Augustinus von Hippo: De fide, spe et caritate

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
Enchiridion de fide, spe et caritate

(Handbüchlein vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe)

des Kirchenlehrers: Augustinus von Hippo

Quelle: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, aus dem Lateinischen übersetzt (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften Bd. 8; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 49) J. Kösel & F. Pustet Kempten-München 1925 (S. 389-502). Die Anmerkungen sind in diesem Artikel am Ende gesammelt.

Hintergrund: Das „Handbüchlein” wurde von Augustinus wohl im Jahre 421, als die ungestüme Ruhelosigkeit seiner jungen Jahre bereits einer abgeklärten Mannesreife gewichen war, auf den Wunsch eines gewissen Laurentius verfasst. Wer dieser Laurentius war, wissen wir nicht, wahrscheinlich kein Kleriker, sondern ein Laie aus vornehmer römischer Familie, den Augustinus in dem vorliegenden Büchlein selbst als einen Mann von Bildung und Gelehrsamkeit schildert und der nach dem Schlusswort der Schrift zu schließen vermutlich dem heiligen Kirchenlehrer sehr nahe gestanden ist.

Kurze Inhaltsbeschreibung: Augustinus umschrieb in einer längeren Einleitung (§ 1―8) den Stoff seiner Darlegung selbst dahin, dass die ganze christliche Lehre eingeschlossen sei in dem Glauben, der durch die Liebe wirksam ist und Hoffnung hat. Den weitaus größten Teil des Buches nehmen die Ausführungen über die christliche Glaubenslehre ein (§ 9―114), wobei sich der Verfasser im großen und ganzen an die Reihenfolge hielt, die er schon im apostolischen Symbolum vorgezeichnet fand. Von einer ausführlichen Erörterung der christlichen Hoffnung und der Liebe konnte er absehen, weil er in der bis ins Einzelne gehenden Behandlung des Glaubens schon alle wesentlichen Punkte der christlichen Lehre dargelegt hatte. So beschränkte er sich auf die Feststellung, dass die Hoffnung lediglich das umfasse, was auch Gegenstand der Bitten des Vaterunsers sei (§ 114―116); bezüglich der Liebe bemerkte er nur kurz, sie sei die Krone der christlichen Tugenden (§ 117―121).

fides - Glaube
spes - Hoffnung
caritias - Liebe

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel: Alles, was Laurentius von Augustinus wissen will, geht letzten Endes auf eine richtige Auffassung der drei göttlichen Tugenden: des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, zurück

1.<ref> Kapiteleinteilung nach Scheel.</ref> Ich kann es dir gar nicht sagen, mein geliebtester Sohn Laurentius, wie sehr ich mich über deine Gelehrsamkeit freue und wie gerne ich dich unter den Weisen sehe. Ich meine damit aber nicht den großen Haufen jener Weisen, von denen es heißt: „Wo ist denn ein Weiser, wo ein Schriftgelehrter, wo ein Forscher dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht<ref> 1 Kor. 1, 20.</ref>?“ Nein, sondern diejenigen Weisen meine ich, denen das Schriftwort gilt: „Eine große Zahl von Weisen bedeutet Heil für die Erde<ref> Weish. 6, 26.</ref>“, oder die der Apostel (Paulus) denen als Vorbild empfiehlt, von denen er sagt: „Ich wünsche nur, dass ihr immer weise handelt, wo es das Gute gilt, dagegen vom Bösen euch behutsam ferne haltet<ref> Röm. 16,19. Den Satz: „Wie aber niemand aus sich selbst das Sein haben kann, so kann auch niemand aus sich Weisheit haben, sondern nur aus der Erleuchtung durch den, von dem geschrieben steht: ,Alle Weisheit ist von Gott’ (Ekkli. 1,1) [= Ekklisiastikus = Sirach]“, den man vielfach an dieser Stelle findet, haben nur jüngere Handschriften.</ref>.“

2. Des Menschen Weisheit aber ist seine ehrfurchtsvolle Gesinnung. So findet man im Buch des heiligen Job geschrieben; denn dort liest man den Ausspruch, der von der (göttlichen) Weisheit selbst an die Menschheit ergangen ist: „Siehe, die ehrfurchtsvolle Gesinnung ist Weisheit<ref> Job 28, 28.</ref>.“ Fragst du aber, welche Art von ehrfurchtsvoller Gesinnung denn die Weisheit an dieser Stelle gemeint hat, so findest du dafür im griechischen Text das deutlichere „θεοσέβεια“ [theosebeia] gesetzt, was so viel heißt wie „Gottesverehrung“. Man kann freilich im Griechischen für Pietät auch noch anders sagen, nämlich „εὐσέβεια“ [eusebeia]. Dieses Wort deutet soviel wie „rechte Verehrung“, wird aber auch vorzugsweise für „Gottesverehrung“ gebraucht. Doch der treffendste Ausdruck ist θεοσέβεια [theosebeia], was an der Stelle, wo eine Begriffsbestimmung der menschlichen Weisheit gegeben wird, ganz klar und deutlich soviel bedeutet wie Gottesverehrung.

Du verlangst von mir, ich solle einen großen Inhalt mit kurzen Worten umschreiben: Wünschest du einen noch prägnanteren Ausdruck (als Gottesverehrung)? Oder willst du vielleicht, ich solle dir gerade den Punkt, wie Gott denn zu ehren sei, kurz auseinandersetzen und in eine knappe Darlegung zusammenfassen?

3. Wenn ich dir nun darauf antworte, Gott müsse mit Glaube, Hoffnung und Liebe verehrt werden, so wirst du mir gewiß gleich erwidern, damit sei allerdings meine Antwort in eine kürzere Form gefaßt als dir selbst lieb ist; und du wirst dann sofort weiter bitten, ich solle dir wenigstens in Kürze darlegen, was denn zu jedem dieser drei Stücke gehöre, das heißt, was man denn glauben, hoffen und lieben müsse. Gehe ich aber auf diese Fragen ein, so habe ich damit auch schon alle Fragen deines Briefes beantwortet. Falls du also noch eine Abschrift davon in Händen hast, so kannst du sie ganz leicht noch einmal durchgehen und nachlesen, andernfalls magst du sie dir mit meiner Unterstützung ins Gedächtnis zurückrufen.

4. Du willst nämlich, wie du mir schreibst, ich solle für dich ein Buch verfassen, das dir, wie man so sagt, als Handbuch dienen und als solches nicht aus der Hand kommen soll. Dieses Buch soll alle gewünschten Antworten enthalten, beispielsweise, wonach man vor allem streben und wovor man wegen der verschiedenen Irrlehren hauptsächlich fliehen müsse, inwieweit die Vernunft der Religion zu Hilfe kommt, oder wieweit es gegen die Vernunft verstoße, wenn einer bloß einen Glauben (ohne Vernunftüberzeugung) habe, worauf es in erster Linie und worauf es letzten Endes ankomme, was das Wesentliche des ganzen (christlichen) Lehrgebäudes sei und schließlich, worin die sichere und recht eigentliche Grundlage des katholischen Glaubens bestehe. Über all diese deine Fragepunkte wirst du ganz sicheren Bescheid wissen, sobald du dir einmal darüber klar wirst, was Gegenstand unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unserer Liebe sein muss. Denn das ist die hauptsächliche, ja einzige Richtschnur unseres religiösen Lebens. Wer sich damit in Widerspruch setzt, der steht Christus entweder gänzlich fremd gegenüber oder ist wenigstens ein Irrgläubiger. Soweit diese Wahrheiten entweder aus unserer körperlichen Sinneswahrnehmung oder aus der Erkenntniskraft unseres Geistes stammen, muss man sie mit Vernunftgründen verteidigen. Was wir aber weder dank der Sinne unseres Körpers wissen, noch auch kraft unseres Verstandes begreifen könnten oder begreifen können, das müssen wir fest und unbezweifelt glauben auf das Zeugnis derer hin, von denen die mit Recht göttlich genannte (Heilige) Schrift verfaßt worden ist und denen es durch Gottes Beistand gegeben war, jene Dinge entweder mit den Augen des Leibes oder des Geistes zu schauen oder auch vorherzusehen.

5. Ist aber die Seele einmal zu den Anfängen des Glaubens vorgedrungen, der durch die Liebe tätig ist<ref> Gal. 5, 6.</ref>, dann strebt sie, durch ein gutes Leben auch zu jenem Schauen zu gelangen, worin die heiligen und vollendeten Seelen jene unaussprechliche Schönheit erkennen, in deren vollkommener Anschauung die höchste Seligkeit besteht. Damit ist auch bereits deine Frage beantwortet, worauf es in erster Linie und worauf es letzten Endes ankomme: der Glaube ist der Anfang, das Schauen die Vollendung<ref> Vgl. 1 Kor. 13, 12.</ref>. Das ist auch das Wesentliche der ganzen (christlichen) Lehre. Die sichere und recht eigentliche Grundlage des katholischen Glaubens aber ist Christus: „Denn einen anderen Grund“, sagt der Apostel (Paulus), „kann niemand legen als den, der (durch Paulus von Gott selbst) gelegt worden ist, nämlich Christus Jesus<ref> 1 Kor. 3, 11.</ref>.“ Dass dieses die eigentliche Grundlage des katholischen Glaubens ist, läßt sich auch nicht darum in Abrede stellen, weil man vielleicht meinen könnte, wir hätten diese Grundlage mit verschiedenen Irrgläubigen gemeinsam. Denn wenn man sorgfältig erwägt, was eigentlich zu Christus gehört, so findet sich Christus allerdings bei all den Irrgläubigen, die sich Christen nennen lassen; er findet sich aber nur dem Namen nach bei ihnen, in Wirklichkeit ist er es aber nicht. Dies im einzelnen darzulegen, das würde gar zu weit führen; denn sonst müsste man alle Irrlehren aufzählen, die früheren sowohl wie die gegenwärtigen und alle diejenigen, die sich überhaupt unter christlichem Namen hätten bilden können. Bei all diesen Irrlehren müsste man die Wahrheit unserer Behauptung nachweisen: eine solche Arbeit würde aber so viele Bücher erfordern, dass sie geradezu als endlos erschiene.

6. Ein Enchiridion verlangst du also von mir, das heißt ein handliches Büchlein, nicht einen dicken Folianten, der den Bücherschrank belastet. Um also auf jene drei Stücke zurückzukommen, wodurch, wie wir gesagt haben, Gott verehrt werden muss, nämlich auf den Glauben, die Hoffnung und die Liebe, so ist es ganz leicht zu sagen, was den Gegenstand des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ausmachen muss; aber wie man ihre Verteidigung gegen die Verleumdung Andersdenkender führen soll, das darzulegen wäre Sache einer mühevolleren und umfassenderen Gelehrsamkeit. Will jemand in deren Besitz gelangen, so darf er nicht bloß ein kleines Enchiridion zur Hand nehmen, sondern er muss seine Brust mit einem mächtig glühenden Eifer entflammen.

2. Kapitel: Im apostolischen Glaubensbekenntnis und im Gebet des Herrn sind Glaube, Hoffnung und Liebe im wesentlichen enthalten. ― Erläuterungen zum Begriff der drei göttlichen Tugenden

7. Siehe, du hast das (apostolische) Glaubensbekenntnis<ref> Das Glaubensbekenntnis legt Augustinus all seinen folgenden Ausführungen zugrunde, weil diese kürzeste Formel der ganzen christlichen Lehre jedem damaligen Christen von der Taufe her bekannt war; bei der traditio symboli wurde den Katechumenen der Text des Glaubensbekenntnisses mitgeteilt.</ref> und das Gebet des Herrn! Was könnte einer Kürzeres hören oder lesen? Was leichter seinem Gedächtnis einprägen? Weil sich nämlich das Menschengeschlecht infolge der Sünde von schwerer Not gedrückt fühlte und der göttlichen Erbarmung bedurfte, so sagte der Prophet im Hinblick auf die kommende Zeit der Gnade: „So wird es sein: ein jeder, der den Namen des Herrn anruft, der wird selig sein<ref> Joel 3, 5.</ref>“: daher das Gebet. Der Apostel (Paulus) aber fügte dort, wo er zum Preis der Gnade dieses Prophetenwort anführt, sogleich noch hinzu: „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben<ref> Röm. 10, 14.</ref>?“: daher das Glaubensbekenntnis. Siehe, in diesen beiden Stücken (nämlich dem Gebet und dem Glaubensbekenntnis) achte auf jene drei Tugenden: der Glaube glaubt, die Hoffnung und die Liebe beten; da diese beiden Tugenden aber ohne Glauben nicht bestehen können, so kann man sagen: auch der Glaube betet. Darum eben heißt es: „Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben?“

8. Wie kann man aber etwas erhoffen, woran man nicht glaubt? Dagegen kann man etwas, worauf man nicht hofft, doch glauben. Welcher Gläubige glaubt z. B. nicht an die Strafe der Gottlosen? Erhoffen aber wird er sie nicht; und wenn sich jemand davon bedroht glaubt und in flüchtiger Gemütsbewegung davor zurückschaudert, so sagt man von einem solchen richtiger: „er fürchtet sich davor” als „er hofft darauf“. Diese beiden Begriffe scheidet ein Dichter, wenn er sagt: „Neben der Furcht sei noch Raum für die Hoffnung<ref> Lucan, Pharsalia II, 15.</ref>!“ Ein anderer, sonst freilich hervorragender Dichter gebraucht dagegen den Ausdruck nicht im eigentlichen Sinn, wenn er spricht: „Wenn ich einen solchen Schmerz hoffen konnte<ref> Verg. Aen. IV, 419.</ref>.“ Diesen Vers führen auch einige Grammatiker<ref> Vgl. die Testimonia in Ribbecks großer Ausgabe.</ref> an, um an ihm den Gebrauch einer uneigentlichen Redeweise aufzuzeigen; sie sagen: (Vergil) hat hier „hoffen“ statt „fürchten“ gebraucht. Auf Gutes und auf Böses bezieht sich also der Glaube, weil man Gutes und Böses glauben kann, und zwar mit gutem, nicht mit bösem Glauben. ― Sodann bezieht sich der Glaube auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. So glauben wir z. B. dass Christus gestorben ist: da haben wir etwas Vergangenes; wir glauben, dass er zur Rechten des Vaters sitzt: das trifft für die Gegenwart zu; und wir glauben, dass er zum Gerichte kommen wird: das wird in der Zukunft eintreten. ― Der Glaube bezieht sich ferner auf eigene und auf fremde Angelegenheiten: so glaubt z. B. ein jeder von sich, dass er einmal einen Anfang genommen hat und dass er nicht schon von Ewigkeit her ist; geradeso glaubt er auch von anderen Menschen dieses und jenes; und nicht bloß von den anderen Menschen glauben wir vieles, was die Religion betrifft, sondern auch von den Engeln.

Die Hoffnung aber gilt nur Gutem und nur Zukünftigem, und zwar nur solchen Gütern, die den angehen, der die Hoffnung auf sie hegt. Aus diesen Gründen muss demnach zwischen Glaube und Hoffnung unterschieden werden, und zwar sowohl dem Wortlaute nach als auch mit einer vernunftgemäßen Unterscheidung. Denn was das Nichtsehen dessen anbelangt, was man glaubt oder hofft, so ist dies dem Glauben und der Hoffnung gemeinsam. So wird in dem Brief an die Hebräer, auf dessen Zeugnis sich hochangesehene Verteidiger der katholischen Glaubensregel berufen haben, der Glaube „als eine sichere Überzeugung von dem bezeichnet, was man nicht sieht<ref> Hebr. 11, 1 (sehr freies Zitat).</ref>“. Wenn dessen ungeachtet jemand erklärt, er habe weder Worten noch Zeugen, noch schließlich auch irgendwelchen Beweisgründen, sondern nur dem klaren Augenschein geglaubt, d. h. seine innere Zustimmung geschenkt, so erscheint darum seine Behauptung doch nicht so falsch, dass man ihn deshalb mit Recht tadeln und ihm sagen könnte: „Du hast gesehen, hast also nicht geglaubt“, und es könnte daher auch jemand meinen, es treffe folgerichtig der Satz nicht zu, dass nichts von dem, was Gegenstand des Glaubens ist, gesehen werden könne. Allein es ist doch besser, nur das wirklich Glauben zu nennen, was das Wort Gottes als solchen erklärt, nämlich das Fürwahrhalten dessen, was man nicht sieht. Auch bezüglich der Hoffnung sagt der Apostel: „Eine Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung; denn wie soll einer das, was er sieht, erhoffen? Wenn wir aber das erhoffen, was wir nicht sehen, so erwarten wir es mit Geduld<ref> Röm. 8, 24 f.</ref>.“ Somit ist also der Glaube an künftige Güter nichts anderes als unsere Hoffnung darauf.

Was soll ich dann schließlich von der Liebe sagen, ohne die der Glaube nichts nützt? Hoffnung aber ohne Liebe kann nicht einmal bestehen. Glauben haben ja schließlich, wie der Apostel Jakobus<ref> Jak. 2, 19.</ref> sagt, sogar die Teufel, wenn sie auch dabei zittern; doch hoffen und lieben sie nicht, sondern sie haben nur vor dem, was wir erhoffen und lieben, Furcht im Glauben an die Zukunft. Darum lobt und empfiehlt der Apostel Paulus jenen Glauben, „der durch die Liebe wirksam ist<ref> Gal. 5, 6.</ref>“ und der ohne Hoffnung durchaus nicht bestehen kann. Somit besteht weder die Liebe ohne die Hoffnung noch die Hoffnung ohne die Liebe, noch diese beiden Tugenden ohne den Glauben.

3. Kapitel: Die Güte des dreieinigen Schöpfers, der alles als gut erschaffen hat, ist erster Gegenstand des christlichen Glaubens. ― Wesensbestimmung des in der Welt vorkommenden Bösen

9. Wenn also die Frage erhoben wird, was man denn als zur Religion gehörig eigentlich glauben muss, so handelt es sich dabei nicht darum, die Natur einer Sache in der Art zu erforschen, wie es von denen geschieht, welche die Griechen Physiker<ref> Das sind die antiken Naturphilosophen im Gegensatz zu den Mathematikern.</ref> nennen. Auch braucht man darob nicht in Furcht zu sein, wenn vielleicht ein Christ von der Kraft und der Zahl der Elemente nichts weiß oder von der Bewegung, der Ordnung und Verfinsterung der Gestirne oder von der Gestalt des Himmelsgewölbes oder von den Klassen und der Natur der Lebewesen, der Gewächse, der Steine, der Quellen, Flüsse und Gebirge oder von der Größe der örtlichen und zeitlichen Räume oder von den Anzeichen klimatischer Vorgänge oder von all den tausenderlei Dingen, die jene Gelehrten wirklich entdeckten oder wenigstens entdeckt zu haben glauben. (Über diesen Mangel braucht man nicht in Furcht zu sein,) denn diese Weisen haben auch noch nicht alles herausgebracht und sind doch so ausgezeichnet an Geist, so unermüdlich im Forschungseifer, so überreich versehen mit der hierzu nötigen Zeit; und während sie das eine mit der Schärfe des menschlichen Verstandes zu erforschen und das andere durch geschichtliche Untersuchung festzustellen suchen, gehört selbst von den Kenntnissen, mit deren Erfindung sie sich rühmen, weit mehr ins Reich der bloßen Annahme als des wirklichen Wissens. Für den Christen ist es genug, wenn er den Grund alles Geschaffenen, sei es im Himmel oder auf der Erde, sei es Sichtbares oder Unsichtbares, in gläubiger Gesinnung nirgends anderswo sieht als in der Güte des Schöpfers, welcher der eine und wahre Gott ist, und wenn er glaubt, dass es keine Wesenheit gibt, die er (Gott) nicht entweder selbst ist oder die nicht von ihm stammt und dass er eine Dreiheit ist, nämlich der Vater, der vom Vater gezeugte Sohn und der Heilige Geist, der von dem nämlichen Vater hervorgeht, aber ein und derselbe Geist mit dem Vater und dem Sohn ist. (10.) Von dieser unendlich, gleich und unveränderlich guten Dreifaltigkeit ist alles geschaffen, ohne dass es aber dadurch selbst unendlich, gleich und unveränderlich gut wäre. Jedoch ist auch jedes einzelne geschaffene Ding gut; die geschaffenen Dinge zusammen aber sind sehr gut, weil sich aus all (den guten Einzeldingen) die wunderbare Schönheit der Gesamtwelt zusammensetzt<ref> Gegen die Manichäer, deren falsche Lehre ihn selbst so lange in ihrem Banne gehalten hatte. Erst durch das Studium der Neuplatoniker fand er selbst nach mannigfachen Schwierigkeiten, von denen wir aus seinen Confessiones wissen, jenen geistigen Gottesbegriff, der ihn die manichäische Anschauung vom Bösen überwinden ließ.</ref>.

11. In diese (schöne) Gesamtwelt ist auch das, was böse heißt, wohl eingeordnet und steht am rechten Platze; und gerade dadurch hebt es das Gute erst recht hervor, so dass dieses nun durch den Vergleich mit dem Bösen in noch höherem Maße gefällt und noch preiswürdiger ist. Denn wie auch die Ungläubigen zugeben müssen, könnte der allmächtige Gott, der die höchste Macht über alle Dinge besitzt<ref> rerum cui summa potestas: Verg. Aen. X, 100.</ref>, in seiner unendlichen Güte (Sündelosigkeit) unmöglich irgend etwas Böses an seinen Werken dulden, wenn er nicht bis zu dem Grade allmächtig und gut wäre, dass er auch aus dem Bösen Gutes schaffen könnte. Was ist aber das, was wir böse heißen, anders als der Mangel des Guten? Auch an einem tierischen Leib ist beispielsweise Kranksein und Verwundung nichts anderes als ein Mangel der Gesundheit; denn wenn es sich darum handelt, solch einen Schaden zu heilen, so geschieht das nicht in der Weise, dass die vorhandenen Übel, also die Krankheit und die Wunden, nun abziehen müssen und sich da oder dort irgendwo niederlassen, sondern so, dass sie überhaupt kein Sein mehr haben; denn Wunden oder Krankheit sind ja selbst nichts Körperliches, sondern nur ein Mangel am Fleische; das Fleisch dagegen ist selbst etwas Körperliches, und zwar etwas Gutes. Und diesem (an sich guten) Fleische haften jene Mängel an, nämlich die verschiedenen Mängel jenes Gutes, das man Gesundheit heißt. Geradeso ist auch jeglicher Fehler an einer Seele nur ein Mangel an natürlichen Gütern; wird dieser Mangel gehoben, dann überträgt er sich nicht anderswohin, sondern der Mangel, der hier war, ist alsdann überhaupt nirgends, wenn er nicht einem gesunden Zustand anhaften kann.

4. Kapitel: Alle Geschöpfe sind aus der Schöpferhand Gottes als wesentlich gut hervorgegangen; sie sind jedoch einer Verschlechterung fähig, weil sie nicht absolut gut sind. Das Gute und Böse an den Geschöpfen bedingt sich in gewissem Sinn: das Böse setzt immer etwas Gutes voraus

12. Weil also der Schöpfer aller Wesen ohne Ausnahme unendlich gut ist, darum sind auch alle (geschaffenen) Wesen gut; aber weil sie nicht wie ihr Schöpfer unendlich und unwandelbar gut sind, darum kann das Gute an ihnen auch abnehmen oder zunehmen. Nimmt aber das Gute ab, so ist das etwas Böses; doch soviel auch von dem Guten abnimmt, etwas (Gutes) muss doch immer noch zurückbleiben, solange das Wesen selbst noch vorhanden ist; denn sonst könnte es ja seine Wesenheit nicht behalten. Mag nämlich ein Wesen sein wie nur immer und mag es noch so unscheinbar sein, so kann doch das Gute, das in ihm kraft seiner Eigenschaft als Wesen wohnt, nur dann vernichtet werden, wenn das Wesen selbst vernichtet wird. Mit Recht wird gewiß ein unverdorbenes Wesen gerühmt; ist es aber auch noch unverderblich, so dass es einer Verderbnis überhaupt nicht ausgesetzt ist, so verdient es ohne Zweifel noch viel mehr Ruhm. Wird es aber einmal verdorben, so ist seine Verderbnis darum etwas Böses, weil sie es um irgendein Gut bringt. Würde sie es nämlich um kein Gut bringen, so wäre sie ja nicht schädlich; sie ist aber in Wirklichkeit schädlich, folglich nimmt sie ein Gut weg. Solange also ein Wesen noch dem Verderben ausgesetzt ist, besitzt es ein Gut, dessen es beraubt werden kann, und wenn darum von einem Wesen etwas übrigbleibt, was schließlich überhaupt nicht mehr verdorben werden kann, so ist es offenbar ein unverderbliches Wesen und es gelangt zu diesem so großen Gut gerade durch die Verderbnis<ref> Erst durch die zerstörende Arbeit der Verderbnis wird klar, welch gewaltiges Gut das seiner Natur nach unverderbliche Wesen der Menschenseele ist.</ref>. Wenn aber die Möglichkeit der Verderbnis nicht aufhört, so hört das Wesen gewiß auch nicht auf, ein Gut zu besitzen, dessen es die Verderbnis berauben kann. Hat aber einmal die Verderbnis das Wesen voll und ganz zernichtet, so ist bloß deshalb nichts Gutes mehr an ihm, weil überhaupt keine Wesenheit mehr da ist. Darum kann die Verderbnis das Gute nicht vernichten, außer sie vernichtet das Wesen selbst. Jedes Wesen ist somit etwas Gutes, und zwar ein großes Gut, wenn es nicht verdorben werden kann, nur ein kleines aber dann, wenn dies möglich ist; doch (auch in diesem Falle) kann nur törichter Unverstand in Abrede stellen, dass es etwas Gutes ist. Wird aber das Wesen durch Verderbnis zerstört, dann bleibt auch die Verderbnis nicht zurück, weil ja kein Wesen mehr da ist, an dem es haften könnte.

13. Wenn es also nichts gäbe, was gut ist, dann gäbe es darum auch nichts, was man böse nennen könnte. Ein Gut jedoch, das von jedem Bösen frei ist, ist ein vollkommenes Gut; das Gut jedoch, dem etwas Böses anhaftet, bleibt trotzdem ein Gut, wenn auch ein verderbtes oder wenigstens verderbliches. Wo aber einmal gar nichts Gutes mehr vorhanden ist, da kann es auch nichts Böses mehr geben. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine merkwürdige Tatsache: Weil jegliches Wesen in seiner Eigenschaft als solches etwas Gutes ist, so erscheint der Satz: „Ein böses Wesen ist nur ein fehlerhaftes Wesen“ nichts anderes zu bedeuten als dass dasjenige böse ist, was gut ist, und zwar dass nur das böse ist, was gut ist; denn jegliches Wesen ist ja etwas Gutes und kein Ding wäre böse, wenn eben das Ding, das böse ist, kein Wesen wäre. Es kann also böse nur etwas sein, was gut ist. Mag diese Behauptung auch sonderbar erscheinen, der eben gezogene folgerichtige Schluss zwingt uns unvermeidlich zu dieser Behauptung. Dabei müssen wir uns davor hüten, dass sich nicht jenes Prophetenurteil gegen uns richtet, wo es heißt: „Wehe denen, die das, was gut ist, böse und das, was böse ist, gut nennen, welche die Finsternis Licht und das Licht Finsternis heißen, die das Süße bitter und das Bittere süß nennen<ref> Vgl. Is. 5, 20.</ref>!“ Der Herr aber sagt: „Ein böser Mensch holt aus dem bösen Schatz seines Herzens Böses hervor<ref> Matth. 12, 35.</ref>.“ Was ist aber ein böser Mensch anders als ein böses Wesen, da ja auch der Mensch ein Wesen ist? Wenn ferner der Mensch in seiner Eigenschaft als Wesen etwas Gutes ist, was ist denn dann ein böser Mensch anders als ein böses Gutes? Wenn wir indes diese beiden Begriffe auseinander halten, so finden wir, dass er nicht wegen seiner Eigenschaft als Mensch etwas Böses ist und nicht deshalb etwas Gutes, weil er schlecht ist, sondern dass er wegen seiner Eigenschaft als Mensch etwas Gutes ist und etwas Böses deshalb, weil er schlecht ist. Jeder also, der sagt: „Es ist etwas Böses, ein Mensch zu sein“, oder: ,,Es ist etwas Gutes, schlecht zu sein“, der fällt unter jenen prophetischen Spruch: „Wehe denen, die das, was gut ist, böse und das, was böse ist, gut nennen<ref> Is. 5, 20.</ref>!“: denn so einer beschuldigt ein Werk Gottes, den Menschen, und lobt einen Fehler des Menschen, die Sünde. Jegliches Wesen, auch ein fehlerhaftes, ist demnach gut, insoweit es ein Wesen ist, böse aber nur, insoweit es fehlerhaft ist.

14. Diesen einander so entgegengesetzten Begriffen, böse und gut, gegenüber läßt uns demnach der Grundsatz der Logik im Stiche, es könnten sich an keinem Ding zur gleichen Zeit gegensätzliche Eigenschaften finden; es könne z. B. niemals ein und dieselbe Luft finster und dunkel, die nämliche Speise oder der gleiche Trank zugleich bitter und süß, kein Körper da, wo er weiß ist, auch schwarz und dort, wo er missgestaltet ist, zugleich auch wohlgebaut sein. Und ähnlich findet man es bei vielen, ja fast bei allen Gegensätzen: an ein und demselben Gegenstand können sie nicht zugleich nebeneinander bestehen. Während es aber nun kein Mensch bezweifelt, dass gut und böse Gegensätze sind, so können sie doch nicht bloß zugleich miteinander bestehen, nein, noch mehr: das Böse kann überhaupt nicht ohne das Gute und nur am Guten bestehen, während umgekehrt das Gute seinerseits recht wohl ohne das Böse bestehen kann. Es kann z. B. ein Mensch oder ein Engel nicht (wesentlich) ungerecht sein; ungerecht aber kann er anderseits doch (per accidens) wieder nur als Mensch oder als Engel sein: und zwar ist es etwas Gutes, dass er ein Mensch und dass er ein Engel ist, etwas Böses aber, dass er ungerecht ist. Und diese beiden Gegensätze bestehen bis zu dem Grade gleichzeitig, dass überhaupt nichts Böses möglich wäre, wenn nicht etwas Gutes vorhanden wäre, an dem das Böse sein kann. Denn die Verderbnis könnte sich nicht geltend machen und hätte auch keinen Ausgangspunkt, wenn es nicht etwas gäbe, was von der Verderbnis ergriffen werden könnte; denn nur wo etwas Gutes ist, kann auch etwas verdorben werden; das Wesen der Verderbnis besteht nämlich in nichts anderem, als in der Beseitigung des Guten. Von dem Guten also hat das Böse seinen Ausgang genommen und nur am Guten ist das Böse möglich. Es gab auch sonst keine Quelle, aus der irgendein böses Wesen hätte hervorgehen können; denn gäbe es eine solche, so wäre sie ja in ihrer Eigenschaft als Wesen gut: und zwar wäre sie entweder ein unverderbliches Wesen und als solches ein großes Gut oder sie wäre ein verderbliches Wesen; aber auch als solches müsste sie gut sein, denn nur durch das Verderbnis eben dieses Guten könnte ihm das Verderben schaden.

15. Wenn wir somit sagen, das Böse sei aus dem Guten hervorgegangen, so möge man jedoch nicht glauben, dies widerstreite dem Ausspruch des Herrn: „Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen<ref> Matth. 7, 18.</ref>.“ Freilich kann man, wie die (ewige) Wahrheit sagt, keine Trauben von den Dornen pflücken<ref> Ebd. [Matth.] 7, 16.</ref>, weil eben an einem Dornstrauch keine Traube wachsen kann. Doch können gar wohl, wie wir sehen, auf gutem Erdreich sowohl Weinstöcke als auch Dornen gedeihen. Ebenso kann kein schlechter Wille wie ein schlechter Baum gute Früchte, d. h. gute Werke vollbringen. Dagegen kann gar wohl aus dem (an sich) guten Wesen des Menschen ein guter und auch ein schlechter Wille hervorgehen und es gibt durchaus keine andere Quelle, aus der uranfänglich der böse Wille entspringen könnte, als das (an sich) gute Wesen der Engel und Menschen. Das hat denn auch der Herr selbst dort, wo er von dem Baum und seinen Früchten sprach, ganz deutlich gezeigt; sagt er ja doch: „Entweder lasst den Baum gut sein und auch seine Früchte gut oder lasst den Baum schlecht sein und auch seine Früchte schlecht<ref> Ebd. [Matth.] 12, 33.</ref>!“ Damit weist er doch zu Genüge darauf hin, dass zwar an einem guten Baum keine schlechten und an einem schlechten Baum keine guten Früchte gedeihen können, dass aber dagegen aus dem Erdreich selbst, von dem er sprach, beiderlei Bäume wachsen können.

5. Kapitel: Wenn für den Menschen auch das Verständnis all der großen Vorgänge der Körperwelt nicht nötig ist, so sollen wir doch die Ursachen des Guten und Bösen unter möglichster Vermeidung des Irrtums kennen lernen; wenn wir dabei den Irrtum nie ganz vermeiden werden, so schadet das oft nichts, weil nicht jeder Irrtum sündhaft, ja auch nur schädlich ist

16. Wenn wir demnach mit dem bekannten Vers des Maro auch durchaus einverstanden sind: „Glücklich, wer den Ursprung der Dinge erkennen konnte<ref> Verg. Georg. II, 490.</ref>“, so brauchen wir doch nicht zu glauben, es sei zur Erreichung des Glückes notwendig, dass wir die im geheimsten Innern der Natur verborgenen Ursachen jener großen Vorgänge in der Körperwelt kennen, dass wir z. B. wissen: „Welche Gewalt die Länder erschüttert, die Meere hoch aufwühlt, ohne ein Hemmnis zu achten, und bald sie wieder beschwichtigt<ref> Ebd. [Georg. II] 479 f.</ref>“, und anderes von der Art. Doch die Ursachen des Guten und des Bösen sollen wir kennen, und zwar insoweit, als deren Kenntnis dem Menschen in diesem Leben voll Irrtum und Elend zur Vermeidung eben dieses Irrtums und Elendes vergönnt ist. Nach jenem Glück müssen wir nämlich trachten, wo uns kein Elend mehr bedrückt und kein Irrtum mehr täuscht. Müssten wir nämlich die Ursachen der körperlichen Vorgänge kennen, dann bräuchten wir doch gewiß keine mehr zu kennen als die unserer Gesundheitsverhältnisse. Da wir aber darüber ohne Kenntnisse sind, so müssen wir uns an die Ärzte wenden. Wer möchte demnach nicht einsehen, dass wir uns mit großer Geduld darein finden müssen, all das nicht zu wissen, was uns von den Geheimnissen des Himmels und der Erde verborgen ist?

17. Wir müssen uns zwar mit so großer Sorgfalt als uns möglich ist, vor dem Irrtum im großen wie im kleinen hüten; daraus und obwohl ein Irrtum nur aus Unkenntnis der Verhältnisse möglich ist, folgt aber doch noch nicht, dass einer, sobald er bloß einmal etwas nicht weiß, auch schon in einen Irrtum verwickelt ist; vielmehr irrt nur der, welcher etwas zu wissen vermeint, was er in Wirklichkeit nicht weiß; so einer erachtet nämlich etwas Falsches für wahr und darin liegt gerade das Wesentliche des Irrtums. Es kommt jedoch sehr viel darauf an, worin einer eigentlich irrt. Denn bei sonst gleichen Verhältnissen wird immer der Wissende dem Unwissenden und der nicht Irrende dem Irrenden mit gutem Recht vorgezogen. Sind aber die Umstände nicht die gleichen, d. h. weiß der eine dies, der andere jenes, und zwar der eine etwas Nützliches, der andere bloß etwas weniger Nützliches oder sogar etwas Schädliches, wer würde da dem letzteren mit seinem Wissen nicht lieber einen vorziehen, der gar nichts weiß? Es gibt nämlich Dinge, wo es besser ist, gar nichts zu wissen, als davon Kenntnis zu haben. So war es beispielsweise gar manchmal nützlich, sich auf einem Irrweg zu befinden ― ich meine das von einem wirklichen Weg zum Gehen, nicht von dem Weg des sittlichen Wandels. So ist es mir selbst einmal begegnet, dass ich an einem Scheideweg irre ging und infolgedessen nicht an dem Platze vorüber kam, wo ein Haufe von bewaffneten Donatisten im Verstecke lag und wartete, ob ich nicht vorüber käme. So gelangte ich erst auf einem Ab- und Umweg an mein Ziel. Als ich aber von der Nachstellung meiner Feinde Kenntnis erhielt, da wünschte ich mir selber Glück zu meinem Irrtum und sagte Gott dafür Dank. Wer möchte da noch zaudern, einen solchen Wanderer, der seinen Weg verfehlt hat, einem Räuber vorzuziehen, der nicht irre gegangen ist? Und wohl nur deshalb läßt der große Dichter einen unglücklichen Liebhaber klagen: „Sah’s und ging zugrunde als Beute verderblichen Irrtums<ref> Verg. Eclog. VIII, 41 [= Vergil, Eclogae/ Bucolica /Hirtengedichte].</ref>“, weil es ja auch einen guten Irrtum gibt, der nicht nur nichts schadet, sondern sogar noch etwas nützt. Doch suchen wir noch weiter in die Kenntnis der Wahrheit einzudringen. Da irren nichts anderes heißt, als das für wahr halten, was falsch ist und für falsch halten, was wahr ist oder etwas Gewisses für ungewiß, etwas Ungewisses dagegen für gewiß, ganz gleich, ob es nun wirklich falsch oder wahr ist, und da dies zudem für den Geist ebenso häßlich und ungehörig ist, als wir beim Sprechen und bei einer Zustimmung umgekehrt ein (bestimmtes) ja, ja, nein, nein<ref> Vgl. Matth. 5, 37.</ref> als schön und passend empfinden, so erscheint gewiß unser gegenwärtiges Leben gerade deshalb als ein armes Leben, weil ihm bisweilen, soll es nicht verloren gehen, der Irrtum förmlich vonnöten ist. So darf jenes Leben sicher nicht sein, wo die Wahrheit selbst das Leben unserer Seele ist, wo niemand täuscht und niemand von anderen getäuscht wird. In diesem gegenwärtigen Leben aber täuschen die Menschen und werden selbst wieder getäuscht; unglückseliger aber sind sie dann, wenn sie andere durch Lug täuschen, als wenn sie im Vertrauen auf die lügenhaften Mitmenschen sich selbst täuschen lassen. So sehr aber widerspricht dem vernünftigen Wesen die Unwahrheit und so sehr geht es nach Möglichkeit dem Irrtum aus dem Wege, dass sogar die, welche gerne andere täuschen, selbst nicht getäuscht werden wollen. Denn wer lügt, glaubt selber nicht zu irren, sondern nur den Mitmenschen in Irrtum zu führen, der ihm Glauben schenkt. Und in der Tat, wenn er für sich weiß, was (in diesem Falle) die Wahrheit ist, dann irrt er in dem, was er mit seiner Lüge verdeckt, selbst zwar nicht, aber darin täuscht er sich doch, dass er glaubt, seine Lüge schade ihm nicht; schadet ja doch jede Lüge mehr denjenigen, die sie sagen<ref> Wortspiel: facienti ― patienti.</ref>, als denjenigen, die sie tragen.

6. Kapitel: Lüge ist immer Sünde, wenn es auch verschiedene Grade der Sündhaftigkeit gibt; der Begriff der Lüge ist scharf von dem des Irrtums zu scheiden; ein Übel ist aber auch der Irrtum an sich immer

18. Allein hier entsteht eine sehr schwierige und dunkle Frage, über die ich schon einmal ein großes Buch geschrieben habe<ref> Contra mendacium ad Consentium. Migne, Patrol. S. L. 40, 517―548; vgl. Retract. II 60: Migne, Patrol. S. L. 32, 654.</ref>. Ich sah mich damals gezwungen, darauf Antwort zu geben, ob es manchmal für den Gerechten Pflicht sei, zu lügen. Manche Leute<ref> Die Erörterung ist gegen die Priszillianisten gerichtet.</ref> gehen nämlich so weit, dass sie die Behauptung aufstellen, auch falsch schwören und über Gegenstände der Gottesverehrung, ja sogar über das Wesen Gottes selbst etwas Unwahres aussagen, sei bisweilen ein gutes und frommes Werk. Denen gegenüber halte ich für meine Person jegliche Lüge für Sünde, wenngleich ich der Ansicht bin, es käme sehr viel darauf an, in welcher Gesinnung und zu welchen Zwecken jemand lügt. Denn es sündigt z. B. einer, der in der (guten Absicht) lügt, einem damit einen Rat zu geben, nicht so schwer wie ein anderer, der in der Absicht lügt, um einen anderen zu schädigen; oder jemand, der einen Wanderer durch seine lügnerische Auskunft einen falschen Weg weist, schadet nicht so sehr wie einer, der mit trügerischer Täuschung den Weg des Lebens verkehrt. ― Gewiß darf einer, der etwas Falsches aussagt in der Meinung, es sei wahr, nicht für einen Lügner gehalten werden; denn soweit es auf ihn ankommt, täuscht er ja nicht, befindet sich vielmehr selbst in einer Täuschung. Darum trifft einen solchen auch nicht so fast der Vorwurf der Lüge, als vielmehr bisweilen der der Unüberlegtheit, weil er allzu unvorsichtig Unwahres glaubt und für wahr hält. Demgegenüber ist aber derjenige um so mehr ein Lügner, der zwar die Wahrheit sagt, sie aber persönlich für falsch hält. Denn was seine Gesinnung angeht, so sagt er die Wahrheit nicht, weil er das nicht sagt, was er denkt, mag sich nun tatsächlich auch herausstellen, dass das, was er sagt, wahr ist; und der darf von dem Vorwurf der Lüge nicht freigesprochen werden, der mit seinem Mund ohne es zu wissen, die Wahrheit spricht, während er wissentlich und willentlich lügt. Wenn wir also nicht die Sache selbst, um die es sich handelt, in Anschlag bringen, sondern bloß die Absicht dessen, der die Aussage macht, so ist doch derjenige, der ohne es zu wissen die Unwahrheit sagt, weil er sie für Wahrheit hält, besser, als wer wissentlich die Absicht zu lügen hat und dabei nicht weiß, dass das, was er sagt, doch Wahrheit ist. Jener hat ja nichts anderes im Sinn, als was er im Munde führt, bei diesem jedoch mag das, was er sagt, an sich wie nur immer beschaffen sein: er trägt etwas anderes in seinem Herzen verborgen als was ihm auf der Zunge liegt<ref> Vgl. Sallust., Catil. c. 10.</ref>: und gerade dies ist recht eigentlich die Bosheit des Lügners. ― Betrachten wir aber den Gegenstand der Rede selbst, so kommt es wesentlich darauf an, worin einer irrt oder lügt: während beispielsweise, soweit es den menschlichen Willen betrifft, der Irrtum ein kleineres Übel ist als die Lüge, so ist es doch bei weitem erträglicher, in Dingen, die mit der Religion nichts zu schaffen haben, zu lügen, als in solchen Dingen auch nur bloß zu irren, ohne deren Glauben oder Kenntnis man Gott nicht dienen kann. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: sehen wir einmal zu, was es zu bedeuten hat, wenn einer lügnerisch behauptet, dieser oder jener Tote sei noch am Leben oder wenn ein anderer irrtümlich glaubt, Christus werde nach irgendeinem längeren Zeitraum noch einmal sterben. Ist es da nicht ungleich besser, in jener Weise zu lügen, als sich auf solche Art zu irren, und es ist nicht ein weit geringeres Übel, jemanden in jenen Irrtum zu führen, als selber von einem andern in diesen zweiten Irrtum geführt zu werden?

19. In manchen Fällen bedeutet also der Irrtum für uns einen großen, in manchen einen kleinen, wieder in anderen gar keinen Nachteil, in manchen sogar einen Nutzen. Ein großer Schaden ist der Irrtum für den Menschen dann, wenn er das nicht glaubt, was zum ewigen Leben, oder wenn er das glaubt, was zum ewigen Tod führt. Nur ein geringer Schaden ist der Irrtum für den Menschen, der etwas Unwahres für wahr annimmt und dadurch in einige zeitliche Unannehmlichkeiten gerät, die sich jedoch durch gläubige, geduldige Hinnahme zum Guten kehren lassen. So ist es beispielsweise, wenn einer jemand für gut hält, der in Wirklichkeit schlecht ist und darum von ihm Böses erleiden muss. Wer aber einen schlechten Menschen zwar für gut hält, aber doch deshalb nichts Böses von ihm erleidet, der ist zwar im Irrtum, hat aber keinen Schaden dabei; ihn trifft auch die Drohung des Propheten nicht: „Wehe denen, die das, was böse ist, gut nennen<ref> Is. 5, 20.</ref>!“ Denn dieser Ausspruch ist von dem zu verstehen, was die Menschen böse macht, nicht von den Menschen selbst. Darum wird (z. B.) durch das Wort des Propheten mit Recht der verurteilt, der den Ehebruch gut nennt. Wer aber einen Mann gut nennt, den er für keusch hält und von dessen Ehebruch er nichts weiß, der irrt nicht in dem Wissen von dem, was gut oder böse ist, sondern nur in bezug auf die Geheimnisse menschlicher Sittlichkeit, wenn er einen solchen Menschen gut nennt, den er im Besitz dessen glaubt, was ihm ohne Zweifel gut erscheint. Denn einen Ehebrecher bezeichnet er ja als schlecht und einen keuschen Mann als gut; dabei nennt er nun freilich jenen (ehebrecherischen) Mann gut, weil er eben nicht weiß, dass er ein Ehebrecher und darum nicht keusch ist. Wenn ferner jemand dank eines Irrtums dem Verderben entrinnt, so wie es mir selber nach dem vorhin Erzählten auf einer Reise zugestoßen ist, so bringt der Irrtum dem Menschen sogar Nutzen. Allein wenn ich sage, manchmal könne man ohne Schaden, ja sogar mit einem gewissen Nutzen irren, so behaupte ich damit nicht, es sei der Irrtum selbst kein Übel oder vielleicht gar noch ein wenn auch nur geringes Gut; nein, sondern ich rede von einem Übel, das (bloß zufällig) nicht eintrifft oder von einem Gut, das (bloß zufällig) eintrifft, wenn man irrt, d. h. ich rede von etwas, was infolge des Irrtums entweder eintritt oder nicht eintritt. Denn der Irrtum an sich ist ein Übel, entweder ein großes, wo es sich um eine wichtige, oder ein kleines, wo es sich um eine unbedeutende Sache handelt. Denn wer möchte es außer im Irrtum als kein Übel ansehen, Falsches als wahr anzunehmen oder Wahres als falsch zu verwerfen oder Ungewisses für gewiß oder Gewisses für ungewiß zu halten? Allein es besteht ein Unterschied, ob man jemanden für einen guten Menschen hält, der in Wirklichkeit ein Bösewicht ist, was ein Irrtum wäre, oder ob man infolge dieses Irrtums bloß kein weiteres Übel erleiden muss, weil der böse Mensch, den man für gut hält, gerade keinen Schaden verursacht. Desgleichen besteht darin ein Unterschied, ob man einen Weg für den rechten hält, der es doch in Wirklichkeit nicht ist, oder ob man aus diesem Übel, dem Irrtum, auch noch einen Nutzen zieht, wenn man z. B. dadurch vor den Nachstellungen böser Menschen bewahrt wird.

7. Kapitel: Trotzdem wir irrende Menschen sind, ist doch die Ansicht zu verwerfen, wir seien zu einer Erkenntnis der Wahrheit überhaupt nicht fähig. – Irrtumsfähigkeit ist charakteristisch für dieses Leben; sie ist zwar meist keine Sünde, aber immerhin ein Übel; Sünde ist aber immer die Lüge, selbst die Notlüge

20. Ich weiß aber wirklich nicht, ob auch gewisse Arten von Irrtümern für Sünde gehalten werden müssen: z. B. wenn jemand von einem schlechten Mitmenschen aus dem Grunde eine gute Meinung hat, weil er ihn nicht kennt, oder wenn wir einen Gegenstand, den wir mit unsern leiblichen Sinnen wirklich wahrnehmen, mit einem anderen verwechseln, der diesem bloß ähnlich ist, oder wenn uns etwas, was rein geistig ist, gleichsam als etwas Körperliches, dagegen etwas, was bloß körperlich ist, gleichsam als etwas Geistiges erscheint ― so erging es beispielsweise dem Apostel Petrus damals, wie er eine Erscheinung zu sehen glaubte, als er sich durch den Engel plötzlich aus dem Gefängnis und aus den Banden befreit fand<ref> Apg. 12, 9.</ref> ― oder wenn auch in der Körperwelt etwas für zart gehalten wird, was in Wirklichkeit rauh, oder für süß, was in Wirklichkeit bitter ist, oder für wohlriechend, was in Wirklichkeit übel riecht, oder für Donnerrollen, was bloß Wagengerassel ist, oder wenn jemand mit einem andern verwechselt wird, falls die zwei einander sehr gleich sehen, was ja bei Zwillingen oft vorkommt ― von solchen sagt darum der Dichter: „. . . den Eltern ein lieblicher Irrtum<ref> Verg. Aen. X, 392.</ref>“ ― und was dergleichen Irrtümer noch mehr sind.

Auch eine ganz verwickelte Frage, welche die so scharfsinnigen Akademiker<ref> Nachdem sich Augustinus eine Zeitlang von den eitlen Versprechungen der Manichäer, sie könnten alle Fragen restlos lösen, hatte blenden lassen, warf er sich den antiken Skeptikern den Akademikern, in die Arme. Auch hier half ihm der Neuplatonismus über den tödlichen Zweifel hinweg.</ref> gequält hat, will ich hier nicht zu enträtseln suchen, nämlich die Frage, ob denn der Weise überhaupt etwas als fest annehmen darf, um nicht, wenn er etwas Falsches für wahr gelten ließe, dem Irrtum zu verfallen, denn nach ihrer Behauptung ist ja alles entweder ganz verborgen oder wenigstens bloß ungewiß. Mit Rücksicht auf diese Frage habe ich bald nach meiner Bekehrung drei Bücher geschrieben<ref> Contra academ. libri III. Migne, Patrol. S. L. 32, 905 bis 959.</ref>, um damit Hindernisse zu beseitigen, die mir gleichsam schon auf der Schwelle den Weg zu vertreten drohten. Jedenfalls mussten gerade diese bangen Zweifel, ob ich überhaupt jemals die Wahrheit finden würde, weggeräumt werden; diese Verzweiflung findet aber scheinbar in den Beweisen (der Akademiker) eine Stütze. Denn diesen gilt ja jeglicher Irrtum als Sünde, die nach ihrer Meinung nur dann vermieden werden kann, wenn jede innere Zustimmung aufgehoben wird. Es irrt nämlich, wie sie sagen, jeder, der dem Ungewissen seine Zustimmung gibt, und es ist bei der verwirrenden Ähnlichkeit des Falschen (mit dem Gewissen und Wahren) in den Ansichten der Menschen nichts gewiß, wenn auch das, was man annimmt, zufällig einmal wahr ist: solche zwar äußerst scharfsinnige, aber ganz schamlose Erörterungen führen die Akademiker. Bei uns (Christen) aber „lebt der Gerechte aus dem Glauben<ref> Habak. 2, 4; Röm. 1, 17.</ref>“. Wird aber die innere Zustimmung hinfällig, dann wird auch der Glaube hinfällig, weil es ohne innere Zustimmung keinen Glauben gibt. Und es gibt wirklich Wahrheiten, wenn man sie auch mit den Sinnen nicht warnehmen kann. Ohne Glauben an sie kann man nicht zum seligen Leben, und das kann nur ein ewiges sein, gelangen. ― Ob wir uns aber mit solchen Leuten in eine Besprechung einlassen sollen, die nicht einmal wissen, nicht ob sie (einst) ewig leben werden, sondern sogar ob sie überhaupt im gegenwärtigen Leben leben, das kann ich nicht sagen. Damit behaupten sie nämlich etwas nicht zu wissen, was sie doch wissen müssten: denn über die Tatsache seines eigenen Seins kann doch niemand im unklaren sein. Wer nämlich nicht ist, ist ja auch nicht einmal imstande, etwas nicht zu wissen: nicht bloß das Wissen, sondern auch das Nichtwissen ist ja schon ein Beweis dafür, dass einer ein Leben hat. Sie meinen freilich dadurch, dass sie ihr Sein nicht fest annehmen, dem Irrtum aus dem Wege zu gehen, während sie doch auch durch ihren Irrtum von der Tatsächlichkeit ihres Seins überzeugt werden: denn wer nicht ist, der kann auch nicht irren. So gut also, wie unser Sein nicht bloß eine wahre, sondern auch eine sichere Tatsache ist, ebenso gibt es noch gar manches andere, was wahr und sicher ist und dessen Leugnung man nicht bloß keine Weisheit, sondern sogar Wahnwitz nennen müsste.

21. Es gibt Dinge, wo es für die Erlangung des Reiches Gottes ganz belanglos ist, ob man sie glaubt oder nicht oder ob sie wirklich wahr sind oder wenigstens wahr scheinen oder ob sie überhaupt falsch sind: in solchen Dingen zu irren, d. h. das eine anstatt des anderen zu glauben, kann nicht für Sünde angesehen werden, oder wenn es doch eine Sünde wäre, bloß für eine ganz kleine und leichte. Von welcher Art und Schwere schließlich eine solche Sünde ist: sie hat keinen Bezug auf den Weg, der uns zu Gott führt, d. h. auf den Glauben an Christus, „der in der Liebe wirksam ist<ref> Gal. 5, 6.</ref>“. Von diesem Weg wich beispielsweise nicht der oben erwähnte, den Eltern so liebliche Irrtum bezüglich der Zwillinge ab, noch wich auch der Apostel Petrus davon ab, als er eine Erscheinung zu sehen vermeinte und so sehr eines für das andere hielt, dass er von seiner Vorstellung körperlicher Dinge, unter denen er sich zu befinden glaubte, die wirklichen Geschehnisse, die sich tatsächlich mit ihm ereigneten, nicht eher zu unterscheiden wußte, als bis ihn sein Befreier, der Engel, verließ; auch der Patriarch Jakob wich nicht von diesem Wege ab<ref> Gen. 37, 33.</ref>, als er seinen Sohn, der doch in Wirklichkeit noch lebte, von einem wilden Tier zerrissen glaubte. Bei diesen und ähnlichen Täuschungen irren wir, ohne dass unser Glaube an Gott Schaden litte, und sind wir auf einem falschen Weg, ohne dass wir den Weg verlassen müssten, der uns zu Gott führt. Doch müssen diese Irrtümer, wenn sie auch keine Sünde sind, immerhin zu den Übeln dieses Lebens gezählt werden, das auch insofern nichtiger Eitelkeit verfallen ist, als hienieden Falsches für wahr angenommen, Wahres als falsch verworfen und Ungewisses für gewiß gehalten wird. Denn wenngleich solche Dinge mit jenem wahren und sicheren Glauben nichts zu tun haben, durch den wir der ewigen Seligkeit zustreben, so haben sie doch mit jener Armseligkeit etwas zu tun, in der sich unser Leben hienieden bewegt. Wir würden nämlich nur dann in keiner Weise in irgendeiner geistigen oder körperlichen Wahrnehmung irren, wenn wir schon (hienieden) das wahre und vollkommene Glück (der Ewigkeit) genössen.

22. Jede Lüge<ref> Das entschiedene Auftreten gegen jede Lüge ist ein gewaltiger Fortschritt des Christentums gegenüber der Antike. „Jedenfalls war Augustinus der erste antike Mensch, der ein eignes Werk gegen die Lüge geschrieben hat“ (P. Simon, a. a. O. 146).</ref> muss aber sodann deshalb als Sünde bezeichnet werden, weil der Mensch nicht bloß dann, wenn er selbst weiß, was wahr ist, sondern auch dann, wenn er als Mensch bisweilen irrt und sich täuscht, das reden muss, was er in seinem Herzen denkt, mag dies nun wirklich (objektiv) wahr sein oder mag er bloß (subjektiv) der Ansicht sein, es sei wahr, ohne dass es wirklich wahr ist. Jeder aber, der lügt, redet im Gegensatz zu dem, was er wirklich denkt, in der Absicht zu täuschen. Und doch haben wir fürwahr die Sprache nicht zu dem Zwecke, damit sich die Menschen gegenseitig irreführen, sondern damit einer dem andern seine Gedanken mitteilen kann. Diese Sprache also zur Täuschung zu gebrauchen, ist Sünde; denn das ist ihr Zweck nicht. ― Auch aus dem Grunde dürfen wir nicht glauben, die Lüge sei keine Sünde, weil wir bisweilen jemandem mit einer Lüge nützen können. Denn wir können ja auch durch Diebstahl nützen, wenn z. B. der Arme, dem (das gestohlene Gut) offen gegeben wird, Vorteil davon hat, während der Reiche, dem es heimlich weggenommen wird, den Nachteil gar nicht empfindet: und doch wird niemand einen solchen Diebstahl darum keine Sünde nennen. Auch durch Ehebruch könnten wir nützen, weil vielleicht das Weib, dem man hierin nicht zu Willen wäre, offenbar vor lauter Verliebtheit sterben würde, während es sich anderseits, falls es am Leben bleibt, durch Buße wieder reinigen könnte: und doch wird niemand sagen, ein solcher Ehebruch sei keine Sünde. Wenn aber mit Recht die Keuschheit unseren Beifall hat, was soll uns dann an der Wahrheit anstößig sein, so dass wegen eines fremden Nutzens zwar die Keuschheit nicht durch Ehebruch, wohl aber die Wahrheit durch Lüge verletzt werden dürfte? Tatsächlich läßt es sich freilich nicht leugnen, dass Menschen, die bloß um des allgemeinen Besten willen zu Lügnern werden, schon sehr viel Gutes getan haben; aber bei allem Erfolg wird mit Recht nur ihre gute Absicht, nicht ihre Täuschung (frommer Betrug!) gelobt oder gar zeitlich belohnt; es ist ja schon genug, wenn die Täuschung nicht weiter beachtet wird, nicht dass sie auch noch Lob erntet und das schon gar nicht von den Erben des Neuen Testamentes, denen das Wort gilt: „In eurem Munde bedeute ja (wirklich) ja und nein (wirklich) nein; denn was darüber ist, das ist von Übel<ref> Vgl. Matth. 5, 37.</ref>.“ Und weil in dieser Sterblichkeit unaufhörlich solche Übel unterlaufen, müssen sogar die Miterben Christi sprechen: „Vergib uns unsere Schulden<ref> Matth. 6, 12.</ref>!“

8. Kapitel: Nicht Gott, sondern der Missbrauch des freien Willens durch die Geschöpfe ist schuld an dem Fall der Engel und Menschen; der Fluch der Erbsünde hätte unrettbar alle Menschen auf ewig betroffen, wenn nicht Gottes helfende Gnade rettend eingegriffen hätte

23. Nachdem wir nun diese Fragen mit der notwendigen Kürze erörtert haben (, gehen wir weiter und sagen): Weil wir die Ursachen des Guten und Bösen kennen müssen, soweit es der Weg erheischt, der uns zu dem Reiche führt, wo Leben ohne Tod, Wahrheit ohne Irrtum, Glück ohne Trübung sein wird, so dürfen wir nicht im geringsten daran zweifeln, dass bei allem, was uns Menschen betrifft, die Ursache des Guten allein die Güte Gottes ist, die Ursache des Bösen aber der von dem unwandelbaren Gut (Gott) abfallende Wille des wandelbar Guten (des Geschöpfes), der Engel zunächst, sodann der Menschen. (24.) Das (nämlich dieser verderbte Wille) ist das erste Übel des vernünftigen Geschöpfes, d. h. die erste Minderung des Guten. Sodann schlich sich mit dem Nichtwollen auch Unwissenheit in dem ein, was es tun soll, und Begierlichkeit nach schädlichen Gütern, zwei Übel, zu denen sich von selbst noch Irrtum und Schmerz gesellen; jene Gemütsbewegung aber, die diesen Übeln bei ihrem Herannahen zu entgehen sucht, heißt Furcht. Erreicht sodann das Herz die Befriedigung seiner Begierden, mögen diese noch so verderblich und wertlos sein (doch davon weiß ja das Herz in seinem Wahne nichts), so fühlt es sich entweder von krankhafter Lust gefesselt oder in nichtiger Freude gewiegt. Aus diesen Quellen nicht des Überflusses, sondern der Not entströmt dann wie aus (ebenso vielen) Krankheitsquellen alles Elend der vernünftigen Geschöpfe. ― (25.) Doch bei all ihren Übeln konnten diese Geschöpfe ihren Trieb nach Glückseligkeit nicht verlieren.

Die genannten Übel nun haben Menschen und Engel miteinander gemeinsam; denn beide sind lediglich um ihrer Bosheit willen von der Gerechtigkeit ihres Herrn (Gottes) verurteilt worden. Den Menschen trifft dabei noch eine eigene Bestrafung, nämlich der leibliche Tod. Denn gerade die Todesstrafe war es, die Gott ihm für den Fall, dass er sündigen werde, angedroht hatte<ref> Vgl. Gen. 2, 17; 3, 19.</ref>. Gott stattete den Menschen mit einem freien Willen aus, jedoch so, dass sein Befehl ihn lenken und seine Strafandrohung schrecken sollte; und er versetzte ihn in die Glückseligkeit des Paradieses, dieses Schattenbildes des (ewigen) Lebens; ― von hier aus sollte er zu einem besseren Leben aufsteigen können, falls er seine Gerechtigkeit zu bewahren wußte.

26.<ref> Die Erörterung richtet sich gegen die Pelagianer.</ref> Durch den Sündenfall wurde der Mensch jedoch (aus diesem Paradies) vertrieben: damit verwickelte er auch seine Nachkommenschaft, die er in seiner eigenen Person durch seine Sünde gleichsam in der Wurzel verderbt hatte, mit in die Strafe des Todes und der Verdammnis. Denn nun sollten alle Kinder, die von ihm und seiner zugleich mit ihm der Verdammnis verfallenen Gattin, seiner Verführerin zur Sünde, durch die Begierlichkeit des Fleisches (die nur eine ihrer Ungehorsamkeitssünde ähnliche Strafe ist) das Leben erhalten würden, mit der Erbsünde behaftet werden; um dieser Sünde willen sollten sie unter mannigfachen Verirrungen und Schmerzen mit samt den abtrünnigen Engeln, ihren Verführern, Herren und Sündengenossen, der endlosen Strafe (der Verdammung) verfallen. Also „ist durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod; und so ist der Tod auf alle Menschen übergegangen, weil alle in ihm gesündigt haben“<ref> Röm. 5, 12.</ref>. Unter „Welt“ versteht der Apostel (Paulus) an dieser Stelle das gesamte Menschengeschlecht.

27. So stand es also (nach dem Sündenfall) mit den Menschen. Die dem Verdammungsurteil unterworfene Gesamtheit des Menschengeschlechtes<ref> massa damnata.</ref> lag, ja wälzte sich förmlich im Bösen und stürzte von Bösem in Böses; so büßte sie für ihren gottlosen Abfall samt jenen Engeln, die gesündigt hatten. Und diese Strafe war ganz gerecht; denn den gerechten Zorn Gottes fordert alles heraus, was die Bösen in ihrer blinden und ungezügelten Begierlichkeit freiwillig tun, und auf ihn ist alles zurückzuführen, was sie, wenn auch wider ihren Willen, an offenbaren und verborgenen Strafen erdulden müssen. Dabei spendet aber die Güte des Schöpfers doch auch den bösen Engeln unaufhörlich Leben und Lebenskraft, ohne deren aufrecht erhaltende Macht sie zugrunde gehen würden<ref> Augustinus faßt also auch den Zustand eines verdammten Lebens als etwas Wünschenswerteres auf als wie völliges Nichtsein.</ref>, und gibt den Menschen, die doch aus krankhaftem und verworfenem Stamm entsprießen, Samen und belebt sie, ordnet ihren Gliederbau, gibt ihren Sinnen Kraft zur Betätigung in Zeit und Raum und gewährt ihnen Unterhalt. Denn Gott hielt es für besser, selbst aus dem Bösen Gutes zu schaffen, als überhaupt nichts Böses zuzulassen. Aber selbst wenn er gar nicht gewollt hätte, dass sich der Mensch zum Bessern umwandle, so wie es ja auch keine Besserung der gottlosen Engel mehr gibt, würde dann nicht trotzdem das ganze Menschengeschlecht mit vollem Recht auf ewig von ihm verstoßen? Und würde es nicht wirklich eine ewige Strafe verdienen? Dieses Menschengeschlecht verließ ja Gott, trat in Missbrauch seiner Macht (des freien Willens) das Gebot seines Schöpfers, das es doch ganz leicht hätte halten können, achtlos mit Füßen, entstellte in sich das Bild seines Schöpfers, von dessen Licht es sich hartnäckig abwandte, und riß sich unter Missbrauch seines freien Willens von Gottes Gesetzen und der heilsamen Unterordnung unter dieselben los. Und Gott hätte sicher so (gerecht) gehandelt, wenn er nur gerecht und nicht auch barmherzig wäre und wenn er nicht lieber seine frei gespendete Barmherzigkeit in der Rettung Unwürdiger um so augenscheinlicher strahlen lassen wollte.

9. Kapitel: Die gefallene Menschheit sollte wieder gerettet werden; aber kein Mensch wird durch das Verdienst eigener guter Werke oder durch freien Willensentschluss, sondern durch die Gnade Gottes selig, der in uns sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt

28. Während nun ein Teil der Engel in ruchloser Selbstüberhebung von Gott abfiel und (zur Strafe) aus der Höhe seiner himmlischen Wohnung in den dunklen Abgrund dieses (Luft)raumes hinabgeschleudert wurde, verblieb der Rest der Engel in ewiger Seligkeit und Heiligkeit bei Gott. Denn all die übrigen Himmelsgeister stammen ja nicht von einem gefallenen und verworfenen Engel ab, so dass sie, wie es bei den Menschen der Fall ist, infolge des Bandes einer natürlichen, schuldbeladenen Abstammung eine Erbsünde hätte fesseln und alle zusammen den verdienten Strafen überliefern müssen. Vielmehr wurde zwar der eine Engel, der zu einem Teufel wurde, wegen seiner gottlosen Überhebung mit den Genossen seines Hochmutes selbst niedergeschmettert, die übrigen Engel aber verblieben in frommem Gehorsam mit dem Herrn verbunden und empfingen nun auch, was jene noch nicht besessen hatten, die sichere Gewißheit, dass sie über ihre ewige und von keinem Abfall mehr bedrohte Beständigkeit in Sicherheit sein dürften. (29.) Also nicht die Gesamtmenge der Engel hatte Gott verlassen und war darob ins Verderben gestürzt; deshalb gefiel es Gott, dem Schöpfer und Regierer des Weltalls, dass nur jener Teil der Engel, der sich ins Verderben gestürzt hatte, auch im ewigen Verderben verbleiben sollte, während sich der andere Teil, der trotz des Abfalles der übrigen Engel treu bei Gott ausgeharrt hatte, seiner immer dauernden Glückseligkeit in voller Gewißheit erfreuen sollte. Alle übrigen vernunftbegabten Geschöpfe dagegen, nämlich die Menschen, die ganz in das ererbte und eigene Sündenverderben verwickelt waren, sollten, soviel es auf Gott ankam, wieder in Gnaden aufgenommen werden und sollten einen Ersatz bilden für den Verlust, den die Gesellschaft der Engel durch den Sturz der Teufel erlitten hatte. Denn so ist es den wieder zum Leben erstehenden Heiligen verheißen, sie sollten den Engeln Gottes gleich sein<ref> Vgl. Matth. 22, 30 u. Luk. 20, 36.</ref>. So wird denn das himmlische Jerusalem<ref> Vgl. Gal. 4, 26; Apok. 21, 2.</ref>, unsere Mutter, die Stadt Gottes, an der Vollzahl seiner Bewohner nichts einbüßen, ja vielleicht wird es sogar über noch reichlichere Scharen gebieten dürfen. Denn die Zahl der heiligen Menschen kennen wir ja so wenig wie die Zahl der unreinen Geister, deren Platz die Kinder unserer heiligen Mutter (der Kirche), die hier auf Erden unfruchtbar zu sein schien<ref> Vgl. Is. 54, 1.</ref>, einnehmen werden. Diese ihre Kinder werden in dem Frieden, den jene einbüßten, ohne irgendeine zeitliche Schranke fort und fort leben. Die Schar der Himmelsbürger aber, diejenigen, die es schon sind, so gut wie diejenigen, die es erst werden sollen, erfreut sich der Anschauung des Weltenmeisters, der „das, was schon ist, ruft wie das, was noch nicht ist<ref> Röm. 4, 17.</ref>“ und alles nach Maß und Zahl und Gewicht zu ordnen weiß<ref> Weish. 11, 21.</ref>.

30. Kann aber nun derjenige Teil des Menschengeschlechtes, dem Gott Rettung und Besitz des ewigen Reiches in Aussicht gestellt hat, seine Wiederherstellung durch das Verdienst der eigenen Werke erringen? Durchaus nicht. Denn was soll einer, der dem Verderben verfallen ist, Gutes wirken können, solange er von dem Verderben nicht wieder frei ist? Kann er es vielleicht kraft seines freien Willens? Auch das ist nicht möglich. Denn gerade durch den Missbrauch seines freien Willens hat der Mensch sich und seinen freien Willen dem Verderben überliefert. Wie nämlich ein Selbstmörder sicherlich im Augenblick des Mordes lebt, sich durch den Mord aber um sein Leben bringt und dann nicht mehr imstande sein wird, sich selber wieder zum Leben zu erwecken, so ging, da die Sünde (des Menschen) im vollen Besitz des freien Willens begangen wurde, dieser freie Wille verloren, da die Sünde Siegerin blieb: „Denn von wem einer besiegt wird, dem wird er als Sklave zugesprochen<ref> 2 Petr. 2, 19.</ref>.“ So ist es wenigstens die Ansicht des Apostels (Petrus). Da diese Ansicht aber wahr ist, welch andere Freiheit kann es da, frage ich, für den leibeigenen Knecht geben als seine Freude an der Sünde? Mit freiem Willen ist ja der Sklave, der den Willen seines Herrn gerne tut: und so ist auch für die Sünde frei, wer ein Knecht der Sünde ist. Aber auch für die Gerechtigkeit ist darum nur der frei, der von der Sünde frei wird und ein Knecht der Gerechtigkeit zu werden beginnt. Das aber ist erst die wahre Freiheit, weil sich da die Freude aufs Gutestun (nicht auf die Sünde) bezieht, und das ist zugleich eine Gott wohlgefällige Knechtschaft wegen des Gehorsams gegen das (göttliche) Gebot. Allein woher soll ein in Knechtschaft geratener und in die Sklaverei verkaufter Mensch diese Freiheit zum Guten bekommen? Es ist nur dann möglich, wenn ihn derjenige loskauft, der gesagt hat: „Wenn der Sohn euch frei macht, dann erst werdet ihr in Wirklichkeit frei sein<ref> Joh. 8, 36.</ref>. „Wie kann sich aber jemand, bevor diese Befreiung im Menschen ihren Anfang genommen hat, rühmen, ein gutes Werk kraft seines freien Willens getan zu haben? Er besitzt ja doch die Freiheit zu einem guten Werk noch gar nicht. Es müsste schon sein, dass sich jemand in eitlem Dünkel und Hochmut erhöbe. So ein Laster aber weist der Apostel mit den Worten zurück: „Aus Gnade seid ihr durch den Glauben erlöst worden<ref> Eph. 2, 8.</ref>.“ (31.) Und damit jene (an die der Apostel seinen Brief richtet) nicht wenigstens den Glauben in der Weise für sich beanspruchen, dass sie darin keine Gottesgabe sehen, so hat der nämliche Apostel, der an einer anderen Stelle von sich sagt, es sei ihm damit Barmherzigkeit geschehen, dass er gläubig wurde<ref> 1 Kor. 7, 25.</ref>, an sein oben erwähntes Wort noch weiter die Bemerkung hinzugefügt: „. . . und dies nicht aus euch, sondern es ist Gottes (freies) Geschenk, und dies auch nicht aus den Werken (die wir getan haben), damit sich nicht etwa einer darob erhebe<ref> Eph. 2, 8 f.</ref>. „Damit man aber nun anderseits (auf Grund dieses Ausspruches) nicht glaube, es werde den Gläubigen an guten Werken mangeln, so fügt er hinwiederum bei: „Denn sein Werk sind wir, in Christus Jesus geschaffen zu guten Werken, die Gott vorbereitet hat, dass wir in ihnen wandeln<ref> Ebd. [Eph.] 2, 10.</ref>.“ Nach diesen Worten werden wir also dann wahrhaft frei, wenn Gott uns bildet, d. h. gestaltet und schafft, und zwar nicht zu Menschen, denn das sind wir ja schon, sondern zu guten Menschen, was er nunmehr durch seine Gnade tut: eine Neuschöpfung sind wir demnach in Christus, entsprechend jenem Worte: „Ein reines Herz schaffe in mir, o Gott<ref> Ps. 50, 12 [hebr. Ps. 51, 12].</ref>!“ Denn soweit es sich um das natürliche Menschenherz des Psalmisten handelte, so hatte dieses ja Gott selbstverständlich schon (früher) geschaffen. (32.) Damit sich demnach niemand weder seiner Werke noch auch seines eigenen freien Willensentschlusses rühme, als ob nämlich in diesem selbst der Ursprung der Verdienstlichkeit liege, woraus sich dann als gebührender Lohn die Freiheit gut zu handeln ganz von selbst ergebe, so höre man, was der nämliche Prediger der Gnade (Paulus) sagt: „Gott ist es (nämlich), der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen<ref> Phil. 2, 13.</ref>.“ Und an einer anderen Stelle sagt er: „Also liegt es nicht am Wollen oder Laufen eines Menschen, sondern an dem Erbarmen Gottes<ref> Röm. 9, 16.</ref>“ (und das sagt er), obwohl doch ohne Zweifel der einmal zum Gebrauch der Vernunft herangewachsene Mensch nur dann glauben, hoffen und lieben kann, wenn er selber will, und obwohl er nur dann zu jener Himmelspalme gelangen kann, zu der Gott den Menschen beruft, wenn er geflissentlich darnach läuft. Wie liegt es also nicht am Wollen oder Laufen eines Menschen, sondern am Erbarmen Gottes, wenn nicht aus dem Grunde, weil auch der Wille selbst nach dem Worte der Schrift „von dem Herrn vorbereitet wird<ref> Sprichw. 8, 35.</ref>“? Wenn es anderseits aus dem Grunde heißt: „Es liegt nicht am Wollen oder Laufen eines Menschen, sondern an dem Erbarmen Gottes“, weil beides zusammenkommen muss, der Wille des Menschen und das Erbarmen Gottes, so dass wir also unseren Ausspruch: „Es liegt nicht am Wollen und Laufen eines Menschen, sondern an dem Erbarmen Gottes“ so aufzufassen hätten, als hieße es: „Es genügt der Wille des Menschen für sich allein nicht, wenn nicht auch noch das Erbarmen Gottes hinzukommt“, und wenn demnach auch das Erbarmen Gottes für sich allein nicht genügt, falls nicht auch noch der Wille des Menschen hinzukommt und wenn es schließlich ganz richtig heißt: „Es liegt darum nicht am Wollen eines Menschen, sondern am Erbarmen Gottes, weil der Wille des Menschen für sich allein nicht ans Ziel gelangt“: warum ist es denn dann im Gegensatz dazu nicht auch richtig, wenn einer sagt: „Es liegt nicht am Erbarmen Gottes, sondern am Willen des Menschen, weil das Erbarmen Gottes für sich allein nicht ans Ziel führt“? Wenn nun kein Christ sich zu behaupten getrauen wird: ,,Es liegt nicht am Erbarmen Gottes, sondern am Willen des Menschen“, weil er sonst ganz offenbar dem Apostel widerspräche, so bleibt keine andere richtige Auffassung der Schriftstelle: „Es liegt nicht am Wollen und Laufen eines Menschen, sondern am Erbarmen Gottes“ übrig, als dass wir alles Gott zuschreiben, der den guten Willen des Menschen zur Unterstützung vorbereitet und nach der Vorbereitung unterstützt. Der gute Wille des Menschen geht nämlich zwar vielen, aber doch nicht allen (Gnaden)gaben Gottes voraus; zu denen, welchen er nicht vorausgeht, gehört beispielsweise der gute Wille selber. Denn in der Heiligen Schrift heißt es sowohl: „Seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen<ref> Ps. 58, 11 [hebr. Ps. 59, 11].</ref>“, als auch: „Seine Barmherzigkeit wird mir nachfolgen<ref> Ebd. [Ps.] 22, 6 [hebr. Ps. 23, 6].</ref>“. Demjenigen, der nicht will, dem kommt sie zuvor, damit er will; demjenigen aber, der will, dem folgt sie nach, damit er nicht vergeblich will. Warum werden wir z. B. aufgefordert, für unsere Feinde zu beten<ref> Vgl. Matth. 5, 44.</ref>, die doch nicht gottesfürchtig leben wollen, wenn nicht zu dem Zweck, damit Gott in ihnen auch das Wollen wirke<ref> Vgl. Phil. 2, 13.</ref>? Oder warum werden wir dazu aufgefordert, zu bitten, damit wir empfangen<ref> Vgl. Matth. 7, 7.</ref>, wenn nicht zu dem Zweck, dass durch den das geschehe, was wir wollen, der auch die Ursache dafür ist, dass wir wollen? Wir beten also für unsere Feinde, damit die Barmherzigkeit Gottes ihnen zuvorkomme, wie sie auch uns selbst zuvorgekommen ist; für uns aber beten wir, damit seine Barmherzigkeit uns nachfolge.

10. Kapitel: Diese Hilfe konnte dem gefallenen Menschengeschlecht nur ein gottmenschlicher Erlöser bringen

33. Ein gerechter Fluch lastete also auf dem Menschengeschlecht und alle waren Kinder des Zornes. Von diesem Zorn steht geschrieben: „Alle unsere Tage schwinden dahin und wir vergehen in deinem Zorne; unsere Jahre sind wie Spinnengewebe zu achten<ref> Ps. 89, 9 [hebr. Ps. 90, 9].</ref>“, und auch Job sagt von ihm: „Der vom Weibe geborene Mensch lebt nur kurze Zeit und der Zorn lastet auf ihm<ref> Vgl. Job 14, 1.</ref>.“ Der Herr Jesus aber redet von diesem Zorn folgendermaßen: „Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben; wer aber nicht an den Sohn glaubt, der hat das Leben nicht, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm<ref> Vgl. Joh. 3, 36.</ref>.“ Jesus sagt nicht: „Der Zorn Gottes wird über ihn kommen“, sondern: „Er bleibt über ihm“; denn jeder Mensch kommt eben damit beladen schon auf die Welt. Darum sagt auch der Apostel (Paulus): „(Denn) auch wir waren von Natur aus Kinder des Zornes, wie die übrigen<ref> Eph. 2, 3.</ref>.“ Weil nun die Menschen von diesem Zorn schon infolge der Erbsünde getroffen waren, die um so schwerer und verderblicher auf ihnen lastete, je größer und zahlreicher die Sünden waren, die sie selbst noch hinzufügten, so bedurfte es eines Mittlers, d. h. eines Versöhners, um diesen Zorn durch Darbringung eines ganz einzigartigen Opfers, von dem alle Opfer des Gesetzes und der Propheten nur Schattenbilder waren, zu besänftigen. Darum sagt der Apostel: „Denn wenn wir, als wir noch seine Feinde waren, mit Gott kraft des Todes seines Sohnes versöhnt wurden, so werden wir um so mehr jetzt, da wir nun durch sein Blut versöhnt worden sind, durch ihn vom Zorne gerettet werden<ref> Zusammengezogen aus Röm. 5, 9 u. 10.</ref>.“ Wenn es aber (an diesen Stellen) heißt, Gott sei zornig, so ist damit keine solche Aufregung gemeint, wie sie im Herzen eines zürnenden Menschen vorhanden ist; vielmehr ist das Wort nur von menschlichen Gemütsbewegungen übertragen und seiner (Gottes) rächenden Strafe, die immer nur eine gerechte ist, ist der Name Zorn beigelegt. Dass wir also durch den Mittler mit Gott versöhnt werden und den Heiligen Geist empfangen, so dass wir aus Feinden (Gottes) seine Kinder werden ― „denn alle, die vom Geiste Gottes getrieben werden, sind Kinder Gottes<ref> Röm. 8, 14.</ref>“ ―, das ist die Gnade Gottes durch Jesus Christus, unsern Herrn.

34.<ref> Gegen die Apollinaristen.</ref> Von diesem Mittler alles so zu sagen, wie es würdig wäre, würde zu weit führen, ja es ließe sich von einem Menschen überhaupt nicht in würdiger Weise aussprechen. Wer wollte z. B. erschöpfend nur einmal die eine Glaubenswahrheit: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt<ref> Joh. 1, 14.</ref>“ in Worte fassen, so dass wir deshalb an den eingeborenen Sohn Gottes, des allmächtigen Vaters, glaubten, der aus dem Heiligen Geist und von Maria, der Jungfrau, geboren worden ist? Das Wort ist nämlich in der Weise Fleisch geworden, dass die Gottheit Fleisch angenommen hat, nicht aber die Gottheit in Fleisch umgewandelt worden ist. Das Wort „Fleisch“ müssen wir hier als „Mensch“ verstehen, eine Ausdrucksweise, bei der der Teil zur Bezeichnung des Ganzen gesetzt ist. Im gleichen Sinn heißt es auch: „Durch Gesetzeswerke wird kein Fleisch gerechtfertigt<ref> Röm. 3, 20.</ref> “, d. h. kein Mensch. Denn wir müssen glauben, dass bei dieser Annahme (des Fleisches bei der Menschwerdung des Gottessohnes) die gesamte Menschennatur (vom Gottessohn) angenommen wurde, wobei er aber von jeder Fessel der Sünde vollkommen frei war. (Diese Annahme der Menschennatur durch den Gottessohn geschah auch nicht in der Weise,) dass sie durch Zusammenwirken der beiden Geschlechter infolge fleischlicher Begierde nicht ohne Sünde geboren wurde, deren Schuld erst durch eine Wiedergeburt (in der Taufe) abgewaschen wurde, sondern so, wie es bei einer jungfräulichen Geburt sein musste, wo nur der Glaube der Mutter, nicht aber ihre Begierde empfangen hatte. Wäre durch seine Geburt ihre Unversehrtheit verletzt worden, dann wäre er nicht von einer Jungfrau geboren worden und es würde sich, was aber unmöglich ist, die gesamte Kirche mit ihrem Glaubensbekenntnis von seiner Geburt aus der Jungfrau Maria im Irrtum befinden, und dies jene Kirche, die in Nachahmung seiner Mutter täglich ihre Glieder (die Gläubigen) gebiert und dabei Jungfrau ist. Lies, wenn du willst, bezüglich der Jungfrauschaft der heiligen Maria meinen Brief an den erlauchten Volusianus<ref> Migne, Patrol. S. L. 33, epist. 137.</ref>, dessen Namen ich mit dem Ausdruck der Ehre und der Liebe nenne. (35.)<ref> Gegen die Nestorianer.</ref> Jesus Christus, der Gottmensch, ist also Gott und Mensch zugleich, Gott vor aller Zeit, Mensch erst (geworden) in unserer Zeit; Gott, weil Gottes Wort – „denn Gott war das Wort<ref> Joh. 1, 1.</ref>“ ―, Mensch aber, weil mit dem Worte die vernünftige (menschliche) Seele und der (menschliche) Leib eine persönliche Vereinigung einging. Darum ist er in seiner Eigenschaft als Gott eins mit dem Vater<ref> Vgl. Joh. 10, 30.</ref>, soweit er aber Mensch ist, ist der Vater größer als er<ref> Vgl. ebd. [Joh.] 14, 28.</ref>. Während er nämlich der eingeborene Sohn Gottes nicht durch Gnade, sondern von Natur aus war, ist er, um auch voll der Gnaden werden zu können, zugleich des Menschen Sohn geworden und so ist er beides, aus beidem der eine Christus. Denn „da er in der Gestalt Gottes war, hielt er es für keinen Raub, Gott gleich zu sein“, was er ja schon von Natur aus war; „aber er entäußerte sich selbst und nahm die Gestalt eines Knechtes an<ref> Phil. 2, 6 f.</ref>“, ohne dass er aber deshalb die Gestalt Gottes ganz oder auch nur teilweise verloren hätte. Aber eben dadurch wurde er kleiner (als der Vater) und blieb (ihm) doch gleich, er der eine beides, wie schon gesagt. Das eine war möglich, weil er doch das (göttliche) Wort, das andere, weil er Mensch war. Weil er das Wort war, war er dem Vater gleich, weil er Mensch war, war er kleiner (als der Vater). Er blieb der eine Sohn Gottes und war doch auch der Menschensohn, und er blieb der eine Menschensohn und war doch auch der Sohn Gottes. Nicht waren in ihm zwei Söhne Gottes, nämlich Gott und Mensch, sondern nur ein Sohn Gottes, nämlich Gott ohne Anfang, Mensch aber mit einem bestimmten Anfang: und dies ist unser Herr Jesus Christus.

11. Kapitel: Die Erhebung der menschlichen Natur Christi zur Würde „Würde“ des Sohnes Gottes war eine hervorragende Gnade Gottes; die nämliche Gnade offenbart sich in der Geburt Christi vom Heiligen Geist

36. In diesem Geheimnis nun zeigt sich die Gnade Gottes so recht in ihrer offenkundigen Größe. Denn wie hat es die Menschennatur in dem Menschen Christus verdient, in so einzigartiger Weise zur Einheit der Person des einzigen Sohnes Gottes erhoben zu werden? Was für ein guter Wille, was für ein guter, eifriger Vorsatz, welche guten Werke sind denn vorausgegangen, dass dieser Mensch es verdient hätte, eine Person mit Gott zu werden? Ist er überhaupt schon vorher Mensch gewesen und ist ihm diese einzigartige Auszeichnung zu Teil geworden, weil er in einzigartiger Weise Gott verdient hat? Keineswegs! Denn von dem ersten Augenblick an, da er Mensch ward, fing er nichts anderes zu sein an als Gottes Sohn: und zwar der einzige Sohn Gottes. Als Gottes Wort aber, das durch die Annahme des Menschen Fleisch geworden, war er fürwahr auch Gott, so dass, wie jeder Mensch eine aus einer vernünftigen Seele und einem Leibe bestehende Person ist, so auch Christus nur eine Person ist, die aber das Wort (Gottes) und den Menschen in sich vereinigte. Warum ward nun der menschlichen Natur diese so hohe und in Anbetracht dessen, dass keinerlei eigenes Verdienst vorausging, ohne Zweifel frei geschenkte Ehre zuteil? Aus keinem anderen Grund, als damit sich die große und allein entscheidende Gnade Gottes jenen, die (dies Geheimnis) in gläubig frommer Gesinnung erwägen, im hellsten Licht offenbare, so dass sie erkennen, dass sie von ihren Sünden durch die ganz gleiche Gnade gerechtfertigt werden, die auch die Ursache war, dass der Mensch Christus gar keine Sünde haben konnte. Darum hat auch der Engel seine (des Gottmenschen) Mutter bei der Verkündigung ihrer Geburt mit den Worten begrüßt: „Sei gegrüßt, du Gnadenvolle“ und gleich darangefügt: „Du hast Gnade gefunden bei Gott<ref> Luk. 1, 28 u. 30.</ref>.“ Und wenn diese (Maria) voll der Gnade genannt wird und wenn es von ihr heißt, sie habe Gnade bei Gott gefunden, so besteht diese Gnade darin, dass sie Mutter des Herrn oder vielmehr des Herrn aller geworden ist. Nachdem aber der Evangelist Johannes ebenfalls von Christus gesagt hat: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt; und wir sahen“, so fährt er fort, „seine Herrlichkeit als die des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit<ref> Joh. 1, 14.</ref>.“ Und zwar zeigt er uns dort, wo er sagt: „Das Wort ist Fleisch geworden“, denjenigen, der voll der Gnaden, und dort, wo er von der „Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater“ spricht, denjenigen, der voll der Wahrheit ist. Denn die Wahrheit selbst, d. h. der eingeborene Sohn Gottes nicht aus Gnade, sondern von Natur aus, ging aus Gnade mit den Menschen eine so enge persönliche Vereinigung ein, dass der nämliche Sohn Gottes auch Sohn des Menschen wurde.

37. Derselbe Jesus Christus, Gottes eingeborener, d. h. einziger Sohn, unser Herr, ist nämlich aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria geboren. Der Heilige Geist ist aber eine Gabe Gottes, eine Gabe freilich, die dem Geber selber gleich ist; demgemäß ist auch der Heilige Geist Gott, und zwar nicht weniger als wie der Vater und der Sohn. Wenn nun die Geburt Christi seiner Menschheit nach das Werk des Heiligen Geistes ist, was offenbart sich dann darin anders als gerade die Gnade? Denn damals, als die Jungfrau (Maria) den Engel fragte, wie denn die Erfüllung seiner Botschaft möglich sein solle, da sie ja keinen Mann erkenne, da antwortete ihr dieser: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das aus dir geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden<ref> Luk. 1, 35.</ref>.“ Und als Joseph sie entlassen wollte, weil er eine Ehebrecherin in ihr vermutete, da er ja wußte, dass sie nicht von ihm empfangen habe, erhielt er vom Engel die Antwort: „Fürchte dich nicht, Maria als dein Weib zu dir zu nehmen; denn was in ihr gezeugt worden ist, das ist vom Heiligen Geiste<ref> Matth. 1, 20.</ref>“, d. h. was, wie du argwöhnst, von einem anderen Manne stammen soll, das ist vom Heiligen Geiste.

12. Kapitel: Darlegung der Art und Weise, wie Christus aus dem Heiligen Geist geboren wurde

38. Werden wir indes darum behaupten, der Vater des Menschen Christus sei der Heilige Geist, so dass demnach Gott Vater das Wort (d. h. die göttliche Natur in Christus), der Heilige Geist aber den Menschen (d. h. die menschliche Natur in Christus) gezeugt hätte und der eine Christus mit seinen zwei Naturen seiner Gottheit nach der Sohn Gottes des Vaters und seiner Menschheit nach der Sohn des Heiligen Geistes wäre, weil ihn ja der Heilige Geist als sein Vater aus der jungfräulichen Mutter zeugte? Wer wagte es, sich zu einer solchen Behauptung zu versteigen? Es brauchte keine lange Erörterung um nachzuweisen, wieviel Abgeschmacktheiten sich daraus ergeben würden; ist ja doch eine solche Behauptung selber schon so abgeschmackt, dass kein gläubiges Ohr sie aushalten kann. Unser Herr Jesus Christus, der Gott von Gott ist, als Mensch aber aus dem Heiligen Geist und von der Jungfrau Maria geboren ist, ist also, wie wir gläubig bekennen, nach seinen beiden Naturen, der göttlichen sowohl wie der menschlichen, der eingeborene Sohn des allmächtigen Vatergottes, von dem der Heilige Geist ausgeht. Wie können wir also sagen, Christus sei vom Heiligen Geist geboren, wenn ihn der Heilige Geist nicht gezeugt hat? Sagen wir es nicht deshalb so, weil er ihn gemacht hat? Unser Herr Jesus Christus, von dem, soweit er Gott ist, geschrieben steht: „Alles ist durch ihn gemacht worden<ref> Joh. 1, 3.</ref>“, ist ja doch, soweit er Mensch ist, selber gemacht worden; so sagt ja das Wort des Apostels: „Er ist aus dem Samen Davids dem Fleische nach gemacht worden<ref> Röm. 1, 3.</ref>.“ Wenn nun jenes Geschöpf, das die Jungfrau (Maria) empfing und gebar, die gesamte Dreifaltigkeit gebildet hat, obwohl es doch bloß die Person des Sohnes betraf, warum wird denn dann bei der Bildung dieses Geschöpfes bloß der Heilige Geist genannt, da doch die Werke der Dreifaltigkeit untrennbar sind? Oder soll man, wenn bei irgendeinem Werke nur eine der drei Personen genannt wird, an ein Werk der gesamten Dreifaltigkeit denken? Gewiß, so ist es; und man könnte dies auch durch Beispiele erhärten. Doch wollen wir hiebei nicht zu lange verweilen. Denn es beschäftigt uns ja immer noch die Frage, wie man sagen könne „geboren aus dem Heiligen Geist“, da Christus doch gar kein Sohn des Heiligen Geistes ist. (Man darf ihn ebensowenig einen Sohn des Heiligen Geistes heißen,) als wir auch diese Welt nicht darum als Gottes Sohn oder als von Gott geboren bezeichnen dürfen, weil sie Gott gemacht hat; wir müssen sie vielmehr als von ihm gemacht, geschaffen, hervorgerufen, gebildet bezeichnen oder was wir sonst für einen deckenden Ausdruck dafür finden können. In unserm vorliegenden Fall liegt also bei unserem Bekenntnis, dass Christus aus dem Heiligen Geist und von der Jungfrau Maria geboren worden sei, die Schwierigkeit in der Frage, wie es denn komme, dass er trotzdem nicht der Sohn des Heiligen Geistes, wohl aber der Sohn der Jungfrau Maria ist, obwohl er doch sowohl aus dem einen (dem Heiligen Geist) als auch der anderen (der Jungfrau Maria) geboren worden ist. Ohne Zweifel liegt die Sache so, dass er aus dem einen (dem Heiligen Geist) geboren worden ist zwar nicht als aus seinem Vater, wohl aber von der anderen (der Jungfrau Maria) als von seiner Mutter.

39. Demnach darf man nicht so weit gehen zu sagen „alles, was von irgend jemand geboren worden ist, dürfe darum auch schon immer dessen Sohn genannt werden. Davon will ich nun nicht reden, dass ein Sohn in ganz anderer Weise von einem Menschen herstammt, als vielleicht ein Haar oder eine Laus oder ein Eingeweidewurm, Dinge, die man doch alle nicht als Söhne betrachten kann. Dergleichen will ich also, wie gesagt, übergehen, weil es unschicklich wäre, es mit etwas so Erhabenem zu vergleichen. Aber es wird gewiß auch niemand solche, die aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste wiedergeboren werden<ref> Joh. 3, 5.</ref>, nun mit Recht Söhne des Wassers nennen; vollkommen richtig heißen sie dagegen Söhne des göttlichen Vaters und der Mutter Kirche. Geradeso ist auch der vom Heiligen Geiste geborene Christus zwar der Sohn Gottes des Vaters, aber nicht des Heiligen Geistes. Denn selbst das, was wir über das Haar und die anderen Dinge gesagt haben, besitzt doch wenigstens soviel Wert, dass wir uns dadurch vor Augen halten, es dürfe nicht alles, was von irgend jemandem her seinen Ursprung nimmt, nun auch der Sohn dessen genannt werden, von dem er stammt. Aus diesem Satz geht (umgekehrt) auch hervor, dass man nicht sagen kann, einer der jemandes Sohn heißt, sei nun auch wirklich von diesem geboren: so ist es z. B. bei Adoptivsöhnen. So redet man auch von Söhnen der Hölle: das sind aber keine solchen Menschen, die aus ihr geboren, sondern solche, die für sie bestimmt sind; geradeso heißt man auch Söhne des (Himmel)reiches solche, die für dieses Reich bestimmt sind<ref> Vgl. Matth. 8, 12.</ref>. (40.) Wenn also etwas von jemandem abstammen kann, ohne darum auch schon dessen Sohn zu sein, und wenn anderseits nicht jeder, der jemandens Sohn heißt, nun auch schon von dem geboren sein muss, dessen Sohn er genannt wird, so weist uns gewiß die Art und Weise, wie Christus vom Heiligen Geist geboren worden ist, ohne dessen Sohn zu sein, während er von Maria geboren und nun auch wirklich ihr Sohn ist, auf die Gnade Gottes hin, der zufolge der Mensch (in Christus) ohne jegliches vorhergehende Verdienst im ersten Augenblick, wo sein Wesen zu sein anfing, mit Gott, dem Worte, zu einer solchen persönlichen Einheit verbunden werden sollte, dass der, welcher ein Sohn eines Menschen (Mariä) war, nun auch Sohn Gottes, und der, welcher ein Sohn Gottes war, auch Sohn eines Menschen sein sollte; und so sollte infolge der Annahme der Menschennatur jenem Menschen gewissermaßen die Gnade zur Natur werden, so dass er gar nicht imstande sein sollte, eine Sünde zu begehen. Diese Gnade aber musste deswegen unter dem Namen des Heiligen Geistes erscheinen, weil er selbst in so charakteristischer Weise Gott ist, dass er auch Gabe Gottes heißt. ― Nach all dem würde eine ausreichende Besprechung dieser Wahrheit, soweit sie überhaupt möglich wäre, zu einer sehr ausführlichen Erörterung führen müssen.

13. Kapitel: Christus ist für uns freiwillig zur Sünde geworden, auf dass wir mit Gott versöhnt werden; diese Versöhnung geschieht im Sakramente der Taufe, wo wir von allen Sünden befreit werden, mit denen wir geboren werden

41. Ohne alle Lust fleischlicher Begierde wurde also Christus gezeugt oder empfangen und blieb darum auch von jeglicher Befleckung durch die Erbsünde frei; dabei wurde er durch Gottes Gnade mit dem eingeborenen Worte des Vaters, mit dem Sohne, nicht aus Gnade, sondern kraft seiner Natur in wunderbarer und unfaßbarer Weise aufs engste verbunden und so auch von jeder persönlichen Sünde frei. Trotzdem aber ist Christus wegen der Ähnlichkeit mit dem „Fleische der Sünde<ref> Röm. 8, 3.</ref>“, in der er auf Erden erschien, selbst geradezu „Sünde“ genannt worden<ref> 2 Kor. 5, 21.</ref>, da er zur Tilgung der Sünden geopfert werden sollte. Im Alten Testament hießen nämlich die Opfer für die Sünden auch selbst Sünden<ref> Z. B. Oseas 4, 8.</ref>; wovon aber jene alttestamentlichen Opfer nur Schattenbilder waren, das ist Christus in Wirklichkeit geworden. Darum setzte der Apostel (Paulus) seinem Worte: „Wir bitten an Christi Statt: versöhnet euch mit Gott<ref> 2 Kor. 5, 20.</ref>!“ sofort noch weiter hinzu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte (Christus), für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit vor Gott würden<ref> Ebd. [2 Kor.] 5, 21.</ref>.“ Der Apostel sagt nicht, wie man in manchen fehlerhaften Handschriften liest: „Derjenige, der von keiner Sünde wußte, hat für uns eine Sünde begangen“, gerade als ob Christus selbst für uns gesündigt hätte, sondern er sagt: „Denjenigen, der von keiner Sünde wußte,“ nämlich Christus, „hat (der) Gott für uns zur Sünde gemacht, mit dem wir wieder versöhnt werden sollen, d. h. er hat ihn zum Opfer für die Sünden gemacht, so dass wir Versöhnung finden können. Christus ist also ebenso zur Sünde geworden, wie wir zur Gerechtigkeit. Es ist dies nicht unsere Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit Gottes, sie ist nicht eine Gerechtigkeit in uns, sondern in ihm, ebenso wie Christus nicht zu seiner eigenen, sondern zu unserer Sünde wurde, zu einer Sünde, die nicht in ihm, sondern in uns begründet ist. Dies geschah durch die Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde, worin er gekreuzigt wurde. So wollte er, weil ihm eine eigene (persönliche) Sünde ja nicht innewohnte, durch den fleischlichen Tod, in dem das Bild der Sünde lag, gewissermaßen der Sünde selbst sterben; und da er selbst niemals den alten Menschen der Sünde in seinem Leben an sich getragen hatte, so wollte er damit auch unser neues, aus dem alten Tod, den wir in der Sünde gestorben waren, wieder erwachtes Leben durch seine Auferstehung besiegeln. (42.) Denn gerade darin liegt ja die Wirkung des großen Sakramentes der Taufe, das an uns vollzogen wird, dass jedermann, der dieser Gnade teilhaftig wird, der Sünde absterbe, geradeso wie auch Christus selbst nach der Lehre unseres Glaubens der Sünde gestorben ist; denn er ist dem Fleische nach, das heißt im Bilde der Sünde gestorben. Außerdem soll der Getaufte geradeso wie Christus durch seine Auferstehung aus dem Grabe, durch sein Bad der Wiedergeburt zum Leben gelangen.

Das leibliche Alter spielt dabei gar keine Rolle. (43.) Denn vom neugeborenen Kinde an bis zum gebrechlichen Greis darf niemand von der Taufe ausgeschlossen werden; aber ebensowenig gibt es auch einen, der nicht in der Taufe der Sünde absterben würde; die Kinder sterben natürlich nur der Erbsünde ab, ältere Leute dagegen auch all jenen Sünden, die sie durch ein böses Leben noch persönlich der ihnen schon durch ihre Geburt anhaftenden (Erb)sünde hinzugefügt haben. (44.) Allein auch von diesen sagt man gewöhnlich, sie stürben „der Sünde“ ab, obwohl sie doch unzweifelhaft nicht bloß einer einzelnen, sondern all den vielen Sünden absterben, die sie selbst in Gedanken, Worten oder Werken begangen haben. Denn man drückt gar oft mit der Einzahl die Mehrzahl aus. So heißt es z. B. beim Dichter (Vergil): „Und bewaffnet füllt der Soldat den Bauch (des trojanischen Rosses)<ref> Verg. Aen. 2, 20.</ref>“, obwohl dies doch von vielen (nicht bloß von einem) Soldaten geschah. Auch in unserer (Heiligen) Schrift liest man: „Bete also zum Herrn, dass er die Schlange von uns wegnehme<ref> Num. 21, 7 nach der Septuaginta.</ref>!“ Es heißt nicht „die Schlangen“ und doch war das Volk damals von (vielen) Schlangen heimgesucht, als es so sprechen sollte. Dergleichen Beispiele gibt es noch unzählige. Andererseits wird aber auch die eine Erbsünde wieder mit der Mehrzahl bezeichnet, wenn wir sagen, die kleinen Kinder würden zur Vergebung der Sünden getauft, nicht zur Vergebung der Sünde. Hier haben wir also im Gegenteil eine Redeweise, in der wir durch die Mehrzahl die Einzahl ausdrücken. So heißt es auch im Evangelium nach dem Tode des Herodes: „Tot sind nämlich diejenigen, die dem Kinde nach dem Leben strebten<ref> Matth. 2, 20.</ref>“ und nicht: „Tot ist . . .“ Und im Buche Exodus heißt es: „Sie machten sich goldene Götter<ref> Exod. 32, 31.</ref>“ und doch hatten sie sich bloß ein einziges Kalb gemacht, von dem sie sagten: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Lande Ägypten geführt haben<ref> Exod. 32, 8.</ref>“: auch hier steht wieder die Mehrzahl an Stelle der Einzahl. ― (45.) Gleichwohl kann auch schon in jener einen Sünde, die durch den einen Menschen in die Welt kam und so auf alle Menschen überging<ref> Röm. 5, 12.</ref> und um deretwillen auch die kleinen Kinder schon getauft werden, eine Mehrheit von Sünden unterschieden werden, wenn man diese eine Sünde sozusagen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt. Denn in ihr findet sich Stolz, insoferne der Mensch es vorzog, lieber in seiner eigenen, statt in Gottes Gewalt zu stehen; Gotteslästerung, insoferne er Gott keinen Glauben schenkte; Mord, weil er sich selbst in den Tod stürzte; Unreinheit des Geistes, insoferne die Unversehrtheit des menschlichen Geistes durch die Verführung der Schlange zerstört wurde; Diebstahl, insoferne sich der Mensch eine verbotene Speise anmaßte; Habgier, insoferne er mehr begehrte, als ihm hätte genügen sollen, und was etwa sonst noch in diesem einen Vergehen bei sorgfältiger Erwägung gefunden werden kann.

46. Dabei ist auch die Behauptung nicht unwahrscheinlich, dass den Kindern auch noch die (persönlichen) Sünden ihrer Eltern nachhängen, d. h. also nicht bloß die Sünden der ersten Menschen, sondern auch die der eigenen Eltern, von denen sie geboren sind. Jener göttliche Ausspruch: „Ich werde die Sünden der Väter an den Kindern strafen<ref> Vgl. Deut. 5, 9.</ref>“ liegt sicher wenigstens solange auf ihnen, als sie nicht durch die Wiedergeburt (in der Taufe) dem Neuen Testament einverleibt sind. Dieses (Neue) Testament aber wurde vorausverkündet, als durch Ezechiel das Wort erging, die Kinder würden die Sünden ihrer Väter nicht mehr erben und es werde in Israel nicht mehr länger der Spruch gelten: „Unsere Väter haben sauere Trauben gegessen und den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden<ref> Vgl. Ezech. 18, 2.</ref>.“ Denn zu dem Zweck wird jeder wiedergeboren, damit er von jeder angeborenen Sünde befreit werde. Diejenigen Sünden nämlich, die erst später durch (eigenes) böses Tun begangen werden, können ja auch durch Buße wieder gut gemacht werden, wie wir es auch tatsächlich nach der Taufe geschehen sehen. Und somit ist folglich die Wiedergeburt nur deshalb angeordnet, weil unsere Geburt eine verderbte ist, und dies bis zu dem Grade, dass der doch aus rechtmäßiger Ehe stammende (David ) von sich sagt: „In Ungerechtigkeiten bin ich empfangen und in Sünden hat mich meine Mutter in ihrem Schoße genährt<ref> Ps. 50, 7 [hebr. Ps. 51, 7].</ref>.“ Auch David sagt hier nicht: „in Ungerechtigkeit oder in Sünde“ (Einzahl!), sondern er wollte lieber von „Ungerechtigkeiten und Sünden“ (Mehrzahl!) reden, obwohl er ganz richtig auch so hätte sagen können; denn auch in jener einen Sünde, die auf alle Menschen überging und die so groß ist, dass durch ihre Schuld die menschliche Natur ganz umgestaltet und der Notwendigkeit des Sterbens unterworfen wurde, findet sich, wie ich weiter oben ausgeführt habe, eine Mehrheit von Sünden. Zudem teilen auch die anderen (persönlichen) Sünden der Eltern, wenn sie auch keine ähnliche Umgestaltung der Natur bewirken können, den Kindern doch eine gewisse Verschuldung mit, wenn ihnen nicht die unverdiente göttliche Gnade und Erbarmung zu Hilfe kommt. ― (47.) Was jedoch die Sünden der übrigen Vorfahren betrifft, deren Nachkomme einer in der Linie der Abstammung von Adam bis zum eigenen Vater ist, so läßt sich mit gutem Grund darüber streiten, ob der Mensch mit seiner Geburt auch in deren böse Taten und in eine (nach der Zahl der Vorfahren) angewachsene Erbsündenlast verstrickt wird, so dass einer um so schlimmer daran wäre, je später er geboren ist, oder ob Gott die Nachkommen wegen der Sünden der Eltern aus dem Grunde bloß bis ins dritte und vierte Geschlecht bedroht<ref> Exod. 20, 7.</ref>, weil er seinen Zorn, soweit er die Schuld der Vorfahren betrifft, aus barmherziger Mäßigung sich nicht weiter erstrecken lassen will; denn sonst würden jene, denen die Gnade der Wiedergeburt nicht zuteil wird, bei ihrer Verdammung von einer allzu schweren Last bedrückt werden, wenn sie die von all ihren Vorfahren seit dem Beginne der Menschheit ererbten Sünden auf sich nehmen und die dafür verschuldeten Strafen erdulden müssten. Ob sich schließlich über eine so wichtige Frage bei sorgfältigerer Erforschung und Erklärung der Heiligen Schrift noch eine andere Auffassung entdecken ließe oder nicht, das wage ich nicht ohne weiteres zu entscheiden.

14. Kapitel: Christus der zweite Adam; erst durch Christi Opfertod wurde eine Wiedergeburt (in der Taufe) möglich. ― Christi Wiederkunft als Richter

48. Jene eine Sünde indes, die an der Stätte und im Zustand einer so großen Seligkeit (Paradies) begangen wurde und die so bedeutend war, dass in dem einen Menschen (Adam) das ganze Menschengeschlecht schon in seinem Ursprung und sozusagen in der Wurzel der Verwerfung anheim fiel, wird nur getilgt und ausgelöscht durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus<ref> Vgl. 1 Tim. 2, 5.</ref>, der allein so geboren werden konnte, dass er der Wiedergeburt nicht bedurfte. (49.) Denn die Taufe des Johannes, von dem sich auch Christus taufen ließ, bewirkte ja keine Wiedergeburt, sondern (die von Johannes Getauften) wurden nur durch das vorläufige Amt dessen, der da sagte: „Bereitet dem Herrn den Weg<ref> Matth. 3, 3.</ref>“, für den zugerüstet, in dem sie allein wiedergeboren werden konnten (Christus): denn dessen Taufe ist es, die nicht bloß wie die Taufe des Johannes im Wasser, sondern auch im Heiligen Geiste geschieht<ref> Vgl. Joh. 3, 5.</ref>, damit wer immer an Christus glaubt, wiedergeboren wird aus jenem Heiligen Geist, in dem Christus zwar geboren wurde, in dem er aber nicht wiedergeboren zu werden brauchte. Darum wies auch jene Stimme des (himmlischen) Vaters, die über dem getauften Jesus erscholl: „Ich habe dich heute gezeugt<ref> Ps. 2, 7 [hebr. Ps. 2, 7]; vgl. Usener, Religionsgesch. Unters. I S. 40 ff.</ref>“, nicht auf jenen einen zeitlichen Tag hin, an dem er getauft wurde, sondern auf den Tag der unwandelbaren Ewigkeit, um zu zeigen, dass jener Mensch mit seinem eingeborenen Sohn eine Person sei. Denn wo der Tag nicht mit dem Ende des gestrigen beginnt und mit dem Anfang des morgigen aufhört, da ist immer heute. Mit Wasser wollte also Christus von Johannes getauft werden, nicht damit irgendeine Sündhaftigkeit an ihm getilgt, sondern damit uns das Vorbild großer Demut gegeben werde. Es fand ja die Taufe nichts an ihm, was sie hätte abwaschen können, wie auch der Tod nichts an ihm fand, was er hätte strafen können. (Er litt aber den Tod,) damit der Teufel in wahrhafter Gerechtigkeit und nicht durch gewaltsame Übermacht völlig besiegt würde; weil er den, der nicht durch die kleinste Sünde Strafe verwirkt hatte, ganz ungerecht getötet hatte (nämlich Christus), so sollte er selbst mit vollem Recht derjenigen verlustig gehen, die er mit Recht wegen ihrer Sünden in seiner Gewalt hatte (nämlich der Menschen). Beides also, die Taufe (durch Johannes) so gut wie den Tod, hat Christus um der sicheren Befreiung willen auf sich genommen, aber nicht aus bedauerlicher Notwendigkeit, sondern vielmehr aus barmherzigem Bedauern; er, der eine, wollte auf diese Weise die Sünde der Welt hinwegnehmen<ref> Vgl. Joh. 1, 29.</ref>, wie der eine (Adam) die Sünde in die Welt<ref> Vgl. Röm. 5, 12.</ref>, d. h. über das gesamte Menschengeschlecht, gebracht hat. (50.) Es besteht indes der Unterschied (zwischen Adam und Christus), dass jener eine (Adam) bloß die eine Sünde über die Welt brachte, während dieser eine (Christus) nicht bloß die eine Sünde Adams, sondern auch alle Sünden hinwegnahm, die er noch hinzugekommen fand. Darum sagt der Apostel (Paulus): „Nicht so, wie mit dem einen, der sündigte, verhielt es sich auch mit der Gabe. Denn die Verurteilung erfolgte zwar auf Grund der einen Sünde zur Verdammung, die Gnade aber (rettete) aus vielen Sünden zur Rechtfertigung<ref> Röm. 5, 18.</ref>.“ Denn jene eine Sünde, die infolge ihrer Abstammung (von Adam) den Menschen anhaftet, macht schon für sich allein der Verdammnis schuldig; die Gnade aber rechtfertigt von vielen Verfehlungen den Menschen, der außer der einen Sünde, die er sich gemeinsam mit allen infolge seiner Abstammung zugezogen hat, auch noch eigene Sünden in vielfacher Zahl begangen hat.

51. Wenn indes der Apostel gleich nachher sagt: „Gleichwie durch die Sünde des einen (Adam) über alle Menschen Verdammnis kam, so kommt auch durch die Gerechtigkeit des einen (Christus) auf alle Menschen Rechtfertigung des Lebens<ref> Ebd. [Röm. 5, 18].</ref>“, so drückt er damit doch deutlich genug aus, dass von Adam kein Mensch abstammt, der nicht der Verdammnis verfällt, dass aber auch kein Mensch der Verdammnis ledig wird, der nicht in Christus wiedergeboren wird. (52.) Nachdem aber der Apostel über die durch den einen Menschen (Adam) verschuldete Strafe und über die durch den einen Menschen (Christus) verdiente Gnade in einer dem Umfang seines Briefes angemessenen Ausführlichkeit gesprochen hatte, redete er von dem im Kreuze Christi verborgenen großen Geheimnis der heiligen Taufe in einer Weise, dass wir erkennen müssen, die Taufe in Christus sei nichts anderes als ein Abbild des Todes Christi, der Tod des gekreuzigten Christus aber hinwiederum nichts anderes als das Abbild der Sündennachlassung. Wie also bei Christus (am Kreuze) wahrhaftig der Tod eintrat, so erfolgt bei uns (in der Taufe) wahrhaftig der Nachlaß unserer Sünden, und wie bei ihm (auf den Kreuzestod) wirklich die Auferstehung folgte, so folgt bei uns (auf die Wiedergeburt in der Taufe) wirklich die Rechtfertigung. Denn der Apostel fährt fort: „Was sollen wir nun sagen? Werden wir in der Sünde verharren, damit die Gnade um so reichlicher sein kann<ref> Röm. 6, 1.</ref>?“ Vorher hatte er nämlich gesagt: „Als aber die Sünde groß wurde, da wurde die Gnade noch überschwenglicher<ref> Vgl. ebd. [Röm.] 5, 20.</ref>.“ Darum stellte er sich dann selbst die Frage, ob man denn nun um eine solch überschwengliche Gnade zu erlangen, nicht in der Sünde verharren soll. Allein er gab die Antwort: „Das sei ferne!“ und fuhr dann fort: „Denn da wir ja der Sünde schon abgestorben sind, wie sollen wir denn da noch in ihr leben<ref> Vgl. ebd.[Röm.] 6, 2.</ref>?“ Um aber zu zeigen, dass wir wirklich der Sünde schon abgestorben sind, fügte er noch weiter hinzu: „Oder wißt ihr denn nicht, dass wir alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, in seinem Tode getauft sind<ref> Ebd. [Röm.] 6, 3.</ref>?" Wenn sich also aus der Tatsache, dass wir im Tode Christi getauft sind, ergibt, dass wir der Sünde abgestorben sind, so sterben gewiß auch die kleinen Kinder der Sünde ab, die in Christus getauft werden; denn auch sie werden in seinem Tode getauft. Heißt es ja doch ganz ohne jede Ausnahme: „Alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, sind in seinem Tode getauft<ref> Ebd. [Röm. 6, 3].</ref>.“ Und so heißt es zum Beweise dafür, dass wir der Sünde abgestorben sind. Welch anderer Sünde könnten nun aber die Kinder durch die Wiedergeburt (in der Taufe) absterben, als gerade derjenigen, die sie sich eben durch ihre Geburt zugezogen haben? Darum gilt auch von ihnen, was der Apostel weiter sagt: „Wir sind also durch die Taufe (dem alten Menschen nach) mit ihm (Christus) begraben, damit, wie Christus durch die Kraft des Vaters wieder vom Tode erweckt worden ist, so auch wir zu neuem Leben erstehen und es in unserem Wandel betätigen. Er ist dem Leibe nach am Kreuze, wir sind geistigerweise in der Taufe gestorben. Er ist glorreich auferstanden; auch wir sollen als neue Menschen auferstehen. Darum ist ja gerade unser alter Mensch gleichsam mit ihm gekreuzigt worden, damit die Sinnlichkeit des Leibes vernichtet werde und wir der Sünde nicht mehr dienen. Wie ein Toter zu sündigen aufgehört hat, so soll sich auch jeder der Sünde enthalten, der geistigerweise gestorben ist. Sind wir aber mit Christus der Sünde wahrhaft abgestorben, so glauben und vertrauen wir, dass wir auch an seinem Gnadenleben teilnehmen werden. Wir wissen ja alle: Christus stirbt nicht mehr, nachdem er auferstanden ist; der Tod hat keine Gewalt mehr über ihn. Ein für allemal ist er gestorben, um die Sünde zu tilgen, hinfort aber lebt er zur Verherrlichung des Vaters. So sollt auch ihr, dem Bösen abgestorben, in Gemeinschaft mit Christus Jesus nur für Gott leben<ref> Röm. 6, 4―11.</ref>!“ Somit hatte der Apostel den Beweis dafür unternommen, wir dürften zu dem Zwecke, dass die Gnade überschwenglicher werde, nicht in der Sünde verharren. „Da wir der Sünde abgestorben sind,“ hatte er gesagt, „wie sollten wir da noch in ihr leben können<ref> Ebd. [Röm.] 6, 2.</ref>?“ Und zum Zeichen, dass wir der Sünde auch tatsächlich abgestorben seien, hatte er hinzugefügt: „Oder wißt ihr nicht, dass wir alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, in seinem Tod getauft worden sind<ref> Ebd. [Röm.] 6, 3.</ref>?“ Er kommt also am Schluss der ganzen Stelle wieder auf den Ausgangspunkt zurück. Vom Tode Christi sprach er nämlich so, dass er sagt, auch Christus sei der Sünde gestorben. Was konnte er da für eine andere Sünde meinen, als die des Fleisches, in dem zwar nicht die Sünde selbst, wohl aber das Abbild der Sünde bestand und das deshalb geradezu selbst Sünde genannt wird? Denen also, die im Tode Christi getauft sind, in dem nicht bloß die Erwachsenen, sondern auch die Kinder getauft werden, ruft er zu: „Also, d. h. so wie Christus, sollt auch ihr dafür halten, dass ihr dem Bösen abgestorben seid und dass ihr in Gemeinschaft mit Christus Jesus nur für Gott leben dürft<ref> [Ebd.] Röm. 6, 11.</ref>.“

53. Alles also, was bei der Kreuzigung Christi, bei seinem Begräbnis, bei seiner Auferstehung am dritten Tag, bei seiner Himmelfahrt und bei seinem Sitzen zur Rechten des Vaters geschah, vollzog sich in der Weise, dass dadurch ein Abbild des christlichen Lebens hier auf Erden geschaffen wurde, und zwar nicht bloß durch seine geheimnisvollen Reden, sondern auch durch seine Taten. So heißt es z. B. bezüglich seines Kreuzes: „Diejenigen aber, die Jünger Jesu Christi sind, haben ihr Fleisch mit seinen Leidenschaften und Begierden gekreuzigt<ref> Gal. 5, 24.</ref>“; bezüglich seines Begräbnisses: „Wir sind ja mit Christus durch die Taufe zum Tode (dem alten Menschen nach) begraben<ref> Röm. 6, 4.</ref>“; bezüglich seiner Auferstehung: „Gleichwie Christus durch die Kraft des Vaters wieder vom Tode erweckt wurde, so sollen auch wir zu neuem Leben erstehen und es in unserem Wandel betätigen<ref> [Ebd.] Röm. 6, 4.</ref>“; und bezüglich seiner Himmelfahrt und seines Sitzens zur Rechten des Vaters heißt es: „Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so trachtet nach dem, was droben ist, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt; sucht, was im Himmel, nicht, was auf Erden ist; denn ihr seid (in der Taufe dem alten Menschen nach) gestorben; euer (neues) Leben aber ist noch verborgen mit Christus in Gott<ref> Kol. 3, 1―3.</ref>.“

54. Wenn wir aber nun weiterhin von Christus bekennen, dass er vom Himmel kommen wird, „um die Lebendigen und die Toten zu richten<ref> 2 Tim. 4, 1.</ref>“, so hat dies auf unser Leben keinen Bezug mehr; denn diese Tat gehört ja nicht mehr zu den Werken, die er (auf Erden) vollbracht hat, sondern zu denen, die er erst am Ende der Welt vollbringen muss. Dementsprechend fügt der Apostel seinen oben angeführten Worten noch weiter hinzu: „Wenn Christus, euer Leben, einmal erscheinen wird, dann werdet auch ihr mit ihm in Herrlichkeit erscheinen<ref> Kol. 3, 4.</ref>.“

(55.) Den Satz: „Er wird die Lebendigen und die Toten richten<ref> 2 Tim. 4, 1.</ref>“ kann man jedoch doppelt auffassen: Entweder so, dass man unter den Lebendigen diejenigen versteht, die Christus dereinst bei seiner Ankunft hier auf Erden noch nicht gestorben, sondern noch im Fleische lebend finden wird, unter den Toten aber diejenigen, die schon vor seiner Ankunft ihren Leib verlassen haben oder ihn noch vorher verlassen werden; oder man kann ihn so auffassen, dass wir unter den Lebendigen die Gerechten, unter den Toten aber die Ungerechten verstehen; denn es werden ja auch die Gerechten gerichtet werden. Gar manchmal wird nämlich der Ausdruck „Gericht Gottes“ gesetzt für „Gericht (Verurteilung) über einen bösen Menschen“. In diesem Sinne heißt es: „Die aber Böses verübt haben, (werden hervorgehen) zur Auferstehung des Gerichtes<ref> Joh. 5, 29.</ref>“; manchmal wird der Ausdruck auch wieder von den Guten gebraucht; so, wenn es z. B. heißt: „O Gott, in deinem Namen rette mich und in deiner Kraft richte mich<ref> Ps. 53, 3 [hebr. Ps. 54, 3].</ref>!“ Denn gerade durch das Gericht wird ja die Scheidung zwischen Guten und Bösen vollzogen; dadurch werden die Guten zur Rechten (des Richters) aufgestellt<ref> Vgl. Matth. 25, 33.</ref>“, um so vom Bösen befreit und mit den Bösen nicht verdammt zu werden. In diesem Sinne ruft der Psalmist aus: „Richte mich, o Gott<ref> Ps. 42, 1 [hebr. Ps. 43, 1].</ref>!“ und setzt dann gleichsam zur Erklärung noch hinzu: „Und scheide meine Sache von dem unheiligen Volke<ref> Ebd. [Ps. 42, 1; hebr. Ps. 43, 1].</ref>!“

15. Kapitel: Vom Heiligen Geist und von der Kirche; die Kirche Gottes ist ein zweifacher Tempel Gottes. ― Von der triumphierenden Kirche im Himmel; Streitfragen in der Lehre von den Engeln

56. Wir haben nunmehr von Jesus Christus, Gottes eingeborenem Sohn, unserm Herrn, soviel gesagt, als ein kurzes Glaubensbekenntnis nur gestattet. Um aber die Lehre von der göttlichen Dreifaltigkeit vollständig abzuschließen, fügen wir jetzt auch noch das Bekenntnis hinzu: „Wir glauben auch an den Heiligen Geist.“ Sodann tun wir auch der heiligen Kirche Erwähnung. Dadurch wird uns zu verstehen gegeben, dass die vernünftige, für das freie Jerusalem<ref> Vgl. Gal. 4, 26.</ref> bestimmte Schöpfung erst nach der Erwähnung des Schöpfers, d. h. nach Erwähnung der allerhöchsten Dreifaltigkeit folgen dürfe. Denn alles, was (zuvor) von dem Menschen Christus gesagt ist, das betrifft ja auch die eine Person des Eingeborenen. Die rechte Ordnung (in der Reihenfolge) des Glaubensbekenntnisses forderte also, dass erst nach der Dreieinigkeit die Kirche genannt wird, geradeso wie man das Haus erst nach seinem Bewohner<ref> Vgl. 1 Tim. 3, 15.</ref>, den Tempel erst nach seinem Gott und die Stadt erst nach ihrem Erbauer nennt. Diese Stadt Gottes kommt aber hier in ihrer Gesamtheit in Betracht, nicht bloß in dem Teil, wo sie auf der Pilgerfahrt auf Erden<ref> Vgl. Hebr. 13, 14.</ref> von Sonnenaufgang bis zum Sonnenniedergang<ref> Ps. 112, 3 [hebr. Ps. 113, 3].</ref> den Namen des Herrn lobpreist und nach Ablauf ihrer alten Gefangenschaft ihr neues Lied singt<ref> Vgl. Offenb. 14, 3.</ref>, sondern sie kommt auch in dem Teil in Betracht, der im Himmel allezeit mit Gott, seinem Schöpfer, verbunden blieb und niemals an sich erfahren musste, dass ein Glied von ihm zu Falle kam. Dieser Teil lebt in den heiligen Engeln in ewiger Seligkeit und kommt, wie es auch nur recht ist, dem andern noch auf Erden pilgernden Teil zu Hilfe; diese beiden Teile (die streitende und die triumphierende Kirche) werden einstmals auch eins sein im gemeinsamen Genuß der Ewigkeit, ja sie sind bereits eins durch das Band der Liebe, eine Vereinigung, die keinen anderen Zweck hat als die Verehrung Gottes. Darum will weder die ganze Kirche noch einer ihrer Teile an Gottes Stelle verehrt werden; auch will sie nicht, dass jemand, der zum Tempel Gottes gehöre, selber Gott sei; denn dieser Tempel baut sich auf aus Göttern<ref> Vgl. Ps. 81, 6 [hebr. Ps. 82, 6]; Joh. 10, 34.</ref> (Gläubigen), die der unerschaffene Gott erschafft. Und eben darum wäre auch der Heilige Geist, wenn er ein Geschöpf und nicht vielmehr selbst Schöpfer wäre, sicherlich ein vernünftiges Geschöpf; denn die vernünftige Schöpfung ist die Krone der Schöpfung. In diesem Falle wäre von ihm in der Glaubensregel<ref> D. h. im apostolischen Glaubensbekenntnis.</ref> nicht schon vor der Kirche die Rede, weil er ja dann selbst zur Kirche gehörte, und zwar zu dem Teil von ihr, der im Himmel wohnt. Auch hätte er dann keinen Tempel, sondern auch er wäre dann selbst ein Tempel. Er hat aber nun wirklich einen Tempel, von dem der Apostel sagt: „Wisset ihr nicht, dass euere Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, der in euch ist und den ihr von Gott habt<ref> 1 Kor. 6, 19.</ref>?“ Von diesen Leibern sagt er an einer anderen Stelle: „Wisset ihr nicht, dass euere Leiber Glieder Christi sind<ref> Ebd. [1 Kor.] 6, 15.</ref>?“ Wie sollte also derjenige nicht Gott sein, der einen Tempel hat? Oder ist er vielleicht kleiner als Christus, dessen Glieder er zum Tempel hat? Es besteht auch wirklich kein Unterschied zwischen seinem Tempel und dem Tempel Gottes; sagt ja doch der nämliche Apostel Paulus: „Wisset ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid<ref> Ebd. [1 Kor.] 3, 16.</ref>?“ Um dies zu beweisen fährt er fort: „. . . und dass der Geist Gottes in euch wohnt<ref> Ebd. [1 Kor. 3, 16].</ref>?“ Gott also wohnt in seinem Tempel, d. h. nicht bloß der Heilige Geist, sondern auch der Vater und der Sohn. Auch dieser letztere sagt von seinem Leib, durch den er das Haupt der aus Menschen bestehenden Kirche ist ― „damit er in allem den Vorrang habe<ref> Kol. 1, 18.</ref>“―: „Brechet diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen<ref> Joh. 2, 19.</ref>!“

Der Tempel Gottes also, nämlich der Tempel der ganzen allerhöchsten Dreifaltigkeit, ist die heilige Kirche, d. h. die Kirche in ihrer Gesamtheit im Himmel und auf Erden. (57.) Was können wir aber von jener Kirche im Himmel weiteres sagen, als dass es in ihr keine Bösen gibt und dass in ihr von dem Zeitpunkt an, wo nach dem schriftlichen Zeugnis des Apostels Petrus Gott „nicht einmal die Engel schonte, als sie sündigten, sondern sie in den Kerker der höllischen Finsternis schleuderte und sie dahingab, dass sie bewahrt würden zur Strafe im Gerichte<ref> Vgl. 2 Petr. 2, 4.</ref>“, kein Glied mehr der Zugehörigkeit zu dieser Kirche verlustig gegangen ist, noch auch verlustig gehen wird. (58.) Welches ist aber nun der Zustand dieser erhabenen, hochseligen Schar? Wie unterscheiden sie sich hinsichtlich ihres Vorranges? Wie kann dort von Erzengeln die Rede sein, wo doch all diese Himmelsbewohner mit dem Gesamtnamen „Engel“ bezeichnet werden? So lesen wir z. B. im Hebräerbrief: „Denn zu welchem der Engel hat Gott jemals gesprochen: Setze dich zu meiner Rechten<ref> Hebr. 1, 13.</ref>?“ Damit hat der Apostel doch wohl zu erkennen gegeben, dass alle den Gesamtnamen „Engel“ tragen. Werden ferner jene Erzengel zugleich auch Heerscharen genannt und heißt es in dem Sinne: „Lobet ihn, all seine Engel! Lobet ihn, all seine Heerscharen<ref> Ps. 148, 2 [hebr. Ps. 148, 2].</ref>!“, als ob gesagt sei: „Lobet ihn, all seine Engel! Lobet ihn, all seine Erzengel“? Was für ein Unterschied liegt endlich in jenen vier Bezeichnungen, womit der Apostel die ganze himmlische Heerschar zusammenzufassen scheint mit den Worten: „Seien es nun Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten<ref> Kol. 1, 16.</ref>“? All diese Fragen mögen diejenigen beantworten, die es können, vorausgesetzt, dass sie auch imstande sind, für ihre Behauptungen einen Beweis zu bringen. Ich für meine Person muss schon gestehen, dass ich darüber nichts weiß. Ja nicht einmal das weiß ich ganz bestimmt, ob zu diesen Scharen nicht auch Sonne und Mond und all die anderen Gestirne gehören, obgleich sie manche nur für leuchtende Körper ohne Sinne und Verstand halten. (59.) Wer möchte ferner erklären wollen, welcher Art die Körper waren, in denen die Engel den Menschen erschienen sind, so dass man sie nicht bloß schauen, sondern sogar berühren konnte; oder wie es kommt, dass die Engel anderseits wieder nicht in körperlicher Gestalt, sondern durch geistige Beeinflussung nicht dem körperlichen, sondern dem geistigen Auge, dem inneren Sinn, gewisse Erscheinungen zeigen und wie sie denn dann nicht zu dem äußeren Ohr, sondern inwendig in der Menschenseele sprechen. Denn auch da (in der Menschenseele) wohnen sie; steht ja doch in dem Buche der Propheten geschrieben: „Und es sprach zu mir der Engel, der in mir redete<ref> Zachar. 1, 9.</ref>.“ Der Prophet sagt nicht: „Der zu mir redete“, sondern: „Der in mir redete“; oder es soll einer erklären, wie die Engel auch im Schlafe erscheinen und da wie im Traum zu uns sprechen. Es gibt hiefür eine Stelle im Evangelium: „Siehe, ein Engel des Herrn erschien ihm (dem Joseph) im Schlafe und sprach<ref> Matth. 1, 20.</ref>.“ ― Auf solche Weise geben die Engel gewissermaßen zu verstehen, dass sie keinen greifbaren Körper haben und es gestaltet sich darum die Frage sehr schwierig, wie ihnen denn dann die Patriarchen die Füße waschen<ref> Gen. 18, 4; 19, 2.</ref> und wie Jakob in jener bekannten kräftigen Berührung mit dem Engel ringen konnte<ref> Ebd. [Gen.] 32, 25 ff.</ref>“. An solcherlei Fragen, wo ein jeder nach Kräften seinen Scharfsinn spielen läßt, bildet sich der Geist nicht ohne Nutzen; nur darf der Streit die Grenzen der Mäßigung nicht überschreiten und muss der falsche Glaube ferngehalten werden, man wisse etwas, wovon man in Wirklichkeit nichts weiß. Denn was hat es schließlich für einen Wert, dieses oder jenes zu behaupten oder zu verneinen oder mit einem Aufwand von Scharfsinn auseinanderzusetzen, wenn es keinen Schaden bedeutet, davon nichts zu wissen.

16. Kapitel: Der Satan und die Menschen. ― Die Wirkung der Erlösung auf das Verhältnis zwischen triumphierender und streitender Kirche; vom Frieden des Himmels

60. Wichtiger ist es dagegen, das ganz klar und deutlich zu erkennen, wann sich der Satan in einen Engel des Lichtes<ref> Vgl. 2 Kor. 11, 14.</ref> verwandelt; denn sonst könnte er uns täuschen und zu etwas Verderblichem verführen. Darin liegt nämlich keine Gefahr für das religiöse Leben, wenn er zwar die leiblichen Sinne täuscht, die Seele aber nicht von den wahren und richtigen Grundsätzen, auf denen sich für jedermann das christliche Leben aufbaut, abwendig macht; oder wenn er sich als ein guter Geist verstellt und nur solche Taten und Worte zeigt, wie sie guten Engeln zukommen und wenn er daraufhin sogar für gut gehalten wird, so ist das ein Irrtum, der für den christlichen Glauben nicht gefährlich und nicht schädlich ist. Sobald er aber durch ein solches, seinem wirklichen Wesen fremdes Benehmen zu dem hinführen will, was ihm so recht eigentümlich ist, dann wird es notwendig, mit großer Sorgfalt auf seiner Hut zu sein, damit man ihn durchschaue und seinen Weg nicht gehe. Doch wo ist denn so ein Mensch, der imstande wäre, all seinen todbringenden Ränken zu entgehen, wenn nicht Gott sein Leiter und Beschützer ist? Aber gerade diese Schwierigkeit hat wieder das Gute, dass der Mensch lernt, sich nicht auf sich selbst oder auf andere Leute, sondern in all seinen Angelegenheiten nur auf Gott zu verlassen. Und dass uns dieses Gottvertrauen mehr nützt (als falsches Vertrauen auf sich und auf die Mitmenschen), das wird gewiß kein frommer Christ bezweifeln.

61. Soweit demnach die Kirche die heiligen Engel und Herrschaften Gottes in sich begreift, wird sie uns erst dann in ihrem Wesen klar werden, wenn wir am Ende (unseres Lebens) mit ihnen vereinigt sein werden, um in ihrer Gemeinschaft die ewige Seligkeit zu genießen. Der andere Teil der Kirche aber, der noch auf Erden pilgert, ist uns deshalb besser bekannt, weil wir ja selber noch auf Erden leben und weil er eine Kirche von Menschen ist, wie auch wir es sind. Diese Kirche ist durch das Blut des sündelosen Mittlers von jeglicher Sünde erlöst worden und ihre Stimme ist es, die da sagt: „Wenn Gott für uns ist, wer ist dann wider uns? Hat er ja seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben<ref> Röm. 8, 31 f.</ref>.“ Denn nicht für die Engel ist Christus gestorben. Insoferne jedoch erstreckt sich auch auf die Engel alles, was durch Christi Tod zur Erlösung und Reinigung der Menschen vom Bösen geschieht, als die Menschen bei den Engeln gewissermaßen auch wieder zu Gnaden kommen; denn (durch die Erlösung) schwindet die Feindschaft, welche die Sünde zwischen den Menschen und den heiligen Engeln geschaffen hatte. Zudem werden ja gerade aus der erlösten Menschheit auch jene Schäden wieder geheilt, die der Sturz der Engel zur Folge gehabt hatte.

62. Denn sicherlich wissen auch die heiligen Engel, wie zahlreich der Ersatz sein muss, den ihr Reich bis zu seiner vollen Ergänzung aus dem Menschengeschlecht zu erwarten hat; darüber wird sie Gott wohl belehrt haben, dessen Wahrhaftigkeit ewig anzuschauen ihre Seligkeit ausmacht. In diesem Sinn sagt der Apostel, „alles, was im Himmel und auf Erden ist, werde in Christo erneuert<ref> Vgl. Eph. 1, 10.</ref>“. Das, was im Himmel ist, wird nämlich dann erneuert, wenn die Lücke, die durch den Fall der Engel entstanden ist, aus der Zahl der Menschen wieder ausgefüllt wird; was aber auf Erden ist, das wird erneuert, wenn die Menschen, die zum ewigen Leben vorherbestimmt sind, aus ihrer alten Verderbnis wieder hergestellt werden. Auf solche Weise wird durch jenes einzigartige Opfer, in dem der Mittler (Christus) sich opfert<ref> Vgl. Hebr. 10, 12―14.</ref>, und auf welches allein die Opfer des Gesetzes vorbildlich hinwiesen, das Himmlische und das Irdische gegenseitig in Frieden geeinigt. Denn also spricht der gleiche Apostel (Paulus): „Gefallen hat es (dem Vater), in ihm (dem Sohne) die ganze Fülle (der Gottheit) wohnen zu lassen und durch ihn die gesamte Kreatur des Himmels und der Erde mit sich zu versöhnen, indem er durch seines Sohnes blutigen Kreuzestod den Frieden wiederherstellte<ref> 1 Kol. 1, 20; vgl. 2, 9.</ref>.” (63.) Dieser Friede übersteigt, wie geschrieben steht, jeden Begriff<ref> Vgl. Phil. 4, 7.</ref> und kann von uns erst dann wirklich erkannt werden, wenn wir zu ihm gelangt sind. Denn wie kann Friede im Himmel werden, wenn er nicht mit uns geschlossen wird, d. h. wenn der Himmel nicht mit uns eines Herzens wird? Dort herrscht nämlich ewiger Friede, sowohl aller geistigen Geschöpfe unter sich als auch mit ihrem Schöpfer. Es übersteigt also dieser Friede, wie gesagt, jeden Begriff, natürlich nur den unsrigen, nicht aber den Begriff derer, die immerdar das Antlitz des Vaters schauen<ref> Matth. 18, 10.</ref>. Im Gegensatz zu diesen ist unsere Einsicht bei aller Größe menschlicher Erkenntnis doch nur eine teilweise und unser Schauen nur ein unvollkommenes, wie durch einen Spiegel<ref> 1 Kor. 13, 12.</ref>. Wenn wir aber dereinst einmal den Engeln gleich sein werden<ref> 1 Kor. 13, 12.</ref>, dann wird auch unser Schauen ein Schauen von Angesicht zu Angesicht sein, wie bei ihnen, und der Friede, den wir mit ihnen haben werden, wird ebenso groß sein wie der, den sie mit uns haben; denn dann wird unsere Liebe zu ihnen ebenso groß sein wie die ihrige zu uns. Darum wird uns dann ihr Friede kund sein, weil auch unser Friede ebenso groß und so tief sein wird und weil dann ihr Friede unsern Begriff nicht mehr übersteigen wird<ref> Vgl. Phil. 4, 7.</ref>. Gottes Friede jedoch, der dort über uns herrschen wird, wird zweifellos sowohl unseren als auch ihren Begriff übersteigen. Aus ihm schöpft ja jede vernünftige Kreatur ihre Seligkeit, mag sie auch noch so selig sein; er dagegen schöpft seine Seligkeit nicht aus der Kreatur. Die Stelle: „Der Friede Gottes, der jeglichen Begriff übersteigt . . .<ref> Vgl. Phil. 4, 7.</ref>“, ist somit wohl am richtigsten so zu verstehen, dass in den Ausdruck „jeglich“ sogar auch der Begriff der heiligen Engel und nur einzig nicht der Begriff Gottes eingeschlossen ist. Denn seinen eigenen Begriff kann Gottes Friede ja doch nicht übersteigen.

17. Kapitel: Sündenschuld und Sündenvergebung

64. Aber auch schon jetzt besteht zwischen den Engeln und uns Herzenseinheit, wenn wir Nachlaß unserer Sünden erlangen. Deshalb folgt im Glaubensbekenntnis nach dem Artikel von der Kirche der von dem Nachlaß der Sünden. Diesem Sündennachlaß verdankt nämlich die Kirche auf Erden ihr Bestehen; dadurch geht das, was verloren war, aber wieder gefunden wurde, nicht mehr verloren. Wir besitzen zwar schon das Gnadengeschenk der Taufe; das ist uns aber als Heilmittel gegen die Erbsünde verliehen worden, damit der Makel, den wir uns durch unsere Geburt zugezogen haben, durch die Wiedergeburt (in der Taufe) wieder von uns genommen werde; daneben nimmt die Taufe auch noch sämtliche persönlichen Sünden hinweg, die sie vorfindet und die wir in Gedanken, Worten und Werken begangen haben. Aber abgesehen von dieser Gnadeneinrichtung (der Taufe), von der die Erneuerung des Menschen ihren Anfang nimmt und durch die jede angeborene und jede später noch hinzugefügte Verschuldung getilgt wird, kann doch auch das ganze übrige Leben von dem Zeitpunkt des Vernunftgebrauches an nicht auf eine Vergebung der Sünden verzichten und wenn es noch so fruchtbar an Werken der Gerechtigkeit wäre; denn auch die Kinder Gottes haben mit dem Tode (der Sünde) zu kämpfen, solange sie im sterblichen Leben wandeln. Von diesen Gerechten mag es mit noch soviel Berechtigung heißen: „Alle, die vom Geiste Gottes getrieben werden, sind Kinder Gottes<ref> Vgl. Röm. 8, 14.</ref>“: sie werden doch nur so vom Geiste Gottes angeregt und schreiten als Kinder Gottes nur soweit wirklich zu Gott fort, dass sie durch die Schuld ihrer (sündigen) menschlichen Geistesverfassung und vor allem durch die Schuld der auf diesen Geist drückenden Last des sündigen Leibes<ref> Vgl. Weish. 9, 15.</ref>> als (wahre) Menschenkinder infolge mancherlei menschlicher Regungen sozusagen zu sich selbst herabsinken, d. h. sündigen. Übrigens ist hier wohl zu unterscheiden: denn wenn auch jedes schwere Vergehen eine Sünde ist, so ist doch noch nicht jede Sünde schon ein schweres Vergehen. Wir dürfen also recht wohl sagen, der Wandel eines Heiligen werde zeitlebens ohne eigentliches schweres Vergehen befunden, „wollten wir aber dagegen sagen,“ spricht der große Apostel (Johannes), „wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns<ref> 1 Joh. 1, 8.</ref>“.

65. Doch mag einer auch noch so schwere Verbrechen begangen haben, er braucht deshalb doch dank der Barmherzigkeit, die Gott in der heiligen Kirche erweist, nicht an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln: er soll nur Buße tun nach dem Maße seiner Sünde. Ist aber die Sünde von solcher Art, dass der Sünder auch vom Leibe Christi getrennt werden muss<ref> D. h. dass er als öffentlicher Büßer zeitweise von der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden muss.</ref>, dann kommt es bei der Übung der Buße nicht so sehr auf das Maß der Zeit, als vielmehr auf das Maß des Reueschmerzes an. „Denn ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz verschmäht Gott nicht<ref> Vgl. Ps. 50, 19 [hebr. Ps. 51, 19].</ref>.“ Weil jedoch der Seelenschmerz des einen einem andern meist verborgen bleiben wird und sich nicht durch Worte oder sonstige Zeichen den andern Menschen äußert, sondern nur dem offenbar ist, an den der Psalmist die Worte richtet: „Mein Seufzen ist vor dir nicht verborgen<ref> Ps. 37, 10 [hebr. Ps. 38, 10].</ref>“, so werden von den kirchlichen Vorstehern mit gutem Grund Bußzeiten festgesetzt, damit so auch der Kirche Genugtuung geschehe, in der die Sünden nachgelassen werden. Denn außerhalb der Kirche gibt es ja keinen Sündennachlass. Hat sie ja doch allein den Heiligen Geist in besonderer Weise als Pfand empfangen, ohne den keine Sünde so nachgelassen wird, dass diejenigen, denen sie nachgelassen wird, das ewige Leben erlangen.

66. Die Nachlassung der Sünden geschieht hauptsächlich mit Rücksicht auf das kommende Gericht. Für dieses Leben aber hat das Wort der Schrift: „Ein schweres Joch liegt auf den Kindern Adams vom Tage ihres Austrittes aus dem Schoße ihrer Mutter an bis zum Tage ihres Begräbnisses in die Mutter aller<ref> Nämlich bis zum Begräbnis im Schoße der Erde. Ekkli. 40, 1 [= Ekklisiastikus = Sirach].</ref>“, eine so weitgehende Geltung, dass, wie wir sehen, sogar die kleinen Kinder nach dem Bade der Wiedergeburt noch von verschiedenen Übeln schmerzlich betroffen werden. Daraus sollen wir erkennen, dass sich jede Wirkung der heilbringenden Sakramente mehr auf die zu erhoffenden künftigen Güter als auf die Bewahrung oder Erlangung der gegenwärtigen (zeitlichen) bezieht. ― Allerdings scheint auch vieles hier auf Erden übersehen und mit keiner Strafe belegt zu werden; allein die Strafe hiefür wird für die Zukunft aufgespart und nicht umsonst heißt der Tag, an dem der Richter über die Lebendigen und die Toten kommen wird, Tag des Gerichtes im eigentlichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz dazu kommt hier auf Erden manches zur Bestrafung, das nach seiner Vergebung sicher im künftigen Leben nicht mehr schaden wird. Darum sagt der Apostel in bezug auf gewisse zeitliche Strafen, die hienieden den Sündern auferlegt werden, damit sie jenen, deren Sündenschuld auf diese Weise getilgt wird, nicht für das Ende aufbewahrt bleiben: „Wenn wir uns selbst richteten, dann würden wir vom Herrn nicht gerichtet werden; werden wir aber von ihm gerichtet (d. h. mit zeitlichen Strafen gezüchtigt), so geschieht es, damit wir uns bekehren und nicht mit dieser (ungläubigen) Welt (ewig) verdammt werden<ref> Vgl. 1 Kor. 11, 31 f.</ref>.“

18. Kapitel: Notwendigkeit des in der Liebe wirksamen Glaubens; vom Feuer der Trübsal und der Abtötung; das Reinigungsfeuer

67. Es gibt nun aber auch Leute, die glauben, solche, die nur vom Namen Christi nicht abfallen, die nur in seiner Kirche im Bade (der Wiedergeburt) getauft und durch keine Trennung und keine Irrlehre von dieser Kirche abgeschnitten werden, könnten in den denkbar größten Sünden dahinleben, ohne diese Sünden durch Reue auszulöschen oder durch Almosen wieder gut zu machen, und sie könnten darin bis zum letzten Augenblick ihres Lebens hartnäckig verharren; sie könnten eben dann doch noch selig werden durch Feuer; und zwar würden solche Menschen allerdings je nach der Größe ihrer Sünden und Verbrechen mit einem langen, aber keineswegs ewig dauernden Feuer bestraft. Wer jedoch einen solchen Glauben hegt und dabei doch katholisch ist, der läßt sich meiner Ansicht nach durch ein gewisses menschliches Mitgefühl beirren. Ziehen wir nämlich die Heilige Schrift zu Rate, so erhalten wir eine ganz andere Antwort. Übrigens habe ich über diese Frage ein besonderes Buch unter dem Titel „Vom Glauben und von den Werken<ref> Siehe S. 310 ff. dieses Bandes der „Bibliothek der Kirchenvater“.</ref>“ geschrieben. Darin habe ich, soweit ich es mit Gottes Hilfe vermochte, auf Grund der Heiligen Schrift nachgewiesen, dass nur der Glaube selig macht, den der Apostel Paulus deutlich genug mit den Worten bezeichnet hat: „In Christus Jesus gilt weder die Beschneidung (der Juden) etwas, noch auch die Unbeschnittenheit (der Heiden), sondern der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist<ref> Vgl. Gal. 5, 6.</ref>.“ Ein Glaube jedoch, der Böses und nichts Gutes wirkt, ist ohne Zweifel nach dem Apostel Jakobus „in sich selbst tot<ref> Jak. 2, 17.</ref>“. Derselbe Apostel spricht ferner: „Wenn einer sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke, kann ihn da wohl der Glaube retten<ref> Ebd. [Jak.] 2, 14.</ref>?“ Wenn aber nun ein verbrecherischer Mensch nur wegen seines Glaubens durch Feuer gerettet würde und wenn das Wort des heiligen Paulus: „Er wird zwar gerettet werden, aber so wie durch Feuer<ref> 1 Kor. 3, 15.</ref>“ in diesem Sinne zu verstehen wäre, dann würde ja der Glaube ohne Werke selig machen können und das, was Jakobus, der Mitapostel des heiligen Paulus, sagt, wäre falsch. Falsch wäre dann sogar auch, was der nämliche Apostel Paulus selbst sagt: „Täuscht euch nicht! Weder Schamlose noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, noch Knabenschänder, weder Diebe noch Habsüchtige, weder Trunkenbolde noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes besitzen<ref> Ebd. [1 Kor.] 6, 9 f.</ref>.“ Denn wenn sie trotz ihres Verharrens in diesen Verbrechen dennoch durch den Glauben an Christus selig würden, wie könnten sie da vom Reiche Gottes ausgeschlossen sein? (68.) Weil aber diese ganz klaren und deutlichen Zeugnisse der Apostel nicht falsch sein können, so muss jene dunkle Schriftstelle, die von denen handelt, die auf dem Fundament, welches Christus ist, nicht Gold, Silber und kostbare Steine, sondern Holz, Heu und Stoppeln aufbauen<ref> Ebd. [1 Kor.] 3, 11 f.</ref> ― denn von solchen Leuten heißt es, sie würden durch Feuer gerettet, da sie kraft des Verdienstes ihres Fundamentes nicht zugrunde gehen<ref> Vgl. ebd. [1 Kor.] 3, 15.</ref> ―, so verstanden werden, dass sich in den obigen klaren Aussprüchen nicht widersprechender Sinn ergibt. Unter dem Holz, dem Heu und den Stoppeln kann man sich wohl nicht mit Unrecht so heftige Begierden nach irdischen, an sich erlaubten Dingen denken, dass man ihren Verlust nicht ohne Schmerz ertragen könnte. Da aber dieser Schmerz brennt, so wird der davon gebrannte Mensch durch dieses Feuer gerettet, wenn in seinem Herzen Christus so die Stelle des Fundamentes einnimmt, dass ihm nichts vorgezogen und lieber diese so hoch geschätzten Güter als Christus aufgegeben werden. Wenn hingegen der Mensch zur Zeit der Versuchung lieber an solchen zeitlichen und irdischen Dingen als an Christus festhalten will, so hat er ihn eben nicht zum Fundament gehabt, weil er jenen Dingen den ersten Platz anwies, bei einem Gebäude aber das Fundament die Hauptsache sein muss. Das Feuer, von dem der Apostel an unserer Stelle geredet hat, muss nämlich in dem Sinne aufgefaßt werden, dass beide durch dasselbe hindurch gehen müssen, sowohl die, welche auf diesem Fundament Gold, Silber und kostbare Steine, als auch die, welche Holz, Heu und Stoppeln aufbauten. Der Apostel fährt nämlich nach jenem Worte also fort: „Die Beschaffenheit eines jeden Werkes wird das Feuer erproben. Bleibt das Werk, das jemand (auf das Fundament) erbaut hat, bestehen, so wird (der Meister) belohnt werden; der aber, dessen Werk verbrennt, der wird den Schaden davon haben. Er selbst wird zwar gerettet werden, jedoch wie durch Feuer<ref> Vgl. 1 Kor. 3, 13 ff.</ref>.“ Das Feuer wird also nicht bloß das Werk des einen Meisters, sondern das beider Meister erproben. – Ein Feuer ist auch die Prüfung durch Trübsal, wie deutlich an einer anderen Stelle geschrieben steht: „Die Gefäße des Töpfers prüft der Ofen; die gerechten Menschen aber die Versuchung durch Trübsal<ref> Ekkli. 27, 6 [= Ekklisiastikus = Sirach].</ref>.“ Jenes Feuer der Trübsal bringt übrigens schon in diesem Leben die vom Apostel bezeichnete Wirkung hervor; nämlich dann, wenn von zwei davon betroffenen Gläubigen der eine an das denkt, was Gottes ist, d. h. wie er Gott gefalle<ref> 1 Kor. 7, 32.</ref> ― dieser baut also auf Christus als auf das Fundament Gold, Silber und kostbare Steine auf ―, während der andere das denkt, was der Welt ist, wie er seinem Weibe gefalle<ref> Ebd. [1 Kor.] 7, 33.</ref> ― dieser baut also auf dasselbe Fundament nur Holz, Heu und Stoppeln auf. Das Werk des ersteren verbrennt nicht, weil er die Güter, deren Verlust er schmerzlich empfindet, nicht geliebt hat; es verbrennt dagegen das Werk des letzteren, weil der Verlust dessen nicht schmerzlos ist, was man mit Liebe besessen hat. Allein selbst dieser wollte, vor die Wahl gestellt, lieber die irdischen Güter als Christus verlieren, und so groß auch sein Schmerz bei ihrem Verlust ist, so läßt er doch nicht von Christus ab aus Furcht vor einem solchen Verlust. Darum wird er zwar gerettet, doch so wie durch Feuer<ref> 1 Kor. 3, 15.</ref>; denn ihn brennt der Schmerz über den Verlust der geliebten Güter. Doch vernichtet und verzehrt ihn der Schmerz nicht, weil er durch die Festigkeit und die Unzerstörbarkeit seines Fundamentes (Christus) gesichert ist. (69.) Dass etwas Derartiges auch nach diesem Leben geschieht, ist nicht unglaublich; es läßt sich die Frage schon aufwerfen – vielleicht wird sie gelöst, vielleicht bleibt sie ungelöst<ref> Über die Ansicht des hl. Augustinus betreffs der Existenz eines Fegfeuers vgl. Handbüchlein Nr. 109 u. Bekenntnisse IX. 13.</ref> ―, ob eine Anzahl von Gläubigen durch eine Art von Fegefeuer gerettet wird, und zwar schneller oder langsamer, je nachdem sie die mehr oder weniger vergänglichen Güter geliebt haben. Natürlich kommen dabei keine solchen Menschen in Frage, von denen es heißt: „Sie werden das Reich Gottes nicht besitzen<ref> 1 Kor. 6, 10.</ref>“, wenn sie nicht auf Grund einer entsprechenden Buße Nachlass für diese schweren Vergehen erhalten. Ich habe aber absichtlich gesagt: „auf Grund einer entsprechenden Buße“, weil solche Leute nicht unfruchtbar im Almosengeben sein dürfen. Dieser Tugend schreibt ja die Heilige Schrift eine solche Kraft zu, dass der Herr nach seiner eigenen Voraussage den zu seiner Rechten Stehenden nur die Fruchtbarkeit im Almosengeben, den zu seiner Linken Stehenden aber gerade die Unfruchtbarkeit hierin anrechnen wird; denn zu den ersteren wird er sagen: „Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget das Reich<ref> Vgl. Matth. 25, 34.</ref>!“, zu den letzteren aber: „Fort mit euch in das ewige Feuer<ref> Ebd. [Matth.] 25, 41.</ref>!“

19. Kapitel: Ein vorzügliches Mittel, um von Gott Verzeihung seiner Sünden zu erlangen, ist die Bereitwilligkeit, mit der man selbst seinen Beleidigern verzeiht

70. Trotzdem muss man sich aber vor der irrigen Meinung hüten, es könne einer jene abscheulichen Verbrechen, auf deren Verübung der Nichtbesitz des Reiches Gottes steht, täglich begehen, wenn man sie nur auch wiederum täglich durch Almosengeben sühne. Vor allem muss der Lebenswandel selbst gebessert und Gott durch das Almosen wegen der begangenen Sünden versöhnt werden, nicht aber darf man sich durch Almosen gewissermaßen einen Freibrief kaufen wollen, um nun ungestraft alle Zeit sündigen zu dürfen. Denn „keinem gibt Gott die Erlaubnis zum Sündigen<ref> Vgl. Ekkli. 15, 21 [= Ekklisiastikus = Sirach].</ref>“, wenn er auch um der Zerknirschung willen die bereits begangenen Sünden tilgt, falls die entsprechende Genugtuung nicht versäumt wird. (71.) Für die alltäglichen kleinen und leichten Versündigungen indes, ohne die es in diesem Leben nun einmal nicht abgeht, leistet das tägliche Gebet der Gläubigen schon Genugtuung; denn diejenigen dürfen mit Recht sagen: „Vater unser, der du bist in dem Himmel<ref> Matth. 6, 9.</ref>“, die schon einem solchen Vater wiedergeboren sind aus dem Wasser und dem (Heiligen) Geiste<ref> Joh. 3, 5.</ref>. Dieses Gebet löscht die geringen, täglichen Sünden vollständig aus. Es löscht auch noch jene Sünden aus, von denen das bisher zwar in Lastern verbrachte, nunmehr aber durch Buße gebesserte Leben abläßt; nur muss man ebenso aufrichtig, wie man spricht: „Vergib uns unsere Schulden“ ― und an solchen Schulden, die vergeben werden sollen, fehlt es ja nicht – auch die anderen Worte sprechen: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern<ref> Matth. 6, 12.</ref>.“ Und wenn man wirklich diesen Worten entsprechend handelt (dann tritt sicher die Sündenvergebung ein); denn auch das ist ein Almosen, wenn man dem um Verzeihung bittenden Mitmenschen vergibt. (72.) Von allem, was aus verdienstlicher Barmherzigkeit geschieht, gilt darum das Wort des Herrn: „Gebt nur Almosen! Und siehe, alles ist euch rein<ref> Lk. 11, 41.</ref>.“ Es gibt aber nicht bloß der Almosen, der dem Hungrigen Speise, dem Durstigen Trank, dem Nackten Kleidung, dem Fremdling Herberge, dem Flüchtling eine Zuflucht, dem Kranken oder Eingekerkerten einen Besuch, dem Gefangenen Erlösung, dem Schwachen Stütze, dem Blinden Geleite, dem Traurigen Trost, dem Ungesunden Heilung, dem Irrenden Weisung, dem Zweifelnden Rat, kurz jedem Notleidenden das Notwendige zukommen läßt<ref> Vgl. Matth. 25, 35 ff.</ref>, sondern auch der gibt Almosen, der dem Fehlenden Verzeihung gewährt. Und wer denjenigen, über den er Gewalt hat, zwar mit Strafen bessert oder durch irgend welche Zuchtmittel im Zaume hält, ihm dabei aber die Sünde, durch die er Schaden erlitten hat oder beleidigt worden ist, von Herzen verzeiht<ref> Vgl. ebd. [Matth.] 18, 35.</ref> oder für ihn betet, auf dass er Verzeihung finde: auch der gibt Almosen, und zwar nicht allein dadurch, dass er ihm verzeiht oder für ihn betet, sondern auch dadurch, dass er ihn züchtigt und heilsam bestraft; denn damit übt er ein Werk der Barmherzigkeit. Man kann nämlich auch wider den Willen der Menschen viel Gutes erweisen, wenn man auf ihren Nutzen, nicht aber auf ihren Willen schaut; gar mancher ist ja sein eigener Feind, während er dagegen diejenigen, die tatsächlich seine Freunde sind, für seine Feinde hält. Und in dieser irrigen Meinung vergilt er ihnen Gutes mit Bösem, während doch ein Christ nicht einmal Böses mit Bösem vergelten soll<ref> Röm. 12, 17; vgl. Matth. 5, 44.</ref>.

Es gibt demnach viele Arten des Almosens, deren Übung uns zu unserer eigenen Sündenvergebung behilflich ist. (73.) Doch gibt es kein höheres Almosen, als wenn wir von Herzen alles verzeihen, was jemand gegen uns gefehlt hat. Denn weniger groß ist es, gegen jemand wohlwollend oder auch wohltätig zu sein, der dir nichts Böses zugefügt hat. Viel edler aber ist es, und ein Zeichen einer ganz erhabenen Güte, wenn du auch deinen Feind liebst<ref> Vgl. Matth. 5, 44.</ref> und wenn du ihm, der dir Übles will und nach Kräften auch zufügt, stets nur Gutes willst und nach Vermögen auch erweisest, gehorsam dem Worte Gottes: „Liebet euere Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen und betet für die, die euch verfolgen<ref> Luk. 6, 27.</ref>!“ Indes ist solche Tugend nur eine Gabe der vollkommenen Kinder Gottes, obgleich zwar jeder Gläubige nach dieser Vollkommenheit streben und seinen menschlichen Sinn durch vieles Gebet zu Gott und durch redliches Bemühen und Kämpfen mit sich selbst zu dieser Willensrichtung zu erheben trachten soll. Weil sonach jenes hohe Gut (der Feindesliebe) der großen Menge der Menschen abgeht, diese aber doch nach meiner Meinung Erhörung findet, wenn sie im Gebete des Herrn spricht: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern<ref> Matth. 6, 12.</ref>“, so ist doch das hierin gegebene gegenseitige Versprechen sicherlich erfüllt, wenn der Mensch, obwohl er noch nicht bis zur Feindesliebe vorgeschritten ist, doch wenigstens seinem Mitbruder verzeiht, sobald dieser ihn wegen seiner Beleidigung um Verzeihung bittet. Denn er selbst will ja auch durch sein eigenes Bitten Verzeihung erlangen, wenn er im Gebete spricht: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Es ist also, wie wenn er sagte: „Vergib uns auf unsere Bitten hin unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldigern auf ihre Bitten hin vergeben.“ 74. Übrigens darf man einen, der im Gefühl seines sündhaften Tuns denjenigen, der er beleidigt hat, um Verzeihung bittet, schon nicht mehr als Feind erachten, und es darf uns nicht schwer fallen, so einen sogar zu lieben, wenn es uns vielleicht auch schwer gewesen wäre, solange er mit uns wirklich in Feindschaft war. Keiner aber, der seinem reumütig um Verzeihung bittenden Mitmenschen nicht von Herzen verzeiht, soll wähnen, es werde ihm vielleicht von Gott verziehen. Denn die (ewige) Wahrheit kann nicht lügen. Welchem Leser oder Hörer des Evangeliums wäre aber unbekannt, wer den Ausspruch getan hat: „Ich bin die Wahrheit<ref> Joh. 14, 6.</ref>“? Eben dieser nun hat zuerst das Gebet gelehrt, dann aber den darin liegenden Sinn aufs nachdrücklichste mit den Worten ans Herz gelegt: „Wenn ihr eueren Mitmenschen ihre Sünden vergebt, dann wird euch auch euer himmlischer Vater euere Sünden vergeben; vergebt ihr aber eueren Mitmenschen nicht, dann wird euch auch euer himmlischer Vater euere Sünden nicht vergeben<ref> Vgl. Matth. 6, 14 f.</ref>.“ Wer bei einem solchen Donnerwort nicht aufwacht, der schläft nicht mehr bloß, nein, der ist schon tot. Übrigens wäre der himmlische Vater auch mächtig genug, selbst Tote wieder zum Leben zu erwecken.

20. Kapitel: Almosengeben ohne Selbstbesserung ist wertlos

75. Wer indes ein ganz schlechtes Leben führt und sich auch nicht bemüht, ein Leben mit solchen Sitten zu bessern, wer aber dabei doch mitten in seinen schändlichen Verbrechen nicht aufhört, fleißig Almosen zu geben, der schmeichelt sich ganz vergeblich, wenn er deshalb das Wort des Herrn auf sich anwenden möchte: „Gebt Almosen! Und siehe, alles ist euch rein<ref> Luk. 11, 41.</ref>.“ Denn so klar diese Worte auch sind, so fassen sie solche Leute doch nicht richtig auf. Damit dies aber geschehe, beachte so einer einmal, zu wem denn der Herrn eigentlich so gesprochen hat. Im Evangelium heißt es nämlich: „Während er (Jesus) redete, bat ihn ein Pharisäer, er solle bei ihm das Frühmahl nehmen. Und er trat ein und ließ sich nieder. Der Pharisäer aber war darüber befremdet und sprach bei sich, warum er sich denn vor dem Essen nicht gewaschen habe. Der Herr aber sprach zu ihm: „Ihr Pharisäer reinigt jetzt die Außenseite des Bechers und der Schüssel; euer eigenes Innere aber ist voll von Raub und Schlechtigkeit. Ihr Toren, hat denn nicht der, welcher das Auswendige geschaffen hat, auch das Inwendige geschaffen? Jedoch, was übrig ist, das gebt als Almosen! Und siehe, alles ist euch rein<ref> Ebd. [Luk. 11, 41].</ref>.“ werden wir dies etwa so verstehen müssen, dass für die Pharisäer, die den Glauben an Christus nicht hatten, alles rein war, trotzdem sie nicht an ihn glaubten und nicht wiedergeboren waren aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste<ref> Joh. 3, 5.</ref>, wenn sie nur Almosen gaben in der Gesinnung, wie der oben Geschilderte sie beim Geben haben zu müssen glaubte? Es sind ja doch alle unrein, die der Glaube an Christus nicht reinigt, von dem geschrieben steht, „dass durch den Glauben (an ihn) ihr Herz gereinigt wird<ref> Vgl. Apg. 15, 9.</ref>“, und von dem der Apostel sagt: „Den Befleckten und Ungläubigen ist jedoch nichts rein, sondern befleckt ist ihr Herz und ihr Gewissen<ref> Vgl. Tit. 1, 15.</ref>.“ Wie könnte also den Pharisäern alles rein sein, wenn sie nur Almosen geben, dabei aber nicht gläubig sind? Oder wie könnten sie gläubig sein, wenn sie nicht an Christus glauben und nicht in seiner Gnade wiedergeboren werden wollten? Und doch bleibt das Wort wahr, das sie hörten: „Gebt Almosen! Und siehe, alles ist euch rein<ref> Luk. 11, 41.</ref>.“

76. Wer nämlich in geordneter Weise Almosen geben will, muss bei sich selbst den Anfang machen und solches zuerst sich selbst geben. Almosengeben ist nämlich ein Werk der Barmherzigkeit, und ganz wahr ist es auch, wenn es heißt: „Erbarme dich deiner Seele und du wirst Gott gefallen<ref> Ekkli. 30, 24.</ref>.“ Um Gott zu gefallen, werden wir wiedergeboren, dem mit Recht die Sünde missfällt, die wir uns durch die Geburt zugezogen haben. Dies ist das erste Almosen, das wir uns gegeben haben, dass wir uns selbst in unserem Elend durch die Erbarmung des barmherzigen Gottes aufgesucht haben; denn wir haben sein Urteil als recht anerkannt, durch das wir elend geworden sind und von dem der Apostel sagt: „Wegen der einen Sünde (Adams) lautet sein Urteil auf Verdammnis<ref> Röm. 5, 16.</ref>“; und wir haben auch seiner großen Liebe gedankt, von der wiederum jener Herold der Gnade (der heilige Paulus) sagt: „Es bewährt aber Gott seine Liebe zu uns darin, dass, trotzdem wir noch Sünder waren, Christus für uns gestorben ist<ref> Vgl. ebd. [Röm.] 5, 8.</ref>.“ Wir sollen nämlich auch selbst über unser Elend ein wahres Urteil fällen und Gott mit der Liebe, die er uns selbst eingegossen hat, lieben und demgemäß fromm und gerecht leben. Die Pharisäer nun kümmerten sich um ein solches Urteil und um eine solche Liebe nicht; sie bestimmten zwar den Zehnten sogar von den geringsten Feldfrüchten<ref> Luk. 11, 42.</ref> zu ihrem Almosen, sie fingen aber bei ihrem Almosengeben nicht bei sich selbst an und übten nicht zuerst an sich selbst Barmherzigkeit. Mit Rücksicht auf jene rechte Ordnung der Liebe heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst<ref> Ebd. [Luk.] 10, 27.</ref>.“ Nachdem also Christus die Pharisäer getadelt hatte, weil sie sich bloß äußerlich wuschen, innerlich aber voll Raub und Schlechtigkeit waren, belehrte er sie zuerst darüber, dass das Innere durch eine Art Almosen gereinigt werde, das der Mensch vor allen Dingen sich selbst schulde: „Was aber übrig ist, das gebt als Almosen, und alles ist euch rein<ref> Ebd. [Luk.] 11, 41.</ref>.“ Um ihnen aber dann zu zeigen, was er mit dieser Lehre wolle, worum sie sich selbst aber nicht kümmerten, und damit sie nicht glaubten, er kenne ihr Almosen nicht, sprach er das Fluchwort: „Wehe euch, ihr Pharisäer<ref> Ebd. [Luk.] 11, 42.</ref>!“ Damit wollte er ihnen gleichsam sagen: „Ich habe euch nun zwar ermahnt, Almosen zu geben, auf dass euch dadurch alles rein werde. Aber wehe euch! Ihr verzehntet ja wohl die Minze und die Raute und alles Kraut<ref> Ebd. [Luk. 11, 42].</ref>; diese Art eueres Almosens kenne ich gar gut und ihr dürft nicht glauben, ich wolle euch jetzt hierüber noch belehren; aber an dem Rechte und an der Liebe Gottes geht ihr vorbei<ref> Ebd. [Luk. 11, 42].</ref>.“ Und doch wäre nur das wirklich ein Almosen, wodurch ihr von jeder inneren Befleckung rein werden könnt; dadurch würde euer Leib wirklich rein, den ihr wascht. Dieses Doppelte ist nämlich unter dem Worte „alles“ zu verstehen: das Innere und das Äußere. In diesem Sinne liest man an einer anderen Stelle: „Reinigt nur einmal, was inwendig ist, dann wird auch das, was auswendig ist, rein sein<ref> Vgl. Matth. 23, 26.</ref>!“ Damit nun aber die Pharisäer nicht meinen möchten, er habe damit das Almosen verworfen, das von den Früchten der Erde gespendet wird, sprach er zu ihnen: „Das eine hättet ihr tun, das andere aber nicht lassen sollen<ref> Luk. 11, 41.</ref>“; d. h. das Gericht und die Liebe Gottes hättet ihr im Auge behalten und dabei auch von den Früchten der Erde Almosen geben sollen.

77. Es sollen sich also diejenigen nicht täuschen, die meinen, sie könnten sich durch ein noch so reichliches Almosen an Früchten oder Geld Straflosigkeit für ihr Verharren im Greuel ihrer Sünden und in ihren Schandtaten erkaufen. Dergleichen böse Taten vollbringen sie wirklich; und dazu lieben sie ihre Sünden auch noch so sehr, dass sie immerdar darin zu verharren wünschten, wenn es nur ohne Strafe geschehen könnte. „Wer aber Unrecht liebt, der haßt seine Seele<ref> Ps. 10, 5 [Septuag. = Ps. 10, 5; Vulg. = Ps. 10, 6; hebr. = Ps. 11, 5].</ref>“, und wer seine Seele haßt, der ist nicht barmherzig gegen sie, sondern grausam; denn die Seele lieben nach dem Geiste der Welt, heißt sie hassen nach dem Geiste Gottes. Wollte einer seiner Seele Almosen geben, so dass ihr alles rein wäre, der müsste sie hassen nach dem Geiste der Welt, sie aber lieben nach dem Geiste Gottes. Es gibt aber keiner auch nur das kleinste Almosen, es sei denn, dass er die Mittel hiezu von dem empfängt, der an nichts Mangel hat. In diesem Sinne steht geschrieben: „Seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen<ref> Ebd. [Ps.] 58, 11 [hebr. Ps. 59, 11].</ref>.“

21. Kapitel: Von der verschiedenen Schwere der Sünden

78. Welche Sünden aber leicht und welche schwer sind, das läßt sich durch kein menschliches, sondern nur durch ein göttliches Gericht abwägen<ref> Vgl. Mausbach, Die kath. Moral und ihre Gegner, Köln 1921, 5. Kap.</ref>. So sehen wir, dass sogar von den Aposteln gar manches nachsichtig gestattet worden ist (was sonst als Sünde gilt); so z. B. wenn der ehrwürdige (Apostel) Paulus zu den Ehegatten spricht: „Entziehet euch einander nicht, es sei denn nach Übereinkunft für kurze Zeit, um (desto ungestörter) dem Gebete obliegen zu können; dann aber kommt wieder zusammen, damit euch Satan nicht versuche, wenn ihr euch nicht (lange) enthalten könnt<ref> Vgl. 1 Kor. 7, 5.</ref>.“ Demnach könnte man meinen, es sei keine Sünde, dem Ehegatten beizuwohnen, nicht zum Zwecke der Kindererzeugung, was ja ein eheliches Gut ist, sondern selbst aus Fleischeslust, (wenn es nur geschehe) mit der Absicht, auf dass die Schwäche der Unenthaltsamen auf diese Weise die todbringende Sünde der Hurerei oder des Ehebruches oder jener anderen Art von Unreinheit vermeide, deren bloße Nennung schon schändlich ist, wozu sich aber der begehrliche Sinn (der Menschen) durch die Versuchung des Satans nur zu gerne verleiten läßt. Wie gesagt, man könnte jenen Ausspruch so auffassen, als sei es keine Sünde; es hat jedoch der Apostel noch hinzugefügt: „Dies sage ich aber nur als ein Zugeständnis, keineswegs als Befehl<ref> Vgl. ebd. [1 Kor.] 7, 6.</ref>.“ Wer möchte nunmehr noch leugnen, dass (geschlechtlicher Verkehr) an sich Sünde ist? Muss er ja doch zugestehen, dass kraft apostolischer Machtvollkommenheit denen, die so handeln, nur ein Zugeständnis gemacht worden ist. ― Noch von einem anderen Fall spricht der Apostel: „Wagt es einer von euch, einen Rechtsstreit gegen seinen Mitbruder zu haben und diesen dann noch dazu vor einem ungerechten (heidnischen) Richter und nicht vor einem gläubigen (christlichen) entscheiden zu lassen<ref> Vgl. ebd. [1 Kor.] 6, 1.</ref>?“ Kurz darauf (fährt Paulus dann fort): „Habt ihr nun bloß weltliche Streithändel, so ruft nur die (ersten besten, auch die) niedrigsten Gemeindemitglieder als Richter auf! Zu euerer Beschämung sage ich es: Ist denn keiner von euch verständig genug, um unter Brüdern Streitigkeiten schlichten zu können? Muss denn der Bruder mit dem Bruder Prozesse führen und noch dazu vor Ungläubigen<ref> Vgl. ebd. [1 Kor.] 6, 4 ff.</ref>?“ Auch hier könnte man glauben, es sei keine Sünde, überhaupt einen Prozeß mit seinem Mitmenschen zu haben, sondern Sünde sei nur dessen Austragung außerhalb der Kirche. Doch fügt der Apostel gleich noch weiter hinzu: „Schon das ist ein Mangel, dass ihr überhaupt Streitigkeiten miteinander habt<ref> 1 Kor. 6, 7.</ref>.“ Und damit sich nicht vielleicht jemand damit entschuldige, dass er sagt, seine Sache sei ja eine gerechte und er wolle durch die Anrufung des richterlichen Beistandes ja nur das Unrecht abwehren, das er erleiden müsse, so tritt Paulus derartigen Gedanken und Entschuldigungen sofort mit den Worten entgegen: „Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht; warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen<ref> Ebd. [1 Kor. 6, 7].</ref>?“ Damit kommt er auf das Wort des Herrn zurück: „Wenn dir jemand deinen Rock nehmen und um ihn vor Gericht mit dir streiten will, so laß ihm auch noch den Mantel<ref> Vgl. Matth. 5, 40.</ref>!“, und auf jenes andere: „Von demjenigen, der dir das Deinige nimmt, fordere es nicht zurück<ref> Vgl. Luk. 6, 30.</ref>!“ Der Herr hat es also den Seinigen verboten, um weltliche Dinge mit anderen Menschen einen Rechtsstreit zu führen, und auf Grund dieser Lehre bezeichnet der Apostel derartiges als Mangel<ref> 1 Kor. 6, 7.</ref>. Da er indes zuläßt, dass in der Kirche solche Rechtshändel unter Brüdern ausgemacht werden, falls Brüder dabei die Richter sind, während er solche Händel außerhalb der Kirche aufs ernstlichste verbietet, so ist ganz klar, wie weit auch in diesem Falle das Zugeständnis an die Schwäche geht. Wegen solcher und ähnlicher Sünden und wegen anderer Wort- und Gedankensünden, die vielleicht noch kleiner sind – sagt ja doch der Apostel Jakobus ganz offen: „In vielen Dingen verfehlen wir uns alle<ref> Jak. 3, 2.</ref>“ –, müssen wir täglich und häufig Gott mit der Bitte anrufen: „Vergib uns unsere Schulden“, dürfen Gott aber auch nicht in dem anlügen, was gleich darauf folgt: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern<ref> Matth. 6, 12.</ref>.“

79. Es gibt aber auch einige Sünden, die man für ganz leicht halten könnte, bewiese nicht die Heilige Schrift, dass sie schwerere Sünden sind, als man meint. Denn wer möchte wohl glauben, dass einer, der zu seinem Bruder sagt: „Du Narr!“ der Hölle schuldig sei, wenn es nicht die (ewige) Wahrheit sagte<ref> Matth. 5, 22.</ref>?“ Übrigens hat sie für diese Wunde auch gleich das Heilmittel gegeben, indem sie das Gebot der brüderlichen Wiederversöhnung hinzufügt. Denn gleich darauf heißt es: „Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so usw.<ref> Ebd. [Matth.] 5, 23.</ref>.“ Oder wer dächte daran, was für eine Sünde darin liegt, Tage zu beobachten und Monate und Jahre und Zeiten<ref> Gal. 4, 10.</ref>, so wie es diejenigen machen, die nur zu ganz bestimmten Tagen, Monaten oder Jahren etwas anfangen oder nicht anfangen wollen, weil sie nach eitler Menschenmeinung gewisse Zeiten für glück- oder unglückbringend ansehen<ref> Augustinus scheint die Stelle so zu verstehen, als wollte der Apostel vor der abergläubischen Einhaltung gewisser Tage und Zeiten warnen; in Wirklichkeit wirft Paulus den Galatern vor, dass sie sich in ihren religiösen Gebräuchen noch nach den Sabbattagen, Neumonden, Jubeljahren und Festzeiten der Juden richteten, die doch für das Neue Testament keine Geltung mehr hätten.</ref>. Und doch können wir die Größe dieser Sünde aus der Furcht des Apostels abnehmen, der zu solchen Menschen spricht: „Da muss ich allerdings besorgen, mich vergeblich um euch abgemüht zu haben<ref> Gal. 4, 11.</ref>.“ (80.) Dazu kommt dann noch, dass an sich große und schreckliche Sünden nur mehr für kleine oder gleich für gar keine Sünden mehr gehalten werden, wenn sie einmal zur Gewohnheit geworden sind. Und das kann soweit gehen, dass man es gar nicht mehr für notwendig hält, sie geheim zu halten, sondern sie sogar noch weitererzählen und ausbreiten zu dürfen glaubt, weil sich ja, wie geschrieben steht, „der Sünder der Lüste seines Herzens rühmt und der Übeltäter sich glücklich preist<ref> Ps. 10, 3 [Septuag. 9, 24; Vulg. 9, 24; hebr. 10, 3].</ref>“. Eine derartige Ruchlosigkeit wird in der Heiligen Schrift mit dem Worte „Geschrei“ bezeichnet. So heißt es beim Propheten Isaias von dem schlechten Weinberg: „Ich hoffte, dass er Recht übte, aber er übte Unrecht; nicht Gerechtigkeit (übte er), sondern (er erhob) Geschrei<ref> Vgl. Is. 5, 7.</ref>.“ In demselben Sinn heißt es in der Genesis: „Das Geschrei von Sodoma und Gomorrha ist groß geworden<ref> Gen. 18, 20.</ref>,“ weil die Bewohner dieser Städte nicht nur an sich jene berüchtigten Schandtaten nicht straften, sondern sie sogar öffentlich, gleichsam wie gesetzlich erlaubte Taten, zu üben pflegten. Ebenso sind auch heutzutage gar viele, wenn auch nicht gerade derartig abscheuliche Sünden schon so sehr zur offenen Gewohnheit geworden, dass wir aus diesem Grund keinen Kleriker mehr zu degradieren und erst recht keinen Laien mehr zu exkommunizieren wagen dürfen. So musste ich selbst vor etlichen Jahren bei der Auslegung des Galaterbriefes an der Stelle, wo der Apostel sagt: „Da muss ich allerdings besorgen, mich vergeblich um auch abgemüht zu haben<ref> Gal. 4, 11.</ref>“, ausrufen: „Wehe über die Sünden der Menschen, die wir bloß mehr dann verabscheuen, wenn sie uns noch ungewohnt sind; sind aber diese Sünden, für deren Austilgung das Blut des Sohnes Gottes geflossen ist, einmal zur öffentlichen Gewohnheit geworden, so müssen wir nur zu häufig einfach ruhig zusehen und sie geschehen lassen, selbst wenn sich das Reich Gottes wegen ihrer Bosheit unbedingt vor ihnen verschließt, ja manche dadurch, dass wir sie geschehen lassen, geradezu selbst tun<ref> August., exposit. ad Galat. n. 35. Migne, Script. lat. 34.</ref>!“ O Gott, möchten doch nicht alle Sünden, die wir nicht verhindern konnten, unsere eigene Tat sein! Doch es wird sich ja einst zeigen, ob mich vielleicht ein unmäßiger Schmerz etwa zu irgendeiner Übertreibung hingerissen hat.

22. Kapitel: Nachlass der Sünden. ― Buße

81. Nunmehr will ich etwas besprechen, was ich freilich schon wiederholt an anderen Stellen meiner kleineren Schriften erörtert habe. Zwei Gründe gibt es, warum wir in Sünde fallen: entweder weil wir nicht erkennen, was wir zu tun haben, oder weil wir das nicht tun, was, wie wir wohl erkennen, eigentlich geschehen müsste. Im ersten Fall leiden wir unter dem Übel der Unwissenheit, im zweiten unter dem der Schwäche. Gegen beide Übel sollten wir nun freilich kämpfen; indes werden doch ganz sicherlich wir die Unterlegenen sein, wenn wir nicht bei Gott Unterstützung finden. Dann aber (mit seiner Hilfe) werden wir erkennen, was wir tun müssen, und dann wird mit der richtigen Erkenntnis das Streben nach Gerechtigkeit in uns das Streben nach jenen Dingen besiegen, die uns trotz besserer Einsicht doch dadurch zur Sünde veranlassen, dass wir ihren Besitz wünschen und ihren Verlust fürchten. Sündigen wir im letzteren Falle, dann sind wir nicht allein Sünder schlechthin, was wir ja auch schon waren, als wir bloß aus Unwissenheit sündigten, sondern wir sind dann bewußte Übertreter des Gesetzes; denn wir unterlassen das, wovon wir doch wissen, dass es geschehen muss, oder wir tun das, wovon wir doch wissen, dass wir es nicht tun dürfen. Darum müssen wir nicht bloß, wenn wir schon gesündigt haben, in der Hoffnung auf Verzeihung beten: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern<ref> Matth. 6, 12.</ref>!, sondern um überhaupt nicht in Sünde zu fallen, sollen wir beten, dass er unser Führer sei. Darum sprechen wir: „Und führe uns nicht in Versuchung<ref> Ebd. [Matth.] 6, 13.</ref>!“ In solcher Absicht müssen wir unser Gebet an den richten, dem das Psalmwort gilt: „Der Herr ist meine Erleuchtung und mein Heil<ref> Ps. 26, 1 [hebr. Ps. 27, 1].</ref>“, auf dass seine Erleuchtung unsere Unwissenheit und sein Heil unsere Schwäche hinwegnehme.

82. Aber auch die Buße, zu deren zeitweiliger Übung nach dem Gebrauche der Kirche ein gerechter Grund vorliegt, wird meist aus Schwachheit nicht geübt; denn auch die Scham (die uns von der Buße abhält) ist ja nur Furcht, Missfallen zu erregen; man schaut eben mehr auf Ansehen bei den Mitmenschen als auf Gerechtigkeit, um deretwillen man sich in einer Bußübung verdemütigt. Darum braucht es die Barmherzigkeit Gottes nicht nur, wenn wir schon Buße üben, sondern auch dazu, dass man sich überhaupt zu ihrer Übung aufrafft. Sonst würde ja auch der Apostel nicht von gewissen Leuten sagen: „. . . ob ihnen vielleicht Gott Bußgesinnung verleiht<ref> Vgl. 2 Tim. 2, 25.</ref>.“ Und damit Petrus bittere Tränen (der Reue) vergießen konnte, musste ihn, wie der Apostel vorausschickt, der Herr (zuerst) anblicken<ref> Luk. 22, 61.</ref>. (83.) Wer jedoch nicht an die Sündennachlassung in der Kirche glaubt und darum einen so reichen göttlichen Gnadenschatz verachten zu dürfen glaubt, und wer dann in solcher Herzensverhärtung sein Leben beschließt, der ist schuldig jener unvergebbaren Sünde wider den Heiligen Geist<ref> Vgl. Matth. 12, 32.</ref>, in dem Christus die Sünden nachläßt. Über diese schwierige Frage habe ich mich so deutlich ich nur konnte, in einem Büchlein verbreitet, das ich eigens zu diesem Zwecke verfaßt habe<ref> Gemeint ist wohl Sermo 71. Migne, Patrol. Ser. L. 38.</ref>.

23. Kapitel: Auferstehung des Fleisches

84. Wie ich mich aber über die Auferstehung des Fleisches ― ich meine dabei nicht eine Auferstehung, wonach mancher wieder zum Leben zurückkehrt, um dann ein zweites Mal zu sterben, sondern ich meine die Auferstehung zum ewigen Leben, so wie Christi Fleisch auferstanden ist ― kurz fassen und dabei doch alle einschlägigen Fragen ausführlich genug behandeln soll, das ist mir nicht erfindlich. Und doch darf der Christ über die Tatsache, dass das Fleisch aller Menschen, die je geboren worden sind und noch geboren werden und die je gestorben sind und noch sterben werden, auferstehen wird, keinen Zweifel hegen. ― (85.) Zunächst erhebt sich hier die Frage über die Frühgeburten, die zwar im Leibe ihrer Mütter schon geboren sind, aber doch noch nicht so, dass sie auch schon (in der Taufe) wiedergeboren werden könnten. Die Behauptung, sie würden auferstehen, läßt sich von denen, die bereits ausgebildet sind, ja wohl ohne weiteres aufstellen; ist die Leibesfrucht aber noch nicht ausgebildet, wer möchte dann nicht doch lieber annehmen, sie gehe einfach zugrunde, so gut wie der Same, der überhaupt nicht zur Empfängnis kam? Aber wer getraute es sich auch wieder in Abrede zu stellen, wenn er es auch nicht fest zu behaupten wagen möchte, dass die Auferstehung die Wirkung haben wird, alles, was an der (körperlichen) Ausbildung noch fehlte, zu ergänzen? So würde dann der Ausbildung die Vollendung nicht mangeln, die erst die Zeit hätte mit sich bringen müssen, wie anderseits ja auch (bei der Auferstehung) die Fehler nicht mehr vorhanden sein werden, die erst mit der Zeit hinzugekommen sind. Die Natur des Menschen wird um das, was die Lebenstage an Zugehörigem und Geziemendem noch gebracht haben würden, nicht zu kurz kommen, so wenig wie sie durch das Ungehörige und Ungeziemende, das die Lebenstage wirklich gebracht haben, entstellt wird. Es wird vielmehr das noch Unvollständige vollständig erscheinen, so gut wie das, was wirklich fehlerhaft ist, (bei der Auferstehung) getilgt werden wird. ― (86.) Die Frage, wann denn der Mensch im Mutterleibe zu leben anfangen, und ob es auch schon ein gewisses noch verborgenes Leben gibt, das durch die Bewegung der lebendigen Frucht noch nicht zu Tage tritt, kann darum auch unter den größten Gelehrten zum Gegenstand sehr eingehender Streitfragen und Untersuchungen gemacht werden. Ob aber überhaupt ein Mensch die Wahrheit hierüber herausfinden wird, das weiß ich nicht. Denn solchen Geburten, die man deshalb aus dem Leib schwangerer Frauen stückweise herausschneidet und herausschafft, damit sie nicht tot im Mutterschoß bleiben und so auch noch die Mütter sterben müssen, einfach das Leben abzusprechen, das halte ich denn doch für eine etwas zu dreiste Unverschämtheit. Von dem Augenblick an aber, wo der Mensch zu leben begonnen hat, kann er sicher auch sterben. Unerfindlich ist mir aber dann, wie ein Toter nicht in die allgemeine Totenauferstehung miteinbegriffen sein sollte, ganz gleich, wo er vom Tode betroffen worden ist. ― (87.) Auch das wird man nicht leugnen dürfen, dass auch die Missgeburten, die zur Welt kommen und die, wenn auch nur für kurze Zeit, tatsächlich leben, auferstehen werden, so wenig, wie man anderseits wird glauben müssen, sie würden als solche Missgeburten auferstehen und nicht vielmehr so, dass ihre Natur berichtigt und regelmäßig hergestellt sein wird. Denn ferne sei es von uns, zu meinen, jenes Doppelwesen, das kürzlich im Morgenland geboren wurde und von dem durchaus glaubwürdige Brüder nach eigenem Augenschein erzählt haben und worüber sogar der Presbyter Hieronymus heiligen Andenkens eine schriftliche Bemerkung hinterlassen hat<ref> Hieronym. epist. 72, 2 ad Vitalem.</ref>, werde als ein Doppelmensch und nicht vielmehr in zwei Personen getrennt auferstehen, wie es ja auch der Fall gewesen wäre, wenn sie als Zwillinge geboren worden wären. Und so wird es auch in anderen Fällen geschehen: wo die einzelnen Geburten ein Glied zu viel oder eines zu wenig haben oder wo man sie wegen allzu großer Unförmlichkeit als Missgeburt bezeichnen muss, da werden sie bei der Auferstehung wieder in regelmäßige Menschengestalt gebracht werden, so dass jede Seele ihren eigenen Leib erhält. Keiner ist dann mehr mit einem andern verwachsen, mögen sie bei ihrer Geburt auch verwachsen gewesen sein wie nur immer; dann besitzt vielmehr jeder Körper für sich allein seine eigenen Glieder, so wie sie zur Vollständigkeit eines richtigen Menschenleibes gehören.

88. Für Gott aber geht der irdische Stoff, aus dem das Fleisch der Sterblichen gebildet ist, nicht verloren. In was immer für Staub und Asche er sich vielmehr auch auflösen mag, in welchen Hauch und in welche Luft er auch immer auseinanderstäubt, mag er nun in das Wesen eines anderen Körpers oder gar in die Grundstoffe übergehen, mag er zur Speise irgendwelcher Tiere oder sogar von Menschen dienen und sich in deren Fleisch umwandeln: zum gegebenen Zeitpunkt kehrt er zu jener Seele zurück, die ihn einstmals beseelt hat, damit der Mensch entstehen, leben und wachsen konnte. (89.) Dieser irdische Stoff, der zum Leichnam wird, sobald sich die Seele von ihm trennt, wird nun freilich bei der Auferstehung nicht so wiederhergestellt werden, dass das, was sich (beim Tode) auflöst und in andere und wieder andere Erscheinungen und Gestalten neuer Dinge übergeht, nun bei seiner Rückkehr zum Leib, von dem es gelöst worden ist, auch stets wieder jenen Körperteilen zukommen muss, zu denen es ursprünglich gehörte. Wäre dem so, dann würden diejenigen, die sich von der Auferstehung ungehörige und unziemliche Vorstellungen machen und die darum nicht an sie glauben, an der Wiederherstellung all des Haares, das so oft durch Scheren beseitigt wurde, und der Nagelteile, die wir so häufig abgeschnitten haben, als an einer Unnatürlichkeit (mit Recht) Anstoß nehmen müssen. Im Gegenteil, gleichwie es, wenn eine Statue aus irgendeinem löslichen Metall im Feuer geschmolzen oder zu Staub zerstoßen oder zu einer unförmlichen Masse zusammengeschlagen würde und der Künstler sie nachher aus der nämlichen Stoffmenge wieder herstellen wollte, für ihre Vollständigkeit nicht darauf ankäme, ob nun auch jedes Teilchen des Stoffes wieder dem Glied zurückerstattet würde, zu dem es früher gehörte, wenn nur die ganze Masse, aus der sie ursprünglich gebildet war, zu ihrer Wiederherstellung verwendet würde, so wird auch Gott, dieser geradezu unaussprechlich wunderbare Künstler, unser Fleisch aus dem Ganzen, aus dem es bestand, mit einer geradezu unaussprechlich wunderbaren Schnelligkeit wiederherstellen. Dabei wird es bei dieser Wiedererneuerung nicht darauf ankommen, ob nun gerade Haar wieder zu Haar, Nagel wieder zu Nagel wird, oder ob das, was von diesen Stoffen einmal beseitigt worden ist, wieder in Fleisch verwandelt und anderen Körperteilen zugeführt wird; dass sich aber nichts ungeziemend gestalten wird, dafür wird die Vorsehung des (göttlichen) Künstlers schon Vorsorge treffen.

90. Auch so darf man nicht schließen: weil die Körpergestalt der Lebendigen verschieden war, so muss auch die der Wiederauflebenden verschieden sein; es müssen also die Mageren geradeso mager und die Wohlbeleibten geradeso wohlbeleibt wieder aufleben (wie sie zu ihren Lebzeiten waren>. Sondern wenn es im Ratschlusse des Schöpfers liegt, dass das sichtbare Körperbild eines jeden Menschen seine Eigentümlichkeit und Ähnlichkeit behält, an der man ihn erkennt, dass aber im übrigen die Verteilung der körperlichen Gaben ganz gleichmäßig erfolgt, so wird in einem jeden der Stoff so behandelt werden, dass einerseits nichts davon verloren geht und dass der Schöpfer, der auch aus nichts alles, was er wollte, schaffen könnte, anderseits das ergänzt, was jemandem fehlt. Soll aber in den Leibern der Auferstehenden eine wohlbegründete Ungleichheit obwalten, z. B. in bezug auf die zu einem harmonischen (vielstimmigen) Gesang notwendigen Stimmen, so wird einem jeden aus seinem eigenen körperlichen Stoff gegeben werden, was einerseits den Menschen den Engelscharen gleichmacht und andererseits nichts in dieselben einfügt, was für ihr Gefühl ungeziemend ist. Irgendeine Unziemlichkeit wird sich nämlich dort (im Himmel) nicht finden, sondern alles, was dort überhaupt sein wird, das wird geziemend sein, einfach schon aus dem Grunde, weil es eben nicht sein würde, wenn es nicht geziemend wäre. ― (91.) Es werden also die Leiber der Heiligen ohne irgendwelche Makel und Missbildung und ohne alle Verderbtheit und drückende Schwerfälligkeit auferstehen. Die Leichtigkeit, die ihnen innewohnen wird, wird ebenso groß sein wie ihre Glückseligkeit. Darum heißen sie auch geistige Leiber, da sie zwar zweifelsohne wirkliche Leiber, aber keine (bloßen) Geister sein werden. Denn geradeso, wie der Körper in seinem jetzigen Zustand seelisch genannt wird, obwohl er doch ein Körper und keine Seele ist, so wird er dann ein geistiger Leib sein, weil er zwar ein Leib, aber kein (bloßer) Geist sein wird. Demnach wird er, was die Verderbnis betrifft, die hienieden die Seele beschwert, und die Fehler, vermöge derer das Fleisch wider den Geist gelüstet<ref> Gal. 5, 17.</ref>, dann nicht mehr Fleisch, sondern nur noch Körper sein; denn Körper gibt es ja nach dem Zeugnis der Schrift auch im Himmel. So heißt es z. B.: „Fleisch und Blut werden das Reich Gottes nicht in Besitz nehmen<ref> 1 Kor. 15, 50.</ref>“, und gleichsam zur Auslegung des Gesagten wird noch hinzugefügt: „Und die Verwesung wird die Unverweslichkeit nicht in Besitz nehmen<ref> Ebd. [1 Kor. 15, 50].</ref>.“ Was der Apostel zuerst als „Fleisch und Blut“ bezeichnet hat, nennt er an der zweiten Stelle „Verwesung“, und was er zuerst als „Reich Gottes“ bezeichnet hat, das nennt er an der zweiten Stelle „Unverweslichkeit“. Seiner Substanz nach jedoch wird das Fleisch auch dann noch Fleisch sein. Aus diesem Grunde wird auch noch nach der Auferstehung Christi von seinem Leibe als von seinem „Fleisch“ gesprochen<ref> Luk. 24, 39.</ref>. Darum sagt der Apostel: „Gesäet wird ein seelischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib<ref> 1 Kor. 15, 44. D. h. gesät wird ein zwar mit einer Seele ausgestatteter, im übrigen aber den sinnlichen Bedürfnissen unterworfener Leib, auferstehen aber wird ein geistig feiner, von den Fesseln der Materie freier Leib.</ref>“; denn da dann der Geist, frei von dem notwendigen Zwang einer Stütze (des Fleisches), völlig Herr über das ihm unterworfene Fleisch sein wird, so wird die innige Verbindung zwischen den beiden (Geist und Fleisch) so groß sein, dass wir aus uns selbst heraus keinen Widerstreit mehr finden; sondern so wenig wir dann von außen her noch Anfechtungen zu erdulden haben werden, so wenig werden wir uns selbst dann auch in unserem Innern noch als unseren Feind erleben müssen.

92. Alle diejenigen aber, die von der seit des ersten Menschen Zeiten her fluchbeladenen Schar durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen (nämlich Christus) nicht losgelöst werden, werden allerdings auch auferstehen, und zwar jeder mit seinem Fleische: aber nur um mit dem Teufel und seinen Engeln bestraft zu werden. Ob diese Verdammten nun auch mit all ihren körperlichen Mängeln und Missbildungen und mit all den unförmlichen Verkrüppelungen, die ihre Glieder einst an sich trugen, auferstehen werden: wozu soll man darüber noch eine mühselige Untersuchung anstellen? Denn da ihre Verdammnis ganz bestimmt und ewig dauernd ist, so brauchen wir uns über die ungewisse Art ihrer körperlichen Verfassung und Schönheit nicht den Kopf zu zerbrechen. Auch soll es uns nicht weiter anfechten, wie ihr Körper dann verderbensunfähig sein kann, da er doch Schmerz empfinden muss, oder wie er anderseits vielleicht verderbensfähig ist, da er doch nicht sterben kann. Denn da gibt es kein wahres Leben, wo man nicht glücklich lebt, und da gibt es keine wahre Unverweslichkeit, wo das Wohlbefinden einem Schmerz ausgesetzt ist. Wo aber so ein Unglückseliger nicht sterben darf, da stirbt sozusagen der Tod selbst nicht, und wo immerwährender Schmerz nicht Vernichtung, sondern nur stete Qual bringt, da nimmt die Verwesung kein Ende. Das ist der zweite Tod, von dem die Heilige Schrift redet<ref> Offenb. 2, 11; 20, 6; 20, 14.</ref>. (93.) Aber weder der erste Tod, wo die Seele ihren Leib verlassen muss, noch der zweite Tod, wo die Seele ihren verdammten Leib nicht mehr verlassen darf, wäre über den Menschen gekommen, wenn niemand gesündigt hätte. Am gelindesten wird sicher die Strafe derer sein, die der Erbsünde keine andere Sünde mehr hinzugefügt haben; für die anderen aber, die auch noch persönliche Sünden dazu begangen haben, wird die Verdammnis in der anderen Welt um so erträglicher sein, je geringer ihre Sündhaftigkeit hienieden gewesen ist.

24. Kapitel: Von der Freiheit Gottes, jeden Menschen zu retten oder zu verwerfen nach freiem Willen

94. Während also die verworfenen Engel und Menschen in der ewigen Strafe verbleiben müssen, werden die Heiligen um so vollkommener erkennen, was für ein Glück ihnen die Gnade erworben hat. Dort wird ihnen durch die Tatsachen selbst so recht einleuchtend klar werden, was die Psalmworte bedeuten: „Von Barmherzigkeit und Gericht will ich dir singen, o Herr<ref> Ps. 100, 1 [hebr. Ps. 101, 1].</ref>!“ Denn niemand wird befreit als nur dank der ungeschuldeten Barmherzigkeit (Gottes), niemand aber auch verdammt als nur durch das selbstverschuldete Gericht. (95.) Alsdann werden uns die Fragen nicht mehr verborgen sein, die uns heute noch verborgen sind. Z. B. wenn von zwei Kindern das eine durch Gottes Barmherzigkeit (zur Seligkeit) aufgenommen, das andere aber durch das Gericht verworfen wird, und wenn dann das aufgenommene Kind erkennt, was auch ihm im Gericht verdienterweise zuteil geworden wäre, wäre ihm nicht die Barmherzigkeit zu Hilfe gekommen: warum wird jenes und nicht dieses aufgenommen, da doch beide in gleichen Verhältnissen standen? Oder warum wurden an den einen Menschen die Wundertaten Gottes nicht gezeigt und doch hätten sie diese Menschen zur Buße angetrieben, wenn sie vor ihnen geschehen wären? Warum sind sie vielmehr vor solchen Menschen geschehen, von denen vorauszusehen war, dass sie nicht glauben würden? Solche Fälle gibt es nach dem ganz klaren Wort des Herrn: „Wehe dir, Corozain, wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die in euch geschehen sind, so hätten sie schon längst in Sack und Asche Buße getan<ref> Matth. 11, 21; Luk. 10, 13.</ref>.“ Und doch ist gewiß das Nichtwollen Gottes bezüglich ihrer Seligwerdung nicht ungerecht, obwohl sie hätten selig werden können, wenn er gewollt hätte<ref> Die Handschriften haben hier teils vellent, teils vellet; „wir haben hier zweifelsohne eine von den wenigen dogmatisch bedeutsamen Varianten der Schriften Augustins vor uns“ (Scheel S. 77). Man vgl. zu dieser Stelle: P. Odilo Rottmanner, Der Augustinismus. Geistesfrüchte aus der Klosterzelle (München 1908, S. 99―103) ― Theologische Revue 1903, Sp. 478 ff.</ref>“. Alsdann wird im klarsten Licht des Wissens geschaut werden, was jetzt, wo es noch nicht in offenbarer Erkenntnis geschaut werden kann, der fromme Glaube für wahr hält, wie feststehend nämlich, wie unveränderlich und im höchsten Grad wirksam der Wille Gottes ist, was er alles kann, aber nicht will, wie er aber nichts will, was er nicht auch kann und wie wahr es ist, was im Psalm gesungen wird: „Unser Gott aber ist im Himmel oben; im Himmel und auf Erden hat er alles gemacht, was er gewollt hat<ref> Ps. 113, 11 [hebr. Ps. 115, 3].</ref>.“ Das wäre sicherlich nicht wahr, wenn Gott einmal etwas gewollt, aber dann nicht gemacht hätte oder, was noch unwürdiger wäre, wenn er es deshalb nicht gemacht hätte, weil menschlicher Wille das Werden dessen verhinderte, was der Allmächtige doch machen wollte.

Nichts also geschieht, wenn der Allmächtige nicht will, dass es geschehe, sei es nun, indem er zuläßt, dass etwas geschieht oder dass er selbst etwas tut. (96.) Ohne Zweifel handelt Gott auch dann gut, wenn er zuläßt, dass irgend etwas Böses geschieht. Denn nicht anders, als nach gerechtem Ratschluss läßt er dies zu: Alles aber, was gerecht ist, das ist doch auch gut. Wenn also auch das Böse, insoferne es böse ist, nicht gut ist, so ist doch nicht bloß das gut, dass es Gutes, sondern auch, dass es Böses gibt. Denn wäre das Vorhandensein auch des Bösen nicht gut, dann würde es unbedingt nicht zugelassen werden von dem allmächtigen Guten, für den es doch zweifelohne ebenso leicht ist, das nicht zuzulassen, was er nicht will, wie es ihm ein Leichtes ist, das zu machen, was er will. Wenn wir das nicht glauben, dann gerät schon der erste Satz unseres Glaubensbekenntnisses in Gefahr, wo wir doch bekennen, dass wir an Gott, den allmächtigen Vater, glauben. Denn es gibt ja gar keinen anderen Grund, ihn den Allmächtigen zu nennen, als weil er alles kann, was er will, und weil die Wirksamkeit des allmächtigen Willens durch keinen Willen irgendeines Geschöpfes behindert wird.

97. Wir müssen darum etwas näher zusehen, wie es denn von Gott heißen kann: „. . . der will, dass alle Menschen selig werden<ref> 1 Tim. 2, 4.</ref>.“ Denn auch so hat der Apostel mit voller Wahrheit gesagt. Da nämlich doch nicht alle Menschen selig werden, ja sogar der größere Teil der Menschen nicht selig wird, so schaut es doch ganz so aus, als geschehe nicht, was Gott will, und zwar deshalb, weil der menschliche Wille dem Willen Gottes im Wege steht. Die Antwort auf die Frage, warum denn nicht alle selig werden, pflegt nämlich so zu lauten: weil sie es selbst nicht wollen. Das paßt nun zwar wenigstens nicht für die kleinen Kinder, die weder wollen noch nicht wollen können. Denn wenn wir die äußeren Bewegungen der kleinen Kinder, die sich beispielsweise bei der Taufe manchmal aus Leibeskräften gegen die Taufhandlung sträuben, als einen Ausdruck ihres Willensentschlusses erklären wollten, so müssten wir ja annehmen, dass sie sogar gegen ihren Willen gerettet würden. Indessen spricht der Herr im Evangelium klar genug, da er die gottlose Stadt (Jerusalem) anredete: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie die Henne ihre Küchlein, aber du hast nicht gewollt<ref> Vgl. Matth. 23, 37.</ref>.“ Das ist doch gerade, als ob der Wille Gottes durch den Willen des Menschen überwunden und der Allmächtigste durch das Nichtwollen der Schwächsten gehindert worden wäre das zu tun, was er wollte. Und wo bleibt da jene Allmacht, kraft deren er „im Himmel und auf Erden alles gemacht hat, was er wollte<ref> Ps. 113, 11 [hebr. Ps. 115, 3].</ref>“, wenn er zwar den Willen hatte, die Kinder Jerusalems zu sammeln, es aber dann doch nicht getan hat? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Jerusalem selbst es nicht wollte, dass seine Kinder von ihm gesammelt würden? Allerdings, aber er selbst hat doch auch gegen den Willen Jerusalems diejenigen von seinen Kindern tatsächlich gesammelt, die er sammeln wollte; so hat er ja überhaupt im Himmel und auf Erden nicht nur einiges gewollt und auch wirklich getan, anderes aber zwar gewollt, aber nicht getan: sondern er hat alles getan, was nur immer er wollte.

25. Kapitel: Gott hat ein völlig freies Recht, sich zu erbarmen, wessen er will, und auch zu verhärten, wen er will

98. Wer wollte darum so gottlos und so albern sein und behaupten, Gott habe nicht die Macht, den bösen Willen des Menschen soweit er wolle, wann er wolle und wo er wolle zum Guten zu wenden? Tut er es aber, so tut er es aus Barmherzigkeit, tut er es aber nicht, so tut er es aus Gerechtigkeit nicht; denn „er begnadigt, wen er will, und er verhärtet auch, wen er will<ref> Röm. 9, 18.</ref>“. Wo der Apostel dies ausspricht, da preist er die Gnade, zu deren Preis er schon in bezug auf jene Zwillinge im Mutterleib der Rebekka gesprochen hatte: „Noch bevor sie geboren waren und noch bevor sie irgend etwas Gutes oder Böses vollbringen konnten, ward, auf dass der freie Ratschluss Gottes bestehen bleibe, der Mutter nicht um der Werke der Kinder willen, sondern kraft des berufenden (Gottes) gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen<ref> Ebd. [Röm.] 9, 11 ff.; Gen. 25, 23.</ref>.“ Zur Erklärung fügt der Apostel noch eine andere Schriftstelle aus dem Propheten (Malachias) hinzu: „Den Jakob habe ich geliebt, den Esau aber gehaßt<ref> Ebd. [Röm.] 9, 13; Mal. 1, 2 f.</ref>.“ Dabei fühlt aber Paulus, wie sehr seine Worte denen zum Anstoß sein könnten, die mit ihrer Erkenntnis nicht zu einer solchen Höhe der Gnade vorzudringen vermögen; darum fährt er fort: „Was werden wir demnach sagen? Ist darum etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne<ref> Röm. 9,14.</ref>“ Es scheint nämlich ungerecht zu sein, dass Gott ohne Rücksichtnahme auf gute oder schlechte Werke den einen liebt, den andern aber haßt. Hätte Paulus hiebei an die zukünftigen Werke beider, an die guten des einen und an die bösen des anderen denken wollen, die doch Gott gewiß vorauswußte, dann hätte er doch keinesfalls gesagt: „Nicht um der Werke willen“, dann hätte er vielmehr gesagt: „Um der zukünftigen Werke willen“ und er hätte so die Frage gelöst, nicht aber erst eine Frage zum Lösen gestellt. Nun aber, nachdem Paulus die Antwort gegeben hat: „Das sei ferne!“, d. h. es sei ferne, dass bei Gott Ungerechtigkeit sei, fährt er, um zu zeigen, dass von seiten Gottes keinerlei Ungerechtigkeit geschieht, alsbald mit den Worten fort: „Zu Moses sagt er nämlich: Ich will mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will und ich will Barmherzigkeit erzeigen, wem ich Barmherzigkeit erzeigen will<ref> Vgl. Röm. 9, 15; vgl. Exod. 33, 19.</ref>.“ Denn wer anders als nur ein alberner Mensch möchte Gott für ungerecht halten, wenn er einen, der es verdient, bestraft, aber wenn er dem Barmherzigkeit erweist, der ihrer unwürdig ist? Den Beschluss seines Gedankenganges aber macht der Apostel mit den Worten: „Demnach kommt es nicht auf jemandens Wollen oder Laufen an, sondern auf Gottes Erbarmen<ref> Röm. 9, 16.</ref>.“ Beide Zwillinge wurden nämlich von Natur aus als Kinder des Zornes geboren<ref> Vgl. Eph. 2, 3.</ref>, und nicht wegen ihrer eigenen Werke, sondern infolge ihrer Abstammung von Adam waren sie in die Fessel der Verdammnis geschlagen. Allein derjenige, der gesagt hat: „Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will<ref> Röm. 9, 15.</ref>“, hat den Jakob geliebt aus unverdienter Barmherzigkeit, den Esau aber gehaßt nach einem verschuldeten Gericht<ref> Mal. 1, 2 u. 3.</ref>. Da jedoch dieses letztere beiden geschuldet wurde, so konnte der eine an des anderen Schicksal erkennen, dass er sich nicht eigener (von denen seines Bruders) verschiedener Verdienste rühmen dürfe, weil er trotz der gleichen Schuldverhältnisse doch nicht die gleiche Verurteilung erfuhr, sondern dass er sich nur des Reichtums der göttlichen Gnade rühmen dürfe. Denn „nicht auf jemandens Wollen oder Laufen kommt es an, sondern auf Gottes Erbarmen<ref> Röm. 9, 16.</ref>.“ ― Der ganze Anblick, ja ich möchte sagen, das ganze Angesicht der Heiligen Schriften zeigt demnach denen, die sie genau betrachten, im erhabensten und heilsamsten Geheimnis stets die eine Lehre: „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn<ref> 1 Kor. 1, 31; vgl. Jer. 9, 24.</ref>!“ (99.) Mit den Worten: „Nicht auf jemandens Wollen oder Laufen, sondern auf Gottes Erbarmen kommt es an<ref> Röm. 9, 16.</ref>“, hat der Apostel die Barmherzigkeit Gottes gepriesen; er will nun auch seine Gerechtigkeit preisen, nach welcher der, an dem keine Barmherzigkeit geschieht, trotzdem kein Unrecht, sondern nur ein gerechtes Gericht erhält; denn bei Gott gibt es keine Ungerechtigkeit. Darum fährt er alsbald fort: „Denn es spricht die Schrift zu Pharao: Eben dazu habe ich dich erweckt, um an dir meine Macht zu erzeigen und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündet werde<ref> Röm 9, 17. vgl. Exod. 9, 16.</ref>.“ Nach diesen Worten spricht er mit einem Schluss auf die beiden Eigenschaften Gottes, nämlich auf seine Barmherzigkeit und auf seine Gerechtigkeit: „Demnach erbarmt er sich, wessen er will und verhärtet, wen er will<ref> Röm. 9, 18.</ref>.“ Er erbarmt sich aus seiner großen Güte, er verhärtet aber ohne alle Ungerechtigkeit, so dass sich weder der Begnadigte seiner Verdienste rühmen, noch auch der Verdammte über etwas anderes als über seine Missverdienste beklagen kann. Denn nur die Gnade allein sondert die Erlösten von den Verworfenen, die durch die aus ihrer Abstammung kommende gemeinsame Sündenschuld zu einer Masse der Verdammnis zusammengewachsen waren. Wenn es nun auch scheinen könnte, als dürfe einer, der dies so auffaßt, dass er sagt: „Wozu klagt denn Gott noch? Wer kann denn seinem Willen widerstehen<ref> Ebd. [Röm.] 9, 19.</ref>?“, deshalb noch nicht als böse beschuldigt werden, weil sich ja Gott wirklich erbarme, wessen er will, und verhärte, wen er will, so sei es doch ferne von uns, dass wir uns schämen, einem solchen die Antwort zu geben, die, wie wir sehen, auch der Apostel gegeben hat: „O Mensch, wer bist du denn, der du haderst mit Gott? Sagt wohl das Gebilde zu dem, der es gebildet hat: ‚Warum hast du mich gerade so gemacht?’, oder hat vielleicht der Töpfer nicht Gewalt über den Ton, um aus ein und derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre, das andere aber zur Unehre zu machen<ref> Ebd. [Röm.] 9, 20 f.</ref>?“ Bei dieser Stelle meinen nämlich einige Toren, der Apostel habe darauf keine Antwort gewußt und darum in Ermangelung eines geeigneten Grundes einfach den frechen Widerspruch zurückgewiesen. Indes hat das Wort: „O Mensch, wer bist du denn?“ ein großes Gewicht. Bei solchen Fragen verweist er allerdings den Menschen mit einem kurzen Wort auf eine Abwägung seiner Fassungskraft, allein es ist in der Tat auch eine vollständig erschöpfende Begründung (des Gesagten). Denn begreift einer dies nicht, wie soll einer da noch mit Gott hadern? Begreift er es aber, so findet er noch weniger Grund zum Hadern. Denn wer es begreift, der sieht doch ein, dass das gesamte Menschengeschlecht von Gott durch ein höchst gerechtes Gericht schon in seiner von ihm (Gott) abgefallenen Wurzel (Adam) verdammt war, so dass selbst wenn kein einziger Mensch von dieser Verdammnis befreit worden wäre, doch niemand mit Fug und Recht die göttliche Gerechtigkeit darob tadeln könnte; ferner sieht er auch ein, dass bei all denen, die wirklich befreit wurden, die Befreiung in der Weise geschehen musste, dass ihnen aus der größeren Anzahl der Nichtbefreiten und einer durchaus gerechten Verdammnis Verfallenen klar wurde, was eigentlich die gesamte Menschenmenge verdient hätte und wohin das verdiente Gericht Gottes auch sie selber führen müsste, käme ihnen nicht unverdiente Barmherzigkeit zu Hilfe. Und so wird einem jeden, der sich seiner Verdienste rühmen möchte, „der Mund verschlossen<ref> Röm. 3, 19.</ref>“, und „ein jeder, der sich rühmen will, der rühme sich im Herrn<ref> 1 Kor. 1, 31.</ref>“.

26. Kapitel: Gott weiß selbst das Böse zur Erfüllung seines göttlichen Willens zu gebrauchen

100. Das sind „die großen Werke des Herrn, ausgesucht nach all seinem Wohlgefallen<ref> Ps. 110, 2 [hebr. Ps. 111, 2].</ref>“; und zwar sind sie mit so großer Weisheit ausgesucht, dass der Schöpfer nach dem Sündenfall der geschaffenen Engel und Menschen, d. h. nachdem diese getan hatten nicht was ihr Schöpfer, sondern was sie selbst gewollt, durch den nämlichen geschöpflichen Willen, durch den etwas geschah, was der Schöpfer selbst nicht wollte, doch wieder gerade seinen Willen durchsetzen ließ. Denn er selbst, die höchste Güte, bediente sich gar wohl auch der Bösen zur Verdammung derer, die er in seiner Gerechtigkeit zur Strafe vorher bestimmt hat und zum Heile derer, die er in seiner Güte zur Gnade vorher bestimmt hat. Soweit es nämlich auf sie ankommt, taten sie allerdings, was Gott nicht wollte; vom Standpunkt der göttlichen Allmacht aus betrachtet, waren sie aber völlig außerstande hiezu. Ja gerade durch das, was sie gegen den Willen Gottes taten, vollzog sich Gottes Wille an ihnen. Denn deswegen sind die Werke des Herrn groß, ausgesucht nach all seinem Wohlgefallen<ref> a. a. O.</ref>, dass in wunderbarer und unbegreiflicher Weise selbst das nicht ohne den Willen Gottes geschehe, was gegen seinen Willen geschieht. Denn es geschähe nicht, wenn er es nicht zuließe, und er läßt wider seinen Willen nichts zu, sondern mit seinem Willen; und er, der Gute, ließe nicht zu, dass das Böse geschieht, wenn er, der Allmächtige, nicht auch aus dem Bösen Gutes wirken könnte.

101. Bisweilen will aber auch ein Mensch mit gutem Willen etwas, was Gott seinerseits ebenfalls mit gutem Willen nicht will; nur will Gott in weit stärkerem Maße und mit viel höherer Gewißheit nicht, da sein Wille ja niemals auch nur böse sein kann. So kann z. B. ein guter Sohn wollen, dass sein Vater am Leben bleibt, während Gott mit gutem Willen seinen Tod will. Andererseits kann es auch wieder vorkommen, dass der Mensch mit bösem Willen das will, was Gott mit gutem Willen will, wenn z. B. ein böser Sohn will, dass sein Vater stirbt und wenn Gott es gleichfalls will. Jener gute Sohn will, was Gott nicht will; dieser böse aber will, was auch Gott will und trotzdem steht die kindliche Liebe des ersteren mit dem Willen Gottes trotz seines gegenteiligen Wollens viel mehr im Einklang als der unkindliche Sinn des letzteren, der doch das nämliche will, wie Gott selbst. Ein so großer Unterschied besteht zwischen dem, was Menschen und dem, was Gott wollen darf, und so sehr kommt es darauf an, welchen Endzweck jemand bei seinem Wollen im Auge hat. Davon hängt es ab, ob einer Lob oder Tadel verdient. Denn Gott vollzieht bisweilen seinen Willen, der ja immer gut ist, durch den bösen Willen böser Menschen. So ist z. B. Christus durch den bösen Willen der Juden nach dem guten Willen seines Vaters für uns getötet worden, und dies war etwas so Gutes, dass sich der Apostel Petrus wegen seines gegenteiligen Wunsches von demjenigen Satan nennen lassen musste, der ja gekommen war, um sein Leben hinzugeben<ref> Matth. 16, 23.</ref>. Und wie gut schien doch andererseits der Wille der frommen Gläubigen, die den Apostel Paulus nicht nach Jerusalem reisen lassen wollten, damit ihm keines von den vom Propheten Agabus vorhergesagten Übeln widerfahre<ref> Apg. 21, 12.</ref>! Und doch wollte Gott, dass Paulus dieses für die Verkündigung des Glaubens Christi leide, um ihn so als Martyrer Christi zu prüfen. Diese seine gute Absicht hat Gott nicht durch den guten Willen der Christen, sondern durch den bösen Willen der Juden zur Ausführung gebracht. Dabei dachten diejenigen, die etwas anderes wollten als er, viel mehr an Gott als die andern, durch deren Willen seine Absicht wirklich erfüllt wurde; denn er und die letzteren taten zwar ein und dasselbe, allein er durch sie mit gutem, sie aber mit bösem Willen.

102. Mag aber nun der Wille der Engel oder der Menschen, der guten sowohl wie der bösen, so stark sein wie nur immer und mögen sie wollen oder nicht wollen, was Gott will: der Wille des Allmächtigen ist doch immer unbesiegt und niemals kann er böse sein. Denn auch wenn er Böses verhängt, so ist dieser Wille doch gerecht; ist er aber gerecht, dann ist er nicht böse. Mag sich also Gott in seiner Barmherzigkeit erbarmen, wessen er will, oder mag er in seinem Gerichte verhärten, wen er will<ref> Röm. 9, 18.</ref>: er tut nichts unrecht, er tut nichts außer seinem Willen und er tut alles, was immer er will.

27. Kapitel: Inwiefern heißt es 1 Tim. 2, 4: „Gott will, dass alle Menschen selig werden“?

103. Wenn dem aber wirklich so ist, dann dürfen wir auch dann, wenn wir hören und in der Heiligen Schrift lesen, dass Gott will, es sollten alle Menschen selig werden<ref> 1 Tim. 2, 4.</ref>, der unendlichen Allmacht des göttlichen Willens doch nicht die geringsten Schranken ziehen, auch wenn wir noch so sicher sind, dass in Wirklichkeit nicht alle Menschen selig werden. Wir müssen vielmehr die Stelle: „. . . der da will, dass alle Menschen selig werden<ref> a. a. O.</ref>“, so verstehen, als hieße es: Kein Mensch wird selig, außer von wem Gott will, dass er es werde. Das ist nicht so zu verstehen, als ob es keinen Menschen gebe als nur solche, von denen er wirklich will, dass sie selig werden, sondern so muss man es verstehen, dass kein anderer Mensch selig wird als nur ein solcher, von dem er es will, und dass man deshalb zu ihm flehen muss, damit er es will; wenn er nämlich einmal etwas will, dann muss es auch geschehen. Denn vom Gebet sprach ja der Apostel gerade, als er unsern Ausspruch tat. So fassen wir auch jene andere Schriftstelle: „. . . der einen jeden Menschen erleuchtet<ref> Joh. 1, 9.</ref>“, nicht in dem Sinne auf, als ob es gar keinen Menschen gebe, der nicht erleuchtet würde, sondern so, dass kein Mensch erleuchtet wird als nur durch ihn. Oder es heißt wenigstens nicht in dem Sinn: „. . . der will, dass alle Menschen selig werden<ref> a. a. O.</ref>“, als ob es keinen Menschen gebe, von dem der nicht wollte, dass er selig werde, der seine Wunderkraft bei denen nicht äußern wollte, die, wie er sagte, in diesem Falle Buße getan hätten<ref> Vgl. Luk. 10, 13.</ref>; jenes Schriftwort muss vielmehr so aufgefasst werden, dass wir unter „allen Menschen“ jede Menschenklasse verstehen, so verschieden sie auch sein mögen: Könige oder Privatleute, Adelige oder Nichtadelige, Hohe oder Niedrige, Gelehrte oder Ungelehrte, Gesunde oder Gebrechliche, Menschen von Geist oder von langsamer Fassungskraft oder von Geistesschwäche, Reiche oder Arme oder mäßig Bemittelte, Männer oder Frauen, Kinder oder Knaben, Jünglinge oder junge Männer, Männer von reifem Alter oder schon Greise, Menschen aller Sprachen und Sitten, aller Künste und Berufe, Menschen von den verschiedensten Willensrichtungen und von der verschiedensten Gewissensverfassung und was es sonst noch für einen Unterschied unter den Menschen geben kann. Denn was gibt es für Menschenklassen, aus denen nicht Gott durch seinen Eingeborenen, unsern Herrn, unter allen Völkern Menschen zur Seligkeit führen wollte und an denen er nicht darum, weil sein Wollen doch kein leeres sein kann, auch wirklich all das erfüllte, was er will. Der Apostel hatte befohlen, es solle „für alle Menschen<ref> 1 Tim. 2, 1.</ref>“ gebetet werden und hatte hinzugefügt, in Sonderheit „für die Könige und für die Obrigkeiten, die an leitender Stelle sind<ref> Ebd. [1 Tim.] 2, 2.</ref>“, von denen man hätte glauben können, sie wollten infolge des weltlichen Prunkes oder Hochmutes von der Demut des christlichen Glaubens nichts wissen. Der Apostel fährt dann weiter: „denn das ist gut vor dem Heiland, unserm Gott<ref> Ebd. [1 Tim.] 2, 3.</ref>“ ― er meint nämlich, dass für solche Menschen gebetet werde ―; und um jede Hoffnungslosigkeit zu beseitigen, fügt er sofort bei: „(Gott,) der da will, dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen<ref> Ebd. [1 Tim.] 2, 4.</ref>.“ Denn das hat Gott für gut erachtet, dass durch das Gebet der Niedrigen das Heil der Hochstehenden bewirkt werde, was sich, wie wir jetzt sehen, in der Tat erfüllt hat. ― Jener Ausdrucksweise hat sich auch der Herr im Evangelium bedient, wo er zu den Pharisäern sagte: „Ihr verzehntet die Minze und die Raute und jedes Kraut<ref> Luk. 11, 42.</ref>“ Denn auch die Pharisäer verzehnteten ja doch nicht alle fremden Kräuter und alle Kräuter aller anderen Völker aller Länder. Wie wir nun hier an dieser Stelle unter „jedem Kraut“ nur alle Arten von Kräutern verstehen, so können wir an jener Stelle unter „allen Menschen<ref> 1 Tim. 2, 1.</ref>“ alle Klassen von Menschen verstehen. Man kann die Stelle schließlich auch noch irgendwie anders verstehen, wenn wir durch diese Auffassung nur nicht zu dem Glauben genötigt werden, der Allmächtige habe etwas geschehen lassen wollen und es sei dann doch tatsächlich nicht geschehen; denn wenn Gott, wie die Wahrheit von ihm singt, „im Himmel und auf Erden alles getan hat, was nur immer er wollte<ref> Ps. 113, 11 [hebr. 115, 3].</ref>“, dann hat er sicherlich all das, was er nicht getan hat, auch wirklich nicht tun wollen.

28. Kapitel: Der freie Wille des Menschen wurde durch die Sünde beschränkt und bedarf jetzt in allem des helfenden Beistandes der durch Christi Erlösungstat verdienten Gnade

104. Demnach hätte Gott auch den ersten Menschen in seiner ursprünglich anerschaffenen Seligkeit auch erhalten und ihn zu seiner Zeit nach Erzeugung von Kindern ohne Dazwischentreten des Todes in ein besseres Sein hinüberführen wollen, wo er nicht bloß keine Sünde mehr begehen, sondern nicht einmal mehr den Willen zu sündigen hätte haben können, wenn eben Gott vorausgewußt hätte, der Mensch würde entsprechend seiner Erschaffung für immer den Willen haben, ohne Sünde zu bleiben. Weil er aber vorauswußte, der Mensch werde seinen freien Willen missbrauchen, d. h. sündigen, so hat er lieber seinen Willen dahin gerichtet, dass er (Gott) Gutes wirkte durch den, der Böses tat und dass so die gute Absicht des Allmächtigen nicht durch den bösen Willen des Menschen vereitelt, sondern darum nicht weniger in Erfüllung gebracht wurde. (105.) Denn der Mensch musste von Anfang an so geschaffen werden, dass er das Gute und auch das Böse wollen konnte, nicht ohne Lohn, wenn er das Gute, aber auch nicht ohne Strafe, wenn er das Böse wollte. Später aber wird es so sein, dass er das Böse gar nicht einmal mehr wollen kann. Allein auch in diesem Zustand wird er des freien Willens nicht entbehren. Im Gegenteil, der Wille wird sogar noch viel freier sein, weil er der Sünde überhaupt nicht mehr wird dienen können. Denn über einen Willen, mit dem wir so glücklich sein wollen, dass wir nicht unglücklich sein wollen, ja nicht einmal imstande sind, unglücklich sein zu wollen, darf man sich nicht beklagen; sonst wäre er überhaupt kein Wille, wenigstens dürfte man ihn nicht einen freien Willen nennen. Wie also unsere Seele in unserm jetzigen Zustand das Unglücklichsein nicht will, so wird sie dereinst für immer das Bösesein nicht wollen. Doch auch eine solche Ordnung der Dinge war notwendig, wo Gott uns zeigen wollte, wie gut ein vernunftbegabtes Wesen sei, das die Fähigkeit besitzt die Sünde auch nicht zu wollen (non peccare posse), wenngleich ein Wesen, das die Fähigkeit, die Sünde zu wollen, gar nicht besitzt (peccare non posse), an sich besser ist. So war es auch eine geringere Stufe der Unsterblichkeit ― immerhin war aber auch dies schon eine ―, die Fähigkeit zu besitzen, auch nicht zu sterben (posse non mori), wenn es gleich ein höherer Grad der Unsterblichkeit sein wird, die Fähigkeit zu sterben überhaupt nicht zu besitzen (non posse mori). (106.) Die erstere Art von Unsterblichkeit hat die Menschennatur durch ihren freien Willen verloren, die letztere Art wird sie empfangen durch die Gnade; diese hätte sie im Falle, dass sie nicht in Sünde gefallen wäre, als Verdienst empfangen, obgleich es auch in diesem Falle ohne Gnade keinerlei Verdienst hätte geben können. Denn wenn auch die Sünde einzig und allein im freien Willen ihre Begründung hatte, so genügte doch der freie Wille nicht dazu, die Gerechtigkeit zu bewahren. Es musste vielmehr die teilnehmende Liebe des (trotz aller Beleidigung) unveränderlich gut bleibenden Gottes Hilfe bringen. So liegt es auch in der Gewalt des Menschen, zu sterben, wenn er will; denn es gibt, um kein anderes Beispiel anführen zu müssen, keinen Menschen, der sich nicht durch bloße Enthaltung vom Essen selbst ums Leben bringen könnte; um aber das Leben zu erhalten, dazu genügt der bloße Wille nicht: es darf auch die Hilfe der Nahrung und all der anderen Schutzmittel nicht fehlen. Geradeso war der Mensch im Paradies kraft seines Willens imstande, die Gerechtigkeit zu verlassen und sich das Leben zu rauben; allein um das Leben der Gerechtigkeit zu bewahren, dazu reichte sein Wille noch nicht aus; es musste ihm derjenige, der ihn geschaffen hatte, auch wieder zu Hilfe kommen. Aber seit jenem Fall ist die Barmherzigkeit Gottes noch größer; muss ja doch jetzt sogar auch noch der Wille selbst befreit werden, über den nun neben dem Tod auch noch die Sünde Herrschaft gewonnen hat. Davon wird der Wille aber durchaus nicht von selber befreit, sondern ganz allein durch die Gnade Gottes, die im Glauben an Christus ihre Begründung hat. So wird also der Wille selbst nach dem Worte der Schrift<ref> Sprichw. 8, 35.</ref> von Gott vorbereitet, damit er die übrigen Gaben Gottes aufnehmen kann, durch die der Mensch erst zur Gabe der ewigen Seligkeit gelangt.

107. Daher kommt es, dass auch das ewige Leben, das doch gewiß der Lohn für die guten Werke ist, vom Apostel eine Gnade Gottes genannt wird. „Der Sold der Sünde“, sagt er, „ist der Tod; eine Gnade Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn<ref> Röm. 6, 23.</ref>.“ Ein Sold wird als (schuldiger) Lohn für einen Kriegsdienst bezahlt, er wird nicht geschenkt. Darum sagt der Apostel: „Der Sold der Sünde ist der Tod.“ Damit will er zeigen, dass der Tod nicht als etwas Unverschuldetes, sondern als der ihr gebührende Lohn über die Sünde verhängt ist. Gnade<ref> Im Lateinischen ein Wortspiel: gratia – gratis.</ref> aber ist überhaupt keine Gnade mehr, wenn sie nicht ein Gnadengeschenk ist. Damit ist zu verstehen gegeben, dass auch die guten Verdienste des Menschen Geschenke Gottes sind. Und wenn man dafür ewiges Leben erhält, was ist das anderes, als dass eine Gnade mit einer anderen vergolten wird<ref> Vgl. Joh. 1, 16.</ref>? So also ist der Mensch in seiner (ursprünglichen) Gerechtigkeit geschaffen worden, dass er in dieser Gerechtigkeit ohne den Beistand Gottes nicht beharren und andererseits nicht ohne seinen eigenen Willen zu Fall kommen konnte. Er mochte das eine oder das andere wollen, in jedem Fall geschah Gottes Wille, entweder auch von ihm (indem er tat, was Gott wollte) oder wenigstens an ihm. Weil er nun aber lieber seinen eigenen Willen erfüllen wollte als den Willen Gottes, so ging der Wille Gottes an ihm in Erfüllung, der aus ein und derselben Masse der von Adam abstammenden verdammten Menschheit bald ein Gefäß der Ehre, bald ein Gefäß der Schande<ref> Röm. 9, 21.</ref> macht, und zwar eines zur Ehre in seiner Barmherzigkeit, eines zur Unehre aber in seinem Gericht: es soll sich darum niemand eines Menschen und infolgedessen auch nicht seiner selbst rühmen.

108. Auch selbst durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus, würden wir nicht erlöst werden, wäre er nicht auch zugleich Gott. Damals aber, als Adam, der Mensch der Gerechtigkeit, geschaffen wurde, bedurfte es keines Mittlers. Nachdem aber die Sünden das Menschengeschlecht weit von seinem Gott getrennt hatten, mussten wir allein durch den Mittler, der allein sündenlos zur Welt kam, lebte und starb, wieder mit Gott versöhnt werden, (und zwar musste sich diese Versöhnung erstrecken) bis zur Auferstehung des Fleisches zum ewigen Leben. So musste Menschenstolz durch die Demut eines Gottes beschämt und geheilt werden. Dem Menschen musste dadurch, dass er durch einen fleischgewordenen Gott wieder zurückgeführt wurde, gezeigt werden, wie weit er von Gott abgewichen war; dem Eigenwillen des Menschen musste durch den Gottmenschen ein Beispiel des Gehorsams gegeben werden. Indem der Eingeborene Knechtsgestalt annahm<ref> Vgl. Phil. 2, 7.</ref>, die vorher ohne alles Verdienst gewesen war, sollte sich eine Quelle der Gnaden öffnen, und die den Erlösten verheißene Auferstehung auch des Leibes sollte an dem Erlöser selbst zum voraus Wahrheit werden. Der Teufel sollte durch dieselbe menschliche Natur, über deren Verführung er sich freute, besiegt werden; der Mensch aber sollte sich nicht rühmen, damit sich der Stolz nicht abermals erhebe. Vielleicht ließe sich über das große Geheimnis vom Erlöser noch manches andere von denen, zu deren Nutzen es geschehen ist, erdenken und sagen oder vielleicht auch bloß erdenken, wenn auch nicht aussprechen.

29. Kapitel: Fegfeuer, Himmel und Hölle

109. Während der Zeit jedoch zwischen dem Tode des Menschen und seiner letzten Auferstehung befinden sich die Seelen an verborgenen Aufenthaltsorten, je nachdem eine der Ruhe oder der Strafe würdig ist, d. h. je nach dem, was sie sich während ihres Lebens im Fleische verdient hat. (110.) Dabei darf nicht in Abrede gestellt werden, dass die Seelen der Abgestorbenen dank der Frömmigkeit ihrer noch lebenden Angehörigen Erleichterung finden, wenn für sie das Opfer des Mittlers dargebracht oder Almosen in der Kirche gespendet wird. Aber nur solche haben davon Nutzen, die es während ihres Lebens verdient haben, dass es ihnen später einmal nutzen kann. Es gibt nämlich eine Art zu leben, die nicht so gut ist, dass sie eine solche Hilfe nach dem Tode nicht brauchte, die aber doch auch nicht so schlecht ist, dass eine solche Hilfe nach dem Tode nicht mehr helfen könnte. Es gibt ferner eine so gute Art zu leben, dass es dergleichen Hilfe gar nicht mehr bedarf, und es gibt hinwiederum eine so schlechte Art zu leben, dass nach dem Hinscheiden aus diesem Leben eine Hilfe gar nicht mehr möglich ist. Somit wird alles Verdienst, das jemandem nach diesem Leben zur Erleichterung oder zur Belastung gereichen kann, schon hier auf Erden erworben. Niemand aber soll sich der Täuschung hingeben, es werde ihm das, was er auf Erden verabsäumt, bei seinem Tode von Gott als Verdienst zugeteilt werden. Es verstößt also auch das, was die Kirche zum Trost der Verstorbenen zu tun pflegt, nicht gegen den apostolischen Ausspruch: „Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen, damit ein jeder, je nachdem er in seinem Leben Gutes oder Böses getan hat, darnach empfange<ref> 2 Kor. 5, 10; vgl. Röm. 14, 10.</ref>.“ Denn schon (die Gnade), dass er von jenen (nach seinem Tode für ihn aufgeopferten guten Werken) einen Nutzen hat, muss sich einer verdienen, solange er noch in seinem Leibe lebt. Es haben auch wirklich nicht alle Menschen einen Nutzen (von jenen guten Werken). Und warum nicht? Weil auch das Leben verschieden war, das ein jeder auf Erden führte. Wird also das Opfer des Altares oder irgendeines Almosens für alle verstorbenen Getauften dargebracht, so bedeutet es für die sehr guten Christen ein Dankopfer, für die nicht gerade sehr schlechten ein Sühneopfer, für die sehr schlechten allerdings kein Hilfsmittel für die Toten, aber immerhin einen gewissen Trost für die Lebendigen. Wem jenes Opfer aber überhaupt einmal nützt, dem nützt es so, dass entweder die Verzeihung eine vollständige oder gar die Verdammnis selbst eine erträglichere wird.

111. Wenn dann nach der Auferstehung das allgemeine Gericht gehalten und sein Urteil vollstreckt ist, so werden die beiden Reiche, sowohl das Christi als das des Teufels, ihr eigenes (abgegrenztes) Gebiet haben. Das eine ist dann ein Reich der Guten, das andere ein Reich der Bösen, ein jedes aber ein Reich von Engeln und Menschen. Die einen haben dann nicht mehr den Willen, die anderen nicht mehr die Fähigkeit, irgendwie zu sündigen; jede Möglichkeit zu sterben ist dann dahin. Die einen leben im ewigen Leben ein wahres, glückliches Leben, die anderen bleiben unglückselig im ewigen Tode, ohne die Möglichkeit zu sterben: für beide gibt es kein Ende mehr. In der Seligkeit wird der eine Selige vor dem andern einen Vorzug haben; im Elend (der Verdammnis) wird es dem einen Verdammten erträglicher sein als dem andern. (112.) Es ist also ganz umsonst, wenn sich manche oder vielmehr sehr viele Leute einem menschlichen Gefühl des Mitleides über die ewige Strafe der Verdammten und über ihre ununterbrochene, immerwährende Pein hingeben und nicht glauben wollen, dass es einst so sein wird. Diese Leute wollen allerdings nicht der Heiligen Schrift widersprechen, sondern nur ihrer Gefühlsregung entsprechend alles das, was, wie sie meinen, in der Heiligen Schrift mehr furchtbar als der Wahrheit entsprechend berichtet ist, abschwächen und nach einer milderen Auffassung deuten. Denn, sagen sie, Gott wird doch nicht des Erbarmens vergessen und in seinem Zorn seine Barmherzigkeit zurückhalten<ref> Ps. 76, 10 [hebr. Ps. 77, 10].</ref>. So liest man freilich in einem heiligen Psalm; man darf es aber ohne Bedenken nur von denen verstehen, die Gefäße der Erbarmung heißen<ref> Vgl. Röm. 9, 23.</ref>, weil auch sie nicht dank ihrer Verdienste, sondern nach der Erbarmung Gottes von ihrem Elend befreit werden. Aber wenn man es auch von allen Menschen gelten lassen wollte, so braucht man deshalb doch noch nicht der Meinung zu sein, als könne es für die Verdammnis derer ein Ende geben, von denen es heißt: „. . . und so werden diese in die ewige Pein eingehen<ref> Matth. 25, 46.</ref>.“ Denn man müsste sonst ja auch annehmen, es werde auch das Glück derer einmal ein Ende nehmen, von denen es andererseits heißt: „. . . die Gerechten aber ins ewige Leben<ref> Ebd. [Matth. 25, 46].</ref>“. Dass dagegen die Strafe der Verdammten zeitweise etwas gemildert wird, das mögen sie, wenn sie wollen, immerhin annehmen. Dass nämlich auf den Verdammten der Zorn Gottes lasten bleibt, d. h. die Verdammnis selbst ― denn das versteht man doch unter dem Zorn Gottes und nicht eine Aufregung seines Gemütes ―, das kann man doch auch so auffassen, dass er auch in seinem Zorn, d. h. während seines Zornes, trotzdem auch seine Barmherzigkeit nicht zurückhält, so nämlich, dass er zwar der ewigen Pein kein Ende macht, wohl aber doch die Qualen zeitweise lindert oder unterbricht. Denn auch der oben erwähnte Psalm sagt ja nicht: (Er wird seine Barmherzigkeit zurückhalten) „zur Beendigung seines Zornes“ oder „nach seinem Zorn“, sondern „in seinem Zorn“. Bestände aber auch nur dieser Zorn allein, und zwar in dem geringsten Maß, das sich bei Gott nur denken läßt: der Verlust des Reiches Gottes, die Verbannung aus dem Reiche Gottes, die Entfernung aus dem Leben Gottes, die Entbehrung jener gewaltigen Fülle der Süßigkeit Gottes, die er denen aufbewahrt hat, die ihn fürchten<ref> Ps. 30, 20 [hebr. Ps. 31, 20].</ref>, und die er an denen erzeigt, die auf ihn hoffen; so ist das doch eine so schwere Strafe, dass sich damit, falls sie ewig dauern soll, keine der uns bekannten Qualen vergleichen läßt und wenn sie auch noch so lange währen mag.

113. Endlos wird also jener ewige Tod der Verdammten, d. h. ihre Entfernung aus dem Leben Gottes dauern, und darin wird die allen Verdammten gemeinsame Strafe bestehen, was auch die Menschen, geleitet von ihren menschlichen Gefühlen, über die Mannigfaltigkeit der Strafen oder über die Milderung oder Unterbrechung der Schmerzen sonst noch mutmaßen mögen. Geradeso wird auch das ewige Leben aller Heiligen eine gemeinsame ewige Dauer haben, so verschieden auch die Ehrenstufen sein mögen, in denen sie in Eintracht dort leuchten.

30. Kapitel: Von der christlichen Hoffnung. ― Das Vaterunser

114. Aus diesem Glaubensbekenntnis, das im (apostolischen) Symbolum kurz zusammengefaßt ist und das dem fleischlichen Denken Milch für die Kleinen, der geistigen Betrachtung und Erforschung aber Speise für die Starken ist, erwächst die beseligende Hoffnung der Gläubigen, deren Begleiterin hinwiederum die heilige Liebe ist. Allein von all den Lehren, die wir mit gläubiger Gesinnung für wahr zu halten haben, bezieht sich nur das auf die Hoffnung, was in dem Gebet des Herrn enthalten ist. Denn verflucht ist nach dem Zeugnis des göttlichen Wortes ein jeder, der seine Hoffnung auf einen Menschen setzt<ref> Vgl. Jer. 17, 5.</ref>. Demnach wird aber auch jeder in diesen Fluch verwickelt, der seine Hoffnung auf sich selber baut. Wir dürfen darum nur allein von Gott all das erbitten, was wir Gutes zu tun oder als Lohn für gute Werke zu erlangen hoffen.

115. Beim Evangelisten Matthäus nun umfaßt, wie wir sehen, das Gebet des Herrn sieben Bitten, von denen drei um etwas Ewiges, die anderen vier aber um etwas Zeitliches, zur Erreichung des Ewigen aber immerhin auch Notwendiges flehen. Denn wenn wir sprechen: „Geheiliget werde dein Name, zu uns komme dein Reich, dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden<ref> Matth. 6, 9.</ref>“ ― letzteres haben einige gar nicht unpassend mit Geist und Leib erklärt ―, so gilt das für alle Zeiten; und zwar nimmt es hier auf Erden seinen Anfang, wächst je nach unserem inneren Fortschritt und geht dann in seiner Vollendung, wie wir im anderen Leben erwarten dürfen, in unsern dauernden Besitz über. Wenn wir aber sprechen: „Gib uns heute unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel<ref> Ebd. [Matth.] 6, 11 ff.</ref>“, wer sähe da nicht ein, dass sich dies auf die Armseligkeit dieses gegenwärtigen Lebens bezieht? In jenem ewigen Leben, wo wir einstens immer zu sein hoffen, wird also die Heiligung des Namens Gottes, sein Reich und sein Wille in unserem Geist und in unserem Leib vollkommen und ohne Ende fortbestehen. Von dem täglichen Brot ist aber (im Vaterunser) deshalb die Rede, weil es hienieden für Seele und Leib notwendig ist, mag man es nun geistig oder leiblich oder aber auch gleich in dem doppelten Sinn verstehen. Um hienieden handelt es sich auch, wenn wir um Sündenvergebung flehen; denn hienieden werden die Sünden ja auch begangen. Um hienieden handelt es sich sodann auch bei den Versuchungen, die uns zur Sünde reizen und drängen; um hienieden schließlich auch bei dem Übel, von dem wir frei zu werden wünschen: dort oben (im Himmel) aber gibt es keine von diesen Bedrängnissen.

116. Der Evangelist Lukas seinerseits hat die Bitten des Gebetes des Herrn nicht in sieben, sondern nur in fünf zusammengefaßt<ref> Lk. 11, 2 ff.</ref>. Trotzdem aber hat er sich damit nicht in Gegensatz zu Matthäus gesetzt, sondern gerade durch seine knappe Fassung gezeigt, wie die sieben Bitten bei diesem zu verstehen sind; denn der Name Gottes wird ja doch im Geiste geheiligt, sein Reich aber wird bei der Auferstehung des Fleisches kommen. Lukas hilft also durch Weglassung der dritten Bitte zu einem besseren Verständnis, indem er zeigt, dass sie gewissermaßen nur die Wiederholung der beiden vorausgehenden bildet. Daran reiht er sodann drei weitere Bitten, nämlich die Bitte ums tägliche Brot, um Vergebung der Sünden und um Widerstandskraft in der Versuchung. Die Bitte aber, die Matthäus an letzter Stelle anführt: „Sondern erlöse uns von dem Übel<ref> Matth. 6, 13.</ref>“, findet sich bei Lukas überhaupt nicht, damit wir sehen, sie sei schon in der vorausgehenden Bitte von der Versuchung enthalten. Darum sagt auch Matthäus: „ sondern erlöse uns“ und nicht „ und erlöse uns“, womit er uns zeigt, dass die sechste und siebte Bitte eigentlich nur eine Bitte sind: Gib uns nicht dies, sondern das! Es soll eben jedermann daraus erkennen, dass die Erlösung von dem Übel für ihn darin besteht, dass er nicht in Versuchung gerät.

31. Kapitel: Von der Liebe, der Krone der Tugenden. ― Der Mensch vor dem Gesetze, unter dem Gesetze, in der Gnade und im Frieden des Himmels

117. Was nun aber weiterhin die Liebe angeht, die nach dem Worte des Apostels größer ist als die beiden schon behandelten Tugenden<ref> 1 Kor. 13, 13.</ref>, nämlich als Glaube und Hoffnung, so richtet sich die Güte ihres Besitzers ganz nach dem Maße, in dem er sie besitzt. Fragt es sich einmal bei jemand, ob er überhaupt gut sei, so kommt es nicht darauf an, was er glaubt oder worauf er hofft, sondern darauf, was er liebt. Denn wer die rechte Liebe hat, der hat zweifellos auch den rechten Glauben und die rechte Hoffnung. Wer aber die Liebe nicht hat, dessen Glaube ist nichtig, mag auch das, was er glaubt, die Wahrheit sein, und dessen Hoffnung ist nichtig, mag auch das, was er hofft, nach der Lehre (der Kirche) tatsächlich der wahren Glückseligkeit gelten; (dies ist nur dann nicht der Fall), wenn er auch das glaubt und hofft, was ihm, wenn er darum bittet, als Gegenstand seiner Liebe zuteil werden kann. Denn wenngleich er ohne Liebe auch keine Hoffnung haben kann, so kann er doch möglicherweise gerade das nicht lieben, was er lieben muss, um zum Inhalt seiner Hoffnung zu gelangen, z. B. wenn jemand das ewige Leben erhofft ― und wer möchte das nicht lieben? ―, dabei aber die Gerechtigkeit nicht liebt, ohne die niemand zum ewigen Leben gelangen kann. ― Und was den Glauben betrifft, so ist derjenige der vom Apostel empfohlene Glaube an Christus, der durch die Liebe wirksam ist<ref> Gal. 5, 6.</ref> und der das, was ihm an der Liebe noch fehlt, erbittet, auf dass er es empfange, sucht, auf dass er es finde, und der darum anklopft, auf dass ihm auf getan werde<ref> Vgl. Matth. 7, 7.</ref>. Denn der Glaube erlangt, was das Gesetz verlangt<ref> impetrat – imperat.</ref>. Denn ohne Gottes Gabe, d. h. ohne den Heiligen Geist, durch den die Liebe in unsere Herzen ausgegossen wird<ref> Röm. 5, 5.</ref>, kann das Gesetz wohl gebieten, aber nicht helfen, und es kann überdies einen Übertreter (des Gesetzes) schaffen, der sich mit Unkenntnis des Gesetzes nicht entschuldigen kann. Denn dort ist die fleischliche Begierde Herr, wo die Gottesliebe nicht waltet.

118. In tiefster Finsternis und Unwissenheit ein Leben des Fleisches zu führen, ohne dass sich die Vernunft auch nur dagegen sträubt, das ist der erste Zustand des Menschen. Ist dann mit dem Gesetz auch die Kenntnis der Sünde gekommen, ohne dass der göttliche Geist schon zu Hilfe kommt, so unterliegt der Mensch, wenn er auch nach dem Gesetze leben will, und er sündigt mit Wissen und ist ein Knecht und Sklave der Sünde: „Denn dem, von welchem einer besiegt worden ist, wird er auch als Sklave zugesprochen<ref> Vgl. 2 Petr. 2, 19.</ref>.“ Das ist nämlich die Wirkung der Kenntnis des Gebotes, dass die Sünde im Menschen jede Begierlichkeit weckt ― und diese kommt zur Erfüllung in der Übertretung ― und dass sich so das Schriftwort erfüllt: „Das Gesetz ist dazwischen gekommen, damit die Sünde überhand nehme<ref> Röm. 5, 20.</ref>.“ Dies gilt vom zweiten Zustand des Menschen. Wenn aber Gott einmal sieht, wie man von ihm glaubt, er werde zur Erfüllung der von ihm gegebenen Gebote auch mithelfen, und wenn der Mensch einmal vom Geiste Gottes getrieben wird, so richtet sich mit der wachsenden Kraft der Liebe das Begehren (des Menschen) gegen das Fleisch, so dass zwar seine Schwäche noch nicht gänzlich geheilt und darum in ihm noch ein Widerstreit vorhanden ist, er lebt jedoch aus dem Glauben als Gerechter8, und er lebt gerecht, soweit er der bösen Begierde nicht nachgibt und die Lust an der Gerechtigkeit den Sieg behält. Das ist dann der dritte Zustand, der Zustand des Menschen, der auf dem Grunde guter Hoffnung steht. Wer darin in frommer Beharrlichkeit weiterschreitet, den erwartet als schließlicher letzter Zustand jener Friede, der nach dem gegenwärtigen Leben in der Ruhe des Geistes und endlich in der Auferstehung auch des Fleisches seine Verwirklichung finden wird. Von diesen vier verschiedenen Zuständen fällt der erste vor das Gesetz, der zweite unter das Gesetz, der dritte unter die Gnade und der vierte in den vollen und vollkommenen Frieden. So war auch das Volk Gottes in den verschiedenen Zeitläuften geordnet nach dem Wohlgefallen Gottes, der alles nach Maß, Zahl und Gewicht einteilt9. Denn das Volk Gottes lebte zuerst vor dem Gesetze, dann unter dem von Moses gegebenen Gesetz, hierauf unter der in der ersten Ankunft des Erlösers offenbar gewordenen Gnade. Diese Gnade fehlte allerdings auch vor diesem Zeitpunkt denen nicht, welchen sie zuteil werden sollte; doch war sie der Ordnung der Zeit entsprechend noch in Verborgenheit gehüllt. Denn auch von den Gerechten der früheren Zeit konnte keiner außerhalb des Glaubens an Christus das Heil finden; wäre nämlich Christus nicht auch schon ihnen bekannt gewesen, dann hätte er ja auch uns nicht bald offener, bald verhüllter gerade durch sie prophezeit werden können.

119. In was immer für einem dieser vier Alter, wenn wir es so nennen wollen, die Gnade der Erneuerung einen Menschen finden mag, da werden ihm alle Sünden seiner Vergangenheit nachgelassen und auch die infolge seiner Geburt auf ihm lastende Schuld wird durch die Wiedergeburt getilgt. Und so sehr gilt das Wort, dass „der Geist weht, wo er will<ref> Joh. 3, 8.</ref>“, dass mancher jene zweite Knechtschaft unter dem Gesetz gar nicht kennen zu lernen braucht, sondern mit dem Gebote auch schon die göttliche Gnadenhilfe erlangt. (120.) Bevor aber der Mensch imstande ist, das Gebot zu erhalten, muss er bereits dem Fleische nach am Leben sein; ist er aber einmal mit dem Sakrament der Wiedergeburt getauft, dann kann es ihm keinen Schaden mehr bringen, wenn er dann auch gleich wieder aus diesem Leben scheidet. „Denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden, damit er sowohl über die Lebendigen als auch über die Toten herrsche<ref> Vgl. Röm. 14, 9.</ref>“; und das Totenreich wird den nicht in seiner Gewalt behalten, für den derjenige starb, der frei ist unter den Toten<ref> Vgl. Ps. 87, 6 [hebr. Ps. 88, 6].</ref>“.

32. Kapitel: Die Liebe ist der Endzweck aller Gebote, Gott aber ist die Liebe

121. Es zielen demnach alle Gebote Gottes auf die Liebe ab, von der der Apostel sagt: „Der Endzweck des Gebotes aber ist die Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und unverfälschtem Glauben<ref> 1 Tim. 1, 5.</ref>.“ Eines jeden Gebotes Endzweck ist also die Liebe, d. h. auf die Liebe zielt jedes Gebot ab. Was aber nur aus Furcht vor Strafe oder in irgendeiner bloß fleischlichen Absicht geschieht, so dass es nicht auf jene Liebe abzielt, die der Heilige Geist in unsere Herzen ausgießt<ref> Röm. 5, 5.</ref>, das geschieht noch nicht so, wie es geschehen soll, und wenn es auch noch so sehr den Anschein davon erweckt. Die Liebe nun ist eine doppelte: eine Liebe zu Gott und eine Liebe zum Nächsten; an diesen beiden Geboten hängt bekanntlich das ganze Gesetz und die Propheten<ref> Matth. 22, 40.</ref>. Nimm noch das Evangelium und (die Lehre der) Apostel hinzu; denn nur dort steht es geschrieben, dass der Endzweck des Gebotes die Liebe ist<ref> 1 Tim. 1, 5.</ref> und dass Gott die Liebe ist<ref> 1 Joh. 4, 16.</ref>. Alle Gebote Gottes, also z. B. das: „Du sollst nicht ehebrechen<ref> Exod. 20, 14; vgl. Matth. 5, 27.</ref>“, und all das, was er zwar nicht gebietet, sondern nur als geistlichen Rat ans Herz legt, z. B.: „Gut ist es für den Mann, kein Weib zu berühren<ref> 1 Kor. 7, 1.</ref>“, wird dann in rechter Weise beobachtet, wenn es auf die Gottesliebe und um Gottes willen auf die Nächstenliebe in diesem und im kommenden Leben abzielt: und zwar wird Gott hienieden geliebt im Glauben, dort (im Jenseits) aber im Schauen; und auch der Nächste wird hienieden geliebt im Glauben. Denn wir Sterblichen kennen das Herz der Sterblichen nicht; im Jenseits aber „wird der Herr das in Finsternis Verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbar machen; und dann wird einem jeden sein Lob werden von Gott<ref> Ebd. [1 Kor.] 4, 5.</ref>“. Das wird dann ein Mitbruder am anderen loben und lieben, was von Gott selbst ans Licht gebracht werden wird, auf dass es nicht verborgen bleibe. Es nimmt aber die Begierlichkeit ab mit dem Wachstum der Liebe, bis sie schließlich ihre höchstmögliche Größe erreicht hat: „Eine größere Liebe hat aber niemand, als dass er sein Leben hingebe für seine Freunde<ref> Joh. 15, 13.</ref>.“ Wie groß aber im Jenseits die Liebe sein wird, wo es doch keine Begierlichkeit mehr gibt, die sie siegreich in Schranken halten müsste, wer möchte das klar machen wollen? Es herrscht ja doch völliges Gesundsein, wo der Tod gar nichts mehr hat, was er streitig machen könnte.

33. Kapitel: Schluss

122. Damit will ich aber endlich diese Schrift beenden. Du selbst magst zusehen, ob du sie noch ein Handbüchlein nennen und als ein solches gebrauchen kannst. Ich selbst glaubte nun zwar dein eigenes Bemühen in Christus nicht missachten zu dürfen; da mir aber deine Person mit der Hilfe unseres Erlösers guten Glauben und gute Hoffnung einflößt und ich zugleich unter seinen Gliedern die größte Liebe für dich hege, so habe ich doch nach bestem Können dies Buch vom Glauben, der Hoffnung und der Liebe für dich geschrieben. Möchte es nun ebenso brauchbar wie umfangreich sein!

Anmerkungen

<references />

Andere Ausgabe

  • Aurelius Augustinus Enchiridion de fide spe et caritate, Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe (Reihe: Testimonia Schriften der altchristlichen Zeit, Band I), Patmos Verlag Düsseldorf 1960 (1. Auflage, 255 Seiten, mit Register, Imprimatur Coloniae, die 12 m. Novembris a. 1959 Jr. Nr. 25804 I/59 Teusch vic. glis.).

Päpstliches

Weblinks