzungen im Moment der Entscheidung: die „providentia“, das heißt die Fähigkeit, die Zweckmäßigkeit einer Verhaltensweise im Hinblick auf das Erreichen des moralischen Ziels zu bewerten (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae,II-II,q. 49, a. 6), und die „circumspectio“, also die Fähigkeit, die Umstände zu bewerten, die zu der Situation führen, in der die Handlung ausgeführt werden muss (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 49, a. 7). Im Bereich des sozialen Lebens lässt sich die Klugheit in zwei Sonderformen unterteilen: die „prudentia regnativa“, das heißt die Fähigkeit, alles auf das größtmögliche Wohl der Gesellschaft hinzuordnen (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 50, a. 1), und die „prudentia politica“, die den Bürger dazu veranlasst, zu gehorchen und den Anweisungen der Autorität Folge zu leisten (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 50, a. 2), ohne dabei seine eigene personalen Würde zu beeinträchtigen (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, qq. 47–56).</ref>

d) Soziallehre und Laienvereinigungen

549 Die Soziallehre der Kirche muss zum ergänzenden Bestandteil der Bildung des gläubigen Laien werden. Die Erfahrung lehrt, dass die Bildungsarbeit normalerweise innerhalb kirchlicher Laienverbände möglich ist, die den klaren „Kriterien der Kirchlichkeit“ entsprechen:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 30: AAS 81 (1989) 446–448.</ref> „Auch die Gruppen, Vereinigungen und Bewegungen haben eine Aufgabe für die Erziehung und Ausbildung der Laien zu erfüllen. Sie können, den jeweiligen Methoden entsprechend, ihren Mitgliedern eine Erziehung und Bildung anbieten, die in ihrer eigenen apostolischen Erfahrung verankert ist. Ferner ist ihnen die Chance gegeben, die Erziehung und Bildung, die ihre Mitglieder von anderen Menschen und Gemeinschaften empfangen, zu integrieren, zu konkretisieren und spezifisch anzuwenden“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 62: AAS 81 (1989) 516–517.</ref> Die Soziallehre der Kirche unterstützt und erhellt die Rolle der Vereinigungen, der Bewegungen und der Gruppen von Laien, die sich dafür einsetzen, die verschiedenen Bereiche der zeitlichen Ordnung mit christlichem Leben zu durchdringen:<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 455.</ref> „Die communio der Kirche, die schon im Tun der Einzelperson gegenwärtig und wirksam wird, findet einen besonderen Ausdruck im gemeinschaftlichen Tun der Laien, das heißt in ihrem gemeinsamen Einsatz, wenn sie mitverantwortlich am Leben und an der Sendung der Kirche teilnehmen“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 29: AAS 81 (1989) 443.</ref>

550 Für kirchliche Vereinigungen, die sich für die Seelsorge im sozialen Bereich einsetzen, ist die Soziallehre der Kirche von größter Wichtigkeit. Sie stellen einen besonderen Bezugspunkt dar, weil sie sich entsprechend ihrem kirchlichen Profil im sozialen Leben einsetzen und auf diese Weise deutlich machen, wie wichtig das Gebet, das Nachdenken und der Dialog sind, wenn es darum geht, sich auf die sozialen Gegebenheiten einzulassen und sie zu verbessern. In jedem Fall gilt die Unterscheidung „zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099.</ref>

Auch die Berufsverbände, die ihre Mitglieder innerhalb eines bestimmten professionellen oder kulturellen Bereichs im Namen der christlichen Berufung und Sendung versammeln, können einen wertvollen Beitrag zum christlichen Reifeprozess leisten. So formt beispielsweise eine katholische Ärztevereinigung das Urteilsvermögen ihrer Mitglieder angesichts der zahlreichen Anforderungen, die die Medizin, die Biologie und andere Wissenschaften an die berufliche Kompetenz, aber auch an das Gewissen und den Glauben des Arztes stellen. Entsprechendes gilt für die Verbände katholischer Lehrer, Juristen, Unternehmer, Arbeiter, Sportler, Umweltschützer … Vor diesem Hintergrund entfaltet die Soziallehre ihre wirkungsvolle Bildungsarbeit im Hinblick auf das Gewissen jeder einzelnen Person und die Kultur eines ganzen Landes.

e) Der Dienst in den verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens

551 Die Gegenwart des gläubigen Laien im gesellschaftlichen Bereich ist von der Haltung des Dienens bestimmt, die Zeichen und Ausdruck der Liebe ist und sich im familiären, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und im Arbeitsleben in je eigener Weise manifestiert: Indem sie den jeweiligen Anforderungen ihres Wirkungsbereichs nachkommen, bringen die gläubigen Laien die Wahrheit ihres Glaubens und zugleich die Wahrheit der kirchlichen Soziallehre zum Ausdruck, die dann voll und ganz verwirklicht ist, wenn sie im konkreten Bezug auf die zu lösenden sozialen Probleme gelebt wird. Es geht hier tatsächlich um die Glaubwürdigkeit der Soziallehre selbst, die nicht nur von ihrer inneren Stimmigkeit und Logik, sondern in erster Linie vom Zeugnis der Werke abhängt.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 454; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 57: AAS 83 (1991) 862–863.</ref>

Im dritten Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung öffnen sich die gläubigen Laien mit ihrem Zeugnis allen Menschen und machen sich mit ihnen gemeinsam zum Sprachrohr für die dringendsten Anliegen unserer Zeit: „Was diese Heilige Synode aus dem Schatz der kirchlichen Lehre vorlegt, will allen Menschen unserer Zeit helfen, ob sie an Gott glauben oder ihn nicht ausdrücklich anerkennen, klarer ihre Berufung unter jeder Hinsicht zu erkennen, die Welt mehr entsprechend der hohen Würde des Menschen zu gestalten, eine weltweite und tiefer begründete Brüderlichkeit zu erstreben und aus dem Antrieb der Liebe in hochherzigem, gemeinsamem Bemühen den dringenden Erfordernissen unserer Zeit gerecht zu werden“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 91: AAS 58 (1966) 11113.</ref>

1. Der Dienst an der menschlichen Person

552 Unter den Bereichen des sozialen Engagements der Gläubigen ragt insbesondere der Dienst an der menschlichen Person hervor: Die Stärkung der Würde jeder Person, die das kostbarste Gut ist, das der Mensch besitzt, „ist eine wesentliche Aufgabe, ja in einem gewissen Sinn die zentrale und alle anderen einschließende Aufgabe im Kontext des Dienstes an der Menschheitsfamilie, zu dem die Kirche und in ihr die Laien berufen sind“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 37: AAS 81 (1989) 460.</ref>

Der erste Schritt, diese Aufgabe zu erfüllen, besteht in dem Bemühen um die eigene innere Erneuerung, denn die Geschichte der Menschheit wird nicht von einem unpersönlichen Determinismus vorangetrieben, sondern von Subjekten, die zusammenwirken und durch ihr freies Handeln die soziale Ordnung bestimmen. Es ist nicht so, dass die gesellschaftlichen Institutionen gleichsam von selbst und automatisch das Wohl aller gewährleisten würden: Die „innere Erneuerung im christlichen Geiste“<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 218.</ref> muss dem Bemühen um eine bessere Gesellschaft gemäß dem sozialen „Reformprogramm der Kirche (…) in sozialer Gerechtigkeit und sozialer Liebe“<ref> Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 218.</ref> vorangehen.

Aus der Bekehrung des Herzens entspringt das Bedürfnis, sich um den als Bruder geliebten Mitmenschen zu kümmern. Dieses Bedürfnis lässt das Bemühen um die Veränderung von Institutionen, Strukturen und Lebensbedingungen, die der Menschenwürde widersprechen, wie eine Pflicht erscheinen. Deshalb müssen sich die gläubigen Laien gleichzeitig für die Bekehrung der Herzen und die Verbesserung der Strukturen einsetzen; dabei müssen sie die historische Situation berücksichtigen und zulässige Mittel gebrauchen, um Institutionen zu verwirklichen, in denen die Würde aller Menschen wirklich geachtet und gefördert wird.

553 Die Stärkung der Menschenwürde beinhaltet vor allem die Verkündigung des unverletzlichen Rechts auf Leben vom Moment der Empfängnis an bis zu seinem natürlichen Ende. Dies ist das erste aller Rechte der Person und gleichzeitig die Voraussetzung für alle anderen.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Donum vitae (22. Februar 1987): AAS 80 (1988) 70–102.</ref> Der Respekt vor der personalen Würde verlangt außerdem die Anerkennung der religiösen Dimension des Menschen, die „keine lediglich »konfessionelle« Forderung“ ist, „sondern eine Notwendigkeit, die in der Realität des Menschseins selbst ihre unausrottbare Wurzel hat“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 39: AAS 81 (1989) 466.</ref> Die tatkräftige Anerkennung des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit ist eines der höchsten Güter und eine der schwerwiegendsten Verpflichtungen eines Volkes, das das Wohl der Person und der Gesellschaft wirklich gewährleisten will.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 39: AAS 81 (1989) 466.</ref> Im gegenwärtigen kulturellen Kontext ist der Schutz der Ehe und der Familie eine Aufgabe von herausragender Dringlichkeit, die nur in angemessener Weise gelöst werden kann, wenn man davon überzeugt ist, dass diesen Einrichtungen eine einzigartige und unersetzliche Bedeutung für die authentische Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens zukommt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Familiaris consortio, 42–48: AAS 74 (1982) 134–140.</ref>

2. Der Dienst an der Kultur

554 Die Kultur muss für die Kirche und die einzelnen Christen ein bevorzugter Bereich der Anwesenheit und des Engagements sein. Die Kluft zwischen dem christlichen Glauben und dem alltäglichen Leben ist vom Zweiten Vatikanischen Konzil als einer der schwersten Irrtümer unserer Zeit bezeichnet worden.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 43: AAS 58 (1966) 1062.</ref> Der Verlust des metaphysischen Horizonts und der Gottessehnsucht in narzisstischer Selbstbezogenheit und einem von der Fülle des Angebots geprägten konsumistischen Lebensstil; die Vorrangstellung, die der Technologie und einer als Selbstzweck betriebenen Forschung zugebilligt wird; die Überbewertung des Erscheinungsbildes, der Imagesuche, der Kommunikationstechniken: all diese Phänomene müssen in ihren kulturellen Zusammenhängen begriffen und zum zentralen Thema der menschlichen Person, ihres umfassenden Wachstums, ihrer Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren und in Beziehung zu treten, und ihrer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Daseins in Bezug gesetzt werden. Man muss sich vor Augen halten, dass „die Kultur das ist, wodurch der Mensch mehr Mensch wird, mehr »ist«, dem »Sein« näher kommt“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an den Exekutivrat der UNESCO, Paris (2. Juni 1980), 7: AAS 72 (1980) 738.</ref>

555 Ein besonderes Betätigungsfeld der gläubigen Laien muss die Pflege einer vom Evangelium inspirierten gesellschaftlichen und politischen Kultur sein. Die jüngere Geschichte hat die Schwäche und das restlose Scheitern kultureller Sichtweisen gezeigt, die vor allem auf gesellschaftlicher und politischer Ebene lange Zeit erfolgreich waren und von vielen geteilt worden sind. Vor diesem Hintergrund waren die Katholiken in verschiedenen Ländern vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lage, ein hohes Engagement zu entwickeln, das heute mit immer größerer Deutlichkeit die Tragfähigkeit ihrer Inspiration und ihres Wertebestands bezeugt. Das soziale und politische Engagement der Katholiken ist nämlich nie auf die bloße Umgestaltung von Strukturen begrenzt, weil es auf einer Kultur basiert, die die Forderungen des Glaubens und der Moral aufnimmt und Rechenschaft über sie ablegt, indem es sie zur Grundlage und zum Ziel konkreter Planungen macht. Wenn dieses Bewusstsein schwächer wird, verurteilen sich die Katholiken selbst zur kulturellen Diaspora, und ihre Vorschläge werden zunehmend eindimensional und unzulänglich. Den Bestand der katholischen Tradition, ihre Werte, ihre Inhalte, das gesamte geistige, intellektuelle und moralische Erbe des Katholizismus in aktualisierten kulturellen Begriffen darzustellen hat auch heute hohe Dringlichkeit. Der Glaube an Jesus Christus, der seinen eigenen Worten zufolge „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6) ist, drängt die Christen dazu, sich mit immer neuem Engagement für die Schaffung einer vom Evangelium inspirierten gesellschaftlichen und politischen Kultur einzusetzen.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 7, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 16–18.</ref>

556 Die umfassende Vervollkommnung der Person und das Wohl der gesamten Gesellschaft sind die wesentlichen Ziele der Kultur:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 59: AAS 58 (1966) 1079–1080.</ref> Folglich hat die ethische Dimension der Kultur im sozialen und politischen Handeln der gläubigen Laien Vorrang. Die mangelnde Aufmerksamkeit für diese Dimension macht die Kultur leicht zu einem Werkzeug der Verarmung der Menschheit. Eine Kultur kann unfruchtbar und dekadent werden, wenn sie sich „in sich selber verschließt und veraltete Lebensformen zu verewigen sucht, indem sie jeden Austausch und jede Auseinandersetzung über die Wahrheit vom Menschen ablehnt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus,50: AAS 83 (1991) 856.</ref> Die Schaffung einer Kultur, die den Menschen zu bereichern vermag, setzt dagegen voraus, dass die ganze Person miteinbezogen wird; dass sie ihre Kreativität, ihre Intelligenz und ihre Kenntnis des Menschen und der Welt entfaltet und überdies ihre Fähigkeit zu Selbstbeherrschung, persönlichem Opfer, Solidarität und Bereitschaft zugunsten des Gemeinwohls einsetzt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an den Exekutivrat der UNESCO, Paris (2. Juni 1980), 7: AAS 72 (1980) 738.</ref>

557 Das soziale und politische Engagement des gläubigen Laien im kulturellen Bereich folgt heute bestimmten Leitgedanken. Der erste ist der Versuch, jedem das Recht auf eine menschliche und zivile Kultur zu garantieren, „das entsprechend der Würde der menschlichen Person allen ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Nation, der Religion oder der sozialen Stellung zukommt“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 60: AAS 58 (1966) 1081.</ref> Dieses Recht beinhaltet das Recht der Familien und der Personen auf eine freie und offene Schule; den freien Zugang zu den sozialen Kommunikationsmitteln, was voraussetzt, dass jede Form von Monopolbildung und ideologischer Kontrolle unterbunden wird; die Freiheit der Forschung, der Verbreitung von Gedankengut, der Diskussion und des Vergleichs. Die Armut vieler Völker wurzelt auch in verschiedenen Formen der kulturellen Benachteiligung und der Missachtung kultureller Rechte. Der Einsatz für die Erziehung und die Bildung der Person stellt schon immer das vorrangige Anliegen des sozialen Wirkens der Christen dar.

558 Die zweite Herausforderung an das Engagement des gläubigen Laien betrifft den Inhalt der Kultur, also die Wahrheit. Die Frage der Wahrheit ist wesentlich für die Kultur, denn es bleibt „Verpflichtung eines jeden, die Totalität der menschlichen Person zu wahren, die vor allem durch die Werte der Vernunft, des Willens, des Gewissens und der Brüderlichkeit bestimmt ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 61: AAS 58 (1966) 1082.</ref> Alle historischen Kulturformen müssen sich in ihrer Transparenz und in ihrem Wahrheitsgehalt am Kriterium der richtigen Anthropologie messen lassen. Das Engagement des Christen auf kulturellem Gebiet stellt sich allen verkürzten und ideologischen Sichtweisen vom Menschen und vom Leben entgegen. Die Dynamik der Öffnung zur Wahrheit hin wird vor allem durch die Tatsache garantiert, dass „die Kulturen der einzelnen Nationen (…) im Grunde nur verschiedene Weisen [sind], sich der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz zu stellen“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 24: AAS 83 (1991) 822.</ref>

559 Die Christen müssen alles daransetzen, um die religiöse Dimension der Kultur voll und ganz zur Geltung zu bringen; diese Aufgabe ist sehr wichtig und für die Qualität des menschlichen Lebens auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene dringend notwendig. Die Frage, die sich aus dem Mysterium des Lebens erhebt und auf das noch größere Mysterium, das Mysterium Gottes, verweist, steht in der Mitte jeder Kultur; wird sie übergangen, nimmt die Kultur und das sittliche Leben der Nationen Schaden.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 24: AAS 83 (1991) 821–822.</ref> Die echte religiöse Dimension ist für den Menschen wesentlich und befähigt ihn, seinen verschiedenen Tätigkeiten einen Horizont zu eröffnen, der ihnen Bedeutung und Richtung gibt. Die Religiosität oder Spiritualität des Menschen äußert sich in den Formen der Kultur, denen sie Lebenskraft und Inspiration gibt. Das bezeugen die unzähligen Kunstwerke aller Epochen. Wenn die religiöse Dimension einer Person oder eines Volkes in Abrede gestellt wird, dann wird die Kultur selbst verstümmelt und verschwindet zuweilen sogar ganz.

560 In ihrem Einsatz für eine authentische Kultur sollten die gläubigen Laien den Massenmedien besondere Aufmerksamkeit schenken, und zwar vor allem im Hinblick auf die Inhalte der unzähligen von den Personen getroffenen Entscheidungen: Diese Entscheidungen haben, auch wenn sie von Gruppe zu Gruppe oder von Individuum zu Individuum unterschiedlich sind, sämtlich ein moralisches Gewicht und müssen auch unter diesem Aspekt bewertet werden. Um eine richtige Entscheidung zu treffen, muss man die Normen der sittlichen Ordnung kennen und getreu anwenden.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Inter mirifica, 4: AAS 56 (1964) 146.</ref> Die Kirche bietet eine lange Tradition der Weisheit, die in der göttlichen Offenbarung und im menschlichen Denken verwurzelt ist<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Fides et ratio, 36–48: AAS 91 (1999) 33–34.</ref> und deren theologische Ausrichtung „sowohl gegenüber der »atheistischen« Lösung, die den Menschen seiner fundamentalen Bausteine, nämlich des geistlichen, beraubt, als auch gegenüber den permissiven und konsumistischen Lösungen, die es unter verschiedenen Vorwänden darauf abgesehen haben, ihn von seiner Unabhängigkeit von jedem Gesetz und von Gott zu überzeugen“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 861.</ref> als ein wichtiges Korrektiv fungiert. Diese Tradition will die sozialen Kommunikationsmittel nicht abwerten, sondern sich in ihren Dienst stellen: „Die kirchliche Kultur der Weisheit kann die Informationskultur der Medien davor bewahren, zu einer sinnlosen Anhäufung von Fakten zu werden“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zum 33. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel 1999, 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXII, 1 (1999) 283.</ref>

561 Die gläubigen Laien sollten die Medien als mögliche und machtvolle Werkzeuge der Solidarität betrachten: „Solidarität ergibt sich aus einer wahren und rechten Kommunikation und dem Fluss von Ideen, die Kenntnis und Achtung anderer Menschen fördern“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 2495.</ref> Das geschieht nicht, wenn die sozialen Kommunikationsmittel dazu benutzt werden, Wirtschaftssysteme aufzubauen und zu unterstützen, die der Gewinnsucht und Habgier dienen. Angesichts schwerer Ungerechtigkeiten stellt die Entscheidung, einige Aspekte des menschlichen Leidens gänzlich zu ignorieren, eine Haltung dar, die nicht geduldet werden kann.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der sozialen Kommunikation (4. Juni 2000), 14, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 153, S. 12–13.</ref> Die Strukturen und die Politik der Kommunikation sowie die Verfügbarkeit der Technologie sind Faktoren, die dazu beitragen, dass einige Personen „reich“ und andere „arm“ an Informationen sind – und das in einer Zeit, da von der Information nicht nur der Wohlstand, sondern sogar das Überleben abhängt. Auf diese Weise tragen die sozialen Kommunikationsmittel zu Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichten bei und werden somit zu Mitverursachern jener Leiden, über die sie berichten. Die Kommunikations- und Informationstechnologie und die Ausbildung im Hinblick auf ihren Gebrauch müssen darauf ausgerichtet sein, diese Ungerechtigkeiten und diese Ungleichgewichte zu beseitigen.

562 Nicht nur die Berufsausübung im Bereich der sozialen Kommunikationsmittel bringt ethische Verpflichtungen mit sich. Auch die Nutznießer sind in die Pflicht genommen. Wer beruflich mit sozialen Kommunikationsmitteln zu tun hat und versucht, Verantwortung zu übernehmen, der verdient auch ein Publikum, das das Seine dazu beiträgt. Die erste Pflicht derer, die soziale Kommunikationsmittel benutzen, besteht in der Einschätzung und Auswahl. Die Eltern, die Familien und die Kirche haben hier eine klare und unausweichliche Verantwortung. An alle, die in den verschiedenen Bereichen der sozialen Kommunikation tätig sind, richtet sich die nachdrückliche und deutliche Mahnung des heiligen Paulus: „Legt deshalb die Lüge ab und redet untereinander die Wahrheit; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden. (…) Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, stärkt, und dem, der es hört, Nutzen bringt“ (Eph 4, 25.29). Die wesentlichen ethischen Forderungen an die sozialen Kommunikationsmittel bestehen darin, dass sie der Person durch die Errichtung einer auf Solidarität, Gerechtigkeit und Liebe gegründeten menschlichen Gemeinschaft und durch die Verbreitung der Wahrheit über das menschliche Leben und seine endgültige Erfüllung in Gott dienen sollen.<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der sozialen Kommunikation (4. Juni 2000), 33, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 153, S. 29.</ref> Im Licht des Glaubens muss die menschliche Kommunikation als der Weg von Babel zum Pfingstereignis verstanden werden, das heißt als das persönliche und gesellschaftliche Bemühen, den Zusammenbruch der Kommunikation zu überwinden (vgl. Gen 11, 4–8) und sich der Sprachengabe (vgl. Apg 2, 5–11), der durch die Kraft des vom Sohn gesandten Geistes erneuerten Kommunikation zu öffnen.

3. Der Dienst an der Wirtschaft

563 Angesichts der Vielschichtigkeit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Zusammenhänge wird sich der gläubige Laie in seinem Handeln von den Grundsätzen des sozialen Lehramts leiten lassen. Diese müssen im wirtschaftlichen Bereich bekannt und akzeptiert sein: Wenn diese Grundsätze, vor allem der von der zentralen Bedeutung der menschlichen Person, missachtet werden, beeinträchtigt dies die Qualität der wirtschaftlichen Tätigkeit.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 3, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 8–10.</ref>

Das Engagement des Christen wird sich auf dem Gebiet der kulturellen Reflexion auch in dem Bemühen um eine Einschätzung der aktuellen sozioökonomischen Entwicklungsmodelle äußern. Die Frage der Entwicklung auf ein ausschließlich technisches Problem zu reduzieren würde bedeuten, sie ihres wahren Inhalts zu berauben, der „die Würde des Menschen und der Völker berührt“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 570.</ref>

564 Die Experten für Wirtschaftswissenschaften, die in diesem Bereich Tätigen und die politisch Verantwortlichen müssen sich der dringenden Notwendigkeit bewusst werden, die Wirtschaft neu zu überdenken, indem sie einerseits die dramatische materielle Armut von Milliarden von Menschen und andererseits die Tatsache berücksichtigen, dass „die heutigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen Mühe damit haben, den Anforderungen einer echten Entwicklung zu entsprechen“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 14: AAS 92 (2000) 366.</ref> Die legitimen Forderungen der wirtschaftlichen Effizienz müssen besser mit den Prinzipien der politischen Beteiligung und der sozialen Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden. Konkret bedeutet dies, dass das Netzwerk der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interdependenz, die durch die derzeitigen Globalisierungsprozesse noch verstärkt wird, aus Solidarität geflochten werden muss.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2000, 17: AAS 92 (2000) 367–368.</ref> In diesem Bemühen um ein neues, klar profiliertes Denken, das dazu bestimmt ist, sich auf die Konzeptionen der wirtschaftlichen Realität auszuwirken, erweisen sich die Vereinigungen mit christlicher Zielsetzung als wertvoll, die im wirtschaftlichen Umfeld agieren: Arbeiter-, Unternehmer- und Wirtschaftsverbände.

4. Der Dienst an der Politik

565 Für die gläubigen Laien ist die Politik eine qualifizierte und anspruchsvolle Form des christlichen Engagements im Dienst an den anderen.<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–436.</ref> Das vom Geist des Dienens bestimmte Streben nach dem Gemeinwohl; die Übung der Gerechtigkeit mit besonderer Aufmerksamkeit für die Situationen der Armut und des Leidens; der Respekt vor der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten; das Subsidiaritätsprinzip; die Förderung des Dialogs und des Friedens auf der Grundlage der Solidarität: das sind die Richtlinien, an denen sich das politische Wirken der christlichen Laien orientieren muss. Alle Gläubigen sind als Träger der bürgerlichen Rechte und Pflichten dazu aufgerufen, diese Richtlinien zu respektieren; in besonderem Maße müssen sie aber von denjenigen berücksichtigt werden, die in der Verwaltung der vielschichtigen Problemfelder des öffentlichen Lebens in den örtlichen Behörden oder in nationalen und internationalen Einrichtungen direkte und institutionelle Aufgaben wahrnehmen.

566 Die mit der Verantwortung in den gesellschaftlichen und politischen Institutionen verbundenen Aufgaben erfordern ein strenges und klares Engagement, das in seinen gedanklichen Beiträgen zur politischen Debatte, in seiner Planung und in seinen praktischen Entscheidungen die absolute Notwendigkeit einer moralischen Prägung des sozialen und politischen Lebens deutlich machen kann. Eine nicht ausreichende Beachtung der moralischen Dimension führt zur Entmenschlichung des Gemeinschaftslebens und der sozialen und politischen Einrichtungen und verfestigt die „Strukturen der Sünde“:<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 36: AAS 80 (1988) 561–563.</ref> „Wenn die Christen politisch in Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen leben und handeln, sind sie nicht Auffassungen ausgeliefert, die dem politischen Einsatz fremd sind, und betreiben auch nicht eine Form von Konfessionalismus. Vielmehr leisten sie auf diese Weise ihren stimmigen Beitrag, damit durch die Politik eine soziale Ordnung entsteht, die gerechter ist und mehr der Würde des Menschen entspricht“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 15–16.</ref>

567 Im Zusammenhang mit dem politischen Engagement des gläubigen Laien müssen sich die Christen besonders sorgfältig auf die Ausübung von Macht vorbereiten, zu der sie insbesondere dann verpflichtet sind, wenn sie den demokratischen Regeln gemäß durch das Vertrauen ihrer Mitbürger zu einer solchen Aufgabe berufen werden. Sie müssen das System der Demokratie zu schätzen wissen, da „es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen“,<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850.</ref> und sie müssen geheime Machtgruppen, die die Arbeit der rechtmäßigen Institutionen beeinflussen oder untergraben wollen, zurückdrängen. Die Ausübung der Autorität muss dienenden Charakter haben und sich immer im Rahmen des Sittengesetzes und im Sinne des Gemeinwohls vollziehen:<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 74: AAS 58 (1966) 1095–1097.</ref> Wer politische Autorität ausübt, muss die Kräfte aller Bürger auf dieses eine Ziel hin bündeln, und er sollte dies nicht in autoritärer Weise tun, sondern sich dabei der Kraft einer von der Freiheit inspirierten Sittlichkeit bedienen.

568 Der gläubige Laie ist dazu aufgerufen, in den konkreten politischen Situationen einzuschätzen, welche Schritte realistisch sind und unternommen werden können, um die moralischen Prinzipien und Werte des sozialen Lebens umzusetzen. Das erfordert eine Methode der persönlichen und gemeinschaftlichen Urteilsbildung,<ref> Kongregation für das katholische Bildungswesen, Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche in der Priesterausbildung, 8: Der Apostolische Stuhl 1989, S. 1369–1370.</ref> die um einige Kernpunkte herum angelegt ist: die Kenntnis und Analyse der Situationen mit Hilfe der Sozialwissenschaften und geeigneter Mittel; das systematische Nachdenken über die Realität im Licht der unveränderlichen Botschaft des Evangeliums und der Soziallehre der Kirche; das Erkennen von Wahlmöglichkeiten, die auf eine positive Entwicklung der gegenwärtigen Situation ausgerichtet sind. Aus der Tiefe des Zuhörens und der Deutung der Wirklichkeit können konkrete und wirkungsvolle Entscheidungen zur Tat erwachsen; doch darf man nicht den Fehler machen, sie absolut zu setzen, denn kein Problem wird je endgültig gelöst werden können: „Der Glaube hat nie beansprucht, die sozialpolitischen Inhalte in ein strenges Schema zu zwängen. Man war sich immer bewusst, dass die Geschichte, in der der Mensch lebt, unvollkommene Situationen und oft rasche Veränderungen mit sich bringt“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 7, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 17.</ref>

569 Beispielhaft im Hinblick auf die Anwendung der Urteilskraft ist die Funktionsweise des demokratischen Systems. Dieses wird heute von vielen in einer agnostischen und relativistischen Sichtweise betrachtet, die dazu verleitet, die Wahrheit als ein von der Mehrheit bestimmtes und von dem jeweiligen politischen Gleichgewicht beeinflusstes Produkt zu betrachten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 46: AAS 83 (1991) 850–851.</ref> Vor diesem Hintergrund wiegt die Verpflichtung zur Urteilsbildung besonders schwer, wenn es um Bereiche wie die Objektivität und Richtigkeit von Informationen, die wissenschaftliche Forschung oder wirtschaftliche Entscheidungen geht, die sich auf das Leben der Ärmsten auswirken – oder um Realitäten, die auf grundlegende und unverzichtbare moralische Forderungen wie die Heiligkeit des Lebens, die Unauflöslichkeit der Ehe und die Stärkung der auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründeten Familie verweisen.

In dieser Situation sind einige grundlegende Kriterien hilfreich: die Unterscheidung und zugleich die Verbindung zwischen der gesetzlichen und der sittlichen Ordnung; die Treue zur eigenen Identität und gleichzeitig die Bereitschaft zum Dialog mit allen; die Notwendigkeit, dass der Christ sich in seinem Urteil und in seinem sozialen Engagement auf die dreifache und unteilbare Treue zu den natürlichen, sittlichen und übernatürlichen Werten bezieht, indem er die legitime Autonomie der zeitlichen Wirklichkeiten respektiert, das Bewusstsein von der jedem sozialen und politischen Problem innewohnenden ethischen Dimension fördert und seine Aufgabe im Geist des Evangeliums Jesu Christi erfüllt.

570 Wenn in Bereichen und in Situationen, die auf grundlegende ethische Forderungen verweisen, legislative und politische Entscheidungen vorgeschlagen oder getroffen werden, die den christlichen Prinzipien und Werten widersprechen, lehrt die Kirche „dass das gut gebildete christliche Gewissen niemandem gestattet, mit der eigenen Stimme die Umsetzung eines politischen Programms zu unterstützen, in dem die grundlegenden Inhalte des Glaubens und der Moral durch alternative oder diesen Inhalten widersprechende Vorschläge umgestoßen werden“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 4, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 11.</ref>

Gesetzt den Fall, dass es nicht möglich ist, die Umsetzung solcher politischer Programme abzuwenden oder die betreffenden Gesetze zu verhindern oder außer Kraft zu setzen, dann wäre es, so das Lehramt, einem Abgeordneten, dessen persönliche und unbedingte Opposition in dieser Sache deutlich geworden und allen bekannt ist, erlaubt, Vorschläge zu unterstützen, die dazu dienen, den Schaden dieser Programme und Gesetze zu begrenzen und die negativen Auswirkungen auf der Ebene der Kultur und der öffentlichen Moral zu verringern. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht der Fall einer Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 73: AAS 87 (1995) 486–487.</ref> Das Votum des betreffenden Abgeordneten darf auf keinen Fall als Zustimmung zu einem ungerechten Gesetz, sondern lediglich als ein Beitrag gedeutet werden, um die negativen Folgen einer Gesetzesmaßnahme zu verringern, die von denjenigen verantwortet werden muss, die sie in Kraft gesetzt haben.

Man muss sich vor Augen halten, dass das christliche Zeugnis angesichts der vielfältigen Situationen, in denen grundlegende und unverzichtbare moralische Forderungen auf dem Spiel stehen, als unabdingbare Pflicht zu betrachten ist, die sogar das Opfer des eigenen Lebens, das Martyrium im Namen der Liebe und der Menschenwürde zur Folge haben kann.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 39: AAS 81 (1989) 466–468.</ref> Die Geschichte von zwanzig Jahrhunderten, auch des vergangenen, ist reich an Märtyrern der christlichen Wahrheit, Zeugen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe des Evangeliums. Das Martyrium ist das Zeugnis der Ausrichtung der eigenen Person an Christus, die ihren erhabensten Ausdruck im Vergießen des eigenen Blutes findet, gemäß der Lehre des Evangeliums: „Wenn das Weizenkorn (…) in die Erde fällt und stirbt, (…) bringt es reiche Frucht“ (Joh 12, 24).

571 Das politische Engagement der Katholiken wird häufig an der „Laizität“, also der Unterscheidung zwischen der politischen und der religiösen Sphäre gemessen.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 76: AAS 58 (1966) 1099–1100. </ref> Diese Unterscheidung ist „ein von der Kirche akzeptierter und anerkannter Wert, der zu den Errungenschaften der Zivilisation gehört“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 13–14.</ref> Die katholische Sittenlehre schließt jedoch eine Sichtweise, die die Laizität als Unabhängigkeit vom Sittengesetz versteht, kategorisch aus: „»Laizität« bedeutet nämlich in erster Linie Respekt vor jenen Wahrheiten, die der natürlichen Erkenntnis von dem in der Gesellschaft lebenden Menschen entspringen, auch wenn diese Wahrheiten zugleich von einer bestimmten Religion gelehrt werden, weil es nur eine Wahrheit gibt“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 14–15.</ref> Die Wahrheit aufrichtig zu suchen und die moralischen Wahrheiten, die das gesellschaftliche Leben betreffen – Gerechtigkeit, Freiheit, Achtung vor dem Leben und den anderen Rechten der Person –, zu stärken und zu verteidigen ist das Recht und die Pflicht aller Mitglieder einer sozialen und politischen Gemeinschaft.

Wenn das Lehramt der Kirche sich zu Fragen des gesellschaftlichen und politischen Lebens äußert, widerspricht dies nicht den Forderungen einer richtig verstandenen Laizität, denn sie will damit „weder politische Macht ausüben noch die freie Meinungsäußerung der Katholiken über kontingente Fragen einschränken. Es beabsichtigt jedoch – entsprechend der ihm eigenen Aufgabe –, das Gewissen der Gläubigen zu unterweisen und zu erleuchten, und zwar vor allem jener, die sich im politischen Leben einsetzen, damit ihr Handeln immer der umfassenden Förderung der Person und des Gemeinwohls dient. Die Soziallehre der Kirche stellt keine Einmischung in die Regierung der einzelnen Länder dar. Aber sie beinhaltet für die gläubigen Laien gewiss eine moralische Verpflichtung zu einem kohärenten Leben, die ihrem Gewissen innewohnt, welches einzig und unteilbar ist“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 15.</ref>

572 Das Prinzip der Laizität schließt auch den Respekt vor jeder religiösen Konfession von Seiten des Staates mit ein, „der die freie Ausübung der gottesdienstlichen, spirituellen, kulturellen und karitativen Aktivitäten der Glaubensgemeinschaften garantiert. In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Laizität ein Ort der Kommunikation zwischen den verschiedenen spirituellen Traditionen und der Nation“.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an das Diplomatische Korps (12. Januar 2004), 3: L’Osservatore Romano, 12./13. Januar 2004, S. 5.</ref> Leider bestehen auch in den demokratischen Gesellschaftsformen noch immer Ausprägungen eines intoleranten Laizismus, die die politische und kulturelle Bedeutung des Glaubens in jeder Form behindern und versuchen, das soziale und politische Engagement der Christen in Misskredit zu bringen, weil diese sich in den von der Kirche gelehrten Wahrheiten wiedererkennen und der moralischen Pflicht gehorchen, in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Gewissen zu handeln; man geht sogar so weit, in noch radikalerer Weise die natürliche Ethik selbst zu leugnen. Diese Leugnung, die eine Situation der sittlichen Anarchie und ihre offensichtliche Konsequenz, nämlich das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, anstrebt, kann von keiner Form des legitimen Pluralismus akzeptiert werden, weil sie die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens selbst untergräbt. Bei diesem Stand der Dinge würde „die Marginalisierung des Christentums (…) nicht den zukünftigen Entwurf einer Gesellschaft und die Eintracht unter den Völkern fördern, sondern die geistigen und kulturellen Grundlagen der Zivilisation selbst bedrohen“.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, S. 16.</ref>

573 Ein Bereich, in dem das Urteilsvermögen der gläubigen Laien in besonderer Weise gefordert ist, betrifft die Wahl der politischen Instrumente, also die Zugehörigkeit zu einer Partei oder anderen Ausdrucksformen der politischen Beteiligung. Es gilt eine Entscheidung zu treffen, die mit den Werten übereinstimmt, und dabei auch die tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen. In jedem Fall muss die Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, in der Liebe wurzeln und dem Streben nach dem Gemeinwohl dienen.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435.</ref> Die Forderungen des christlichen Glaubens werden sich schwerlich innerhalb einer einzigen politischen Position wiederfinden lassen: Die Behauptung, dass eine Partei oder ein politisches Lager die Forderungen des christlichen Glaubens und Lebens vollständig erfülle, führt zu gefährlichen Missverständnissen. Der Christ kann keine Partei finden, die den aus seinem Glauben und seiner Kirchenzugehörigkeit entspringenden ethischen Forderungen voll und ganz entspricht: Deshalb soll seine Zugehörigkeit zu einem politischen Lager niemals ideologisch, sondern immer kritisch sein, damit die Partei und ihr politisches Programm dazu ermuntert werden, Formen einer immer größeren Aufmerksamkeit für das Erreichen des wahren Gemeinwohls zu entwickeln, zu dem auch das spirituelle Ziel des Menschen gehört.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435.</ref>

574 Die Unterscheidung zwischen den Anforderungen des Glaubens und den soziopolitischen Optionen einerseits und den Positionen einzelner Christen sowie der christlichen Gemeinschaft als solcher andererseits führt dazu, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder Richtung zumindest innerhalb der Grenzen von Parteien und Positionen, die nicht mit dem Glauben und den Werten des Christentums unvereinbar sind, als eine persönliche Entscheidung zu betrachten ist.<ref> Vgl. Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 50: AAS 63 (1971) 439–440.</ref> Die Wahl der Partei, der Zugehörigkeit, der Personen, denen das öffentliche Leben anvertraut werden soll, verpflichtet zwar das Gewissen jedes Einzelnen, kann aber dennoch keine ausschließlich individuelle Entscheidung sein: „Das ist vielmehr Sache der christlichen Gemeinschaften; sie müssen die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abklären, müssen mit dem Licht der unwandelbaren Lehre des Evangeliums hineinleuchten und der Soziallehre der Kirche Grundsätze für die Denkweise, Normen für die Urteilsbildung und Direktiven für die Praxis entnehmen“.<ref> Paul VI., Enz. Octogesima adveniens, 4: AAS 63 (1971) 403–404.</ref> In jedem Fall hat „niemand das Recht (…), die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“:<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 43: AAS 58 (1966) 1063.</ref> Die Gläubigen sollen vielmehr, „in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu helfen suchen; dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor allem auf das Gemeinwohl bedacht sein“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 43: AAS 58 (1966) 1063.</ref>

SCHLUSS: FÜR EINE ZIVILISATION DER LIEBE

a) Wie die Kirche dem heutigen Menschen hilft

575 Die heutige Gesellschaft spürt und erlebt ein unbestimmtes neues Bedürfnis nach Sinn: „Denn immer wird der Mensch wenigstens ahnungsweise Verlangen in sich tragen, zu wissen, was die Bedeutung seines Lebens, seines Schaffens und seines Todes ist“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 41: AAS 58 (1966) 1059.</ref> Die Versuche, auf die Notwendigkeit einer Zukunftsplanung im neuen Kontext der zunehmend von Komplexität und Interdependenz, doch immer weniger von Ordnung und Frieden geprägten internationalen Beziehungen zu reagieren, erweisen sich als mühselig. Leben und Tod der Personen scheinen einzig in der Hand des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zu liegen, der schneller vonstatten geht, als der Mensch seine Kosten und seinen Nutzen gegeneinander abwägen kann. Andererseits deuten viele Erscheinungen darauf hin, dass die Menschen „in den nationalen Gemeinschaften mit hohem Lebensstandard (…) mehr und mehr die Erfahrung [machen], dass kein äußerer Wohlstand den Glückshunger zu sättigen vermag, und beginnen (…), dem Trugbild eines unbegrenzt anhaltenden glücklichen und sorglosen Lebens auf Erden zu entsagen. Zugleich erstarkt das Bewusstsein der menschlichen Personwürde und ihrer unverzichtbaren und universalen Rechte und damit verbunden das Bemühen, gerechtere und der Menschenwürde angemessenere Beziehungen untereinander herzustellen“.<ref> Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 451.</ref>

576 Auf die grundlegenden Fragen nach dem Sinn und dem Ziel des menschlichen Abenteuers antwortet die Kirche mit der Verkündigung des Evangeliums Christi, das die Würde der menschlichen Person der Veränderlichkeit der Meinungen entzieht und die Freiheit des Menschen in einer Weise garantiert, wie kein menschliches Gesetz es vermag. Das Zweite Vatikanische Konzil hat deutlich gemacht, dass die Sendung der Kirche in der heutigen Welt darin besteht, jedem Menschen zu helfen, damit er in Gott den letzten Sinn seines Daseins erkennt: Die Kirche weiß wohl, „dass Gott, dem sie dient, allein die Antwort ist auf das tiefste Sehnen des menschlichen Herzens, das an den Gaben der Erde nie voll sich sättigen kann“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,41: AAS 58 (1966) 1059.</ref> Nur Gott, der den Menschen nach seinem Bild geschaffen und ihn von der Sünde erlöst hat, kann durch die Offenbarung in seinem Mensch gewordenen Sohn eine vollkommen genügende Antwort auf die grundlegendsten menschlichen Fragen geben: Das Evangelium nämlich „verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; sie verwirft jede Art von Knechtschaft, die letztlich aus der Sünde stammt; sie respektiert sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung; unablässig mahnt sie dazu, alle menschlichen Talente im Dienst Gottes und zum Wohl der Menschen Frucht bringen zu lassen; alle endlich empfiehlt sie der Liebe aller“.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 41: AAS 58 (1966) 1059–1060.</ref>

b) Ein Neuanfang im Glauben an Christus

577 Der Glaube an Gott und an Jesus Christus erleuchtet die sittlichen Grundsätze, die „das einzige und unersetzliche Fundament jener Stabilität und Ruhe, jener inneren und äußeren, privaten und öffentlichen Ordnung sind, die allein den Wohlstand der Staaten hervorzubringen und zu bewahren vermag“.<ref> Pius XII., Enz. Summi Pontificatus: AAS 31 (1939) 425.</ref> Das gesellschaftliche Leben muss im göttlichen Plan verankert sein: „Die theologische Dimension erweist sich sowohl für die Interpretation wie für die Lösung der heutigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens als unabdingbar“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 860–861.</ref> Angesichts der schweren Formen von Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit macht sich „immer verbreiteter und heftiger (…) das Verlangen nach radikaler persönlicher und gesellschaftlicher Erneuerung bemerkbar, die allein imstande ist, Gerechtigkeit, Solidarität, Wahrhaftigkeit und Transparenz zu gewährleisten.

Sicher bleibt noch ein langer und mühsamer Weg zurückzulegen; zahlreiche, gewaltige Anstrengungen müssen unternommen werden, damit eine solche Erneuerung verwirklicht werden kann; Grund dafür sind auch die Vielfalt und Schwere der Ursachen, welche die heutigen ungerechten Zustände in der Welt erzeugen und nähren. Aber wie die Geschichte und die Erfahrung jedes einzelnen lehren, kann man unschwer an der Wurzel dieser Situationen eigentlich »kulturelle« Ursachen entdecken, das heißt Ursachen, die mit bestimmten Auffassungen vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Welt zusammenhängen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt der kulturellen Frage das sittliche Empfinden, das seinerseits auf dem religiösen Empfinden beruht und sich in ihm vollendet“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 98: AAS 85 (1993) 1210; vgl. Id., Enz. Centesimus annus, 24: AAS 83 (1991) 821–822.</ref> Auch im Hinblick auf die „soziale Frage“ sollte man sich nicht zu der „naiven Ansicht“ verleiten lassen, „im Hinblick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit könnte es für uns eine »Zauberformel« geben. Nein, keine Formel wird uns retten, sondern eine Person, und die Gewissheit, die sie uns ins Herz spricht: Ich bin bei euch!

Es geht also nicht darum, ein »neues Programm« zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennen zu lernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt“.<ref> Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 29: AAS 93 (2001) 285.</ref>

c) Eine feste Hoffnung

578 Die Kirche lehrt den Menschen, dass Gott ihm die reale Möglichkeit bietet, das Böse zu überwinden und das Gute zu erreichen. Der Herr hat den Menschen erlöst, er hat ihn „um einen teuren Preis“ erkauft (1 Kor 6, 20). Sinn und Grundlage des christlichen Engagements in der Welt stammen aus dieser Gewissheit, die Hoffnung zu wecken vermag, obwohl die Menschheitsgeschichte zutiefst von der Sünde gezeichnet ist: Die göttliche Verheißung garantiert, dass die Welt nicht in sich selbst verschlossen bleibt, sondern offen ist für das Reich Gottes. Die Kirche kennt „die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit“ (2 Thess 2, 7) und ihre Auswirkungen, aber sie weiß auch, dass „in der menschlichen Person ausreichende Qualitäten und Energien vorhanden sind und es in ihr ein fundamentales »Gutsein« (vgl. Gen 1, 31) gibt, weil der Mensch Ebenbild des Schöpfers ist und im Einfluss des erlösenden Wirkens Christi steht, der »jedem Menschen nahe ist«, und weil das mächtige Wirken des Heiligen Geistes »die Erde erfüllt« (Weish 1, 7)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 47: AAS 80 (1988) 580.</ref>

579 Die christliche Hoffnung erfüllt das Engagement im sozialen Bereich mit großem Tatendrang, weil sie den Menschen Vertrauen einflößt in die Möglichkeit, eine bessere Welt zu schaffen, auch wenn ihnen andererseits bewusst ist, dass es kein „Paradies auf Erden“ geben kann.<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 451.</ref> Die Christen und insbesondere die gläubigen Laien sind dazu aufgerufen, sich so zu verhalten, dass „die Kraft des Evangeliums im alltäglichen Familien- und Gesellschaftsleben aufleuchte. Sie zeigen sich als Söhne der Verheißung, wenn sie stark in Glauben und Hoffnung den gegenwärtigen Augenblick auskaufen (vgl. Eph 5, 16; Kol 4,5) und die künftige Herrlichkeit in Geduld erwarten (vgl. Röm 8, 25). Diese Hoffnung sollen sie aber nicht im Inneren des Herzens verbergen, sondern in ständiger Bekehrung und im Kampf »gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen« (Eph 6, 12) auch durch die Strukturen des Weltlebens ausdrücken“. <ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 35: AAS 57 (1965) 40.</ref> Die religiösen Beweggründe für dieses Engagement sind nicht allen gemeinsam, aber die moralischen Überzeugungen, die sich daraus ergeben, sind ein Punkt, an dem sich die Christen und alle Menschen guten Willens begegnen.

d) Die „Zivilisation der Liebe“ auf bauen

580 Der unmittelbare Zweck der Soziallehre besteht darin, diejenigen Prinzipien und Werte aufzuzeigen, auf denen sich eine menschenwürdige Gesellschaft aufbauen lässt. Unter diesen Prinzipien umfasst das der Solidarität in gewissem Sinne alle anderen: Es ist „eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 10: AAS 83 (1991) 805–806.</ref>

Dieses Prinzip wird erhellt durch die Vorrangstellung der Liebe, „dem Erkennungszeichen der Jünger Christi (vgl. Joh 13, 35)“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 568.</ref> Jesus „belehrt uns (…), dass das Grundgesetz der menschlichen Vervollkommnung und deshalb auch der Umwandlung der Welt das neue Gebot der Liebe ist“ (vgl. Mt 22, 40; Joh 15, 12; Kol 3, 14; Jak 2, 8).<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 38: AAS 58 (1966) 1055–1056; vgl. Id., Dogm. Konst. Lumen gentium, 42: AAS 57 (1965) 47–48; Katechismus der Katholischen Kirche, 826.</ref> vollen Sinne menschlich, wenn es aus der Liebe hervorgeht, die Liebe erfahrbar macht und auf die Liebe ausgerichtet ist. Diese Wahrheit gilt auch für den sozialen Bereich: Die Christen müssen sich mit tiefer Überzeugung zu ihr bekennen und mit ihrem Leben zu zeigen wissen, dass die Liebe die einzige Kraft ist (vgl. 1 Kor 12, 31–14, 1), die die Person und die Gesellschaft zur Vollkommenheit und die Geschichte zum Guten führen kann.

581 Die Liebe muss gegenwärtig sein und alle sozialen Verhältnisse durchdringen:<ref> Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1889.</ref> Vor allem die, deren Pflicht es ist, für das Wohl der Völker zu sorgen, sollen „die Liebe, aller Tugenden Herrin und Königin, in sich bewahren und in den andern, Hohen wie Niederen, anfachen. Das Heil ist ja insbesondere von der vollen Betätigung der Liebe zu erwarten, jener christlichen Liebe, die der kurz gefasste Inbegriff der evangelischen Gebote ist, die, immer bereit, sich selbst für des Nächsten Heil zu opfern, das heilkräftigste Gegengift gegen den Hochmut und Egoismus der Welt darstellt“.<ref> Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 143; vgl. Benedikt XV., Enz. Pacem Dei: AAS 12 (1920) 215.</ref> Diese Liebe kann als „soziale Liebe“<ref> Vgl. Thomas von Aquin,QD De caritate,a. 9,c; Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 206–207; Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 410; Paul VI., Ansprache an die FAO (16. November 1970), 11: AAS 62 (1970) 837–838; Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Kommission „Iustitia et Pax“ (9. Februar 1980), 7: AAS 72 (1980) 187.</ref> oder „politische Liebe“<ref> Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435.</ref> bezeichnet werden und muss sich auf das gesamte Menschengeschlecht erstrecken.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dekr. Apostolicam actuositatem, 8: AAS 58 (1966) 844–845; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 44: AAS 59 (1967) 279; Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 42: AAS 81 (1989) 472–476; Katechismus der Katholischen Kirche, 1939.</ref> Die „soziale Liebe“<ref> Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 15: AAS 71 (1979) 288.</ref> ist das Gegenteil von Egoismus und Individualismus: Ohne das soziale Leben absolut zu setzen, wie dies in der Verflachung einer ausschließlich soziologischen Sichtweise geschieht, darf man nicht vergessen, dass die umfassende Entwicklung der Person und das soziale Wachstum sich wechselseitig bedingen. Daher ist der Egoismus der zerstörerischste Feind einer geordneten Gesellschaft: Die Geschichte zeigt, welche Verwüstungen des Herzens entstehen, wenn der Mensch nicht in der Lage ist, andere Werte und eine andere Wirklichkeit zu entdecken als die der materiellen Güter, die dadurch, dass er sie wie besessen anstrebt, seine Fähigkeit zur Hingabe hemmen und ersticken.

582 Um die Gesellschaft menschlicher, der menschlichen Person würdiger zu machen, muss die Liebe im sozialen Leben – auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene – neu bewertet und zur beständigen und obersten Norm des Handelns erhoben werden. Wenn die Gerechtigkeit in der Lage ist, „zwischen den Menschen nach Gebühr »Recht zu sprechen«, wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die Liebe und nur die Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als »Erbarmen« bezeichnen) fähig, den Menschen sich selbst zurückzugeben“.<ref> Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1223.</ref> Die menschlichen Beziehungen können nicht einfach nur durch Gerechtigkeit geregelt werden: „Der Christ weiß, dass die Liebe der Grund ist, weshalb Gott mit dem Menschen in Beziehung tritt. Und ebenso ist es die Liebe, die Gott sich als Antwort vom Menschen erwartet. Die Liebe ist darum auch die erhabenste und vornehmste Beziehungsform der Menschen untereinander. Die Liebe soll daher jeden Bereich des menschlichen Lebens beseelen und sich desgleichen auf die internationale Ordnung ausdehnen. Nur eine Menschheit, in der die »Zivilisation der Liebe« herrscht, wird sich eines wahren und bleibenden Friedens erfreuen können“.<ref> Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 10: AAS 96 (2004) 121; vgl. Id., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1224; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2212.</ref> Vor diesem Hintergrund empfiehlt das Lehramt nachdrücklich die Solidarität, denn diese vermag das Gemeinwohl zu garantieren, indem sie die umfassende Entwicklung der Personen fördert: Die Liebe „lässt dich den Nächsten als dein zweites Selbst begreifen“.<ref> Johannes Chrysostomus, Homilia De perfecta caritate, 1, 2: PG 56, 281–282.</ref>

583 Nur die Liebe kann den Menschen vollständig verwandeln.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 49–51: AAS 93 (2001) 302–304.</ref> Eine solche Verwandlung bedeutet nicht, dass die irdische Dimension in einer fleischlosen Spiritualität aufginge.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 798–800.</ref> Wer glaubt, sich der übernatürlichen Tugend der Liebe annähern zu können, ohne die entsprechende natürliche Grundlage zu berücksichtigen, zu der auch die Pflichten der Gerechtigkeit gehören, betrügt sich selbst: „Die Liebe ist das größte soziale Gebot. Sie achtet den anderen und dessen Rechte. Sie verlangt gerechtes Handeln, und sie allein macht uns dazu fähig. Sie drängt zu einem Leben der Selbsthingabe: »Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen« (Lk 17, 33)“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, 1889.</ref> Ebenso wenig aber kann sich die Liebe in der bloß irdischen Dimension der menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnisse erschöpfen, denn ihre gesamte Wirksamkeit stammt aus ihrem Gottesbezug: „Am Ende dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor dir erscheinen; denn ich bitte dich nicht, o Herr, meine Werke zu zählen. All unsere Gerechtigkeit ist voll Makel in deinen Augen! Ich will mich also mit deiner eigenen Gerechtigkeit bekleiden und von deiner Liebe den ewigen Besitz deiner selbst erlangen“.<ref> Theresia vom Kinde Jesu, Acte d’offrande à l’Amour miséricordieux, zitiert in Katechismus der Katholischen Kirche, 2011.</ref>

ABKÜRZUNGEN

a. in articulo

AAS Acta Apostolicae Sedis

Ad 1um in responsione ad 1 argumentum

Ad 2um in responsione ad 2 argumentum et ita porro

Ap. Schr. Apostolisches Schreiben

c. Kapitel oder in corpore articuli

can. Kanon

CIC Codex Iuris Canonici (Kodex des Kanonischen Rechts)

d. distinctio

Dekr. Dekret

Dogm. Konst. Dogmatische Konstitution

DS H. DENZINGER - A. SCHÖNMETZER, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum

Ed. Leon. SANCTI THOMAE AQUINATIS DOCTORIS ANGELICI Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita

Enz. Enzyklika

Erkl. Erklärung

Ibid. Ibidem

Id. Idem

Instr. Instruktion

Kap. Kapitel

Pastoralkonst. Pastoralkonstitution

PG Patrologia graeca (J. P. Migne)

PL Patrologia latina (J. P. Migne) quaestio

q. questio

S. Seite

Vgl. Vergleiche

I Prima Pars Summae Theologiae

I-II Prima Secundae Partis Summae Theologiae

II-II Secunda Secundae Partis Summae Theologiae

III Tertia Pars Summae Theologiae


Abkürzungen der biblischen Bücher

STAATSSEKRETARIAT

Aus DEM VATIKAN, 29. Juni 2004

N. 559.332

Herr Kardinal,

im Lauf ihrer Geschichte und insbesondere in den vergangenen einhundert Jahren hat die Kirche es niemals versäumt, im Hinblick auf die Fragen des gesellschaftlichen Lebens das Wort zu ergreifen, das ihr "gebührt", wie Papst Leo XIII. es formuliert hat. Papst Johannes Paul II. seinerseits hat die katholische Soziallehre weiter ausgearbeitet und aktualisiert und drei große Enzykliken veröffentlicht - Laborem exercens, Sollicitudo rei socialis und Centesimus annus -, die grundlegende Etappen des katholischen Denkens zu diesem Thema darstellen. Zahlreiche Bischöfe in allen Teilen der Welt wiederum haben in jüngerer Zeit dazu beigetragen, die Soziallehre der Kirche zu vertiefen. Dasselbe haben viele Wissenschaftler auf allen Kontinenten getan.

1. Deshalb lag es nahe, die Abfassung eines Kompendiums über die gesamte Materie zu veranlassen, das einen systematischen Überblick über die Kernpunkte der katholischen Soziallehre bietet. Diese Aufgabe hat der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden in lobenswerter Weise übernommen und in den vergangenen Jahren eine intensive Arbeit auf diese Initiative verwandt.

Daher bin ich glücklich über das Erscheinen des Werkes Kompendium der Soziallehre der Kirche und freue mich gemeinsam mit Ihnen, es den Gläubigen und allen Menschen guten Willens zur Stärkung ihres menschlichen und geistlichen, persönlichen und gemeinschaftlichen Wachstums übergeben zu können.

2. Dieses Werk zeigt, dass die katholische Soziallehre auch ein Instrument der Evangelisierung ist (vgl. Centesimus annus, 54), weil es die menschliche Person und die Gesellschaft mit dem Licht des Evangeliums in Beziehung setzt. Die Grundsätze der Soziallehre der Kirche, die auf dem Naturrecht beruhen, werden im Glauben der Kirche vom Evangelium Christi bestätigt und vertieft.

Vor diesem Hintergrund ist der Mensch vor allem dazu eingeladen, sich in jeder Dimension des Lebens - also auch in der, die an den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext gebunden ist - als transzendentes Wesen zu entdecken. Der Glaube führt die Bedeutung der Familie zur Vollendung, die, auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau begründet, die erste und lebenswichtige Zelle der Gesellschaft bildet; er erhellt überdies die Würde der Arbeit, die als Tätigkeit, in der der Mensch sich selbst verwirklicht, den Vorrang vor dem Kapital besitzt und zur Teilhabe an den durch sie hervorgebrachten Früchten berechtigt.

3. Der vorliegende Text lässt zudem die Bedeutung der moralischen Werte erkennen. Diese gründen auf dem Naturrecht, das dem Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben ist und somit anerkannt und beachtet werden muss. Die Menschheit verlangt heute größere Gerechtigkeit im Umgang mit dem vielschichtigen Phänomen der Globalisierung; sie sorgt sich lebhaft um die Ökologie und die rechte Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten; sie spürt die Notwendigkeit, das nationale Bewusstsein zu pflegen, ohne dabei jedoch den Weg des Rechts und das Bewusstsein von der Einheit der Menschheitsfamilie aus den Augen zu verlieren. Die Welt der Arbeit, die durch die modernen technologischen Errungenschaften zutiefst verändert worden ist, hat in qualitativer Hinsicht Herausragendes vorzuweisen, muss andererseits jedoch auch unerhörte Formen von Instabilität, Ausbeutung und sogar Sklaverei innerhalb der so genannten Wohlstandsgesellschaften registrieren. In manchen Gegenden dieser Erde wächst das Wohlstandsniveau weiter, während sich die Zahl der neuen Armen in bedrohlichem Maß erhöht und in verschiedenen Regionen die Kluft zwischen den weniger entwickelten und den reichen Ländern immer tiefer wird. Der freie Markt, ein wirtschaftlicher Prozess, der seine positiven Seiten hat, stößt dennoch auch an seine Grenzen. Dem gegenüber stellt die vorrangige Liebe zu den Armen eine Grundentscheidung der Kirche dar, die diese allen Menschen guten Willens ans Herz legt.

So scheint es, als ob die Kirche nicht aufhören dürfte, ihre Stimme zu erheben und sich zu den res novae der modernen Zeit zu äußern, weil es ihre Aufgabe ist, alle zu einem wirksamen Engagement für eine authentische Zivilisation einzuladen, die auf eine umfassende und solidarische Entwicklung des Menschen ausgerichtet ist.

4. Die gegenwärtigen kulturellen und sozialen Fragen betreffen vor allem die gläubigen Laien, die - darauf weist das Zweite Vatikanische Konzil hin - gerufen sind, die zeitlichen Dinge dem Willen Gottes gemäß zu ordnen (vgl. Lumen gentium, 31). Es liegt auf der Hand, wie wichtig die Bildung der Laien ist, die durch die Heiligkeit ihres Lebens und die Kraft ihres Zeugnisses zum Fortschritt der Menschheit beitragen können. Das vorliegende Dokument will ihnen bei der Erfüllung ihres täglichen Sendungsauftrags helfen.

Dabei können wir feststellen, dass zahlreiche der hier zusammengestellten Elemente von anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und ebenso von anderen Religionen geteilt werden. Der Text ist in einer Weise ausgearbeitet worden, dass er nicht nur ad intra, also den Katholiken, sondern auch ad extra Nutzen bringen kann. Denn die mit uns in derselben Taufe vereinten Brüder, die Gläubigen anderer Religionen und alle Menschen guten Willens können daraus fruchtbare Denkanstöße und einen gemeinschaftlichen Impuls für die umfassende Entwicklung jedes Menschen und des ganzen Menschen gewinnen.

5. Der Heilige Vater wünscht, dass das vorliegende Dokument der Menschheit bei ihrem Streben nach dem Gemeinwohl helfen möge. Er ruft den Segen Gottes auf alle herab, die sich die Zeit nehmen, um über die Lehren dieser Veröffentlichung nachzudenken. Auch ich möchte meine persönlichen Segenswünsche für den Erfolg dieses Werkes zum Ausdruck bringen und beglückwünsche Ihre Eminenz und die Mitarbeiter des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden für die wichtige Arbeit, die sie geleistet haben. Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener Diener im Herrn

ANGELO Kard. SODANO

Staatssekretär

An Seine Hochwürdigste Eminenz
Herrn Kard. RENATO RAFFAELE MARTINO
Präsident des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden
VATIKANSTADT

VORSTELLUNG DES KOMPENDIUMS

Ich freue mich, das Dokument Kompendium der Soziallehre der Kirche vorstellen zu können, das im Auftrag des Heiligen Vaters Johannes Paul II. erarbeitet worden ist, um die Soziallehre der Kirche zusammenfassend, aber vollständig darzulegen.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit mit der Kraft des von Frauen und Männern in Treue zu Jesus Christus bezeugten Evangeliums umzugestalten, ist schon immer eine Herausforderung gewesen und ist es noch heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung. Die Botschaft Jesu Christi, die "gute Nachricht" des Heils, der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens findet nicht leicht Aufnahme in der Welt von heute, die noch immer von Kriegen, Elend und Ungerechtigkeit verwüstet wird; gerade deshalb braucht der Mensch unserer Zeit das Evangelium mehr denn je: Er braucht den Glauben, der rettet, die Hoffnung, die erleuchtet, und die Liebe, die sich hingibt.

Die Kirche, erfahren in der Humanität, blickt auch weiterhin in vertrauensvoller und gleichzeitig tätiger Erwartung dem "neuen Himmel" und der "neuen Erde" (2 Petr 3, 13) entgegen und lenkt auch die Blicke jedes Menschen auf diese hin, weil sie ihm helfen will, sein Leben in einem authentischen Sinn zu leben. "Gloria Dei vivens homo": Der Mensch, der in der Fülle seiner Würde lebt, verherrlicht Gott, der ihm diese Würde verliehen hat.

Die Lektüre der hier vorgelegten Seiten soll vor allem dem Zweck dienen, die Christen und insbesondere die gläubigen Laien in dem für sie charakteristischen sozialen Engagement zu unterstützen und zu ermutigen; ihr ganzes Leben soll ein fruchtbares Werk der Evangelisierung sein. Jeder Gläubige muss vor allem lernen, dem Herrn mit der Kraft des Glaubens zu gehorchen - nach dem Beispiel des heiligen Petrus: "Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen" (Lk 5,5). Jeder Leser "guten Willens" kann die Beweggründe erkennen, die die Kirche dazu veranlassen, mit einer Soziallehre in den gesellschaftlichen Bereich einzugreifen, für den sie auf den ersten Blick nicht zuständig zu sein scheint, und er wird sehen, welche Argumente für die Begegnung, den Dialog und den gemeinsamen Dienst am Gemeinwohl sprechen.

Mein Vorgänger, der verehrte Kardinal François-Xavier Nguyen Van Thuan, hat die komplexe Phase der Vorbereitung dieses Dokuments mit Weisheit, Beständigkeit und Weitblick geleitet; die Krankheit hinderte ihn daran, diese Arbeit mit der Veröffentlichung abzuschließen. Dieses mir anvertraute Werk, das nun dem Leser übergeben wird, trägt somit das Siegel eines großen Zeugen des Kreuzes, der in den dunklen und schrecklichen Jahren von Vietnam seine Glaubensstärke unter Beweis gestellt hat. Er wird unsere Dankbarkeit für all seine wertvolle Arbeit entgegenzunehmen wissen, die er mit Liebe und Hingabe geleistet hat, und er wird alle segnen, die sich die Zeit nehmen, über diese Seiten nachzudenken.

Ich bitte den heiligen Josef, den Beschützer des Erlösers und Bräutigam der Seligen Jungfrau Maria, den Patron der Weltkirche und der Arbeit, um seine Fürsprache, damit dieser Text im gesellschaftlichen Leben reiche Frucht bringt als ein Werkzeug der Verkündigung des Evangeliums, der Gerechtigkeit und des Friedens.

Vatikanstadt, 2. April 2004, am Fest des heiligen Franz von Paola.
RENATO RAFFAELE Kard. MARTINO

Präsident
† GIAMPAOLO CREPALDI

Sekretär

Anmerkungen

<references />

Weblinks