Integralismus: Unterschied zwischen den Versionen

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(Integralismus und Traditionskritik)
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Die Bemühungen der ''Action francaise'' um die Errichtung eines autoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der restaurativen Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, sich gegen Ende seines Lebens aber katholischen Positionen näherte, verkörperte das Papsttum  sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf [[Autorität]] gestützten Ordnungsmacht. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner ''Romanité'' nicht gemeint.  
 
Die Bemühungen der ''Action francaise'' um die Errichtung eines autoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der restaurativen Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, sich gegen Ende seines Lebens aber katholischen Positionen näherte, verkörperte das Papsttum  sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf [[Autorität]] gestützten Ordnungsmacht. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner ''Romanité'' nicht gemeint.  
  
Der Papst fungiert aus integralistischer Sicht als symbolische Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden [[Dialektik]] wird er zwar zum allzuständigen "Gottkönig" (unter naturalistischer Umdeutung seiner Funktion des [[vicarius Christi]]) ausgerufen, müsste diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben (so gen. "Tradition") ausfüllen. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee", die in Frankreich von einer lautstarken Minderheit prägnanter als andernorts vorgetragen wurde, mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits [[Pius VIII.]] erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine Art parlamentarischer Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Auch der Syllabus [[Pius IX.]] fordert 1864 keinen katholischen [[Absolutismus]], sondern wehrt sich gegen den totalen Staat, der (in Gestalt des damals rigoros kirchenfeindlichen Liberalismus) der Freiheit der Kirche entgegentrat. Dies geschah mit besonderer Heftigkeit im zwischen 1860 und 1870 geeinten Königreich Italien, dessen parlamentarisch-liberale Regierungsform nicht mit heutigen demokratischen Verfassungen vergleichbar war (nur eine kleine Minderheit der Bürger war im Parlament vertreten).  
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Der Papst fungiert aus integralistischer Sicht als symbolische Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden [[Dialektik]] wird er zwar zum allzuständigen "Gottkönig" (unter naturalistischer Umdeutung seiner Funktion des [[vicarius Christi]]) ausgerufen, müsste diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben (so gen. "Tradition") ausfüllen. Das ist mit der [[sakrament]]alen Auffassung vom Amt in der Kirche unvereinbar. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee", die in Frankreich von einer lautstarken Minderheit (prägnanter als andernorts) vorgetragen wurde, mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits [[Pius VIII.]] erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine Art parlamentarischer Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Auch der Syllabus [[Pius IX.]] fordert 1864 keinen katholischen [[Absolutismus]], sondern wehrt sich gegen den totalen Staat, der (in Gestalt des damals rigoros kirchenfeindlichen Liberalismus) der Freiheit der Kirche entgegentrat. Dies geschah mit besonderer Heftigkeit im zwischen 1860 und 1870 geeinten Königreich Italien, dessen parlamentarisch-liberale Regierungsform nicht mit heutigen demokratischen Verfassungen vergleichbar war (nur eine kleine Minderheit der Bürger war im Parlament vertreten).  
  
 
Die präzisere Ausrichtung der Kirche auf die politischen Strukturen der Moderne machte mithin eine ''Traditionskritik'' erforderlich. Dass diese insbesondere in Frankreich heftigste Gegenreaktionen hervorrief, wird aus der Geschichte des frz. Katholizismus plausibel.
 
Die präzisere Ausrichtung der Kirche auf die politischen Strukturen der Moderne machte mithin eine ''Traditionskritik'' erforderlich. Dass diese insbesondere in Frankreich heftigste Gegenreaktionen hervorrief, wird aus der Geschichte des frz. Katholizismus plausibel.

Version vom 28. Juli 2008, 09:32 Uhr

Der Gebrauch des Begriffs Integralismus bezeichnet vor allem die historische Gegenposition zum Modernismus. Beide Begriffe sind jedoch unbestimmt und bedürfen im jeweiligen Kontext einer genaueren Prüfung. Im Rückblick auf die Zeit zwischen 1864 (Syllabus) und 1964 (Liturgiereform) wurden im Umfeld des Katholizismus als "Integralisten" (von: 'catholicisme integral', catholiques integraux) vornehmlich solche besonders traditionsbewussten Anhänger des päpstlichen Jurisdiktionsprimats bezeichnet, die aus der antimodernen Grundhaltung des Papsttums im 19. Jahrhundert das Prinzip ableiteten, sämtliche Gesellschaftsbereiche müssten gemäß kirchlich amtlicher Vorgaben gestaltet werden. Eine Deutung sämtlicher Lebensbereiche im Lichte des Evangeliums ist jedoch nicht integralistisch, sondern Inbegriff der katholischen Religion überhaupt. Denn für diese ist das petrinische Prinzip unverzichtbar, wonach der Kirche ein Vorrang vor Politik und Gesellschaft zukommt. Somit ist eine notwendige Intransigenz der kirchlichen Lehre (ihre "Kompromisslosigkeit") zu unterscheiden vom ideologisch motivierten Integralismus.

Integralismus: Tendenz oder Ideologie?

Daher hatte bereits Papst Benedikt XV. in seiner Antrittsenzyklika vom 1. November 1914, unter gleichzeitiger Bekräftigung der gegen den Modernismus gerichteten Verurteilungen Pius X., angesichts des Krieges, dringend darauf hingewirkt, dass die Einheit der Kirche den Vorrang vor internen Konflikten haben müsse. Eine extrem antimoderne Gruppe, das Sodalitium Pianum, innerhalb der römischen Kurie tätig und mit Sympathisanten in einigen europäischen Ländern ausgestattet, wollte nämlich den Kampf gegen den Modernismus zum Leitprinzip der katholischen Identität insgesamt erheben, obwohl dieser im wesentlichen bereits um 1908, zugunsten der Maßnahmen Pius X., entschieden war (Exkommunikation von Alfred Loisy).

Bereits seither hat eine eigentlich integralistische Haltung keine päpstliche Unterstützung, auch wenn Pius X. sich, bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, des Erfolges seines pastoralen Programms noch nicht sicher sein konnte. Nie hatten sich die integralistischen Tendenzen (innerhalb der römischen Kurie und insb. bei den Jesuiten) zu einem geschlossenen Weltbild verfestigt, da die kirchenamtlich Verantwortlichen (auch in den folgenden Jahrzehnten) auf immer neue Herausforderungen der Zeit reagieren mussten.

Integralismus und Intransigenz

Jedoch muss bereits für die Zeit vor 1914 genau zwischen der antimodernen Intransigenz der Päpste einerseits unterschieden werden und der zum Integralismus gesteigerten, exzessiven Übertreibung dieser Position andererseits. Während es zu allen Zeiten die Aufgabe der kirchlichen Führung ist, eine notwendige Agrenzung gegenüber Irrtum und Niedergang der öffentlichen Moral auszuüben, ist das päpstliche und bischöfliche Amt (!) aber auch befugt, die je erforderlichen Anpassungen an eine neue Weltsituation oder kulturelle Herausforderung anzuleiten. Dies bedeutet nicht, dass sich der Inhalt der kirchlichen Verkündigung im Wesentlichen ändert. Die Grenzlinie zwischen wesentlichem Inhalt und verzichtbaren oder abänderbaren Ausdrucksformen zu ziehen, das steht jedoch dem kirchlichen Lehramt zu, nicht einem einzelnen Bischof oder einzelnen Theologen.

Zur vollen Ausprägung einer selbstständigen Ideologie gelangte der Integralismus, als scheinbar "katholisch" inspirierte Weltanschauung, erst durch die Kritik des Traditionalismus gegenüber wesentlichen Aussagen des II. Vatikanum. Vor diesem Hintergrund wollen heutige Vertreter des Integralismus, die fast immer politischen Ideen der extremen Rechten nahestehen, dem Papsttum eine (nur nominelle, da an ideologische Vorgaben namens "Tradition" gebundene) Allzuständigkeit für Kirche, Gesellschaft und Politik aufdrängen, welche dieses in der Geschichte aber so nie in Anspruch genommen hat.

Würde der Papst beispielsweise den von Marcel Lefebvre um 1974 formulierten neuen, absolut falschen Traditionsbegriff akzeptieren, so würde zugleich jede wirkliche Relevanz der Religion in der Öffentlichkeit ausgeschaltet. Denn diese katholische Variante eines politischen Totalitarismus funktioniert nur als virtuelles Konzept.

Auch in der schwierigen Zeit zwischen den Weltkriegen, als noch keine hinreichend überzeugenden Erfahrungen mit der demokratischen Staatsidee (außer in Großbritanien und USA) vorlagen, hat das päpstliche Lehramt von Pius XI. sich explizit antitotalitär verhalten und sich integralistische Tendenzen nicht angeeignet. Insbesondere in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien wäre in der Lebenswirklichkeit der modernen Zivilisation ein im Namen des "Christkönig" errichtetes Regime sogar weniger lebensfähig gewesen als jede ideologisch motivierte Diktatur. Überdies würde eine Machtergreifung eines integralistisch gefärbten Katholizismus in der Praxis die Religion den Bedingungen der politischen Herrschaft unterwerfen, nur unter Behauptung des Gegenteils.

Somit hat das Vatikanum II eine Abgrenzung unternommen, die bereits in der Soziallehre der Kirche seit Pius IX. vorgezeichnet war, aber noch einer profunden Klärung bedurfte.

Integralismus und Traditionskritik

Integralistische Ideen wurden von jener Epoche begünstigt, in der die katholische Religion in die Defensive geraten war. Der Integralismus entstammt konzeptionell dieser "oppositionellen Phase" insbesondere des frz. Katholizismus zwischen 1830 und 1914. Die von Papst Leo XIII. seit 1878 betriebene Annäherung des Papsttums an die Republik wurde von Klerus und Adel des traditionell antirepublikanischen frz. Katholizismus nur sehr zögernd akzeptiert. Der Kampf Pius X. gegen die Trennungsgesetzgebung von 1905 fand hingegen lebhaften Beifall bei der antidemokratischen Action francaise. Deren Führer, Charles Maurras, wurde von Pius X. zeitweilig mit Wohlwollen bedacht, anders als Marc Sangnier im Fall des republiknahen Sillon. Dennoch musste sich der Papst davon überzeugen, dass wesentliche Anschauungen der integralistisch motivierten Bewegung mit der katholischen Tradition unvereinbar sind und fasste 1914 die Absicht, etliche Thesen der A.F. zu verurteilen. Mit deren Weltanschauung sympathisieren auch Strömungen des heutigen Integralismus noch. Kriegsbedingt wurde die Publikation aufgeschoben, die dann Pius XI. um Weihnachten 1926 verfügte, bewusst anknüpfend an seinen mittelbaren Vorgänger.

Die Bemühungen der Action francaise um die Errichtung eines autoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der restaurativen Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, sich gegen Ende seines Lebens aber katholischen Positionen näherte, verkörperte das Papsttum sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf Autorität gestützten Ordnungsmacht. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner Romanité nicht gemeint.

Der Papst fungiert aus integralistischer Sicht als symbolische Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden Dialektik wird er zwar zum allzuständigen "Gottkönig" (unter naturalistischer Umdeutung seiner Funktion des vicarius Christi) ausgerufen, müsste diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben (so gen. "Tradition") ausfüllen. Das ist mit der sakramentalen Auffassung vom Amt in der Kirche unvereinbar. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee", die in Frankreich von einer lautstarken Minderheit (prägnanter als andernorts) vorgetragen wurde, mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits Pius VIII. erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine Art parlamentarischer Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Auch der Syllabus Pius IX. fordert 1864 keinen katholischen Absolutismus, sondern wehrt sich gegen den totalen Staat, der (in Gestalt des damals rigoros kirchenfeindlichen Liberalismus) der Freiheit der Kirche entgegentrat. Dies geschah mit besonderer Heftigkeit im zwischen 1860 und 1870 geeinten Königreich Italien, dessen parlamentarisch-liberale Regierungsform nicht mit heutigen demokratischen Verfassungen vergleichbar war (nur eine kleine Minderheit der Bürger war im Parlament vertreten).

Die präzisere Ausrichtung der Kirche auf die politischen Strukturen der Moderne machte mithin eine Traditionskritik erforderlich. Dass diese insbesondere in Frankreich heftigste Gegenreaktionen hervorrief, wird aus der Geschichte des frz. Katholizismus plausibel.

Integralismus heute

Der heutige Einfluss des Integralismus ist extrem gering. Diese Kreise artikulieren ihre Thesen abseits des gesellschaftlichen Diskurses, mit zum Teil drastisch gesteigerter Heftigkeit (vgl. Sedisvakantismus) in kleinsten Splittergruppen. Man rechnet mit allenfalls 150.000 bekennenden Anhängern (von 1,1 Mrd. Katholiken), die meist untereinander extrem zerstritten sind. Unter Ausnutzung der Kritik an der Liturgiereform artikulieren sich diese Kreise jedoch sehr lautstark und gewinnen mitunter Zuspruch bei frommen Katholiken, die sich, konservativ empfindend, von einer allzu leichtfertigen Identifikation führender Vertreter eines "neoliberalen" (oder sogar politisch links) artikulierten Engagements inmitten der Kirche angewidert fühlen. Da die monarchische Staatsidee seit dem 1. Weltkrieg aber völlig delegitimiert ist, befürworten heute selbst traditionsbewusste Adelsdynastien eine Regierungsform mittels politischer Partizipation der Bürger (vgl. Großbritannien und Spanien).

Das politische Konzept einer an der Menschenrechtsidee orientierten Ordnung eint, seit der Deklaration der Vereinten Nationen von 1948, alle relevanten Kulturstaaten. Eine alternative Antwort auf die Krise des modernen Humanismus ist auch nicht vorstellbar. Vorbereitet seit 1914, explizit seit 1963 (mit der Enz. Pacem in terris) bekennt sich daher auch das Papsttum zu dieser Leitidee, die, anders als die Parolen der frz. Revolution von 1789, nicht mehr den Anspruch erhebt, in Konkurrenz zur religiösen Wahrheit zu treten.

Interessant wird die integralistische Variante (genauer: "Mutation") des katholischen Lebensgefühls aber für solche, die subjektiv ein religiöses Bedürfnis befriedigen wollen, das von der traditionellen Ästhetik des Katholizismus ansprechender bedient wird als von anderen Anbietern. Diese Nutznießer des Integralismus haben aber, manchmal bewusst, den strikt individualistisch-subjektiven (somit auch: modernen!) Charakter ihrer Ausübung der "Wahrheit" als Prämisse akzeptiert. Sie sind "Modernisten" unter Behauptung des Gegenteils, da sie den Anspruch des kirchlichen Amtes (diesmal im Namen so genannter "Tradition") abstreiten. Insoweit bereichert der spirituelle Integralismus das bunte Sortiment postmoderner Esoterik um ein besonders anspruchsvolles Produkt. Er weicht aber dem eigentlichen, öffentlich wirksamen Geltungsanspruch, der den Katholizismus auszeichnet, rigoroser aus, als es selbst bei evangelikalen Freikirchen (und den nur mittelbar mit dem Christentum verbundenen Sekten) anzutreffen ist, die auch keinen eigentlich öffentlichen Anspruch erheben. Insbesondere die Piusbruderschaft stellt, so gesehen, eine neuartige Freikirche pseudo-tridentinisch "katholischen" Typs dar, die von genau der Religionsfreiheit profitiert, die sie verbal bekämpft. Zu Zeiten des Staatskirchentums wäre auch diese Gruppierung schlicht verboten worden (und zwar: durch den Staat).

So darf man zusammenfassen, dass die Kirche der Versuchung des 20. Jahrhunderts erfolgreich widerstanden hat, dem politischen Naturalismus "von rechts" in die Falle zu gehen, wie sie zuvor dem Liberalismus entgegentreten musste. Die vielzitierte Kritik, die Hans Urs von Balthasar an integralistischen Tendenzen übte (1988), zielte im Ergebnis auch auf sich progressiv gebärdende Vertreter, denen der theologische Schriftsteller vorwarf, sich gleichfalls nicht vom Hegel'schen Denkweg zu distanzieren.

Literatur

Yves Congar, Der Fall Lefebvre, Freiburg u.a. 1977.