Integralismus

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Der Gebrauch des Begriffs Integralismus bezeichnet vor allem die historische Gegenposition zum Modernismus. Beide Begriffe sind jedoch unbestimmt und bedürfen im jeweiligen Kontext einer genaueren Prüfung. Im Rückblick auf die Zeit zwischen 1864 (Syllabus) und 1964 (Liturgiereform) werden im Umfeld des Katholizismus als Integralisten (von: catholicisme integral, catholiques integraux) vornehmlich die besonders traditionsbewussten Anhänger des päpstlichen Jurisdiktionsprimats bezeichnet, die aus der antimodernen Grundhaltung des Papsttums das Prinzip ableiteten, sämtliche Gesellschaftsbereiche müssten gemäß kirchlich amtlicher Vorgaben gestaltet werden. Eine Deutung sämtlicher Lebensbereiche im Lichte des Evangeliums ist jedoch nicht integralistisch, sondern Inbegriff der katholischen Religion überhaupt. Auch ist das petrinische Prinzip unverzichtbar, wonach der Kirche ein Vorrang vor Politik und Gesellschaft zukommt.

Integralismus: Tendenz oder Ideologie?

Allerdings hatte bereits Papst Benedikt XV. in seiner Antrittsenzyklika vom 1. November 1914, unter gleichzeitiger Bekräftigung der gegen den Modernismus gerichteten Verurteilungen Pius X., angesichts des Krieges, dringend darauf hingewirkt, dass die Einheit der Kirche den Vorrang vor internen Konflikten haben müsse. Die extrem antimoderne Fraktion der römischen Kurie, mit Sympathisanten in einigen europäischen Ländern, wollte nämlich den Kampf gegen den Modernismus zum Leitprinzip der katholischen Identität erheben, obwohl dieser im wesentlichen bereits um 1909 zugunsten der Maßnahmen Pius X. entschieden war (Exkommunikation von Alfred Loisy). Bereits seitdem hat eine eigentlich integralistische Haltung keine päpstliche Unterstützung, auch wenn Pius X. sich bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges des Erfolges seines Programms noch nicht sicher war. Integralistische Tendenzen innerhalb der römischen Kurie konnten sich somit nicht zu einem geschlossenen Weltbild verfestigen.

Integralismus und Intransigenz

Jedoch muss auch für die Zeit vorher genau zwischen der antimodernen Intransigenz der Päpste einerseits unterschieden werden und der zum Integralismus gesteigerten, exzessiven Übertreibung dieser Position andererseits. Während es zu allen Zeiten die Aufgabe der kirchlichen Führung ist, eine notwendige Kompromisslosigkeit gegenüber Irrtum und Niedergang der öffentlichen Moral auszuüben, ist das päpstliche und bischöfliche Amt aber auch befugt, die je erforderlichen Anpassungen an eine neue Weltsituation oder kulturelle Herausforderung anzuleiten. Dies bedeutet nicht, dass sich der Inhalt der kirchlichen Verkündigung im Wesentlichen ändert. Die Grenzlinie zwischen wesentlichem Inhalt und verzichtbaren Ausdrucksformen zu ziehen, das steht jedoch dem kirchlichen Lehramt zu, nicht einem einzelnen Bischof oder Theologen.

Zur vollen Ausprägung gelangte der Integralismus als katholisch inspirierte Weltanschauung erst durch die Kritik der Traditionalisten am II. Vatikanum. Vor diesem Hintergrund wollen heutige Vertreter des Integralismus, der nämlich politischen Ideen der Extremen Rechten nahesteht, dem Papsttum eine nominelle Allzuständigkeit für Kirche, Gesellschaft und Politik aufdrängen, welche dieses in der Geschichte so nie in Anspruch genommen hat. Würde der Papst beispielsweise den von Marcel Lefebvre um 1974 formulierten neuen, absolut falschen Traditionsbegriff akzeptieren, so würde zugleich jede wirkliche Relevanz der Religion in der Öffentlichkeit ausgeschaltet. Denn die katholische Variante eines politischen Totalitarismus funktioniert nur als virtuelles Konzept. Auch in der schwierigen Zeit zwischen den Weltkriegen, als noch keine hinreichend überzeugenden Erfahrungen mit der demokratischen Staatsidee (außer in Großbritanien und USA) vorlagen, hat das päpstliche Lehramt Pius XI. sich stets antitotalitär verhalten und sich integralistische Tendenzen nicht angeeignet ("Pax Christi in Regno Christi"). Insbesondere in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien wäre in der Lebenswirklichkeit der modernen Zivilisation ein im Namen des "Christkönig" errichtetes Regime sogar weniger lebensfähig gewesen als jede ideologisch motivierte Diktatur. Überdies würde eine Machtergreifung eines integralistisch gefärbten Katholizismus in der Praxis die Religion den Bedingungen der politischen Herrschaft unterwerfen, unter Behauptung des Gegenteils. Somit hat das Vatikanum II eine Abgrenzung unternommen, die bereits in der Soziallehre der Kirche seit Pius IX. vorgezeichnet war, aber noch einer profunden Klärung bedurfte.

Integralismus und Traditionskritik

Einzuräumen ist jedoch, dass integralistische Ideen von jener Epoche begünstigt wurden, in der die katholische Religion in die Defensive geraten war. Der Integralismus entstammt konzeptionell dieser "oppositionellen Phase" insbesondere des frz. Katholizismus zwischen 1830 und 1914. Die von Papst Leo XIII. seit 1878 betriebene Annäherung des Papsttums an die Republik wurde von Klerus und Adel des traditionell antirepublikanischen frz. Katholizismus nur sehr zögernd akzeptiert. Der Kampf Pius X. gegen die Trennungsgesetzgebung von 1905 fand hingegen lebhaften Beifall bei der Action francaise. Deren Führer, Charles Maurras, wurde von Pius X. zeitweilig mit Wohlwollen bedacht, anders als im Fall des Sillon. Dennoch musste sich der Papst davon überzeugen, dass wesentliche Anschauungen der integralistischen Bewegung mit der katholischen Tradition unvereinbar sind und fasste 1914 die Absicht, etliche Thesen der A.F. zu verurteilen, mit deren Weltanschauung auch der heutige Integralismus noch sympathisiert. Kriegsbedingt wurde die Publikation aufgeschoben, die dann Pius XI. um Weihnachten 1926 verfügte, bewusst anknüpfend an seinen mittelbaren Vorgänger. Die Bemühungen der Action francaise um die Errichtung eines autoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, verkörperte das Papsttum sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf Autorität gestützten Ordnung. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner "Romanité" nicht gemeint. Der Papst fungiert aus integralistischer Sicht als symbolische Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden Dialektik wird er zwar zum allzuständigen "Gottkönig" (unter naturalistischer Umdeutung seiner Funktion als vicarius Christi) ausgerufen, muss diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben ausfüllen. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee", die in Frankreich von einer lautstarken Minderheit prägnanter als andernorts vorgetragen wurde, mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits Pius VIII. erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine parlamentarische Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Auch der Syllabus Pius IX. fordert keinen katholischen Absolutismus, sondern wehrt sich gegen den totalen Staat, der in Gestalt des damals rigoros kirchenfeindlich ideologischen Liberalismus im zwischen 1860 und 1870 geeinten Königreichs Italien der Freiheit der Kirche entgegentrat. Die präzisere Ausrichtung der Kirche auf die politischen Strukturen der Moderne machte mithin eine Traditionskritik erforderlich. Dass diese insbesondere in Frankreich heftigste Gegenreaktionen hervorrief, wird aus der Geschichte des frz. Katholizismus plausibel.

Integralismus heute

Der heutige Einfluss des Integralismus ist extrem gering. Diese Kreise artikulieren ihre Thesen abseits des gesellschaftlichen Diskurses, mit zum Teil frastisch gesteigerter Heftigkeit (vgl. Sedisvakantismus) in kleinsten Splittergruppen. Man rechnet mit allenfalls 150.000 "bekennenden" Anhängern (von 1,1 Mrd. Katholiken). Unter Ausnutzung der Kritik an der Liturgiereform artikulieren sich diese Kreise jedoch sehr lautstark und gewinnen mitunter Zuspruch bei frommen Katholiken, die sich, konservativ empfindend, von der allzu leichtfertigen Identifikation führender Vertreter eines "neoliberalen" oder sogar politisch links artikulierten Engagements inmitten der Kirche angewidert fühlen. Da die monarchische Staatsidee seit dem 1. Weltkrieg aber völlig delegitimiert ist, wünschen heute selbst traditionsbewusste Adelsdynastien eine Regierungsform mittels politischer Partizipation der Bürger (vgl. Großbritannien, Spanien). Das politische Konzept einer an der Menschenrechtsidee orientierten Ordnung eint seit 1948 alle relevanten Kulturstaaten. Eine alternative Antwort auf die Krise des modernen Humanismus ist auch nicht vorstellbar. Seit 1963 (Enz. Pacem in terris) bekennt sich daher auch das Papsttum zu dieser Leitidee, die, anders als die Parolen der frz. Revolution von 1789, nicht mehr den Anspruch erhebt, in Konkurrenz zur religiösen Wahrheit zu treten.

Interessant wird die integralistische Variante des katholischen Lebensgefühls aber für solche, die subjektiv ein religiöses Bedürfnis befriedigen wollen, das von der traditionellen Ästhetik des Katholizismus ansprechender bedient wird als von anderen Anbietern. Diese Nutznießer des Integralismus haben aber, unter Behauptung des Gegenteils, den strikt individualistisch-subjektiven Charakter ihrer Ausübung der "Wahrheit" als Prämisse akzeptiert. Sie sind "Modernisten" unter Behauptung des Gegenteils, da sie den Anspruch des kirchlichen Amtes (diesmal im Namen der "Tradition") abstreiten. Insoweit bereichert der Integralismus das bunte Sortiment postmoderner Esoterik um ein besonders anspruchsvolles Produkt. Er weicht aber dem eigentlich öffentlich wirksamen Geltungsanspruch, der den Katholizismus auszeichnet, rigoroser aus, als es selbst bei evangelikalen Freikirchen und nur mittelbar mit dem Christentum verbundenen Sekten anzutreffen ist, die keinen eigentlich öffentlichen Anspruch erheben. Insoweit darf man zusammenfassen, dass die Kirche der Versuchung des 20. Jahrhunderts erfolgreich widerstanden hat, dem politischen Naturalismus "von rechts" in die Falle zu gehen, wie sie zuvor dem Liberalismus entgegentreten musste.

Literatur

Yves Congar, Der Fall Lefebvre, Freiburg u.a. 1977.