Gaudet mater ecclesia (Wortlaut)

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Ansprache
Gaudet mater ecclesia

unsers Heiligen Vaters
Johannes XXIII.
an die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils nach der Heiligen Messe
zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils
11. Oktober 1962

(Offizieller lateinischer Text: AAS LIV [1962] p. 786-796)

(An dieser Rede besteht nach damaliger vatikanischer Gepflogenheit kein Urheberrecht)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Ehrwürdige Brüder!

(1) Heute freut sich die Kirche, unsere Mutter, denn durch die besondere Gnade der göttlichen Vorsehung ist der langersehnte Tag angebrochen, an dem das Zweite Ökumenische Vatikanische Konzil feierlich hier am Grab des heiligen Petrus unter dem Schutz der jungfräulichen Gottesmutter, deren Würde wir heute feiern, beginnt.

Die ökumenischen Konzilien in der Geschichte der Kirche

(2) Die Abfolge der einzelnen Konzilien, wie sie im Verlaufe der Geschichte gefeiert wurden - die zwanzig Ökumenischen Konzilien wie zahllose Provinzial- und Regionalkonzilien von einiger Bedeutung - bezeugt klar die Vitalität der katholischen Kirche. Sie sind markante Momente in ihrer Geschichte. Der gegenwärtige, unbedeutende Nachfolger des heiligen Petrus, der jetzt zu euch spricht, wollte mit seiner Entscheidung, eine solche feierliche Versammlung einzuberufen, die Kontinuität des kirchlichen Lehramtes von neuem bekräftigen; indem dieses nämlich die Fehlentwicklungen, die Herausforderungen und die Chancen des modernen Zeitalters berücksichtigt, zeigt es sich allen Menschen unserer Zeit auf außergewöhnliche Weise.

(3) Ganz spontan blicken wir zu Beginn dieses Allgemeinen Konzils auf die Vergangenheit zurück: wie Stimmen, deren Echo uns ermutigt, wollen wir die Erinnerung an die verdienstvollen Taten unserer Vorgänger, der Päpste aus ferner und naher Vergangenheit, wieder wachrufen. Es sind beeindruckende und verehrungswürdige Stimmen, die das Zeugnis der Konzilien des Ostens und des Westens, vom vierten Jahrhundert über das Mittelalter bis in die Neuzeit übermitteln. So verkünden sie ständig den Ruhm dieser göttlichen und menschlichen Institution, d.h. der Kirche, die von Jesus ihren Namen, ihre Gnadengaben und ihre Wesensbestimmung erhält.

Obwohl wir so Grund zur Freude haben, bleibt es dennoch wahr, daß diese Geschichte der letzten neunzehn Jahrhunderte auch von bitteren Schmerzen und von Prüfungen überschattet ist. Nicht ohne Grund hat der Greis Simeon zu Maria, der Mutter Jesu, die in Vergangenheit und Gegenwart bestätigte Prophetie gesprochen: "Durch dieses Kind werden viele zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und es wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird". (Lk 2,34). Und Jesus selbst hat in seinem öffentlichen Auftreten mit deutlichen, auf ein abgründiges Geheimnis hindeutenden Worten gesagt, wie die Menschen im Verlaufe der Jahrhunderte sich ihm gegenüber verhalten werden: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut".

(4) Die große Herausforderung, vor die sich die Menschheit gestellt sieht, besteht auch nach fast 2000 Jahren unverändert weiter. In seiner Herrlichkeit macht Christus immer noch die Mitte der Geschichte und des Lebens aus. Entweder schließen sich die Menschen ihm und seiner Kirche an; dann haben sie Anteil an Einsicht, Güte, Ordnung und Frieden. Oder sie sind ohne ihn, gar gegen ihn und bewußt gegen seine Kirche; dann herrscht Verwirrung, Verwilderung der menschlichen Beziehungen und die dauernde Drohung von Kriegen der Menschen gegeneinander.

Jedesmal, wenn ein Ökumenisches Konzil gefeiert wird, findet damit die Einheit zwischen Christus und seiner Kirche in feierlicher Weise Ausdruck. So trugen die Ökumenischen Konzilien zur umfassenden Verbreitung der Wahrheit, zur sachgemäßen Lebensorientierung der einzelnen Menschen, der Familien und der Gesellschaft bei. Sie stärkten die geistigen Kräfte, indem sie sie zu den wahren und ewigen Gütern lenkten.

Die Zeugnisse des außerordentlichen Lehramtes der Kirche im Verlaufe der verschiedenen Epochen in den zwanzig Jahrhunderten der Geschichte des Christentums liegen uns gesammelt vor in vielen und eindrucksvollen Bänden: ein unveräußerliches Erbe, das uns die kirchlichen Archive in Rom und berühmte Bibliotheken der ganzen Welt aufbewahren.

Warum dieses Konzil?

(5) Was die Initiative für dieses große Vorhaben betrifft, das uns hier zusammenführt, genüge zum geschichtlichen Nachweis das Zeugnis unserer bescheidenen persönlichen Erfahrung: Am Anfang waren es Überlegungen, die uns spontan überkamen und die wir für uns allein erwogen, bis wir sie dann mit dem einen Wort "Ökumenisches Konzil" vor dem ehrwürdigen Kollegium der Kardinäle am denkwürdigen 25. Januar 1959, am Fest Pauli Bekehrung, in der Basilika St. Paul vor den Mauern geäußert haben. Unerwartete Zustimmung, eine vom Geist Gottes inspirierte Einsicht, freudige Anteilnahme in den Augen, in den Herzen: alles in allem große Begeisterung, die auf der ganzen Welt großes Interesse für die Durchführung des Konzils wachrief.

Drei Jahre intensiver Vorbereitung haben einen breiteren und vertieften Prozeß des Lernens und des Fragens nach den gegenwärtigen Bedingungen für Glauben, für religiöse Praxis, für die Lebensfähigkeit des Christentums überhaupt und speziell des Katholizismus eingeleitet. So zeigt sich die Vorbereitungszeit als ein erstes Zeichen, eine erste Gabe der göttlichen Gnade.

(6) Wir vertrauen unerschütterlich darauf, daß die Kirche durch dieses Konzil inspiriert an geistlichem Reichtum wachsen und so mit neuer Kraft gestärkt mutig in die Zukunft blicken wird. Es ist unsere feste Zuversicht: Durch ein angemessenes Aggiornamento und durch eine kluge Organisation der gegenseitigen Zusammenarbeit wird die Kirche erreichen, daß die einzelnen Menschen, die Familien und die Völker mit größerer Aufmerksamkeit die himmlischen Dinge beachten. Deshalb ist die Feier des Konzils ein außergewöhnlicher Grund zur Dankbarkeit gegenüber dem Spender aller guten Gaben. Deshalb preisen wir mit Lobgesang die Ehre unseres Herrn Jesus Christus, des siegreichen und unsterblichen Königs der Zeiten und der Völker.

Die Zeit ist gekommen

(7) Ehrwürdige Brüder, es gibt noch ein anderes Argument, das zu beachten hilfreich ist. Um unsere Freude zu vergrößern, wollen wir vor dieser großen Versammlung die günstigen und ermutigenden Umstände hervorheben, unter denen dieses Ökumenische Konzil beginnt.

(8) In der täglichen Ausübung unseres Hirtenamtes verletzt es uns, wenn wir manchmal Vorhaltungen von Leuten anhören müssen, die zwar voll Eifer, aber nicht gerade mit einem sehr großen Sinn für Differenzierung und Takt begabt sind. In der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart nehmen sie nur Mißstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie sagen, daß unsere Zeit sich im Vergleich zur Vergangenheit nur zum Schlechteren hin entwickle. Sie tun so, als ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten, die doch eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als ob bei den vorausgegangenen Ökumenischen Konzilien Sinn und Geist des Christentums, gelebter Glaube und eine gerechte Anwendung der Freiheit der Religion sich in allem hätten durchsetzen können. Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde.

(9) In der gegenwärtigen Situation werden wir von der göttlichen Vorsehung zu einer allmählichen Neuordnung der menschlichen Beziehungen geführt. Sie wirkt mit den Menschen zusammen; aber sie verfolgt über deren Erwartungen hinaus ihren eigenen Plan. Alles, sogar was die Menschen dagegen tun, wendet sie zu dem, was für die Kirche das bessere ist. Dieser Zusammenhang läßt sich mühelos erkennen, wenn man die gegenwärtige Welt betrachtet. Sie ist bestimmt durch politische und ökonomische Auseinandersetzungen, die für die Sorge um den Glauben - wie sie dem kirchlichen Lehramt aufgetragen ist - wenig Zeit läßt. Das ist alles andere als gut und kann nicht einfach gebilligt werden. Aber man kann trotzdem nicht bestreiten, daß unter den neu gegebenen Bedingungen des modernen Lebens es ein Vorteil ist, daß jene vielen Hindernisse ausgeräumt sind, mit denen einst Staaten das freie Handeln der Kirche eingeschränkt haben. Es genügt in der Tat ein flüchtiger Blick auf die Kirchengeschichte, um deutlich zu erkennen, daß die Ökumenischen Konzilien, die doch eine Folge von Ruhmestaten für die katholische Kirche waren, wegen unzuläßiger Einmischung staatlicher Autoritäten unter schwierigsten und traurigen Umständen abgehalten werden mußten. Auch wenn die Herrscher manchmal dabei die aufrichtige Absicht hatten, dem Schutz der Kirche zu dienen, so geschah dies meistens doch nicht ohne Schaden und Gefahr für den Glauben, sooft sie eine eigennützige und gefährliche Politik verfolgten.

(10) Bei dieser Gelegenheit möchte ich euch nicht unseren tiefen Schmerz ob der Abwesenheit vieler uns nahestehender Bischöfe verhehlen. Sie sind wegen ihrer Treue zu Christus im Gefängnis, oder sie sind durch andere Umstände verhindert. Der Gedanke an sie veranlaßt uns zu inständigem Gebet. Trotz allem: heute sind wir getröstet und voll Hoffnung, wenn wir die Kirche sehen, wie sie im jetzigen Augenblick, von den vielen weltlichen Hindernissen der Vergangenheit befreit, hier von der Vatikanischen Basilika aus wie bei einem neuen Pfingsten durch euch ihre Stimme mit Würde und Größe erhebt.

Was haben wir zu tun?

(11) Die Hauptaufgabe des Konzils besteht darin, das unveräußerliche Überlieferungsgut der christlichen Lehre wirksamer zu bewahren und zu lehren. Diese Lehre betrifft den ganzen Menschen mit Leib und Seele. Der Mensch ist ein Pilger auf dieser Erde, und sie heißt ihn, nach dem Himmel zu streben. Und zwar zeigt sie, wie unser irdisches Leben zu führen ist, damit wir unsere Pflichten als Bürger der Erde wie des Himmels erfüllen und so das von Gott gewiesene Ziel erreichen können. Das heißt: Alle Menschen, einzeln oder in Gemeinschaft, haben die Pflicht, solange dieses Leben währt, ohne Unterlaß nach den himmlischen Gütern zu streben und die irdischen Güter so zu gebrauchen, daß dabei nicht ein Hindernis für die ewige Seligkeit entsteht.

Christus der Herr hat gesagt: "Euch muß es zuerst um das Reich Gottes und um seine Gerechtigkeit gehen". (Mt 6,33). Dieses Wort "zuerst" macht uns aufmerksam, worauf wir unsere Überlegungen und Anstrengungen richten sollen. Man soll aber nicht die zweite Hälfte des gleichen Herrengebotes außer acht lassen: "Dann wird euch alles andere dazugegeben". In der Tat gab es immer wieder und gibt es noch weiterhin in der Kirche Menschen, die mit allen Kräften die vom Evangelium geforderte Vollkommenheit zu realisieren suchen und dabei den Einsatz für die Gesellschaft nicht vernachlässigen. Von ihrem dauerhaft geübten, beispielhaften Leben und von ihrem Einsatz für die Nächstenliebe wird das, was es an Gutem und Edlem in der menschlichen Gesellschaft gibt, nachhaltig gefördert und gestärkt.

(12) Damit aber diese Lehre die vielen und verschiedenen Bereiche menschlicher Aktivitäten erreicht, den Einzelnen, die Familien wie die Gesamtgesellschaft, ist es vor allem notwendig, daß die Kirche sich nicht von der unveräußerlichen Glaubensüberlieferung abwendet, die sie aus der Vergangenheit empfangen hat. Gleichzeitig muß sie auf die Gegenwart achten, auf die neuen Lebensverhältnisse und -formen, wie sie durch die moderne Welt geschaffen wurden. Diese haben neue Wege für das katholische Apostolat eröffnet.

(13) Deshalb blieb die Kirche nicht untätig angesichts des erstaunlichen Fortschritts dank der Entdeckungen menschlicher Erfindungsgabe, und sie hielt mit einer gerechten Beurteilung desselben nicht zurück. Während sie aber diese Entwicklungen verfolgte, hat sie die Menschen unabläßig ermahnt, ihren Blick über die irdischen Dinge hinaus auf Gott, den Ursprung jeder Weisheit und Schönheit, zu richten. Sie hat das entscheidende Gebot "vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen" (Mt 4,10; Lk 4,8) nicht vergessen lassen, damit nicht die vergängliche Faszination durch irdische Dinge den wirklichen Fortschritt verhindere.

Der springende Punkt

(14) Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, was vom Konzil für die Verkündigung der Lehre erwartet werden soll: Das 21. Ökumenische Konzil, das sich einen effizienten und bedeutsamen Reichtum an Erfahrungen im Bereich des Rechts, der Liturgie, der Pastoral und der Administration zu Nutze machen kann, will die Glaubenslehre rein und unvermindert, ohne Abschwächung und Entstellung weitergeben, wie sie im Verlaufe von zwanzig Jahrhunderten nicht ohne Schwierigkeiten und Kontroversen zum gemeinsamen Erbe der Menschen wurde; ein Erbe, das nicht von allen wohlwollend angenommen wurde, aber ein Reichtum, der immer allen Menschen guten Willens erreichbar war. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, diesen kostbaren Schatz zu bewahren, als ob wir uns nur um Altertümer kümmern würden. Sondern wir wollen uns mit Eifer und ohne Furcht der Aufgabe widmen, die unsere Zeit fordert. So setzen wir den Weg fort, den die Kirche im Verlaufe von zwanzig Jahrhunderten gegangen ist.

(15) Der springende Punkt für dieses Konzil ist es also nicht, den einen oder den andern der grundlegenden Glaubensartikel zu diskutieren, wobei die Lehrmeinungen der Kirchenväter, der klassischen und zeitgenössischen Theologen ausführlich dargelegt würden. Es wird vorausgesetzt, daß all dies hier wohl bekannt und vertraut ist. Dafür braucht es kein Konzil. Aber von einer wiedergewonnenen, nüchternen und gelassenen Zustimmung zur umfassenden Lehrtradition der Kirche, wie sie in der Gesamttendenz und in ihren Akzentsetzungen in den Akten des Trienter Konzils und auch des Ersten Vatikanischen Konzils erkennbar ist, erwarten jene, die sich auf der ganzen Welt zum christlichen, katholischen und apostolischen Glauben bekennen, einen Sprung nach vorwärts, der einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute kommt. Dies soll zu je größerer Übereinstimmung mit dem authentischen Glaubensgut führen, indem es mit wissenschaftlichen Methoden erforscht und mit den sprachlichen Ausdrucksformen des modernen Denkens dargelegt wird. Denn eines ist die Substanz der tradierten Lehre, d.h. des depositum fidei; etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt wird. Darauf ist - allenfalls braucht es Geduld - großes Gewicht zu legen, indem alles im Rahmen und mit den Mitteln eines Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter geprüft wird.

Das Heilmittel der Barmherzigkeit

(16) Am Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils ist es klarer denn je, "daß die Wahrheit des Herrn in Ewigkeit bleibt". Wir sehen ja, wie im Wechsel der Epochen einander entgegengesetzte Meinungen der Menschen aufeinander folgen und wie Irrtümer, kaum entstanden, wie der Morgennebel vor der Sonne vergehen. Die Kirche war immer im Widerspruch zu solchen Irrtümern; manchmal hat sie diese auch mit größter Strenge verurteilt. Heutzutage zieht es die Braut Christi vor, eher das Heilmittel der Barmherzigkeit zu gebrauchen als das der Strenge. Sie ist davon überzeugt, daß es dem jetzt Geforderten besser entspricht, wenn sie die Triftigkeit ihrer Lehre nachweist als wenn sie eine Verurteilung ausspricht. Dies bedeutet nicht, daß es heute nicht an irreführenden Lehren, Meinungen und gefährlichen Schlagworten fehlen würde, vor denen man sich hüten und die man ablehnen muß. Aber sie stehen so deutlich im Gegensatz zur geforderten Norm rechten Verhaltens, und sie haben so verhängisvolle Folgen gezeitigt, daß es den Menschen heute von selber klar wird, daß sie zu verurteilen sind. Das betrifft vor allem jene Lebensweisen, die zur Verachtung Gottes und seiner Gebote führen, das übertriebene Vertrauen in die Fortschritte der Technik, ein Wohlergehen, das sich ausschließlich nach dem Lebensstandard bemißt. Zunehmend sind die Menschen von überragenden Wert der Würde der menschlichen Person überzeugt und daß sie mehr Beachtung und Engagement verdient. Was aber am meisten zählt: Die Erfahrung hat die Menschen gelehrt, daß die Gewalt, die sie einander zufügen, daß Rüstungspotentiale und politsche Hegemonie ungeeignet sind für eine erfolgreiche Lösung der schwierigen Probleme, unter denen sie leiden.

(17) So erhebt die katholische Kirche mit diesem Ökumenischen Konzil die Fackel des Glaubens. So will sie sich als eine für alle liebevolle, gütige und geduldige Mutter erweisen, voll Barmherzigkeit und Wohlwollen gerade jenen Kindern gegenüber, die sich von ihr entfernt haben. Petrus hat angesichts der notleidenden Menschen zum Bettler, der ihn um Almosen bat, gesagt: "Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!" (Apg 3,6) Die Kirche bietet den Menschen heute weder vergänglichen Reichtum noch irdisches Glück. Sie gibt ihnen mit der Würde der Gotteskindschaft Anteil an vielen Gnadengaben und damit einen wirksamen Schutz und eine Hilfe für ein menschlicheres Leben. Sie öffnet den Zugang zur lebensspendenden Quelle der Lehre, die die Menschen im Lichte Christi erkennen läßt, wer sie in Wahrheit sind, welche Würde ihnen zukommt und was ihre Bestimmung ist. Schließlich läßt sie durch ihre Söhne christliche Liebe überall sich voll auswirken, in dem sie die Zwietracht an der Wurzel beseitigt, Eintracht, gerechten Frieden und Geschwisterlichkeit aller Menschen fördert.

Auf der Suche nach der Einheit

(18) In ihrer Sorge für die Ausbreitung und Bewahrung der Wahrheit beruft sich die Kirche darauf, daß nach der Absicht Gottes "alle Menschen gerettet und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" sollen (1 Tim 2,4). Darum können die Menschen nur mit Hilfe der unversehrten Offenbarung eine umfassende und dauerhafte Einheit der Herzen erreichen, mit der wahrer Friede und ewiges Heil verbunden sind. Diese sichtbare, in der Wahrheit gegründete Einheit hat aber die christliche Gemeinschaft noch ganz und gar nicht erreicht.

(19) Die katholische Kirche sieht es als ihre Pflicht an, sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, daß "das große Geheimnis" der Einheit sich voll offenbart. Um dies hat Jesus Christus am Vorabend seines Opfertodes zu seinem himmlischen Vater inständig gebetet. Die Kirche weiß, daß sie in dieses Gebet Christi einbezogen ist und ihr damit das Glück des Friedens zugesichert ist. Auch macht es sie froh, wenn sie sieht, wie dieses Gebet auch bei jenen, die außerhalb ihrer Gemeinschaft stehen, Frucht trägt und Heil bringt. Ja, wenn wir es recht bedenken, bricht sich das Licht der Einheit, um die Christus für seine Kirche gebetet hat in drei Strahlen: die Einheit der Katholiken untereinander, die als Vorbild ungebrochen bewahrt werden muß, die Einheit mit den vom apostolischen Stuhl getrennten Christen, deren Gebet und leidenschaftliche Hoffnung darauf abzielt, daß wir wieder zusammengeführt werden, endlich die Einheit, die die noch nicht christlichen Religionen mit der katholischen Kirche in Wertschätzung und Respekt verbindet. In dieser Sicht schmerzt es, wenn wir bedenken, daß Jesus sein Blut zur Erlösung aller Menschen vergossen hat, und sehen müssen, daß der größere Teil der Menschheit noch keinen Zugang zu den Quellen der Gnade hat, die ihnen die katholische Kirche zuleiten könnte. Und so kommen uns beim Gedanken an das Licht und die Kraft übernatürlicher Einheit, die von der katholischen Kirche her der ganzen Menschheit zugute kommt, die Worte des heiligen Cyprian in den Sinn: "Die vom Herrn erleuchtete Kirche sendet über den ganzen Erdkreis ihre Strahlen aus. Dennoch ist es nur ein Licht, das überallhin flutet, ohne daß die Einheit des Körpers aufgelöst wird. Ihre Zweige streckt sie in reicher Fülle aus über die ganze Erde hin, mächtig hervorströmende Bäche läßt sie immer wieder sich ergießen. Und dennoch gibt es nur eine Quelle, nur einen Ursprung, nur eine Mutter, die mit überquellender Fruchtbarkeit gesegnet ist: aus ihrem Schoß werden wir geboren, mit ihrer Milch genährt, von ihrem Geist beseelt." (Über die Einheit der kath. Kirche 5.)

(20) Ehrwürdige Brüder! Dies ist die Absicht des Zweiten Vatikanischen Ökumenischen Konzils. Es vereint die besten Kräfte der katholischen Kirche im Bemühen, daß die Heilsbotschaft von den Menschen bereitwilliger angenommen wird. Dadurch bereitet und festigt es den Weg zu der Einheit der ganzen Menschheit, die ein unerläßliches Fundament ist, daß die "irdische Stadt" der "himmlischen Stadt" ähnlicher wird, "deren König die Wahrheit, deren Gesetz die Liebe und deren Umgrenzung die Ewigkeit ist". (Augustinus, Briefe 138,3.)

Schluss

(21) Ehrwürdige Brüder im Bischofsamt! Jetzt "wendet sich unsere Stimme an euch" (2 Kor 6,11). Wir sind hier in der Vatikanischen Basilika versammelt, einem Brennpunkt der Kirchengeschichte, wo Himmel und Erde jetzt eng miteinander verbunden sind, am Grab des heiligen Petrus, an den Grabmälern sehr vieler unserer Vorgänger, deren sterbliche Überreste sich in dieser feierlichen Stunde sozusagen in lautlosem Jubel mitfreuen. Mit Beginn dieses Konzils bricht in der Kirche ein strahlender, glückverheißender Tag an. Noch herrscht die Morgendämmerung, und schon fühlen wir uns bei den ersten Zeichen des anbrechenden Tages wohl. Alles atmet Heiligkeit, alles weckt Freude. Und da sollten wir auch die Sterne sehen, die mit ihrem Glanz dieses Gotteshaus erfüllen. Nach dem Zeugnis des Apostels Johannes seid ihr diese Sterne (Offb 1,20). Und mit euch sehen wir die goldenen Leuchter rings um das Grab des Apostelfürsten, nämlich die euch anvertrauten Kirchen. Zusammen mit euch sehen wir Persönlichkeiten von Rang und Namen in einer Haltung tiefen Respekts und erwartungsvoller Sympathie anwesend. Sie sind aus fünf Kontinenten nach Rom gekommen, um die Völker und Staaten zu vertreten.

(22) So kann man wirklich sagen, daß zur Feier des Konzils sich Himmel und Erde vereinen: die Heiligen des Himmels, um unsere Arbeit zu schützen; die Gläubigen auf der Erde, um ohne Unterlaß zu Gott zu beten; und schließlich ihr, um auf die Inspiration durch Gottes Geist zu hören, auf daß die gemeinsame Arbeit den heutigen Erwartungen und Bedürfnissen all der Völker entspreche. Das fordert von euch Gelassenheit in der Bereitschaft, brüderliche Eintracht, rechtes Maß in den eingebrachten Vorschlägen, Fairness in den Debatten und Klugheit in den Entscheidungen. Mögen eure Anstrengungen und eure Arbeit, auf die sich die Aufmerksamkeit vieler Völker und außerdem die Hoffnung der ganzen Welt richtet, die Erwartungen aller in möglichst großem Maße erfüllen.

(23) Allmächtiger Gott! Auf dich setzen wir unsere Zuversicht, da wir uns nicht auf unsere eigenen Kräfte verlassen können. Schau gnädig auf die hier anwesenden Hirten deiner Kirche. Das Licht deiner übernatürlichen Gnade helfe uns, rechte Entscheidungen zu fällen und weise Gesetze zu erlassen. Und erhöre gnädig unsere Gebete, die wir im gemeinsamen Glauben mit einmütigem Sinn und mit einer Stimme vor dich bringen.

Maria, Zuflucht der Christen, Zuflucht der Bischöfe! In einem Heiligtum von Loreto haben wir vor kurzem Deine besondere Zuneigung uns gegenüber erfahren. Wir haben dort das Geheimnis der Menschwerdung verehrt. Führe alles zu einem guten Ende. Zusammen mit dem heiligen Joseph, deinem Bräutigam, den heiligen Aposteln Petrus und Paulus, dem heiligen Johannes dem Täufer und dem heiligen Evangelisten Johannes bitte für uns bei Gott.

Jesus Christus, unserem Erlöser und Heiland, dem unsterblichen König der Völker und der Zeiten, sei Liebe, Macht und Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.